gegenwärtige antike - antike gegenwarten (kolloquium zum 60. geburtstag von rolf rilinger) ||...

20
„Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit"? (Zu Thuk. 2,65,9) Von Peter Spahn Die Verfassung Athens und die Stellung des Perikles hat Thukydides in dem oft zitierten Satz aufeinander bezogen: έγίγνετό τε λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή (2,65,9). Die ein- prägsame Formulierung erscheint leicht verständlich. Ihre modernen Übersetzungen weichen in der Hauptsache nur wenig voneinander ab. Am ehesten stritten Interpreten noch über die Bedeutung des Imperfekts beim Prädikat, ob nämlich mit έγίγνετό lediglich gemeint ist: „es war" beziehungsweise „es wurde" oder das nicht Vollendete betonend: „es war auf dem Weg zu werden". Läßt man diese Nuance einmal beiseite, lautet die landläufige Überset- zung etwa so: „Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirk- lichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes" (Landmann). Unterschied- liche Wiedergaben findet in den modernen europäischen Sprachen das Wort άρχή an dieser Stelle. Im Deutschen meist „Herrschaft" (Landmann, Horneffer, Regenbogen) oder etwas schwächer: „Regiment" (Weinstock) oder „die Stadt regieren" (Braun). - Im Englischen: „a government of the principal man" (Hobbes), „a government ruled by its foremost citizen" (Smith), „government by the first citizen" (Gavase), „a rule by the first man" (Hornblower und ebenso: Rhodes). - Auf Französisch: „le premier citoyen qui gouvernait" (de Romilly), „l'État était gouverné par le pre- mier citoyen de la cité" (Roussel). - Und auf Italienisch zum Beispiel: „un potere affidato al primo cittadino" (Ferrari), „governo del primo cit- tadino" (Moggi), „il governo era saldo nel pugno del primo cittadino" (Savino), „il governo era nelle mani del primo cittadino" (Annibaletto). Gemeinsam ist all diesen Übersetzungen, daß der „Erste Mann" als das Subjekt der άρχή verstanden wird, somit als der Regierende bzw. Herr- schende. Merkwürdigerweise wird die Präposition ύπό, die Thukydides Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Upload: aloys

Post on 17-Feb-2017

217 views

Category:

Documents


2 download

TRANSCRIPT

Page 1: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

„Dem Namen nach eine Demokratie" -was aber „in Wirklichkeit"?

(Zu Thuk. 2,65,9)

Von

Peter Spahn

Die Verfassung Athens und die Stellung des Perikles hat Thukydides in dem oft zitierten Satz aufeinander bezogen: έγίγνετό τε λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή (2,65,9). Die ein-prägsame Formulierung erscheint leicht verständlich. Ihre modernen Übersetzungen weichen in der Hauptsache nur wenig voneinander ab. Am ehesten stritten Interpreten noch über die Bedeutung des Imperfekts beim Prädikat, ob nämlich mit έγίγνετό lediglich gemeint ist: „es war" beziehungsweise „es wurde" oder das nicht Vollendete betonend: „es war auf dem Weg zu werden".

Läßt man diese Nuance einmal beiseite, lautet die landläufige Überset-zung etwa so: „Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirk-lichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes" (Landmann). Unterschied-liche Wiedergaben findet in den modernen europäischen Sprachen das Wort άρχή an dieser Stelle. Im Deutschen meist „Herrschaft" (Landmann, Horneffer, Regenbogen) oder etwas schwächer: „Regiment" (Weinstock) oder „die Stadt regieren" (Braun). - Im Englischen: „a government of the principal man" (Hobbes), „a government ruled by its foremost citizen" (Smith), „government by the first citizen" (Gavase), „a rule by the first man" (Hornblower und ebenso: Rhodes). - Auf Französisch: „le premier citoyen qui gouvernait" (de Romilly), „l'État était gouverné par le pre-mier citoyen de la cité" (Roussel). - Und auf Italienisch zum Beispiel: „un potere affidato al primo cittadino" (Ferrari), „governo del primo cit-tadino" (Moggi), „il governo era saldo nel pugno del primo cittadino" (Savino), „il governo era nelle mani del primo cittadino" (Annibaletto).

Gemeinsam ist all diesen Übersetzungen, daß der „Erste Mann" als das Subjekt der άρχή verstanden wird, somit als der Regierende bzw. Herr-schende. Merkwürdigerweise wird die Präposition ύπό, die Thukydides

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 2: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

86 Peter Spahn

an dieser Stelle mit άρχή verbindet, in den meisten Übersetzungen nicht eigens ausgedrückt. Ganz selten findet sich in der Forschung ein Hinweis wie der von Erich Bayer, der moniert: „Vielfach scheint es so, als würde in dem bekannten Satz έγίγνετό τε λόγφ μέν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου ανδρός άρχή das Wörtchen ύπό nur zu gerne übersehen".1

Das ist um so erstaunlicher, als die Kombination von άρχή mit ύπό und Genitiv von Thukydides nur an dieser Stelle verwendet wird. Er dürfte sie also wahrscheinlich sehr bewußt benutzt haben, um eine bestimmte Nuance auszudrücken, oder auch um eine mißverständliche Aussage zu vermeiden.

Eine wörtliche Übersetzung, welche die „nur zu gern übersehene" Prä-position explizit berücksichtigt, findet sich in der Übersetzung von Wein-stock: „So war es dem Namen nach Volksherrschaft, tatsächlich doch ein Regiment unter der Führung des ersten Mannes"2 - und noch deutlicher in Christian Meiers „Athen". Dort heißt es: „Dem Namen nach eine De-mokratie, in Wirklichkeit eine Herrschaft unter dem ersten Mann".3 Im Gegensatz zu Thukydides sieht Meier jedoch in der Herrschaft unter Pe-rikles keinen Widerspruch zur Demokratie. Deren forcierter Ausbau sei vielmehr die Kehrseite für Macht und Einfluß einzelner Persönlichkeiten und zumal von Perikles gewesen. Zwischen diesem und dem demokrati-schen Athen habe es eine Identifikation gegeben: das perikleïsche Athen, das „eben deswegen - und nicht nur dem Namen nach - eine Demokratie gewesen ist".4

Ob Thukydides mit seiner Formel eine zutreffende, die historische Realität erfassende Beschreibung der athenischen Verfassung und von Perikles' Position gelungen ist, soll nicht die Ausgangsfrage für die fol-genden Überlegungen sein. Vielmehr geht es um das speziellere, noch davor liegende Problem, was denn der Ausdruck ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bedeutet. Ist damit wirklich eine faktische Alleinherrschaft des Pe-rikles in einer bloß nominellen Demokratie gemeint, oder läßt sich die Stelle auch anders verstehen?

Generelle Zweifel an der vorherrschenden Übersetzung „Herrschaft des Ersten Mannes" ergeben sich aus mehreren Gründen. So ist zu fragen, ob Thukydides mit der Behauptung einer tatsächlichen Monarchie nicht allzu sehr in die Nähe jener zeitgenössischen Kritiker des Perikles geraten

1 Erich Bayer, Thukydides und Perikles, in: Hans Herter (Hg.), Thukydides, Darmstadt 1968, 171-259, 257,Anm.l96 (zuerst in: WJA 3, 1948, 1-57). 2 Heinrich Weinstock (Hg.), Thukydides. Der Grosse Krieg, Stuttgart 1938,49. 3 Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, 494. 4 Ebd., 497.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 3: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 87

wäre, die diesem eine Art Tyrannis vorwarfen. Dagegen spricht aus der gesamten Passage 2,65 eine vorbehaltlose Bewunderung des Historikers sowohl für die innenpolitische Stellung des Perikles als auch fiir dessen Kriegsplanung, die Thukydides selbst im nachhinein noch ausdrücklich rechtfertigt (2,65,13). Diese durchweg positive Charakterisierung des Staatsmannes läßt sich schwerlich mit der Annahme oder gar Wertschät-zung seiner Alleinherrschaft vereinbaren. Denn obwohl Thukydides der attischen Demokratie mit Vorbehalten begegnete, sah er eine gute Verfas-sung nicht in der Stärkung des monarchischen Elementes, sondern in der „maßvollen Mischung zwischen den Wenigen und den Vielen" (8,97,2).

Auch die im Imperfekt des έγίγνετό möglicherweise ausgedrückte Ab-schwächung der Feststellung (im Sinne einer bloßen Tendenz zu einer Alleinherrschaft hin) erledigt diese Problematik noch keineswegs. Denn angesichts der allgemeinen Ablehnung und Diskreditierung einer Tyran-nis - darin waren sich Demokraten und Aristokraten einig - konnte Thu-kydides seinen Favoriten wohl nicht dadurch in Schutz nehmen, daß er andeutete, dieser sei lediglich auf dem Wege zu einer Alleinherrschaft gewesen; nur sein vorzeitiger Tod hätte ihn dann von diesem Ziel abge-halten.

Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß Thukydides Perikles of-fenbar zu einem konkurrenzlosen politischen Führer stilisiert. Das zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: in der Darstellung der Ereignisse, in den Reden und in auktorialen Partien des Werkes, vor allem in 2,65. Auch Thukydides' Schweigen über bestimmte Vorgänge deutet in diese Rich-tung. So erwähnt er zum Beispiel nicht die Anklagen und Prozesse ge-gen Perikles' Freunde und nennt auch deren innenpolitische Gegner nicht mit Namen.5 Er erweckt also insgesamt den Eindruck einer Dominanz des Perikles. Und in diese Richtung scheint auch die Formel ύπό του πρώτου άνδρός άρχή zu weisen. Dennoch bleibt zu fragen, ob man dar-unter eine „Herrschaft des Ersten Mannes" zu verstehen hat, zumal wenn ,Herrschaft' streng genommen eine Relation von Befehl und Gehorsam beinhaltet.

Die in Frage stehende Formel hat in den vorausgehenden Partien des Werkes zwei enge Entsprechungen, die zu ihrem Verständnis beitragen könnten. In 1,127,3 heißt es im Zusammenhang der spartanischen For-derungen wegen des Kylonischen Frevels, die in erster Linie auf Perikles zielten: ών γαρ δυνατότατος των καθ' εαυτόν και αγων την πολιτείαν.

5 Dazu im einzelnen Arnold W. Gomme, A Historical Commentary on Thucydides, 5 Bde., Oxford 1945-1981, Bd. 2, 184 ff.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 4: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

88 Peter Spahn

Diese Charakterisierung wird - nach einem längeren Exkurs über Pau-sanias und Themistokles - in 1,139,4 noch einmal aufgegriffen und abgewandelt: Περικλής ό Ξανθίππου, άνήρ κατ' εκείνον τον χρόνον πρώτος 'Αθηναίων, λέγειν τε και πράσσειν δυνατότατος. Beide Sätze ergeben eine ähnliche Aussage, und zwar in der für Thukydides typischen zyklischen Argumentationsform. Der am Anfang stehende Leitbegriff δυνατότατος wird am Ende der Passage wiederholt und konkretisiert: Perikles wird als deijenige eingeführt, der sowohl im Reden wie im Han-deln am meisten vermag. In diesem Sinne ist er der „Erste der Athener". Der „Titel" eines πρώτος άνήρ, den Thukydides bereits hier für Perikles reserviert, wird dann im zentralen Satz des Nachrufs (2,65,9) wieder ver-wendet.

Dieser Satz enthält somit mehrere Besonderheiten: Neben der unge-wöhnlichen Kombination von άρχή und ύπό mit Genitiv benutzt Thu-kydides offenbar auch den Ausdruck πρώτος άνήρ speziell zur Kenn-zeichnung von Perikles' politischer Stellung. Dabei scheint es sich nicht um einen fest eingeführten politischen Begriff oder um einen terminus technicus im Vokabular der damaligen Demokratie gehandelt zu haben. Möglicherweise wollte Thukydides mit dieser singulären Ausdruckswei-se nicht nur das Einzigartige und Überragende an Perikles hervorheben, sondern sich damit auch von bestimmten negativen Urteilen der Zeitge-nossen über Perikles distanzieren und seine eigene Bewertung dagegen-setzen. Jedenfalls ist die scheinbar so eingängige Formel ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bereits im Kontext des thukydideischen Werkes durchaus auffällig und problematisch. Insbesondere ist zu fragen, was άρχή in die-sem Zusammenhang eigentlich bedeutet.

Dieses Problem soll nun in drei Schritten angegangen werden. Zu-nächst ist die Vorbereitung der Formel im 1. Buch, nämlich im Zusam-menhang mit den Exkursen über Pausanias und Themistokles, genauer in den Blick zu nehmen. Dabei ist von besonderem Interesse, welche Funktion und Bedeutung diese in Thukydides' Werk exzeptionellen Por-träts möglicherweise für sein Periklesbild haben. Dann ist in einem wei-teren Kapitel vor allem die dritte Periklesrede zu berücksichtigen, die dem sogenannten Nachruf unmittelbar vorausgeht. Denn sie enthält eine Reihe von direkten Entsprechungen und geradezu Vorformulierungen für die folgende Charakterisierung und Beurteilung durch den Histori-ker. Und schließlich ist die fragliche Formel im Kontext dieses Nachrufs zu untersuchen und mit den zuvor genannten Passagen in Beziehung zu setzen.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 5: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit"? 89

I. Perikles und die „Glänzendsten der Hellenen"

Perikles wird im 1. Buch an mehreren Stellen erwähnt. Zunächst ist für die Zeit der Pentekontaëtie von seinem militärischen Kommando bei ver-schiedenen Unternehmungen die Rede: der Expedition gegen Sikyon und Oiniadai in Akarnanien (1,111), der Unterwerfung von Euböa und Me-gara (1,114) und dem Krieg gegen das abgefallene Samos (1,116 f.). Die erste Aussage über seine politische Position folgt dann im Zusammen-hang der spartanischen Beschwerden und Forderungen vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (1,126 ff.). Diese geben Thukydides Anlaß für seine Exkurse über die Kylon-Affäre und über das Schicksal von Pausa-nias und Themistokles. Perikles' innenpolitische Stellung ist erzähltech-nisch die Verbindung für diese drei Geschichten. Die Vorwürfe wegen des Kylonischen Frevels, heißt es da, sollten Perikles schwächen. „Denn er war der mächtigste Mann seiner Zeit, und als Führer des Staates wirkte er überall Sparta entgegen, ließ keine Nachgiebigkeit zu und trieb in Athen zum Kriege" (1,127,3 - Übers. Landmann).

Dieser Satz und seine ergänzende Wiederholung am Ende des Pausa-nias-Themistokles-Exkurses enthalten die Grundlinien von Thukydides' Periklesbild, die später in 2,65 weiter ausgeführt werden. Aus der engen Verknüpfung der beiden auf Perikles bezogenen „Rahmensätze" des Ex-kurses (1,127,3 und 1,139,4) mit dem „Nachruf (2,65) ergeben sich in mehrfacher Hinsicht implizite Bewertungen. Thukydides' Aussagen über die drei herausragenden Politiker und Führer aus Athen und Sparta be-leuchten sich wechselseitig. Sie informieren nicht nur durch eine unge-wöhnliche Vielfalt von historischen Fakten, wörtlich zitierten Briefen, Spekulationen der Zeitgenossen sowie Erklärungen und Bewertungen des Historikers. Diese Exkurse, die sich stilistisch so auffällig vom Gesamt-werk abheben, führen letztlich auch zu einem Vergleich der dargestellten Staatsmänner.

Es ist ein komplexer historischer Vergleich, den Thukydides dem Leser bietet. Er bezieht sich auf zwei unterschiedliche Zeiten bzw. Generatio-nen: die der Perserkriege und die des Peloponnesischen Krieges; auf zwei verschiedene Poleis: Sparta und Athen; und auf drei Persönlichkeiten, von denen wiederum zwei als Zeitgenossen einander direkt gegenüber-gestellt, aber zugleich eingerahmt werden durch die erwähnten Kernsätze der Charakterisierung des dritten, also des Perikles. Außerdem schließt sich dann unmittelbar dessen erste Rede an (1,140-144), die das ande-re wichtige Element der Persönlichkeitsdarstellung bildet und die hier in

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 6: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

90 Peter Spahn

gewisser Weise auch als Gegenstück zur Präsentation von Pausanias und Themistokles fungiert.

Dies zur formalen Struktur des Vergleichs. Seine inhaltlichen Elemente brauchen hier nicht im Detail analysiert zu werden, zumal sie sich zum größten Teil auf die frühe Geschichte der Pentekontaëtie beziehen. Dem Exkurs 1,128-138 geht nämlich in 1,93-96 bereits eine erste Gegenüber-stellung der Politik von Themistokles und Pausanias voraus. Da zeigt Thu-kydides die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta: Themistokles, der den Ausbau des Piräus forcierte, der die Grundlagen des attischen Reiches schuf mit seinem „kühnen Rat, sich ganz aufs Meer zu verlegen" (1,93,4). Das wird später in Perikles' letzter Rede (2,62) nachklingen, der Themistokles' Erbe insofern kongenial fortführte. Pau-sanias dagegen begann zwar als „Feldherr der Hellenen" (1,94,1), aber durch sein gewalttätiges Wesen brachte er sie bald gegen sich auf und ähnelte nun eher einem Tyrannen als einem Feldherrn (1,95,1-3). So trieb er die Bundesgenossen Athen in die Arme und trug unfreiwillig zu dessen Hegemonie bei (1,96,1).

Was Thukydides dann im Exkurs 1,128-138 berichtet, nämlich das wei-tere Schicksal und die parallele Katastrophe der beiden einstigen Prot-agonisten, hätte sich inhaltlich und chronologisch eher an die erste Ge-genüberstellung anschließen lassen. Statt dessen behandelt er dies nun im Kontext der unmittelbaren Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges. Als Grund gibt er die gegenseitigen Forderungen nach Sühnung der Fre-vel an (1,126,1 und 128,2). Das trifft zwar für Kylon und Pausanias zu, aber nicht für Themistokles. Vor allem erklärt es nicht die Ausführlichkeit und die Art der Exkurse.6 Am ehesten läßt sich deren Funktion wohl aus der Rahmenthematik und damit aus dem impliziten Vergleich mit Perikles verstehen.

Zunächst ist aber ein Binnenvergleich zwischen Pausanias und Themi-stokles angelegt: Beide waren die fuhrenden und siegreichen Strategen der Perserkriege, die zu ihrer Zeit „Glänzendsten der Hellenen" (1,138,6). Bei Pausanias schlug das hohe Ansehen in Anklagen um, weil er die Nor-men der Bürgergemeinde in jeder Hinsicht sprengte. Er nahm persische Sitten an, zeigte despotisches Verhalten und konspirierte mit den Helo-

6 Die einschlägigen Kommentare bieten hierzu auch keine Erklärung, z. B. Gomme, HCT (wie Anm.5) Bd.l, 446f.: „The whole excursus on Themistokles is irrelevant to the nar-rative, and so is the greater part of those on Kylon and Pausanias." Zur neueren Literatur s. Simon Hornblower, A Commentary on Thucydides, 2 Bde., Oxford 1991-1996, Bd. 1, 211 f. - Vgl. aber Bayer, Thukydides (wie Anm. 1) 243: „... so daß es keinen Zweifel gibt, daß Pausanias und Themistokles nur um des Perikles willen hier herausgestellt werden."

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 7: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 91

ten. Themistokles schneidet im Vergleich zu ihm besser ab. Er war durch Ostrakismos verbannt worden, was noch nicht den endgültigen Bruch mit Athen bedeuten mußte. Erst die weitere Verdächtigung und Verfolgung trieb ihn dann auf die Seite des Perserkönigs, wo er von dessen Gnaden zum Herrscher über mehrere Städte wurde. In diese Darstellung schiebt Thukydides seine bekannte Würdigung der besonderen analytischen Be-gabung des Themistokles ein (1,138,3). Dazu rechnet er unter anderem dessen Fähigkeit, das Gegenwärtige schnell und sicher zu beurteilen und das Künftige soweit wie möglich vorauszusehen. In dieser Passage sind die Parallelen zur folgenden Charakterisierung des Perikles am deutlich-sten.7 Aber dem folgt wiederum der Kontrast, insofern Themistokles als Landesverräter und zugleich als Herrscher und Vasall sein Leben unter dubiosen Umständen, vielleicht durch Selbstmord, beendete.

Insgesamt dienen diese Porträts der Führenden der Vätergeneration auch als Folien für die Darstellung und Beurteilung ihrer Nachfolger. Das Schicksal der λαμπρότατοι der Perserkriegszeit, der großen Sieger, die persönlich am Ende kläglich scheiterten, evoziert die Frage nach Ent-sprechungen im Peloponnesischen Krieg: Müssen überragende Fähigkei-ten Einzelner notwendig den Rahmen der Polis sprengen und letztlich zu tyrannischer Macht fuhren? Wieviel Loyalität verdient die eigene Polis, und wieviel Sorge dürfen der eigene Oikos, die Verwandtschaft und die Freunde beanspruchen? Welche Rolle spielen jeweils Geld, Aufwand, persönliche Abhängigkeiten, Intrigen oder Bestechung? Solche Proble-me, die in den biographischen Exkursen des 1. Buches explizit und impli-zit enthalten sind, tauchen gewiß in manchen Partien des übrigen Werkes immer wieder als Gesichtspunkte auf. Aber der Bezug auf die Darstellung und Beurteilung des Perikles ist besonders eng. Und das gilt für dessen Präsentation in seinen Reden ebenso wie für den Nachruf.

II. Perikles' Rede über die άρχή der Athener

Unter den drei Reden des Perikles ist die letzte (2,60-64) für den folgen-den Nachruf von besonderem Interesse. Denn hier zeigen sich mehrere ausdrückliche Entsprechungen zwischen Äußerungen, die der Historiker Perikles in den Mund legt, und seinen eigenen nachfolgenden Feststel-

7 Das wurde in der Forschung schon mehrfach festgestellt; s. etwa Hornblower, Com-mentary (wie Anm.6) Bd. 1, 223: „The praise of Themistokles forms a natural bridge to Pericles".

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 8: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

92 Peter Spahn

lungen und Bewertungen. Insbesondere spielt der Begriff άρχή in beiden Texten eine wesentliche Rolle. Und es werden von Perikles in dieser Rede Qualitätsmerkmale für die Beurteilung eines Politikers formuliert und fur sich in Anspruch genommen, die Thukydides dann wiederum im Nachruf auf Perikles anwendet.

Die Rede gehört in das zweite Kriegsjahr, als in der attischen Bürger-schaft die Stimmung umgeschlagen war und Vorwürfe gegen Perikles wegen seiner Kriegspolitik erhoben wurden. Wie bereits zu Beginn sei-ner ersten Rede (1,140,1) betont er auch jetzt, noch immer der gleiche zu sein, während die Zuhörer sich verändert hätten (2,61,2). Tatsächlich habe er mit dieser Möglichkeit damals schon gerechnet und versucht, dem Stimmungswechsel vorzubauen (1,140,1); nun käme ihr Zorn fur ihn nicht unerwartet (2,60,1). Ein Grundgedanke, der die Rede durchzieht und abgewandelt auch im Nachruf auftaucht, betrifft das Verhältnis zwi-schen dem einzelnen Bürger bzw. Privatmann und der Polis im ganzen. So betont Perikles, alles hänge letztlich vom Bestand der Polis ab, denn „ein Staat, der insgesamt aufrecht steht, sei für den Bürger eine größere Hilfe, als wenn es im einzelnen jedem darin wohl ergeht, das Ganze aber zerbricht" (2,60,2 - Übers. Landmann). Daher appelliert Perikles an die Athener, ihren Kummer um die ϊδια zu verschmerzen und sich auf die Rettung des κοινόν zu konzentrieren (2,61,4). Und so heißt es noch im letzten Satz, daß diejenigen die stärksten seien, die sich durch Unglück am wenigsten bedrücken ließen und am meisten dagegen hielten, und zwar sowohl πόλεις als auch ίδιώται (2,64,6).

Die Konsequenz aus dieser Sicht der Korrelation zwischen den Ein-zelnen und der Gesamtheit ist nach Perikles' Auffassung die überragende Bedeutung der athenischen άρχή fur die Bürger. So sagt er, sie hätten „an ihrem Reich etwas Großes" (62,1: μεγέθους περί ές την άρχήν). Denn sie herrschten nicht nur über ihre Bundesgenossen (62,2: των ξυμμάχων μόνων αρχειν), sondern über „zwei Teile" (δύο μερών) nämlich Erde und Meer. Im Vergleich zu dieser Macht sei der Nutzwert ihrer privaten Be-sitzungen an Häusern und Land zu vernachlässigen (62,3: την των οικιών και της γης χρείαν). Das nimmt Thukydides' folgende Kritik in 2,65,7 an den ϊδια κέρδη, also an den rein privaten Gewinnen, voraus.

Perikles geht in seiner Analyse der athenischen Herrschaft noch einen Schritt weiter. Die Polis werde wegen des Herrschens (63,1: άπό του αρχειν) geehrt, und die Bürger könnten stolz darauf sein. Sie müßten aber zugleich damit rechnen, daß eine Niederlage in diesem Krieg nicht nur den Verlust der άρχή mit sich bringen würde, sondern auch „die Gefahr, Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

AuthenticatedDownload Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 9: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit"? 93

gehaßt zu werden wegen dieser άρχή" (63,1). Deswegen gäbe es für sie jetzt kein Zurück mehr, denn diese Herrschaft sei schon jetzt „wie eine Tyrannis" (63,2: ώς τυραννίδα γαρ ήδη εχετε αύτήν).

Der Demagoge Kleon wird diese Aussage später in seiner Rede noch verschärfen, indem er das „wie" wegläßt und dem Volk in der Mytilene-Debatte vorhält: „als eine Tyrannis übt ihr die Herrschaft aus über hinter-hältige und unfreiwillig Beherrschte". Er setzt damit die athenische άρχή völlig mit einer Tyrannis über die Bundesgenossen gleich. Perikles macht noch einen feinen Unterschied. Aber auch er sieht für die Polis nur die Al-ternative von Herrschaft oder Knechtschaft. Risikofreies Dienen sei „in einer herrschenden Stadt" (έν άρχούση πόλει) nicht zuträglich, sondern nur in einer untertänigen (63,3). Athens Ruhm bei allen Menschen re-sultiere aus der Unbeugsamkeit seiner Bürger und seiner größten Macht, „weil keine andern Hellenen über so viele Hellenen geherrscht haben wie wir" (64,3). „Doch Haß und Anfeindung für den Augenblick blieb noch keinem erspart, wo einer den andern zu beherrschen wagt" (64,5 - Übers. Landmann).

Die Anhäufung und Intensität der sprachlichen Ausdrücke für die Herrschaft der demokratischen Polis Athen über ihre Bundesgenossen wird noch dadurch verstärkt, daß Thukydides den Superlativ der Größe innerhalb weniger Zeilen fünfmal wiederholt:8 Athen hat den „größten Namen" (όνομα μέγιστον - 2,64,3) bei allen Menschen und die „größ-te Macht" (δύναμιν μεγίστην - ebd.); die Athener haben die „größten Kriege" (πολέμοις μεγίστοις - ebd.) ausgehalten und sie bewohnen die „wohlhabendste und größte Stadt" (πόλιν ... εύπορωτάτην καί μεγίστην - ebd.). Wer infolgedessen und wegen seiner Herrschaft Neid auf sich zieht „um der größten Dinge willen (επί μεγίστοις), der ist richtig bera-ten" (2,64,5).

Was man herkömmlicherweise dem individuellen Herrscher, Tyran-nen oder Machthaber zuschrieb, bezieht Perikles in dieser Rede auf die kollektive Herrschaft der Polis Athen, also der athenischen Bürgerschaft. Bezeichnenderweise spricht er dann auch im Resümee der Rede vom „gegenwärtigen Glanz" (παραυτίκα λαμπρότης - 2,64,5) und vom künf-tigen Ruhm, den die Athener auf diese Weise für immer erlangten. Wäh-rend früher die einzelnen Führer, nämlich Pausanias und Themistokles, als λαμπρότατοι der Hellenen galten, läßt Thukydides jetzt Perikles einer ganzen Bürgerschaft „Glanz" zusprechen. Aber dieser Glanz und Ruhm ist „immer denkwürdig" (αίείμνηστος - 2,64,5), während jene in Thuky-

8 Dazu Homblower, Commentary (wie Anm. 6) Bd. 1,339 mit weiterer Literatur. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library

AuthenticatedDownload Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 10: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

94 Peter Spahn

dides' Sicht nur die „Glänzendsten ihrer Zeit" (1,138,6) waren. Übrigens verwendet der Historiker die Kategorie des augenfälligen Glanzes spä-ter noch in einem anderen Zusammenhang, der sich auf Athen bezieht, nämlich in seiner Beschreibung der Ausfahrt der athenischen Flotte nach Sizilien (6,31,6: όψεως λαμπρότητι), während sie in seinem Perikles-Nachruf bezeichnenderweise nicht vorkommt. Der politische Einsatz von Reichtum und persönlichem Aufwand, der in jedem Fall zur λαμπρότης gehört, wird Perikles von Thukydides nirgends nachgesagt. Vielmehr will ihn der Historiker auch in dieser Hinsicht von anderen Führern abheben. Das zeigt sich nicht zuletzt im Nachruf, der nun näher betrachtet werden soll. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Bedeutung der Wendung ύπό του πρώτου άνδρός αρχή.

III. Thukydides' Würdigung des Perikles (2,65)

Thukydides beschreibt eingangs die unmittelbare Wirkung der vorausge-henden Rede: daß es Perikles damals in der Volksversammlung zunächst gelungen sei, die Athener umzustimmen, also keine Verhandlungen mit Sparta zu fuhren, sondern den Krieg entschiedener fortzusetzen. Aber diese Stimmung habe nicht lange angehalten; „alle" - nämlich δήμος und δυνατοί - hätten in ihrem Zorn auf Perikles nicht eher geruht, als bis sie ihn zu einer Geldstrafe verurteilt hätten. Nicht viel später habe das Volk ihn aber wiederum zum Strategen gewählt9 und ihm „alle wichtigen An-gelegenheiten übertragen" (πάντα τα πράγματα επέτρεψαν - 65,4). Aus dieser Formulierung ist nicht zu schließen, daß Perikles eine förmlich her-ausgehobene Position als ein στρατηγός αυτοκράτωρ erhalten hat, wie die ältere Forschung annahm.10 Vielmehr beruhte seine fuhrende Stellung primär auf seinem Ansehen beim Volk und seiner Überzeugungskraft in der Volksversammlung.

Thukydides fugt als Erklärung hinzu, daß die Athener einerseits „be-reits abgestumpfter waren, da jeder unter seinen häuslichen Verhältnissen

® Dabei ist nicht klar, ob für das neue Strategenkollegium (von 429/28), oder ob es sich um die Wiedereinsetzung für das Amtsjahr 430/29 handelte; Thukydides schreibt nämlich nicht explizit von einer vorausgegangenen Absetzung. Vgl. dazu Hornblower, Commenta-ry (wie Anm. 6) Bd. 1,341. 10 Vgl. dagegen schon zu Recht Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2, 183: „And Thucydides here probably means no more than that Athenians ,entrusted him with everything', as be-fore, in the sense of being prepared always to follow his advice". S.auch neuerdings Peter J. Rhodes, The Athenean Revolution, CAH 5,21992, 62-95, 86 f.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 11: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 95

litt"; und daß sie andererseits „für die Bedürfnisse der gesamten Stadt Perikles für den am meisten geeigneten hielten" (65,4). Mit dieser Gegen-überstellung von τα οικεία und ή ξύμπασα πόλις greift er die zuvor von Perikles benutzte Antithese auf. Allerdings hatte dieser die Bürger im Ge-genteil dazu aufgefordert, „ihren häuslichen Kummer zu verschmerzen" (άπαλγήσαντας δέ τα ίδια) und „die Rettung des Gemeinwesens anzu-packen" (του κοινού της σωτηρίας άντιλαμβάνεσθαι - 2,61,4). Thuky-dides' Replik in 2,65,4 enthält also offenbar einen Schuß Ironie, indem er feststellt, daß die Athener Perikles' Aufforderung auf ganz andere Weise umsetzten: daß sie ihn nämlich rehabilitierten gerade wegen ihrer priva-ten Leiden und daß ihr Anpacken, ihr Beitrag zur Rettung der Polis just darin bestand, Perikles die Grundlinien der Politik (πάντα τα πράγματα) bestimmen zu lassen. Dabei dürfte es sich vor allem um die Außenpolitik und die militärische Führung gehandelt haben.

Warum Perikles als der geeignetste erschien, wird außerdem durch einen historischen Rückblick erklärt: Für seine leitende Stellung in der Vorkriegszeit verwendet Thukydides hier den Ausdruck προύστη της πόλεως (65,5) und will damit wohl sagen: Im Unterschied zu einem προστάτης τοϋ δήμου habe Perikles „der (gesamten) Polis vorgestan-den". Weiter heißt es, er habe sie „in maßvoller Weise gefuhrt und so ihre Sicherheit bewahrt" (μετρίως έξηγεΐτο καί ασφαλώς διεφύλαξεν αύτήν - 65,5). Das bezieht sich wiederum primär auf die Außenpolitik, die unter Perikles' Führung vorsichtig agierte und im wesentlichen auf Bestandssi-cherung ausgerichtet war." Und auf diese Weise sei „unter ihm die Stadt die größte geworden" (έγένετο έπ' εκείνου μεγίστη - 65,5). Auch mit diesem Satz schließt sich Thukydides eng an Perikles' fünffach wieder-holte Redewendung von der alles überragenden Größe Athens an.

Als der Krieg ausbrach, heißt es weiter, habe Perikles auch in diesem Punkt „die Macht (der Polis) im Voraus erkannt" (προγνούς την δύναμιν - 65,5), und nach seinem Tode sei seine Voraussicht (πρόνοια - 65,6) auf den Krieg noch mehr erkennbar geworden. Diese Eigenschaft von Perikles wird auch im Schlußsatz des Nachrufs (65,13) noch einmal be-tont - mit der kontrafaktischen Argumentation, die Athener hätten den Krieg sogar sehr leicht gewinnen können, wenn sie Perikles' Strategie gefolgt wären. Hinsichtlich der Prognosefahigkeit stellt Thukydides ihn in eine Linie mit Themistokles (1,138,3). Nur: Der Erfolg von dessen

" Vgl. hierzu den Kommentar von Gomme, HCT (wie Anm.5) Bd. 2, 189, der darauf hinweist, daß die athenische Politik etwa unter Kimon expansiver und risikobereiter war.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 12: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

96 Peter Spahn

strategischem Kalkül war unbestritten und durch die historischen Fakten bewiesen. So muß Thukydides - gemäß der impliziten Logik des Ver-gleichs - darauf bestehen, daß auch Perikles' Berechnung an sich richtig war und zum Sieg geführt hätte. Seine Strategie sah vor, sich ruhig - also defensiv12 - zu verhalten, für die Flotte zu sorgen, den Herrschaftsbereich (άρχήν) während des Krieges nicht zu vergrößern und die Stadt nicht zu gefährden (65,7).

Thukydides lobt Perikles, indem er ihn mit anderen (οί δέ - 65,7) kon-trastiert, die eine gegenteilige Politik betrieben. Wer ist damit gemeint? Die Kontrahenten von Perikles wechseln nämlich im Laufe von Thuky-dides' Darstellung im Kapitel 65. Am Anfang schreibt er von den Athe-nern insgesamt (65,1). Dann unterscheidet er zwischen dem δήμος und den δυνατοί, den Mächtigen, die schöne Besitzungen auf dem Lande mit Gebäuden und kostbaren Ausstattungen durch den Krieg verloren haben (65,2). Alle zusammen sind an Perikles' Sturz beteiligt (65,3). Die Menge ist es, die ihn bald wieder rehabilitiert (65,4). Der Adressat von Perikles' Kriegsplan (nämlich: sich ruhig zu verhalten, für die Flotte zu sorgen etc.) wird nicht ausdrücklich genannt. Die implizit in den Partizipien ησυχάζοντας, θεραπεύοντας etc. (65,7) Angesprochenen sind prinzipi-ell alle Bürger in der Volksversammlung und im Rat, also in den poli-tischen Entscheidungsgremien. Mit den im folgenden explizit als οί δέ Bezeichneten sind logischerweise zunächst einmal eben diese gemeint. Das heißt: Die athenischen Bürger hielten sich nach Perikles' Tod nicht mehr an dessen Plan, sondern „taten von allem das Gegenteil und ande-res, was außerhalb, ohne Zusammenhang mit dem Krieg zu sein schien" (65,7). Was dann folgt, nämlich die Spezifizierung dieser dem periklei'-schen Plan widersprechenden Politik, ist zwar von den Athenern insge-samt beschlossen worden; diese neue Politik diente aber gerade nicht der Gesamtheit, sondern privaten Zwecken. Es heißt hier (in der Übersetzung von Landmann): „Sie aber taten von allem das Gegenteil und rissen au-ßerdem aus persönlichem Ehrgeiz und zu persönlichem Gewinn (κατά τάς ίδιας φιλοτιμίας και ϊδια κέρδη) den Staat in Unternehmungen, die mit dem Krieg ohne Zusammenhang schienen und die falsch für Athen selbst und seinen Bund, solange es gut ging, eher einzelnen Bürgern Ehre und Vorteil brachten (τοις ίδιώταις τιμή και ώφελία), im Fehlschlag aber die Stadt für den Krieg schwächten" (65,7).

12 Man muß das ησυχάζοντας (65,7) nicht - wie Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2,190 — auf das (zu ergänzende) Hoplitenheer beziehen, sondern das Wort gilt auch für die Flotte, insofern sie nicht zu einer Expansion der αρχή während des Krieges dienen sollte.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 13: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

„ Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 9 7

Man könnte sagen, daß sich in diesem langen Satz das Subjekt zwar nicht grammatikalisch, aber inhaltlich verschiebt. Ol δε waren zunächst die Bürger in ihrer großen Mehrheit, welche die politische Linie nach Pe-rikles' Tod festlegten. Die Nutznießer dieser Politik jedoch waren jeweils einzelne. Thukydides verwendet hier das Wort ίδιώταις, das auf den ersten Blick nicht zu passen scheint.13 Er meint damit offenbar nicht Privatleute im Unterschied zu Amtspersonen, sondern tatsächlich einzelne Bürger im Gegensatz zur Gesamtheit der Polis (65,7: ίδιώταις - πόλει). Das waren also durchaus auch politische Akteure, denn primär auf der politischen Bühne konnte man τιμή und ώφελία gewinnen. Thukydides hat das Wort ίδιώταις hier wohl ganz bewußt benutzt, weil es auf das ϊδιον verweist, auf partikuläre Interessen, die denen der Polis und der Gemeinschaft zu-widerlaufen. Ähnlich spricht auch Perikles zuvor am Beginn seiner Rede vom Nutzen für die ίδιώται im Gegensatz zur πόλις ξύμπασα (2,60,2). Und dieser spezifische Sprachgebrauch klingt wiederum im Nachruf an.

Thukydides schreibt an dieser Stelle bereits von den nachperikleïschen Zuständen. Es bedarf eines kleinen Gedankensprunges, daß er in 65,8 wie-der auf Perikles zurückkommt. Dieser war mächtig, heißt es nun, durch sein Ansehen (άξίωμα) und seine Einsicht (γνώμη) sowie durch seine of-fensichtliche Unbestechlichkeit in Geldsachen (χρημάτων τε διαφανώς άδωρότατος). Darin unterschied er sich, suggeriert Thukydides hier, von den im vorigen Satz angesprochenen Profiteuren und Kriegsgewinnlern. Zugleich könnte der Historiker damit implizit auf Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten replizieren, die möglicherweise zu Perikles' Verur-teilung geführt hatten.14

Die komprimierte Charakterisierung von Perikles' Hauptvorzügen -Ansehen, intellektuelle Fähigkeiten und Unbestechlichkeit - ist einmal mehr in enger Anlehnung an die Periklesrede (2,60,5) formuliert. Hier wird die starke Identifizierung des Historikers mit Perikles besonders deutlich, insofern er diesem eine Selbstcharakterisierung in den Mund legt, die er dann wiederum weitgehend in seinen Nachruf übernimmt. Pe-rikles beansprucht, keinem nachzustehen „in der Erkenntnis des Nötigen und der Fähigkeit es auszudrücken". Damit korrespondiert in 2,65,8 der Begriff γνώμη. Seine Selbstbeschreibung als φιλόπολις hat im Nachruf

13 Gomme, HCT (wie Anm. 5) Bd. 2, 192: „Not the word one expects", weil es sich hier durchaus auf Amtsträger und politische Funktionäre bezieht. Gomme schlägt daher als andere Lesart αύτοΐς ϊδια vor. 14 Von einer solchen Anklage ist bei Thukydides nicht die Rede, sondern nur bei Plat. Gorg. 516 a: κλοπή.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 14: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

98 Peter Spahn

kein direktes begriffliches Äquivalent; aber sie entspricht dem gesam-ten Tenor von 2,65 und vor allem der Negativbeschreibung von Perik-les' Gegnern und Nachfolgern, die primär eigene Interessen verfolgten und es an Polisliebe fehlen ließen. Die dritte Qualität schließlich, sein Verhältnis zum Geld, zeigt dann in der Formulierung die deutlichsten Entsprechungen: Perikles behauptet, „dem Geld überlegen" (χρημάτων κρείσσων) zu sein. Thukydides bestätigt ihm das mit der Wendung „durch Geld offensichtlich am meisten unbeschenkbar" (χρημάτων τε διαφανώς άδωρότατος - 2,65,8).

Die genannten Eigenschaften befähigten Perikles, „die Menge in Frei-heit niederzuhalten" (κατείχε τό πλήθος ελευθέρως - 65,8). Diese For-mulierung erinnert an Verse Solons, der in zwei Gedichten betont, ein anderer wäre nicht (wie er) in der Lage gewesen, das Volk „niederzu-halten". In 24 D, 21 f. spricht er von einem „übelgesinnten und besitzlie-benden Mann" (κακοφράδης τε και φιλοκτήμων άνηρ), der dies nicht vermocht hätte (ούκ αν κατέσχε δήμον). Und ähnlich heißt es im Ge-dicht 25D, 6f.: ούκ αν κατέσχε δήμον ούδ' έπαύσατο πριν άνταράξας πΐαρ έξεΐλεν γάλα, also mit der uns immer noch verständlichen Meta-pher des Rahmabschöpfens für unrechtmäßige Profite korrupter politi-scher Führer. Κατέχειν δήμον scheint eine traditionelle Ausdrucksweise gewesen zu sein. Sie impliziert eine Vorstellung vom Volk als einem an sich unruhigen, ungestümen Element,15 das es zu bändigen gilt. Nur ein uneigennütziger Führer mit unbestrittener Autorität ist dazu in der Lage. Denn andere wiegeln das Volk selber auf, um es für ihre Zwecke zu be-nutzen, oder sie werden seiner nicht Herr. Denkbar ist schließlich noch die Möglichkeit, das Volk mit Gewalt niederzuhalten. Dagegen steht Thu-kydides' Formulierung, Perikles habe die Menge in freiheitlicher Weise (έλευθέρως) gebändigt, nämlich unter den Bedingungen der Demokratie, fur die ,Freiheit' der wichtigste Leitbegriff war.16

„In freiheitlicher Weise niederhalten" ist im Grunde eine paradoxe For-mulierung, die bereits auf die Antinomie der Demokratie unter Perikles hindeutet. Darauf folgt eine nähere Bestimmung von dessen Führungsfa-higkeit: Er habe nämlich eher die Menge gefuhrt, als daß er von ihr ge-

15 Ähnlich dem λάβρος στρατός bei Pindar 2. P. 87. 16 Davon wollte Solon bezeichnenderweise noch nichts wissen. Das Volk, sagt er in 5 D,7 f., folgt am besten seinen Führern, weder zu sehr losgelassen noch gezwungenermaßen (μήτε λίαν άνεθείς μήτε βιαζόμενος). Die Freiheit erscheint da noch nicht als positiver Begriff, sondern wird eher negativ umschrieben.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 15: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit"? 99

fuhrt worden wäre (65,8).17 Das läßt zumindest erkennen, daß Perikles als demokratischer προστάτης auch von Meinungen im Volk abhängig war. Aber aufgrund seines hohen Ansehens war er in der Lage, dem Volkszorn zu widersprechen (όργήν τι άντειπεΐν - 65,8) und die Stimmungen im Volk auszubalancieren (65,9) - wie das Thukydides besonders mit der vorausgehenden „Trostrede" gezeigt hat.

Als Resümee dieser Charakterisierung folgt dann der zentrale Satz des Nachrufs: έγίγνετό τε λόγφ μέν δημοκρατία, έργω δε ύπό του πρώτου ανδρός άρχή. Sein erster Teil leuchtet nach dem Vorangegangenen un-mittelbar ein. Es war nur dem Wort nach eine Demokratie, da der Demos Perikles das politische Handeln (πάντα τα πράγματα) übertragen hatte. Aber es wurde damit keine Einherrschaft. Es blieb sogar weiterhin eine Demokratie, in der das Volk seinen Führer - wie gerade vorexerziert -absetzen konnte und die letzte Entscheidung behielt, ganz abgesehen vom Fortbestand der gesamten Maschinerie demokratischer Ämter und Insti-tutionen.

Der zweite Teil ist problematischer, allerdings nicht hinsichtlich der Rolle des „Ersten Mannes". Dieser informelle Titel paßt vielmehr genau zu der Funktion und Position, die Thukydides zuvor Perikles im einzelnen zugeschrieben hat. Ihr Hauptmerkmal ist persönliches Ansehen und Auto-rität, was allein dreimal betont wird (65,4: πλείστου άξιον; 65,8: δυνατός άξιώματι; έπ' αξιώσει). Perikles' herausgehobene Stellung machte ihn nicht unangreifbar, aber sie enthob ihn der alltäglichen Konkurrenz mit anderen Politikern.

Das führt Thukydides im folgenden näher aus: „Die aber später, da sie selbst untereinander eher gleich waren und bestrebt, jeder der erste zu werden, überließen den Launen des Volkes sogar die Politik" (65,10: τφ δήμφ και τά πράγματα ένδιδόναι). Es geschah dies - nach Thuky-dides' Auffassung - weniger aus demokratischer Überzeugung, sondern aus politischer Schwäche und Berechnung, nämlich um die jeweiligen Konkurrenten auszustechen. Das Ergebnis war die Demokratie nicht nur dem Worte nach, sondern auch in der Tat, sogar bis hin zum Bürgerkrieg, der στάσις (65,12) des Jahres 411. Vorausgegangen waren die Anschlä-ge der Einzelnen im Kampf um die Volksfuhrerschaft (65,11: κατά τάς ιδίας διαβολάς περί της του δήμου προστασίας). Das ist fur Thukydi-des gewissermaßen der schlechte Normalzustand der Demokratie, in der jeweils die „eigenen" Zwecke, Interessen und Streitigkeiten der Bürger,

17 Thukydides drückt es noch mehr untertreibend aus: και ούκ ηγετο μάλλον ύπ' αύτοϋ ή αύτός ήγε.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 16: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

100 Peter Spahn

zumal der Politiker dominieren. Mit der wiederholten Rede von den ϊδια wird ein Leitthema dieses Kapitels angesprochen: Es beginnt mit den je eigenen Leiden (65,2), dann folgen Ehrgeiz und Gewinne (65,7), schließ-lich die Ränke (65,11) und Zerwürfhisse (65,12). Dazwischen aber steht der Satz, der die entgegengesetzten Verhältnisse unter Perikles beschreibt (65,9). War das nun in Thukydides' Augen „eine Herrschaft des Ersten Mannes"?

Gerade durch die Gegenüberstellung von Perikles mit all den anderen, die jeweils nur ihre „eigenen" Ziele verfolgten, wird deutlich, daß dies auf die αρχή unter seiner Ägide nicht zutrifft. Es ist diese αρχή fur Thu-kydides auch das Gegenteil von einer monarchischen Herrschaft im Sinne einer Tyrannis.18 Denn die typische Politik von Tyrannen ist nach seinem Urteil derjenigen Athens unter Perikles genau entgegengesetzt. Von jenen heißt es in der Archäologie·. „In ihrer engen Sorge bloß fur die eigene Person und die Mehrung ihres Hauses, lenkten (sie) ihre Städte so vor-sichtig sie irgend konnten, und keine nennenswerte Tat ward von ihnen vollbracht als höchstens gegen ihre nächsten Nachbarn" (1,17- Übers. Landmann). Perikles dagegen wendet sich nach Thukydides' Darstellung nicht nur als Redner gegen eine zu ängstliche Sorge um die ϊδια. Es liegt ihm auch selbst nichts daran, wie den Tyrannen, τον ίδιον οίκον αΰξειν (1,17). Sondern er bietet im Gegenteil „seine Häuser und Felder, falls der Feind sie nicht wie die der anderen zerstöre, dem Volk als Gemeingut an" (2,13,1). Perikles redet und handelt also hinsichtlich seiner eigenen Interessen gerade umgekehrt wie ein typischer Tyrann. Und ebenso ist die Außenpolitik Athens unter seiner Führung konträr zu derjenigen unter der Tyrannis. Sie vollbrachte in dieser Hinsicht ουδέν έργον άξιόλογον (1,17). Dagegen preist Perikles in seiner letzten Rede gerade die Grö-ße, den Glanz und den immerwährenden Ruhm der άρχή Athens. Und Thukydides übernimmt diese Zielsetzung zustimmend in den Nachruf als Grundlage für die Beurteilung der Politik Athens unter Perikles, sogar angesichts scheinbar gegenläufiger Fakten.

18 Siehe dagegen Hartmut Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.Chr., Berlin 1999, 153: „Die so ver-standene Dominanz des Perikles ist bis zu einem gewissen Grade vergleichbar mit der Ty-rannis des Peisistratos, wie Thukydides sie zeichnet." Abgesehen davon, daß Thukydides kaum etwas über die Tyrannis des Peisistratos sagt, sondern fast nur über die seiner Söhne, scheint mir jene Analogie bei Thukydides nicht angelegt. Allerdings will auch Leppin nicht suggerieren, „daß Thukydides seinen Lesern Perikles als Tyrannen habe vorführen wollen" (ebd.).

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 17: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 101

Die Formel der ύπό του πρώτου άνδρός άρχή besagt also nicht „eine Herrschaft des Ersten Mannes", erst recht nicht im Sinne einer Art von Tyrannis. άρχή meint in diesem Zusammenhang vielmehr die Regierung und Herrschaft Athens, und zwar die „unter Führung des Ersten Man-nes". Thukydides fugt in diesem Begriff der άρχή den innen- und außen-politischen Aspekt zusammen: also einerseits das demokratische Regie-rungssystem Athens unter der maßgeblichen Autorität des Perikles und andererseits die Herrschaft Athens über die Bundesgenossen, die ebenso unter dessen Führung erfolgte. Von diesem Aspekt der athenischen άρχή, der Perikles' letzte Rede durchgehend bestimmt, ist auch im Nachruf an zwei Stellen ausdrücklich die Rede: einmal in bezug auf Perikles' Rat, die άρχή wahrend des Krieges nicht zu vergrößern (2,65,7); und zum an-deren im Hinblick auf die Fehler, wie sie „in einer großen Stadt, die eine άρχή innehat" (2,65,11) begangen werden. In dem dazwischenstehenden Satz (2,65,9) schwingt diese außenpolitische Bedeutung der άρχή Athens zumindest mit; wenn man auch zunächst durch die Antithese von λόγφ μεν δημοκρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή an die innen-politische Seite der άρχή denkt. Aber nicht nur Perikles geht es in seiner vorausgehenden Rede allein um die άρχή Athens nach außen, sondern auch Thukydides interessiert sich primär fur diese Seite der άρχή und identifiziert sich mit ihr selbst noch in Kenntnis ihrer katastrophalen Ent-wicklung unter Perikles' Nachfolgern.

IV. Fazit

Der zentrale Satz im Nachruf auf Perikles: έγίγνετό τε λόγφ μέν δημο-κρατία, εργφ δέ ύπό του πρώτου άνδρός άρχή, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine von Thukydides sehr bewußt gewählte und komplexe Formulierung. Sie wird im Werk in mehreren Schritten vorbereitet und durch explizite und implizite Vergleiche verdeutlicht. Die vorherrschende Übersetzung des Satzes, die auf eine Gegenüberstellung von nomineller Demokratie und faktischer Herrschaft des Perikles abhebt, läßt die un-gewöhnliche Ausdrucksweise, die Nuanciertheit der Aussage sowie die verschiedenen Kontextbezüge und Anspielungen außer acht. Eine simple Entgegensetzung von nomineller Demokratie und tatsächlicher Monar-chie wäre bei Thukydides an sich schon verwunderlich, weil sie weder seinem Denk- und Argumentationsstil noch seiner politischen Haltung entspräche. Thukydides argumentiert zwar gern mit Antithesen; aber die-

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 18: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

102 Peter Spahn

se sind in der Regel komplexer und differenzierter, außerdem enthalten sie zuweilen überraschende gedankliche Sprünge. Als Beispiel sei hier auf die bekannte, allerdings nicht leicht verständliche Definition der athe-nischen Verfassung im Epitaphios (2,37,1) verwiesen. Dort ist auch im ersten Teil von „der Demokratie dem Namen nach" die Rede. Der zweite Teil bildet dazu aber keinen einfachen Gegensatz, sondern ist in sich wie-derum mehrfach antithetisch konstruiert. So komplex ist die Aussage der Formel in 2,65,9 schon ihrer Kürze wegen zwar nicht, aber sie ist doch problematischer und beziehungsreicher, als die üblichen Übersetzungen erkennen lassen.

Thukydides charakterisiert den „Ersten Mann" und die von ihm ausge-hende αρχή Athens von mehreren Bezugspunkten aus sowie durch ver-schiedene Vergleiche und Stilmittel: erstens mit einem auffälligen biogra-phischen Exkurs (1,127-139) und durch den impliziten Vergleich mit den fuhrenden Männern der Perserkriegszeit; zweitens aus der Perspektive der Periklesreden, hier vor allem der letzten (2,60-64) mit dem Haupt-thema der αρχή Athens; und drittens im Nachruf auf Perikles (2,65). Dort findet sich einerseits ein expliziter Vergleich mit „den Späteren" (2,65,10) und andererseits - was oft übersehen wird - die Wiederaufnahme der zuvor im 1. Buch (besonders in 1,127-139) und in den Reden vorgegebe-nen Begriffe, Bewertungen und Relationierungsmöglichkeiten. Aus jenen drei Textzusammenhängen lassen sich folgende Ergebnisse ableiten:

1. Es ist bedeutsam, daß Thukydides die Bezeichnung πρώτος άνήρ fur Perikles reserviert und mit der Variante πρώτος Αθηναίων (in 1,139,4) im abschließenden „Rahmensatz" des Pausanias-Themistokles-Exkurses einfuhrt. Durch diese semantische und inhaltliche Verklammerung wird zwischen den Zeilen ein Vergleich des „Ersten der Athener" mit den „zu ihrer Zeit Glänzendsten der Hellenen" nahegelegt. Verfolgt man diese Spur dann von 2,65 aus wieder zurück, erhalten die Aussagen des Nach-rufs noch ein ganz anderes Gewicht. Der „Erste Mann" war zwar „der mächtigste", aber er hat sich nicht auf den Abweg zu einer Tyrannis hin begeben: weder in Richtung einer auf seine Person bezogenen Ελληνική άρχή wie Pausanias (1,128,3), noch einer despotischen Herrschaft über mehrere Städte mit entsprechenden Einkünften wie Themistokles (1,138,5). Perikles' Macht beruhte dagegen Thukydides zufolge auf sei-nem Ansehen in der Bürgerschaft, seiner intellektuellen und rhetorischen Kompetenz, seiner materiellen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit sowie seinem freiheitlichen Führungsstil. Er besaß ähnlich überragende politische und strategische Fähigkeiten wie Themistokles, aber er war

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 19: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

„ Dem Namen nach eine Demokratie " - was aber „ in Wirklichkeit "? 103

eben außerdem - ganz anders als dieser - bis zum Ende der eigenen Stadt zugetan und verpflichtet (φιλόπολις) und von keiner auswärtigen Macht zu beschenken und zu beeinflussen.

2. Diese vier Hauptzüge des Periklesbildes werden indirekt durch die Kontrastierung mit dem Doppelporträt Pausanias-Themistokles und aus-drücklich durch die aus der letzten Periklesrede von Thukydides über-nommenen Beurteilungsmaßstäbe bestätigt. Darüber hinaus überträgt der Historiker aber auch die zentrale Thematik dieser Rede auf den Nachruf, nämlich das Verhältnis der „eigenen" Interessen (τα ϊδια) zu denen der Polis sowie die Bedeutung und die Erfordernisse der άρχή Athens. Pe-rikles verlangt von den Bürgern, ihre ϊδια zurückzustellen zugunsten der Notwendigkeiten und der Vorteile ihrer kollektiven άρχή. Und er lebt die-se Haltung, die in seinen (und in Thukydides') Augen einen guten Politi-ker und einen guten Bürger auszeichnen, auch tatsächlich selbst vor, in-dem er im Ernstfall seine ϊδια demonstrativ dem Volk überträgt. Er spricht folglich nirgends von seiner άρχή, sondern immer nur von der Athens und der Athener. Eine solche Redeweise ist eigentlich nicht überraschend, sondern entspricht den Erfordernissen (τα δέοντα) der Situation, wie im Methodenkapitel (1,22,1) angekündigt. Eine Besonderheit im gesamten Werk besteht jedoch darin, daß Thukydides die Selbstdarstellung des Pe-rikles aus dessen Rede nahezu vollständig in seinen Nachruf übernimmt. Die zunächst nur subjektive, situativ bedingte Aussage wird so zu einer objektiven, auktorialen Feststellung.

3. Das Verständnis der in Frage stehenden Formulierung in 2,65,9 hat sich also auch an all den genannten Bezugspunkten zu orientieren. Von ei-ner „Regierung" oder gar von einer „Herrschaft des Ersten Mannes" woll-te Thukydides in diesem Zusammenhang offenbar nicht sprechen. Eine solche Ausdrucksweise, die den Besitzer oder Urheber einer άρχή mit dem bloßen Genitiv bezeichnet, benutzt er in der Regel fur nichtgriechi-sche Herrscher19 oder aber für Polisbürgerschaften20. Perikles erscheint an dieser Stelle genau betrachtet nicht als das Subjekt der άρχή. Sowohl der sprachliche Befund als auch der Kontext und nicht zuletzt Thukydides' politische Haltung aufgrund seiner Identifikation mit Perikles weisen in eine andere Richtung: Mit seiner gesamten Darstellung des Perikles, die in der Wendung ύπό του πρώτου άνδρός άρχή kulminiert, formuliert der Historiker eine subtile Widerlegung der von verschiedenen Seiten gegen seinen Favoriten gerichteten Vorwürfe, die sich gegen dessen Finanzge-

19 Zum Beispiel 4,78,6: της Περδίκκου αρχής. 20 Zum Beispiel 1,67,4: έν τη Αθηναίων άρχη oder 6,90,2: της Καρχδονίων αρχής.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM

Page 20: Gegenwärtige Antike - antike Gegenwarten (Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger) || „Dem Namen nach eine Demokratie" - was aber „in Wirklichkeit“? (Zu Thuk. 2,65,9)

104 Peter Spahn

baren und sein angeblich tyrannengleiches Auftreten richteten. Perikles ist fur Thukydides kein Herrscher, sondern πρώτος άνήρ bzw. πρώτος Αθηναίων. Er schreibt deswegen auch nicht von dessen Herrschaft oder Regierung, also nicht von einer άρχή im Besitz des Perikles, wie es der bloße Genitiv ausdrücken würde. Das wollte Thukydides nämlich gerade nicht sagen oder auch nur andeuten. Mit ύπό του πρώτου ανδρός άρχή bezeichnet er vielmehr „eine Regierung unter dem Ersten Mann" - das heißt die von Perikles geführte demokratische Regierung Athens, die zu-gleich nach außen hin Herrschaft ausübte.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/7/14 9:18 AM