gigon, die philosophie der antike und die existenzphilosophie

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Die Philosophie der Antike und die Existenzphilosophie Autor(en): Gigon, Olof Objekttyp: Article Zeitschrift: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur Band (Jahr): 32 (1952-1953) Heft 3 Persistenter Link: http://dx.doi.org/10.5169/seals-160070 PDF erstellt am: 01.08.2014 Nutzungsbedingungen Mit dem Zugriff auf den vorliegenden Inhalt gelten die Nutzungsbedingungen als akzeptiert. Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die angebotenen Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungshinweisen und unter deren Einhaltung weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind. Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch http://retro.seals.ch

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Page 1: Gigon, Die Philosophie Der Antike Und Die Existenzphilosophie

Die Philosophie der Antike und dieExistenzphilosophie

Autor(en): Gigon, Olof

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur

Band (Jahr): 32 (1952-1953)

Heft 3

Persistenter Link: http://dx.doi.org/10.5169/seals-160070

PDF erstellt am: 01.08.2014

NutzungsbedingungenMit dem Zugriff auf den vorliegenden Inhalt gelten die Nutzungsbedingungen als akzeptiert.Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte anden Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern.Die angebotenen Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie fürdie private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot könnenzusammen mit diesen Nutzungshinweisen und unter deren Einhaltung weitergegeben werden.Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigungder Rechteinhaber erlaubt. Die Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderenServern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber.

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Glarus und Zug 600 Jahre im Bunde der Eidgenossen 163

Dämme des Kanals und schenkte den umliegenden Landschaften Ge¬

sundheit und Neuland zu frischem Schaffen.Die Verbundenheit aller eidgenössischen Bundesglieder ist eine

doppelte. Direkte Beziehungen führen sie zueinander, ihre Interessenoder Rivalitäten begegnen sich, Waren und Leistungen tauschen sieuntereinander in freiem Wettbewerb aus, dann aber treten sie wiederzusammen als Glieder des einen Ganzen, das durch sie gewachsen istund lebt, durch das sie allein in starker Gemeinschaft verbundenbleiben.

DIE PHILOSOPHIE DER ANTIKE UND DIEEXISTENZPHILOSOPHIE

VON OLOF GIGON

Das philosophische Denken entsteht zuerst am Ungewöhnlichenund sucht das Ungewöhnliche. Es strebt aus dem allbekannten Um¬kreis des menschlichen Daseins hinaus zu den Dingen, die «ganzanders» sind. Dies nicht nur darum, weil solche Dinge der Erklä¬

rung bedürfen und weil der Mensch durch das Fremde beunruhigtwird und das Verlangen hat, es sich durch Interpretation vertrautzu machen; sondern vor allem auch darum, weil ein solches Fragennach einem «Ganz Anderen» den Fragenden selbst aus der Alltäg¬lichkeit herausnimmt. Wer sich mit dem Ungewöhnlichen denkendund forschend beschäftigt, scheint glauben zu dürfen, daß er selbstin gewisser Weise zu Ungewöhnlichem berufen sei.

Dieses Ungewöhnliche, das gesucht wird, zeigt sich in der älte¬sten europäischen Philosophie, der sogenannten ionischen Natur¬philosophie des sechsten Jahrhunderts v. Chr., in zwei Formen. Es

ist erstens das in Zeit und Raum Fernste: das, was am Anfang da

war, längst bevor es den vielgestaltig bewegten Kosmos gab, in demwir zuhause sind, und das, was am Rande des Kosmos als ein Voll¬kommenes zu oberst und zu äußerst vorhanden ist und ihn ganzumschließt. Zweitens richtet sich das Denken auf das Paradoxe, das

aus dem selbstverständlichen Ablauf der Dinge herausfällt. Da wer¬den denn mit Vorliebe einzelne seltene und abgelegene Erschei-

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nungen wie Erdbeben, Finsternisse, die Nilüberschwemmungen unddergleichen untersucht.

Diese früheste Philosophie beansprucht ausdrücklich, von allemzu reden. Sie tut es auch, doch so, daß von allem die Rede istaußer Einem: dem, was die tägliche Umwelt und das täglicheVerhalten des Menschen ausmacht. Der Gegenstand der Philosophieist (und bleibt grundsätzlich bis an das Ende der antiken Philo¬sophie) das «Andere», der «Grenzfall», über das Alltägliche alssolches hat keiner philosophiert.

Doch die Form dieses Anderen wandelt sich. Auf dem Höhe¬punkt der frühgriechischen Philosophie tritt als Inbegriff dessen,was dem Menschen im gewohnten Dasein niemals und nirgends be¬

gegnet, an die Stelle des raumzeitlich Fernen und Seltenen dasSeiende. Kosmogonie und Meteorologie konvergieren zur Ontologie.Es ist von entscheidender Bedeutung, daß bei den Griechen der Be¬

griff des Seins auf diesem Wege gewonnen wird. Unter diesem Be¬

griff wird verstanden das Ursprüngliche und damit sowohl das Einewie auch das Dauerhafte und Ewige. Denn der Anfang des Kosmosist einer und steht als einer der unübersehbaren Vielheit der unsvertrauten Welt gegenüber; und was am Anfang ist, ist zugleichdas Fortdauernde und sich selbst gleich Beharrende ; es hebt sich aufsgrellste ab von unserer Welt, in der sich alles wandelt und nichtsmit sich selbst identisch bleibt. Immer aber ist das Sein gegen¬ständlich gedacht als eine für sich vorhandene Welt, die sich derGeist zwar bei seltenen Gelegenheiten vergegenwärtigen kann, dieaber an sich gerade niemals gegenwärtig ist.

Die klassische griechische Philosophie ist die Auseinandersetzungmit diesem Begriff des Seins. Sie vollzieht sich in mehreren Be¬

wegungen.Vor allem zeigt sich, daß das Sein als das radikal Ferne, das

radikal unserer menschlichen Erfahrungswelt Entgegengesetzte nichtfestgehalten werden kann. Genau besehen hat zwar kein antikerPhilosoph geleugnet, daß das Sein in der Tat so sein müßte, wiees gesagt wurde: ewig, eines, unwandelbar mit sich selbst gleich.Aber dieses Sein ist in zu großer Ferne. Es ist nicht erreichbar.Es scheint keine Beziehung zwischen ihm und unserer sichtbarenWelt möglich zu sein. So vollzieht sich gewissermaßen ein ersterRückzug. Da das eine Sein nicht faßbar ist, so bleibt uns nur einSein, das zwar ewig ist, aber zersplittert in eine Vielheit. Diesesvielheitlich gewordene Sein kann nun immerhin als echter Ursprungunserer Welt begreifbar gemacht werden; sei es, daß es die Gestaltvon unendlich vielen unteilbaren Einheiten annimmt, aus derenKomposition unsere Welt entsteht, sei es, daß es als eine Welt vonUrbildern existiert, denen unsere Welt nachgebildet ist. Daß es viel-

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fach zu einem zweiten Rückzug kommt mit der Feststellung, dermenschliche Geist vermöge überhaupt in keiner Weise zum Sein vor¬zudringen, sei nur eben angedeutet.

In andern Richtungen aber befestigt sich der Begriff des Seins.Da ist zunächst dies: das Sein ist von Haus aus als das zeiträumlichFernste zu verstehen. Dann ist es nicht so merkwürdig, wenn inden Worten der Philosophen der Begriff des Seins in eine eigen¬tümliche Beziehung tritt zum religiösen Begriff des Jenseitigen. DasJenseits ist das Sein, der Philosophierende wird identisch mit demim religiösen Sinne Reinen, und der Lohn, der den Reinen erwartet,ist nichts anderes als die vollkommene Erkenntnis des Seins.

Der Umgang mit dem Sein wird damit erst recht zu einem Auf¬enthalt im Abgelegensten, zu einer Entfernung, wenn nicht gar zueiner Flucht aus dem alltäglichen Dasein. Der Philosoph wird demGewohnten völlig entfremdet und vor allem : sofern sich das Handelnnotwendig im Räume des alltäglichen Hier und Jetzt abspielt, wirdder Philosoph auch das Handeln aufgeben. Denn dem Sein als demjenseitig Fernsten gegenüber gibt es kein Handeln, es sei dennim Sinne einer Konzentration auf die reine Erkenntnis. Jedem Leservon Piatons Dialogen ist diese gegenseitige Durchdringung von onto-logischen und religiösen Kategorien bekannt; man muß sich aberklar machen, wie wenig selbstverständlich dies im Grunde ist.

Piaton ist es immerhin auch, der am entschiedensten versuchthat, das Handeln des Menschen mit dem Sein zu verknüpfen, alsodas Nächste und das Fernste ausdrücklich aneinander zu binden. Ertut es mit dem Begriff des Guten, dem Zentralbegriff seiner Philo¬sophie: das Gute ist eines, ewig und unwandelbar mit sich selbstidentisch wie das Sein, das Urbild von allem, was im täglichen Ver¬halten gut heißt. Doch ist es Piaton selbst bewußt gewesen, daß derVersuch solcher Verknüpfung von vornherein scheitern mußte: dasals Sein bestimmte Gute bleibt faktisch in derselben Ferne wie dasSein als solches. Es ist nicht fähig, ins konkrete Dasein einzugreifen.

Endlich: das Sein als unwandelbar mit sich selbst Identischesund Ewiges wird zum Gegenstand dessen, was seit Piaton in einememinenten und ausschließlichen Sinne «Wissenschaft» heißt. Nurvom Unwandelbaren gibt es Wissenschaft. Das ist ein Satz, der seitPiaton für die Antike unverrückbar feststeht. Gestützt wird dieserSatz in bezeichnender Weise durch die Reflexion über die Sprache.In der Sprache findet sich das gemeinte Unwandelbare wieder. DasWort «Pferd» enthält etwas, was überall und im wesentlichen immergleich verstanden wird und insofern in seinem Kern ein Seiendesbezeichnen muß. Allerdings wird gerade da der «Seinsgehalt» sehrbald abgebaut. Das im sprachlichen Begriff zuerst entdeckte Sei¬

ende verblaßt in ein bloßes Allgemeines, freilich ein Allgemeines,

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das auch so den Rang beibehält, als ein Unwandelbares der einzigeGegenstand der Wissenschaft zu sein.

Damit sei unser Überblick geschlossen. Auf drei Momente kames uns vor allem an: einmal, daß der antike Begriff des Seins ander Kosmologie gewonnen wurde und schon insofern strikte gegen¬ständlich bleibt. Zweitens, daß er sich am Ende der geschildertenEntwicklung vor allem mit dem Begriff des Unwandelbaren und All¬gemeinen verbindet und als solcher zum Gegenstand der Wissen¬schaft als der höchsten und eigentlichen Erkenntnisform wird. End¬lich, daß auch dort, wo das Sein als solches und später die Wissen¬schaft wieder preisgegeben wird, dies grundsätzlich nur einen Rück¬

zug bedeutet, einen agnostischen Verzicht auf Möglichkeiten, die demMenschen verschlossen bleiben, und nicht etwa das Vordringen einesneuen Verständnisses von Sein und Erkenntnis.

Hier darf nun unser Vergleich einsetzen. Wir sind uns darübervöllig im klaren, wie anfechtbar jedes Vergleichen im geschicht¬lichen Räume ist, doppelt anfechtbar in der Form einer flüchtigenSkizze, und erst recht, wenn wir bedenken, daß also ein großes ab¬

geschlossenes Gebilde verglichen werden soll mit einem andern, daserst im Beginn seines Werdens steht. Denn dies sei gleich von vorn¬herein als unsere Überzeugung ausgesprochen: was heute in einerReihe verschiedener philosophischer Observanzen unter dem Namender Existenzphilosophie zusammengefaßt werden kann, betrachtenwir keineswegs als etwas bereits Vollendetes. Es scheint sich unsvielmehr um einen Anfang zu handeln, über den es möglich undnotwendig ist hinauszukommen. Mit dieser Behauptung halten wiruns gleichzeitig (verwegen genug) für legitimiert, eine Diskussionmit den einzelnen Observanzen der Existenzphilosophie zu unter¬lassen. Wir versuchen, die Sache selbst zu charakterisieren.

Im Mittelpunkt der Existenzphilosophie steht, nicht anders alsin der antiken Philosophie, das Sein. Und für die eine wie für dieandere ist das Sein in Wahrheit ein Fernstes und Seltenstes. Wennaber für die Antike das Sein als ein am Rande der GegenstandsweltVorhandenes zu entdecken und zu erforschen ist, so ist es für dieExistenzphilosophie etwas, das der Mensch handelnd zu verwirklichenhat. Es gehört also dem Bereich des Handelns an als sein «äußersterRand», als der Gehalt seiner Unbedingtheit. Hieraus ergibt sich allesWeitere. Das Sein ist in keinem Sinne ein verfügbar Vorhandenes;es ist auch nichts, was endgültig erworben werden könnte. Es kannnur da und dort selten und vorübergehend in die Wirklichkeit ein¬treten. Es ist auch in keinem Sinne etwas Allgemeines; denn ver¬wirklicht wird es nur durch den Einzelnen dort, wo er am meistenund am unverwechselbarsten er selbst ist. So wird jede Verwirk¬lichung des Seins eine andere und einmalige Gestalt annehmen. Dar-

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aus folgt, daß die Existenzphilosophie zweifellos das Gegenteil voneiner Wissenschaft im antiken Sinne darstellt. Sie kann vom Sein,das sie so begreift, nichts Allgemeines aussagen. Die einzige Wissen¬schaft, der sie nahe steht, ist die Geschichte als die Wissenschaft,die das Handeln vergangener Menschen in seiner immer wieder neuenEinmaligkeit zu begreifen sucht. Es ist aber kein Zufall, daß dieantike Philosophie gerade mit der Geschichte nicht eben viel anzu¬fangen wußte; ihr war die Naturwissenschaft mit ihrem immerwiederkehrenden Tatsachenmaterial bedeutend vertrauter. Umge¬kehrt wiederum hat es in der europäischen Geschichte bisher wohlkaum eine Philosophie gegeben, der das naturwissenschaftlicheDenken so fremd ist wie die Existenzphilosophie.

Um noch einen Schritt weiter zu gehen: wenn das Sein etwasist, was als ein Einzelnes durch den Einzelnen zu verwirklichen ist,so stellt sich die Frage, wie man überhaupt vom Sein reden kann.Jedenfalls kann die Sprache, deren Material mit Notwendigkeit das

verfügbare Allgemeine ist, es nicht angemessen bewältigen. Es bleibtausschließlich der Weg der «indirekten Aussage»: der Bereich desGemeinten wird gewissermaßen von außen umgrenzt, die Mitte selbstbleibt unaussprechbar. Man kann im Hinblick darauf sehr wohl sagen,daß sich die Äußerungsform der Existenzphilosophie in dem Maßeder Dichtung nähert, als sie sich von der Wissenschaft im antikenSinne entfernt.

Zu den wesentlichsten Begriffen der Existenzphilosophie gehörtderjenige der Freiheit. Nur frei handelnd kann der Einzelne dasSein verwirklichen, und dieses selbst ist in einer gewissen Weisefrei, sich dem Handelnden zu eröffnen oder zu verschließen. Wennder Ausdruck nicht etwas mißverständlich wäre, dürfte man be¬

haupten, daß die Existenzphilosophie hinter dem, was sie Sein nennt,keinen Gegenstand sieht, der allgemeingültig beschreibbar wäre, son¬dern eine Person, die dem, der sie sucht, entgegenkommt oder auchnicht.

Es bedarf keiner langen Ausführungen, um zu zeigen, daß eineso aufgefaßte Existenzphilosophie den äußersten Gegensatz zu allenIntentionen der antiken Philosophie darstellt. Gemeinsam ist wirk¬lich nur der Ansatz: das Suchen eines Seins, das nur als ein «ganzAnderes» weit ab von allem alltäglichen Dasein gefunden werdenkann. Darüber hinaus ist die Verschiedenheit unaufhebbar. Schein¬bare Ähnlichkeiten sind allerdings in recht ansehnlicher Zahl vor¬handen. Aber sie dürfen nicht täuschen. Wo für die antike Philo¬sophie das Sein ins Unerkennbare entweicht, so liegt es nicht daran,daß es eben nur als Einzelnes durch den Einzelnen zu verwirklichenist, sondern daran, daß die menschliche Natur nicht hinlänglich mitErkenntniskräften ausgerüstet ist; und wenn die antike Philosophie

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vom Handeln spricht, so meint sie nicht eine unbedingte Freiheit,sondern ein Erfüllen bestimmter, aus der menschlichen Natur all¬

gemeingültig ableitbarer Gesetze.Es bleibt aber überlegenswert, woher eigentlich dieser funda¬

mentale Gegensatz kommt.Uns scheint, daß in der Existenzphilosophie unverkennbar zwei

Komponenten aufs stärkste (und durchaus legitim) wirksam sind.Das eine ist eine religiöse Komponente. Sie trafen wir schon in derAntike dort, wo das Sein der Ontologie die Züge eines Jenseits derReligion annimmt. Hier dagegen nimmt das Sein die Züge des Geistes

an, der «weht, wo er will». Wie der Geist dem Einzelnen den Glau¬ben in der Weise und zu der Zeit gibt, die er will, und wie derEinzelne dann, für diesen Geist sich entscheidend, Zeugnis ablegt,so ist letzten Endes auch die Verwirklichung des Seins zu verstehen,von der die Existenzphilosophie spricht. Oder wenn das etwas zuviel gesagt ist: ohne diese religiöse und genauer: reformatorischeKomponente wird die Existenzphilosophie in allen ihren Observanzen(so paradox das scheinen mag) schwerlich zureichend verstandenwerden können.

Die andere Komponente ist, zugespitzt formuliert, das Problemder Technik. Wir meinen folgendes. Für die Antike ist der Gegen¬stand der Wissenschaft wie der Philosophie das Allgemeine. In dem,was immer und überall als Wesen oder als Gesetz gültig ist, glaubtsie gewissermaßen das Ewige zu fassen. Denn das Alltägliche ist das

Wandelbare; doch nur was sich wiederholt und gleich bleibt, weist aufdas Sein. Dies ist eine Überzeugung, die auf einer bestimmten Er¬

fahrung der Situation des Menschen beruht. Von einer durchausandern Erfahrung geht die Existenzphilosophie aus. Daß gewisseErscheinungen sich wiederholen und als allgemeines Gesetz formu¬liert werden können, weist gerade nicht auf das Sein, sondern istlediglich die Vorbedingung dafür, daß der Mensch seine Umwelttechnisch zu beherrschen und zu benutzen vermag. Das Symbol derunaufhörlichen absoluten Wiederholung ist die Maschine. Das Seinhingegen ist das, was immer wieder anders und einmalig durch denEinzelnen Wirklichkeit wird. Für die Antike ist das allgemeine Ge¬

setz ewig, die Ausnahme dagegen dem Zufall nahe, den es in derVergänglichkeit geben kann. Für die Existenzphilosophie dagegenist das Allgemeine der Inbegriff der Diesseitigkeit und die Aus¬nahme der Ausblick auf das Sein.

So verbinden sich in einer geschichtlich wahrhaft unvorherseh¬baren Weise das reformatorische Verständnis des Glaubens und dieErfahrung der Technik zu einem Ganzen, aus dem die Existenz¬philosophie möglich wurde; und vor allem: von hier aus wird dereminent unantike Charakter der Existenzphilosophie wohl begreiflich.

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Es wäre eine zwar schon vielfach erörterte, aber von unsermGesichtspunkt her besonders fesselnde Nebenfrage, weshalb dieAntike denn die Technik in dem wesentlichen modernen Sinne nichthervorgebracht hat. Dazu nur das Eine, das uns zum Anfang un¬serer Skizze zurückführt: in der Antike gilt es nicht nur von derPhilosophie, daß ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise, wenn nicht aus¬schließlich dem Fernsten und Seltensten zugewandt ist, sondern ineinem bestimmten Sinne von der Wissenschaft überhaupt. Sie regi¬striert das Alltägliche, ohne es näher zu befragen. Um nur ein ein¬

ziges kapitales Problem anzudeuten: in der ganzen Antike geltenErde, Wasser, Luft und Feuer als elementare Bestandteile des Kos¬

mos. Sie werden nach einigen ganz allgemeinen Kategorien be¬

schrieben und zusammengeordnet, und das genügt. Sie gehören zusehr dem vertrauten Umweltbereich des Menschen an, als daß mansich länger bei ihnen aufhalten müßte.

Natürlich kommen andere Momente dazu, die eine Entwicklungder Technik entscheidend hemmen: das Fehlen exakter Methodender Analyse und Statistik auf der einen, das mangelnde Interessean der Perfektionierung der äußern Lebensbedingungen auf derandern Seite. Aber daneben fällt doch ins Gewicht, daß der antikeGeist im ganzen ein zu eindeutig philosophischer war. Das Sein alsdas Fernste hielt ihn fest. Und darin wenigstens ist wiederum dieExistenzphilosophie der Antike treu geblieben.