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Leo Tolstoi Hadschi Murat Der Held des Kaukasus Aus dem Russischen von August Scholz Anaconda

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Leo TolstoiHadschi Murat

Der Held des Kaukasus

Aus dem Russischen von August Scholz

Anaconda

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Die Erzählung Chadži-Murat entstand zwischen 1896 und 1904 und wurdeerstmals postum 1912 in Moskau veröffentlicht. Die Übersetzung vonAugust Scholz erschien zuerst 1925 bei Ladyschnikow in Berlin und folgthier der Ausgabe München: Heyne 1962. Orthografie und Interpunktionentsprechen den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: »Cossacks of the Caucasus return from a raid on asettlement of Muslim cossacks with a captured crescent banner« (18. Jh.),Private Collection/bridgemanart.comUmschlaggestaltung: agilmedien, KölnSatz und Layout: paquémedia, EbergötzenPrinted in Czech Republic 2011ISBN [email protected]

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Ich ging quer über die Felder nach Hause. Es war mitten imHochsommer. Das Heu auf den Wiesen war bereits abgeern-tet, und man ging daran, den Roggen zu mähen.

Es gibt um diese Zeit eine köstliche Auswahl von Feldblu-men: die in Rot, Weiß oder Rosa prangenden duftigen, flau-mig-weichen Kleeblüten und die milchweißen, angenehmriechenden Sterne der Kamille mit dem grellgelben Kreis inder Mitte und der gelbblühende Ackersenf mit seinem Ho-niggeruch, die schlanken, tulpenartigen, lila oder weiß gefärb-ten Glockenblumen, die kriechenden Wicken, die gelben, ro-ten und rötlichen Skabiosen, der ins Bläuliche spielende kol-benförmige Wegerich mit dem leicht rosig angehauchtenFlaum und dem kaum merklichen feinen Aroma, die anfäng-lich, zumal in der Sonne, hellblauen, später nachdunkelndenund zuletzt ins Rötliche übergehenden Kornblumen und diezarten, nach Mandeln duftenden, rasch welkenden Winden.

Ich hatte einen großen, in allen möglichen Farben prangen-den Strauß gesammelt und ging nach Hause, als ich im Grabeneine prächtige, himbeerfarbene, in voller Blüte stehende Distelerblickte, von der Art, die man bei uns zulande Tatarendistelnennt und die man beim Mähen vorsichtig umgeht, falls sie je-doch zufällig von der Sense getroffen wird, sorgfältig aus demHeu aufliest, damit man sich an den Stacheln nicht verwunde.Ich kam auf den Gedanken, diese Distel zu pflücken und mittenin meinen Strauß zu setzen. Ich stieg in den Graben hinab, triebeine zottige Hummel, die sich in der Blüte festgesogen hatteund darin süß und sanft entschlummert war, von ihrem weichenPlätzchen und machte mich daran, die Blüte zu pflücken. Daswar jedoch keineswegs leicht. Nicht nur, dass der stachlige Stän-gel, selbst nachdem ich meine Hand mit dem Taschentuch um-wickelt hatte, nach meinen Fingern stach: Er war auch so wi-derstandsfähig und fest, dass ich wohl fünf Minuten lang förm- 5

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lich mit ihm kämpfte und jede Faser einzeln durchreißenmusste. Als ich die Blume endlich gepflückt hatte, war der Stän-gel schon ganz zerfetzt und zerfasert, und auch die Blüte selbstschien nicht mehr so frisch und schön. Überdies passte sie mitihrer plumpen, großen Form nicht recht unter die übrigen zar-ten Blüten des Straußes. Ich bedauerte, die Blume, die an ihremPlatz recht schön gewesen war, unnützerweise abgerissen zu ha-ben, und warf sie fort. ›Welche Energie, welche Lebenskraftsteckte doch in dieser Blume!‹, ging es mir durch den Sinn, alsich an die Anstrengungen dachte, die es mich gekostet hatte, siezu pflücken. ›Wie verzweifelt hat sie sich gewehrt, wie teuer ihrLeben verkauft!‹

Der Weg zum Haus führte über frisch gepflügtes, schwar-zes, fettes Brachfeld. Ich schritt auf der staubigen, dunklenStraße daher, einen flachen Abhang hinauf. Das gepflügteLand gehörte zum Gut und war sehr groß: Zu beiden Sei-ten, wie auch nach vorn, sah man nichts als schwarzes,gleichmäßig durchfurchtes, noch nicht geeggtes Ackerland.Der Pflug hatte hier gute Arbeit geleistet, nirgends auf demweiten Feld sah man auch nur ein Pflänzchen, einen Gras-halm, alles war gleichförmig schwarz. ›Was für ein zerstö-rungssüchtiges Wesen ist doch der Mensch, wie viel lebendeOrganismen mannigfachster Art vernichtet er, um sein eig-nes Leben zu erhalten!‹, dachte ich, während ich unwillkür-lich nach irgendeiner Spur von Vegetation inmitten diesestoten, schwarzen Feldes ausschaute. Vor mir, rechts vom Weg,erblickte ich etwas wie einen kleinen Strauch. Als ich näherheranging, sah ich, dass es gleichfalls eine Tatarendistel war,von derselben Art wie jene, die ich vorhin um ihren Blüten-schmuck gebracht hatte.

Die Distelstaude bestand aus drei Stängeln. An dem einenwar die Blüte abgerissen, und der Stumpf starrte in die Luft wieein Arm, dessen Hand abgehauen war. Die beiden anderenStängel trugen jeder eine Blüte. Diese Blüten waren einstmalsrot gewesen, jetzt aber waren sie ganz schwarz. Der eine Stängelwar geknickt, und die obere Hälfte mit der unansehnlichenBlüte an der Spitze hing herab; der andere Stängel war zwar vonschwarzer Erde beschmutzt, doch ragte er immer noch gerade6

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empor. Man sah, dass ein Rad über den ganzen stacheligenBusch hinweggegangen war, dass er sich dann aber wieder auf-gerichtet hatte, wenn auch nicht ganz, denn er stand ziemlichschief, aber er stand doch jedenfalls, wie ein Mensch, dem einStück Fleisch aus dem Leib gerissen, dem die Eingeweide um-gekehrt, ein Arm ausgerenkt, ein Auge ausgestochen worden,der aber immer noch dasteht und dem Feinde nicht weicht,dessen Hiebe alle seine Brüder ringsum niedergemäht haben.

›Welche Energie!‹, dachte ich, ›alles hat der Mensch hierbesiegt, Millionen von Kräutern und Gräsern hat er vernich-tet, und nur dieses eine ergibt sich nicht.‹ Und ich erinnertemich einer Geschichte aus vergangener Zeit, aus der Epocheder Kaukasuskämpfe, die ich zum Teil miterlebt habe, zum Teilaus den Schilderungen anderer Augenzeugen kannte und zumTeil aus der Phantasie ergänzte. Diese Geschichte, wie sie inmeiner Erinnerung und meiner Vorstellung sich gestaltet hat,lasse ich hier folgen.

I

Es war Ende des Jahres 1851. An einem kalten November-abend kam Hadschi Murat in das von einer unruhigen Bevöl-kerung bewohnte Tschetschenendorf 1 Machket geritten. DasDorf lag etwa zwanzig Werst von den russischen Besitzungenentfernt und war von dem herb duftenden Rauch der Kuhfla-den erfüllt, die in jener Gegend als Brennmaterial dienten.

Der langgedehnte Gesang des Muezzin2 war soeben ver-stummt, und in der reinen Bergluft vernahm man deutlich,durch das Brüllen der Kühe und das Blöken der Schafe hin-durch, die soeben über die gleich den Zellen einer Honigwabeaneinandergereihten Gehöfte des Dorfes verteilt wurden, dieKehllaute streitender männlicher Stimmen und die Unterhal-tung der Frauen und Kinder unten am Springbrunnen.

71 Dorf der Tschetschenen, eines kaukasischen Bergvolkes.2 Mohammedanischer Gebetsrufer.

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