rekonstruktion und realität

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Page 1: Rekonstruktion und Realität

Rekonstruktion und Realität

Evelina Teneva

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung…………………………………………………………………………....... 2

Was ist linguistische Rekonstruktion?........................................................................... 3

Wie wird Sprachgeschichte geschaffen? Der philosophische Hintergrund………....... 4

Die Methode und ihre Grundannahmen………………………………………………. 6

� Die „vergleichende Methode“……………………………………………………… 6

� Das Stammbaummodell………………………………………………………………. 7

� Ausnahmslosigkeit und Regelhaftigkeitsprinzip………………………………….. 8

� Schwächen der vergleichenden Methode…………………………………………... 8

Der Status der rekonstruierten Formen. ……………………………………………… 11

Die „Ursprache“ und das „Urvolk“…………………………………………………. 13

Rekonstruktion und Realität: Zusammenfassung……………………………………... 18

Literatur……………………………………………………………………………….. 19

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Einleitung

„Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist.”

Goethe

Vergleichende Rekonstruktion bildet das Rückgrat historisch-linguistischer Untersuchungen und Erkenntnisse. Ohne sie wäre kein Ursystem zu ermitteln, auf welches dann die indogermanischen Sprachen zurückgeführt werden könnten. Ohne sie würde selbst der Begriff „indogermanische Sprachfamilie“ wenig Sinn haben, denn die Existenz dieser Familie wird unter Anderem anhand der durch die Methode der Rekonstruktion ermittelbaren genetischen Verwandtschaft der Einzelsprachen veranschaulicht. Die Methode wurde also zur Ermittlung und systematischen Beschreibung der Verwandtschaftsverhältnisse eingeführt, die Verwandtschaftsverhältnisse sind aber eine Voraussetzung für die Anwendung der Methode – eine gefährliche gegenseitige Abhängigkeit, und wie es aussieht, an einem Zirkelschluss fast angrenzend, auf welche die Fachliteratur so gut wie nie richtig eingeht, auch wenn das zur Sicherung der Ergebnisse notwendig wäre. Wir beschäftigen uns also selten mit der Frage, ob das Bild, das unsere Methoden schaffen, etwas mit der eigentlichen Realität sprachlicher Phänomene, etwas mit dem Leben und den Menschen zu tun hat und ob die Methoden selbst auf einem guten empirischen Fundament liegen. In unseren logischen Exkursen vergessen wir oft, unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse mit tatsächlichen Gegebenheiten abzugleichen.

Die Frage um die Grundlagen, um die theoretischen Ansätze und die damit verbundene Methodik wird in jeder Wissenschaft eher als unbeliebt angesehen. Zuerst ist es bequemer, unreflektiert bei den bekannten Theorien und Methoden zu bleiben, denn das Hinterfragen und die „Sanierung“ des ganzen Apparats als aufwendige Aufgabe immer abschreckend wirken. Wer möchte sich überhaupt mit einer solchen Aufgabe belasten, wenn es scheinbar gut bewährte Wege des Umgangs mit dem Sprachmaterial schon gibt und wenn so viele Spezialisten diese Wege schon gegangen sind? Gleichzeitig ist eine solche Aufgabe potenziell entmutigend, denn was haben wir als Linguisten bisher so alles gemacht, was beinhaltet unser Wissen, wenn es eventuell auf einem wackeligen theoretischen Fundament ruhen könnte? Wie kann es sein, dass man sich erst jetzt danach fragt? Die Fragen möchten wir nicht einmal zulassen, um die Zweifel zu verhindern. Ähnlich wie im Umgang mit den unangenehmen Themen des Lebens und des Alltags, möchte man hier solche Gedanken lieber verdrängen als direkt ins Zentrum der Betrachtung zu stellen.

Diese Arbeit möchte hingegen in die unerwünschte Thematik direkt hineinschauen, in dem Versuch, die Frage zu beantworten, oder zumindest teilweise zu adressieren, wie viel Realität, wie viel Substanz, wie viel Wahrheit sich in den Ergebnissen, die wir als historische Linguisten durch die Methodik der Rekonstruktion erreichen, verbirgt? Wie gehen wir vor, welche Annahmen stehen hinter den Vorgehensweisen der vergleichenden Rekonstruktion, worauf zielen wir und was erhalten wir genau durch solche Anstrengungen? Nicht zuletzt – inwieweit entsprechen die Ergebnisse unseren Zielen und wenn nicht, warum? Wie sollte man nach solchen Überlegungen mit den Erkenntnissen der historischen Sprachwissenschaft umgehen, welche Anpassung der Interpretationsmodelle ist eventuell nötig? Die Arbeit zielt dabei stärker auf die Beschäftigung mit dem Theoretischen und Methodischen, konkrete Beispiele werden an Stellen nur wo nötig gegeben. Sie beansprucht also nicht die Ausführlichkeit in der Behandlung des ganzen für die Fragestellung zu berücksichtigenden Materials. Eher soll sie als eine allgemeine Anregung für Überlegungen und Neueinschätzungen unseres Wissens dienen, indem sie wichtige theoretische und methodische Probleme anspricht bzw., soweit in diesem Umfang möglich, sich mit möglichen Alternativen befasst.

Alles, was folgt, hat also keine präskriptive Bedeutung und braucht nicht als eine Empfehlung der einen oder anderen Ansicht oder Vorgehensweise bezüglich der Problematik verstanden zu werden.

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Es geht vielmehr um die freie Zusammenstellung von Ideen, wobei dem Zweifel experimentell jeglichen Raum zum Wachstum gegeben wird. Die Hoffnung liegt dabei darauf, dass die neutrale Gegenüberstellung von verschiedenen Ansichten zu Alternativen oder zu Bereicherung und besserem Verständnis der schon existierenden Methoden führen kann. In Perspektive geht es letztendlich um die möglichst wahrheitsgemäße Spiegelung der Realität oder der Sprache, wie sie ist und wie sie von Menschen verwendet wird. Diese sollte die Wissenschaft anbieten können.

Was ist linguistische Rekonstruktion?

“If you want to understand something to its depths, first approach it with the mind of a five-year-old. Ask the innocent and obvious questions and make things clear and simple.

Through that clarity, you will perceive the depths.“ Tzvi Freeman

Rekonstruktion in der linguistischen Praxis nennt man den Vorgang, bei welchem aus den schon belegten Formen verschiedener, vermutlich verwandter Sprachen eine gemeinsame sogenannte „Urform“ ermittelt wird. Diese Methodik ist für die historische Linguistik besonders wichtig, da sie den Zugriff auf frühere, undokumentierte Stufen (oder doch auf verlorene Zwischenstufen) der Sprachentwicklung erlaubt. „Vermutlich verwandte Sprachen“ heißt es oben, weil man zuerst die Verwandtschaft zwischen den als Ausgangsmaterial genommenen Sprachformen annehmen muss, eine Verwandtschaft soll also zumindest zumutbar sein, damit eine Rekonstruktion Sinn hat und unternommen werden kann. Eine ähnliche Bedeutung der Ausgangslexeme der verschiedenen Sprachen in Verbindung mit einer formellen Ähnlichkeit, wobei systematische Lautentsprechungen der Einzelsegmente konsequent zu beobachten sein müssten, reicht normalerweise als Grundlage einer Rekonstruktion.

Jedoch die Frage um die Kriterien für die Feststellung von Sprachverwandtschaft, die zur Auswahl und Zusammensetzung passenden Materials zur Rekonstruktion dienen sollten, ist nicht so einfach zu beantworten. In vieler Hinsicht wird man dabei zurück zum Henne-Ei-Dilemma geführt: Ist die überzeugende Rekonstruktion ein Nachweis der Verwandtschaft und des damit verbundenen gemeinsamen Ursprungs der behandelten Sprachen oder ist die Verwandtschaft eine gute Voraussetzung zur Rekonstruktion? Was kommt zuerst? Wie bei der Henne und dem Ei, ist die Lösung dieses Problems auch hier nicht so einfach, da man dabei mit bestimmten historisch entstandenen Verwachsungen in der Begrifflichkeit umgehen muss. Irgendwie hängt der Begriff der Rekonstruktion schon seit Bopp (1816) und seiner Feststellung der Ähnlichkeiten im Konjugationsystem des Altindischen, Griechischen, Lateinischen und Germanischen mit der historisch-sprachwissenschaftlichen Betrachtung zusammen, auch wenn am Anfang nur implizit. Erst später, bei Schleicher (1861), wurde die Praxis der Rekonstruktion offiziell etabliert und mit gewisser theoretischen Grundierung versehen (wie etwa der Stammbaumtheorie, s.u.). Im grundlegenden Werk von Fox (1995), dem in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, wird Rekonstruktion auf folgende Art und Weise aktuell definiert:

„This term refers to the practice of creating, on the basis of extant historical evidence, hypothetical language forms from which the actually occurring forms of one or more languages may be systematically derived. Given certain assumptions […] these hypothetical forms may be equated with earlier forms of the language or languages in question, and hence the procedure can be said to “reconstruct” such forms, though, as we shall see, not all scholars have considered it necessary, or indeed desirable, to assume historical reality for the reconstructed forms.” (Fox 1995: 3)

Das Zitat, d.h. schon selbst die Definition von Rekonstruktion, führt uns zurück zum Thema dieser Arbeit, zur Frage der Realität der erreichten Formen. Wie Fox einsichtig bemerkt, deutet selbst der Begriff Rekonstruktion auf eine gewisse Historizität hin – man kann ja nur etwas re-konstruieren, was einmal existiert hat, was tatsächliche Geschichte darstellt. Dies gehört eigentlich perfekt zum Titel der Disziplin, die sich historisch-vergleichend nennt. Durch die Andeutung der Historizität entsteht aber zugleich das größte Problem für die genannte Methodik: sie nimmt etwas an, ohne welches ihr Grundbegriff und ihre Grundtätigkeit keinen Sinn hätten; das Objekt der Annahme ist

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aber durchaus etwas, was zuerst nachgewiesen werden muss. Man dreht sich also hier wiederum im Kreis der Hypothesen, die voneinander abhängig sind. Diesbezüglich betont Fox die doppelte Rolle der Rekonstruktion: sie ist sowohl Teil des Prozesses der Untersuchung historisch-linguistischer Daten als auch Produkt der Untersuchung – also zugleich Instrument und Ziel der Betrachtung:

„[…]we reconstruct earlier forms of languages not merely to explain historical relationships between present-day languages, but in order to find out what the earlier languages themselves were actually like.” (ibid.: 3)

Aus dieser Dichotomie, auf die ich mich oben als “Verwachsung” bezogen habe, basiert auch die hier betonte Widersprüchlichkeit der Methodik der Rekonstruktion, besonders weil die angedeutete Historizität der rekonstruierten Formen eine Historizität der damit verbundenen Sprache bzw. ihrer Sprecher andeutet – eine Auffassung, die aus geschichtlicher und sozio-kultureller Sicht, und angesichts der hypothetischen Art der genutzten „Daten“ äußerst problematisch ist. Wieder in der Fassung von Fox (1995: 4):

„[…] The recreation of earlier cultures is not something that can be undertaken using linguistic evidence alone, but requires evidence from other sources, such as archaeology and anthropology.“

Somit ist die Komplexität der Problematik (welche übrigens genauso auch für die Archäologie und Anthropologie gilt) zuerst angesprochen.

Im Licht dessen wird es zu einem noch größeren Problem, dass Standardeinführungen in die Sprachwissenschaft normalerweise keinen speziellen Abschnitt zur Definition des Begriffes Rekonstruktion sowie zur Begründung der damit verbundenen Methodik anbieten, die gerade das Rückgrat des Faches bilden. Sie fangen stattdessen gleich mit ihrer Anwendung, als würde die Problematik dahinter nicht existieren, wodurch der unerfahrene Betrachter unter dem Eindruck hinterlassen werden könnte, dass das alles einen „tatsächlichen“, empirischen Hintergrund haben muss, sodass das Hinterfragen nicht nötig ist. Natürlich wird die Beschäftigung mit theoretischen Fragen eher als etwas, was für Fortgeschrittene geeignet ist, angesehen – daher die häufige Auslassung des Themas in den Einführungen. Stellt man aber direkt die Frage: „Was bedeutet Rekonstruktion und wie macht man sie?“, dann wird es offensichtlich, welche theoretischen Mängel der Aufmerksamkeit bedürfen und wie wichtig es eigentlich ist, dass man sich mit den Grundlagen bewusst auseinandersetzt. Mehr dazu wird im Folgenden gesagt.

Wie wird Sprachgeschichte geschaffen? Der philosophische Hintergrund

„As time-travellers we manipulate our landscape, and we do it in different ways depending on the kind of pictures we happen to be interested in seeing.

(Roger Lass 1997: 3)

Die Frage wird ebenfalls selten in der Literatur behandelt, einschließlich in Verbindung mit den Rekonstruktionsmethoden, die eine wichtige Rolle in der „Geschichtsschreibung“ von Sprache spielen. Man rekonstruiert mehr oder weniger nach Intuition und man lernt das zu machen im Prozess der Beobachtung, wie Andere das tun, bzw. anhand der schon existierenden Rekonstrukte. Die Philosophie dahinter ist oft implizit und wird, wenn überhaupt, dann nicht unbedingt unmittelbar in Verbindung mit dem Prozess der Rekonstruktion behandelt. Roger Lass (1997: 21ff.) versucht über die Thematik genauer zu reflektieren. Nach seiner Auffassung rekonstruieren wir, weil wir Zugang nicht nur zur Geschichte, sondern zur Vorgeschichte (Prähistorie) brauchen. Die Rekonstruktion erlaubt uns zusätzlich, verlorene Stufen zwischen verschiedenen belegten Entwicklungsstadien der Sprache wiederherzustellen. Somit füllen wir die Lücken auf, die unvermeidlich durch die fragmentarische Überlieferung entstehen, und erreichen noch frühere, hypothetische Ebenen der Sprachgeschichte.

Dabei halten wir uns an bestimmten Grundsätzen, die das Verfahren der Rekonstruktion regieren. Besonders wichtig ist der von Lass genannte Uniformitarianismus. Damit meint er die philosophische Auffassung, nach welcher die Prinzipien, die die Welt regieren, in der Vergangenheit immer gleich gewesen sein müssen wie heute. „Wunder“ existieren daher nicht, was

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aber das Vorkommen historischer Neuerungen nicht ausschließt. Die wichtigsten solchen Prinzipien sind folgende:

Allgemeines Uniformitätsprinzip Nichts ist prinzipiell unmöglich für jetzt, was irgendwann in der Vergangenheit der Fall war. Historische Interpretation kann uns nur bis zur frühesten Ausdehnung der Prinzipien zurückbringen, die die Welt jetzt regieren. Eine Zeit, wo „alles anders war“, ist der Geschichte nicht zugänglich (Lass 1980: 55).

Prinzip der gleichen Wahrscheinlichkeit Die allgemeine Verteilung der Wahrscheinlichkeit in einer bestimmten Domäne, wo eine Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten besteht, war immer gleich in der Vergangenheit wie heute. Wenn nichts dagegen spricht, dann ist das Wahrscheinlichste passiert. (Lass 1980: 57; 1997: 26-27)

Die allgemeine Schlussfolgerung von der Anwendung dieser Prinzipien in der Rekonstruktion historischer Umstände ist, dass die Methode unsere Geschichte schafft:

„[…] our pile of bone has become a carnivore of the past, which we didn’t know it was before we constructed our argument, which in turn reconstructed the animal.” (Lass 1997: 27)

Daher ist Geschichte nicht beobachtend, sondern argumentierend, es ist notwendigerweise konstruktivistisch:

„[…] the historian takes active part in making his subject matter.“ (ibid.)

Daher kann Geschichte nie von den Forderungen des jetzigen Wissens isoliert werden.

Lass bietet auch eine linguistische Umformulierung der genannten Prinzipien (ibid.: 28-29):

Allgemeines Uniformitätsprinzip Kein linguistischer Zustand der Dinge (Struktur, Inventar, Prozess, usw.) kann nur in der Vergangenheit existiert haben.

Prinzip der gleichen Wahrscheinlichkeit Die (globale, intralinguistische) Wahrscheinlichkeit eines jeden linguistischen Zustands der Dinge (Struktur, Inventar, Prozess, usw.) war immer ungefähr gleich wie jetzt.

Die Anwendung dieser Prinzipien hängt stark von unserem Wissen über die Sprachen der Welt und über die Art und Weise, wie Sprache allgemein funktioniert, ab. Man kann generell für die Sprachen der Vergangenheit Phänomene ausschließen, die in den modernen Sprachen nicht zu beobachten sind. Somit erschöpft sich unser „empirisches“ Wissen. Es ist unvermeidlich unvollständig, da wir nicht alle Sprachen der Welt kennen können. Daraus ergibt sich, dass allgemeine Schlussfolgerungen über Sprachuniversalien und über die Verteilung bestimmter linguistischer Phänomene bzw. die Entscheidungen, die wir bei einer Rekonstruktion treffen, diese oder jene Entwicklung für wahrscheinlich zu halten, rein nur auf gutem Wissen und Gewissen basieren, oder auf das, was Lass (1997: 29) „the best of our knowledge“ nennt. Er enthüllt noch weiter die tatsächliche Bedeutung dieses Begriffes, indem er betont, dass “the best of our knowledge” normalerweise “the best of my knowledge” bedeutet. Die Entscheidungen im Prozess der Rekonstruktion sind letztendlich subjektiv, sie werden von Personen getroffen. Ein vollständiges Wissen einer Person über einen bestimmten Zweig der Wissenschaft ist unmöglich. Trotzdem glaubt Lass, dass “the best of our knowledge“, auch so verstanden, gut genug ist, wenn es dabei unwahrscheinlich bleibt, dass die durch dieses Wissen erreichten Ergebnisse in der Zukunft durch die Entdeckung neuer Daten radikal verändert werden müssen. In diesem Sinne solle man alle Verweise auf Universalien menschlicher Sprachen verstehen, einschließlich bei den Rekonstruktionsmethoden:

„Uniformity principles then rely on induction, which in history as in everyday life is philosophically problematical, but practically indispensable.” (Lass 1997: 30)

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Also schließlich, trotz der Erkenntnis über die argumentierende und induzierende Art der Konstruktion bzw. Rekonstruktion der Geschichte, d.h. die mögliche Entferntheit der Konstrukte von der tatsächlichen Realität, sieht Lass in der vorhandenen Methodik ein notwendiges und unvermeidliches Übel. Ohne dieses käme man in den historischen Wissenschaften vielleicht gar nicht mehr voran – oder das zeigt uns unser jetziger Stand des Wissens.

Die Methode und ihre Grundannahmen

“What we are not entitled to do, of course, is to mistake our idealizations with reality.” (Fox 1995:140)

Vom abstrakt philosophischen Abgesehen, gibt es bestimmte allgemeine Annahmen, die den konkreten Methoden der Rekonstruktion zugrundeliegen und bestimmen, wie das linguistische Material ausgewertet wird. Diese könnte man Grundannahmen und Modelle der Betrachtung nennen. Wichtig ist es, sich auf diese Begriffe und ihre Inhalte zu beziehen, um es noch einmal deutlich und sichtbar zu machen, dass unsere Interpretationen linguistischen Materials letztendlich auf die Anwendung von konstruierten theoretischen „Schablonen“ angewiesen sind, welche den Daten diese oder jene Anordnung und Form geben, die sich dann im wissenschaftlichen Diskurs durchsetzen. Letztere etablieren sich schnell als Regeln oder werden sogar fast als Tatsachen wahrgenommen, ohne dass sie das sind. Eine alternative Anordnung und Umformung des Materials darf nie als Möglichkeit ausgeschlossen werden – eigentlich sollte die Wissenschaft im Idealfall sehr offen für jegliche Alternativen bleiben und sie zur Aktualisierung und Sicherung der bestehenden Methodik aktiv suchen. Durch den Einfluss von Inertion lässt man aber Modelle auch dort weiter gelten, wo sie zur Deckung der wahrgenommenen Realitäten und der angesammelten Daten längst nicht mehr gut dienen und einer Revision bedürfen. Einige dieser Grundbegriffe und –modelle, und die damit verbundenen Annahmen seien hier kurz angesprochen.

Die „vergleichende Methode“

In einem Email-Austausch mit Jens Elmegård Rasmussen vor sehr vielen Jahren, als ich ein Neuling in der Indogermanistik war, fragte ich ihn nach dem Begriff vergleichende Methode und was er in sich verbirgt. Die genaue Antwort kann ich leider nicht mehr zitieren, da sie mir verloren gegangen ist, aber sie lautete ungefähr so: „Sagen Sie es bitte nicht den Anderen, aber es gibt eigentlich keine vergleichende Methode.“ Diese Aussage, bestimmt scherzhaft gemeint, hat mich damals verblüfft und es hat mir einige Zeit gekostet, um zu verstehen, wie einsichtig sie eigentlich war.

Die vergleichende Methode ist ein Begriff, der mit dem Begriff linguistischer Rekonstruktion genauso „verwachsen“ ist wie mit dem Begriff „Verwandtschaft“ – aber diesmal ist die Verbindung auf der praktischen Ebene. Es gibt ja keine Rekonstruktion ohne vergleichende Methode. Man muss einen Vergleich passender Teile der Systeme verschiedener verwandter Sprachen unternehmen, um einen Rekonstrukt zu erreichen. Zwar hat Fox (1995: 57 ff.) in seiner bekannten Monographie ein dreistufiges Verfahren beschrieben, nach welchem die Vergleiche funktionieren sollten. Er gesteht aber selbst (1997: 87), dass das beschriebene Verfahren nur eine Idealisierung der Methodik ist, die real angewendet wird. Realistisch gesehen wäre die Beleglage nie so konsequent und lückenlos wie in den von ihm genannten und gut ausgewählten Beispielen. Daher wären auch die Ergebnisse selten so eindeutig. Aus diesem Grund würde der Linguist intuitiv vorgehen und nach Notwendigkeit zwischen den verschiedenen Stufen des Verfahrens schwanken, mit verschiedenen Hypothesen experimentieren, bis er endlich auf eine befriedigende Lösung ankommt. Daher ist das von Fox beschriebene Verfahren eher nur in groben Zügen als allgemein gültig zu verstehen, wobei Improvisation und Subjektivität bei jedem Versuch der Rekonstruktion eine sehr große Rolle spielen würden.

Vor dieser Subjektivität warnt Johann-Mattis List in einem „Research Proposal“ für eine leider nie zustande gekommene Doktorarbeit zum Thema „The Validity of Reconstruction Systems“ (2008: 4f.). Er betont die Notwendigkeit das „Implizite“ an der Methodik zu „explizieren“. Es geht hier

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nicht so viel um die allgemeinen Vorgehensweisen, die die vergleichende Methode prägen, denen einige Beschreibungen in der Literatur schon gewidmet sind (neben Fox, s. z.B. Meier-Brügger 2002: 42-70), sondern um die konkrete Motivation und die konkreten Entscheidungsmuster, die einem jeden Rekonstrukt zugrundeliegen und die zur Herstellung des indogermanischen Wortschatzes führen, der dann als das „Ergebnis“ der Untersuchungen gilt. List betont die Notwendigkeit der Aufstellung objektiver Kriterien für die Auswertung von Rekonstruktionssystemen. Intuitive Entscheidungen basieren auf implizitem Wissen, welches aber nicht ganz ohne Gefahren ist. Hier bezieht er sich auf Plessner und Czenna in der Behauptung, dass implizites Wissen die Integration von mehr Information erlaubt, als man explizit behandeln könnte, und daher eine wichtige Quelle der Meinungsbildung und Beschlussfassung ist (Plessner und Czena 2008: 257f.). Das erklärt die besondere Stärke von Entscheidungen, die auf solchem Wissen basieren, und die Tatsache, dass sie oft durch die Ergebnisse computerisierter Analysen bestätigt werden (List 2008: 5, Anm. 6). Gleichzeitig aber ist es für den Außenseiter sehr schwierig, diese Entscheidungen für falsche Annahmen zu überprüfen, da implizites Wissen in Bezug auf seine eigenen theoretischen und empirischen Hintergründe blind ist. Hier bezieht sich List auch auf Kortlandt (1993, passim), der Anhand von ein paar Beispielen zeigt, wie allgemeine Annahmen über die Natur der Sprache die Forschung eigentlich einschränken können. Er schließt:

„As a result, our reconstructions tend to have a strong bias towards the average language type known to the investigator.“ (Kortlandt 1993: 9)

Diese Aussage deckt sich sehr gut mit dem schon erwähnten Skeptizismus von Roger Lass in Bezug auf die Phrase „to the best of our knowledge“. Es geht letztendlich nicht um irgendwelche allgemeine Methodik, die wir vergleichende Methode nennen können (daher existiert diese Methode nicht, laut Rasmussen), sondern es geht um die konkreten Vorgehensweisen einzelner Linguisten, die das indogermanische Wissen schaffen. Bei der Frage um die impliziten Regeln, die ihre Entscheidungen beeinflussen, sind die Sachen gar nicht mehr so einfach und übersichtlich, daher der bestehende Diskussionsbedarf. Im Bereich des Allgemeinen seien aber noch ein paar wichtigen Komponenten der vergleichenden Methode genannt:

Das Stammbaummodell

Das ist ein Modell fürs Verständnis von Verwandtschaftsverhältnissen zwischen Sprachen. So wie alle Zweige eines Baumes einem gemeinsamen Stamm entspringen, so sind Sprachen, die systematische Entsprechungen aufweisen, auf eine gemeinsame Ursprache zurückzuführen. Dieses Verhältnis wird dann als genetische Verwandtschaft definiert. Fox (1995: 122) nennt dieses Modell ein Produkt der Methode der Rekonstruktion, in welcher die Existenz von gemeinsamen Urformen die implizite Annahme hinter allen Überlegungen und Rekonstruktionsschritten ist. Gleichzeitig ist die „Wiederherstellung“ dieser gemeinsamen Urformen das Ziel und Produkt des Verfahrens, was, wie früher gesagt, nicht völlig unproblematisch ist.

Das Stammbaummodell an sich erlaubt Gedanken nicht nur an schematische Aufspaltung von Sprachen, wie es durch die Idee der Verzweigung auf den ersten Blick erscheint, sondern auch an Konvergenz und Mischung – ähnlich wie die einzelnen Zweige eines Baumes in Kontakt miteinander kommen und sich gegenseitig beeinflussen. In der linguistischen Rekonstruktion aber versucht man zwischen diesen beiden Arten des Sprachwandels zu unterscheiden – d.h. die Gemeinsamkeiten, die durch einen gemeinsamen Ursprung entstehen, also, die genetisch sind, von denen, die arealen Konvergenzphänomenen zu verdanken sind, abzugrenzen. Die vergleichende Methode berücksichtigt in der Regel nur die erste Art der Verwandtschaft und schließt die Reflexe von arealen Kontakterscheinungen bei der Auswahl des Ausgangsmaterials systematisch aus. Die so entstehenden Bäume sind „einfach und linear“ (Fox 1995: 125), wie man sie in der Natur eigentlich nirgendwo findet, aber durch die Einschränkung des Ausgangsmaterials werden sie zusätzlich als Repräsentationsmittel geschwächt. Zudem muss man bei dieser Methode zwanghaft bei der Hypothese eines einzigen Stammes aller dem Vergleich unterzogenen Zweige bleiben, denn das Modell erlaubt Anderes nicht. Methodisch bedingt wird also die Vision über Sprache eingeschränkt,

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um etwaige Ergebnisse zu ermöglichen. Weiter unten wird auf die Probleme dieser Einschränkungen eingegangen, aber zuerst verdienen zwei weitere Begriffe der Sprachwandeltheorie die Aufmerksamkeit:

Ausnahmslosigkeit und Regelhaftigkeitsprinzip

Die Beobachtungen über systematische Entsprechungen und Unterschiede zwischen Sprachen, die das Stammbaummodell entstehen lassen, führen zu der Formulierung von Lautgesetzen, anhand von welchen Lautwandel erklärt wird. Man vergleicht z.B. die Formen im Altindischen, Griechischen und Lateinischen und stellt fest, dass einem e oder o im Lateinischen und Griechischen systematisch a im Altindischen entspricht. Daraus entsteht die allgemeine Aussage idg. *e, *o > ai. a, lat. e, o, altgr. e, o. Diesem Lautgesetz, sowie allen anderen indogermanischen Lautgesetzten liegt die Annahme zugrunde, dass Lautwandel sich regelmäßig vollzieht (Regelhaftigkeitsprinzip). Die so postulierten Regeln für die Lautentwicklungen werden daher als ausnahmslos behandelt – unter normalen Umständen würde das Altindische für ein griechisches und lateinisches e oder o (dementsprechend ein rekonstruiertes idg. *e oder *o) immer ein a belegen. Ausnahmen müssen systematisch erklärt werden, damit die Lautgesetze ihre Gültigkeit behalten können. Das Prinzip sichert die Folgerichtigkeit der vergleichenden Methode, indem es ihr den Anspruch auf Objektivität und Genauigkeit ermöglicht. Gleichzeitig repräsentiert es aber wiederum nur den Idealfall – in der Tat kommen immer wieder Ausnahmen vor, die man mit den vorhandenen Mitteln nicht erklären kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist das lateinische Wort nasus, das als einziges Gegenbeispiel zum Gesetz des lateinischen Rhotazismus steht und keine Erklärung findet. Dadurch wird das Lautgesetz natürlich nicht „widerlegt“. Eine Ausnahme ist unproblematisch, solange der überwiegende Teil des Materials die Wirksamkeit des Lautgesetzes bestätigt.

Das eigentliche Problem liegt hier nicht bei der fehlenden Allgemeingültigkeit der Lautgesetze, sondern anderswo. Man vergisst oft, dass die Lautgesetze und die für ihre Existenz wichtigen Annahmen tatsächlich nur deskriptive Techniken zur systematischen Erfassung des Materials sind. Sie sind daher sekundäre Mittel, sie stellen keine Tatsachen dar, sondern sind nur Modelle der Betrachtung des status quo und können somit den status quo nicht bestimmen, sondern nur beschreiben. Modelle haben ihre Grenzen in der Spiegelung der Realität. Sie ermöglichen zwar unserem Gehirn die Verarbeitung von großen Datenmengen, daher sind sie aber nur ein Hilfsmittel und keine Originalquelle des Wissens über Sprachen. Man kann ein Lautgesetz nicht als faktisches Material1 nehmen und noch weniger sollte man versuchen, das eigentlich bestehende Sprachmaterial anhand der Lautgesetze qualitativ zu beurteilen (wie etwa in der berühmten Aussage Schleichers (1871: 143) über die „verdorbenen“ Sprachen des Balkans, die eine so hohe und für die üblichen Mittel der Indogermanistik unbequeme Unregelmäßigkeit aufweisen). Genauso werden Daten aus der Betrachtung ausgelassen, die man den bekannten Modellen nicht unterordnen kann – eine „ordentliche“ indogermanische Sprache, die vieles davon, was wir über Sprachwandel durch die Lautgesetze vermuten, beweist, wird bejubelt und gründlich untersucht; unbeliebte Mischsprachen dagegen werden schweigsam ignoriert. Die Daten sind aber in die Modellmuster nicht einzuschieben, sondern die Modelle sind anhand der Daten immer wieder zu aktualisieren und wo nötig aufzugeben oder gründlich zu revidieren. Letztere Richtung der Beeinflussung ist eigentlich die objektive und logische. Solche Erkenntnisse, auch wenn nahliegend, setzen sich immer noch langsam unter historischen Linguisten durch und zwar besonders im üblichen wissenschaftlichen Diskurs. Aus diesem Grund werde ich der Problematik hier etwas mehr Aufmerksamkeit schenken.

Schwächen der vergleichenden Methode

Die besprochenen Grundannahmen und Modelle in der Sprachbetrachtung der Indogermanisten stehen auf vielen Ebenen in Konflikt mit den tatsächlich erhaltenen Daten. Wie schon erwähnt, stellen sie ein gutes Werkzeug zur Erfassung der Daten dar, das ihre systematische Analyse in

1 Sieh dazu noch Lass 1993:156.

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vielen Fällen ausreichend erlaubt. Gleichzeitig dienen sie aber als eine Einschränkung der Vision. Wenn sie figurativ als die Brille, durch die wir die Realität betrachten, bezeichnet werden, dann ist das nur eine von vielen möglichen Sehhilfen, die uns zur Verfügung stehen, und sie sind daher austauschbar. Letzteres wird bei der Absolutisierung von traditionellen Methoden in der historischen Linguistik vergessen, wodurch auch die Türen für die Eindringung neuer Erkenntnisse und Betrachtungsweisen, einschließlich durch die Berührung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, geschlossen gehalten werden.

Ein Beispiel wäre das Scheitern der vergleichenden Methode bei der Betrachtung von Sprachmischung unterschiedlichen Grades – ob es um tatsächliche Mischsprachen geht oder einfach um Misch- und Konvergenzerscheinungen. Sobald man mit mehr als einer Ursprungsquelle oder mehr als einem Stamm bei einer Sprache zu tun hat und sobald die Entwicklung der Einzelbelege nicht vertikal auf dem Stammbaummodell zurückzuverfolgen ist, sondern auf horizontalen Arealwirkungen basiert, wird die traditionelle Methode nutzlos. Die „Lösung“ ist normalerweise solche Art der Evidenz zu ignorieren oder mit Fragezeichen am Rande zu notieren. Es wird selten versucht, tiefer als das in die Thematik einzugreifen. Nach Fox (1995: 127-128) gibt es gute Gründe zu glauben, dass die verschiedenen indogermanischen Sprachen keine „reinen“ indogermanischen Sprachen waren, im Sinne dass sie sich durch intern erzeugte Abspaltungen von einer gemeinsamen urindogermanischen Quelle entwickelt haben, und dass sie eher das Ergebnis der Mischung mit anderen Sprachen sind, mit denen sie in Kontakt standen.

„Yet…the Comparative Method systematically filters out any features which are not attributable to a common source of the languages compared. […] since the Stammbaum is implicit in the Comparative Method itself, the weakness of the one can be attributed to the other.“ (Fox 1995: 127-128)

Eine besondere Schwäche des Modells zeigt sich in der Annahme, dass Veränderungen in jedem Sprachzweig unabhängig voneinander erfolgen, ohne Verbindung mit den anderen Zweigen (das, was von Fox „einfach und linear“, genannt wird, s.o.). Dieses widerspricht den Erkenntnissen der Dialektgeographie, nach welcher Veränderungen in der Sprache kein Objekt „unverletzbarer“ Gesetze sind, sondern zu unterschiedlichem Grade und auf unterschiedliche Art und Weise auftauchen, nicht nur in verschiedenen Dialekten, sondern auch in einzelnen Lexemen (Fox 1995: 137).

Eine Alternative zum Stammbaummodell bietet Johannes Schmidts Wellentheorie. Nach dieser bilden sprachliche Neuerungen Kreise um sich herum, bei welchen die Wirkung der Neuerungen im Zentrum am stärksten zu spüren ist und zur Peripherie immer schwächer wird. Viele verschiedene solche Einflussbereiche kommen geographisch miteinander in Kontakt, sodass Sprachwandel zusätzlich durch Überlagerungen und Interferenzen sowie durch Anpassungen zwischen kleineren Teilgruppen an den Rändern entsteht. Diese Theorie findet eigentlich viel mehr Bestätigung durch moderne Erkenntnisse der Kreolistik und Soziolinguistik als das traditionelle Stammbaummodell. Das ist auch eine sensiblere und komplexere Betrachtungsweise, die eine höhere Flexibilität und Toleranz aufweist, und zwar besonders bei der Annahme einzelner kreativer Lösungen der Sprecher oder kleinerer Gruppen als Erklärung der Sprachphänomene – etwas, was durch Untersuchungen an modernen Sprachen bestätigt wird (Fox 1995: 133).2 Leider widerspricht aber diese Theorie radikal den Grundannahmen der vergleichenden Methode. Es gibt keinen regelmäßigen Sprachwandel mehr, es gibt keine Ausnahmslosigkeit, es gibt keine genetische Abstammung aus einer Quelle ohne Mischung. Bei dieser Theorie kann man anhand der traditionellen Methoden keine Formen mehr rekonstruieren, denn die Entwicklungen, so betrachtet, sind nicht mehr linear und können nicht der gleichen schematischen „Algebra“ unterliegen.

2 Das Thema der soziolinguistischen Betrachtung liegt nicht im Zentrum dieser Arbeit. Hier seien also nur einige Quellen dazu genannt: William Labov. 1980. „Die soziale Bedingtheit des Sprachwandels“. In: Sprache im sozialen Kontext. Königstein: Athenäum; ders. 1991. Sociolinguistic Patterns. Philadelphia: University of Pennsylvania Press; Sarah Thomason and Terrence Kaufman. 1991. Language contact, creolization, and genetic linguistics. Edinburgh: Edinburgh Univ. Press.

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Wie es oft zu beobachten ist, reagiert die Wissenschaft auf eine solche Herausforderung nicht durch radikale Reform und Modernisierung ihrer Methoden und theoretischen Modelle und nicht durch Anpassung an die neuen Erkenntnisse, sondern durch Verdrängung der unerwünschten Themen und Wiederholung ad perpetuum der schon bekannten Schemata. Obwohl es z.B. Gründe zu glauben gibt, dass auch die indogermanische Grundsprache nicht homogen war, sondern aus verschiedenen Dialekten bestand (mehr dazu weiter unten), verlangt das Stammbaummodell, dass das Verfahren der vergleichenden Rekonstruktion wiederholt wird, bis jede dialektologische Variation eliminiert wird (Fox 1995: 135). Somit wird die historische Sprachwissenschaft zu Opfer ihrer eigenen Methoden, welche zu gut etabliert sind, um aufgegeben oder revidiert werden zu dürfen. Wie Omas alte Lieblingsbrille, werden sie als Sehhilfe nie ersetzt, obwohl der Markt schon längst bessere Mittel anzubieten hat, die die Sehkraft verstärken. Somit wird auch die Möglichkeit verpasst, das Sprachmaterial jetzt genauer und vollständiger zu erfassen – eine bedauernswerte Tendenz.

Die vergleichende Methode ist also aus den folgenden, von Fox (1995: 137ff.) aufgelisteten Gründen mangelhaft:

1. Das Stammbaummodell setzt eine einzige Urquelle für jede Sprache an, es schließt Konvergenz aus;

2. Die Methode kann mit Wellen der Innovation (Wellentheorie), die zwischen den einzelnen Zweigen wirken, nicht umgehen;

3. Das Modell nimmt zwanghaft eine fiktive Uniformität für die Ursprache an.

Fox beschreibt aber auch die Gründe dafür, dass die Methode immer noch in Verwendung ist. Neben den trivialen Aussagen über die Unvollkommenheit einer jeden Methode und ihre immer noch bestehende Gültigkeit, solange sie zumindest den großen Teil des Materials richtig behandelt, macht er einen weiteren wichtigen Punkt, der hier die Aufmerksamkeit verdient. Das Ziel des genealogischen Baumes ist eigentlich nicht, alle Quellen einer Sprache darzustellen, sondern nur die Verhältnisse zu beschreiben, die genetische Verwandtschaft mit einbeziehen (Fox 1995: 138). Somit ist die strikte Unterscheidung zwischen Erbschaft („inheritance“) und Entlehnung („borrowing“) zu erklären. Ein weiteres Problem bietet aber die Tatsache, dass die Natur der genetischen Kontinuität und daher der „Erbschaft“, ambivalent ist. Wenn Sprachkontakt ein wichtiger Faktor im Prozess des Sprachwandels ist, mit Substrat-Einflüssen als einer wichtigen Manifestation, dann ist Kontinuität sowohl zwischen der Sprache und ihrem Substrat als auch zwischen der Sprache und ihren früheren Entwicklungsstufen anzunehmen. D.h., wenn einige Besonderheiten des Französischen dem keltischen Substrat zu verdanken sind, dann ist Keltisch, genauso wie Latein, als legitimer Vorfahre des Französischen anzunehmen. Die vergleichende Methode erkennt aber nur die ererbten Merkmale an. Ein zusätzliches Problem, das oben schon angesprochen wurde, ist, dass die vergleichende Methode einen unrealistischen Mechanismus des Sprachwandels für ihre Betrachtung anwendet. Die Wellentheorie scheint im Vergleich realistischer zu sein. Trotzdem, obwohl die Wellentheorie sicherlich besser kompatibel mit den wichtigsten Mechanismen des Sprachwandels ist, bietet sie keine Methodik zur Rekonstruktion früherer Stufen der Sprache – dies ist nicht das Ziel der Wellentheorie, welche grundsätzlich nur eine Theorie über Sprachwandel ist (Fox 1995: 139). Daher, so Fox, gibt es für die Zwecke der Rekonstruktion keine Alternative zur vergleichenden Methode (ibid.: 140).

Genauso ist die Annahme der Uniformität der Grundsprache mehr mit Methodologie zu verbinden als mit den Zielen der vergleichenden Methode. Es ist eine „notwendige Idealisierung“, faktisch „ein Mythos“. Doch um Formen zu rekonstruieren, muss man so vorgehen, als ob die Grundsprache homogen gewesen wäre und als ob Lautwandel sich völlig ohne Ausnahmen vollziehen würde. Unpassende Schlussfolgerungen entstehen also nur dann, wenn man die Idealisierungen mit der Realität verwechselt:

„[…] we must distinguish between the idealizations required by the application of the method on the one hand, and the reality of the historical situation on the other.“ (Fox 1995: 141)

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Die vergleichende Methode ist also nicht historisch.3 Ihre Schwächen entstehen aus unpassenden Annahmen bezüglich ihres Ziels, welches die Identifikation der gemeinsamen ererbten Züge der verglichenen Sprachen ist und nicht etwa die Erklärung aller verschiedenen Quellen der Einzelsprachen (ibid.:141).

„The method […] makes no claims about the mechanisms of change, bur considers only its results.” (ibid.: 141)

Die Ergebnisse der Methode sollen also von der historischen Interpretation der Methode separat gehalten werden.

„Our interpretation of the findings of the method have doubtless changed as more has been learnt of the historical processes involved, and this has probably made historical linguistics less prone to equate the idealizations required by the method with historical reality […]. But it is clear that it is the interpretation of the results in historical terms that has changed and not the method itself.” (ibid.: 141-142)

Ich stimme mit dieser Meinung von Fox überein und besonders mit dieser wichtigen Differenzierung zwischen der Methode, ihren Ergebnissen und den historischen Realitäten. Trotzdem ist die Bewusstheit über diese Unterscheidung im wissenschaftlichen Diskurs immer noch nicht wirklich weit verbreitet, so dass die Implikationen auf „Historizität“ der Ergebnisse, die der Name der Disziplin in sich trägt, immer noch zu Verwirrungen bei ihrer Deutung führen – und dies eigentlich aus einem guten Grund, wie man weiter unter feststellen wird. Ein Teil dieser Problematik wird bei der näheren Betrachtung des Status der rekonstruierten Formen deutlich, sowie der daran gebundenen Hypothesen über die urindogermanische Sprache und das urindogermanische „Volk“.

Der Status der rekonstruierten Formen

„The whole historical enterprise rests on the idea that it is possible to produce an ancestor for a set of reflexes presumed to have a common origin.“

(Lass 1993: 158)

Rekonstruierte Formen sind ursprünglich hypothetische Abstraktionen, die eine Verbindung zwischen tatsächlich belegten Sprachformen herstellen sollen (Fox 1995: 9). Dürfen wir aber solchen Rekonstruktionen den Status früherer Sprachformen geben? Fox präsentiert zwei unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema – die formulistische („formulist“) und die realistische („realist“). Nach der ersten sind Rekonstruktionen nur Formeln, die die Verhältnisse zwischen Daten repräsentieren, während sie nach der zweiten echte historische Formen einer realen Sprache darstellen. Im ersten Fall haben sie nur einen heuristischen Wert, im zweiten wird es behauptet, dass die Rekonstruktion selbst wenig Sinn haben würde, wenn man den Ergebnissen keinen historischen Wert zuschreibt. Nach Fox aber geht es hier wieder um Vermischung verschiedener Thematiken. Auf der einen Seite geht es um die Anwendung der Methode, auf der anderen – um die Interpretation der Resultate. Die Methoden sind formelle Prozeduren, die zu speziellen Ergebnissen führen. Letztere können als Hypothesen über die historischen Tatsachen aufgenommen werden. Ihre historische Gültigkeit wird von anderen Faktoren abhängen, die für den Prozess der Interpretation relevant sind, wie zum Beispiel unser Wissen über Sprachwandel und die konstitutiven Prinzipien des Sprachbaus. Für Fox ist also sowohl die formulistische als auch die realistische Auffassung gültig, aber für verschiedene Aspekte der Rekonstruktion. Während es verfahrensrechtlich von Bedeutung wäre, die Methoden konsequent, sogar „blind“ anzuwenden (ibid.: 13) und sie nur als formelle Prozeduren anzusehen, würde der Realist mit Recht behaupten, dass die Ergebnisse historisch interpretierbar sein müssen, um signifikant zu sein. Daraus schließt Fox einen Dualismus von Methode und Interpretation. Diese Schlussfolgerung ist aber zuerst nur deskriptiv, sie bietet keine Lösung an.

Ein Versuch der Behandlung des gleichen Problems findet man bei Lass (1993). Er bezieht sich zuerst auf die Auffassung Meillets (1949: 42) über den Status der rekonstruierten Formen:

3 Mehr zum Thema auch bei Katičić 1970: 116.

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„[…]les 'restitutions' ne sont que les signes par lesquels on exprime en abrégé les correspondances. […]Ce que fournit la méthode de la grammaire comparée n'est pas la restitution de l'indo-européen, tel qu'il a été parlé: c'est un système défini correspondences entre les langues historiquement attestées" (Meillet 1949: 42, 47)

Meillet sieht es also nicht als Ziel der Rekonstruktion, eine historische Sprache wiederherzustellen, sondern erkennt dahinter nur ein System von Entsprechungen zwischen den belegten Sprachen. Lass wirft dieser Auffassung die Nutzung von uninterpretierter Algebra vor, die auf keine Ontologie zielt, sondern nur auf die maximale Bequemlichkeit der Aussage. Er nennt die Auffassung zusätzlich „nichtlinguistisch“ und „antihistorisch“ (Lass 1993: 165). Er vermutet, dass es vielleicht einen „mittleren Grund“ geben soll, zwischen Meillets Sichtweise und dem „absurden Vorschlag“, dass eine Sprache so rekonstruiert werden kann, wie sie gesprochen wurde; zwischen dem extremen Relationismus also, und dem abenteuerlichen Realismus.

Lass (1993: 1965 f.) bezieht sich zusätzlich auf eine „vergessene“ Studie von Leon Zawadowski (1962), die eine ähnliche Meinung vertritt wie Meillets, doch vielleicht ein bisschen extremer in dem Relationismus ist. Zawadowski behauptet, dass die Grundaufgabe der historiographischen Analyse die Festlegung inhaltfreier Etiketten („labels“) für Entsprechungsreihen ist. Die Etiketten seien reine Zeichen der Verwandtschaft ohne Objekt-Interpretationen („object interpretations’“), die uns erlauben, reguläre Verwandtschaft zu erkennen und die unregelmäßigen Erscheinungen auszusondern. Dieses Verfahren sollte zu einer rekonstruktionsfreie Grammatik führen, einer Grammatik der belegten Relationen („a grammar of attested relations“, s. Zwadowski 1962: 11). Die Asteriskus-Formeln in dieser Grammatik sind dann nur Formeln beobachteter Relationen. Z. B., man kann eine so neutrale Bezeichnung wie *374 nehmen, um die Reihe {lat. cord-, ai. śṛd-, goth. haírt-} auszudrücken. Die Formel *374 wäre dann nur ein Urmorphem ohne phonetischen Inhalt, sie wird als ein relationelles genetisches Element („relational genetic element“) verstanden, und eine Reihe solcher Elemente würde dann eine vergleichende Grammatik der relationellen Rekonstruktionen („a comparative grammar of relational reconstructions“) ausmachen (Zawadowski 1962: 12).

Lass (1993: 166) wendet ein, dass eine solche Reihe von Entsprechungen, die sich unter formellen Bezeichnungen wie *374 verbirgt, nicht rein relationell sein kann, denn ihre Glieder wurden nach einem verborgenen semantischen und phonetischen Prinzip gewählt. Markant in Zawadowskis Vorgehensweise ist die Trennung zwischen rein relationellen Formen der vergleichenden Grammatik und der Rekonstruktion von Substanz. Die Notationen *374 und *ḱṛd wären dann völlig austauschbar als Vertreter der bezeichneten Entsprechungsreihen. Nur wenn man in einem weiteren Schritt eine phonetische Interpretation der Zeichen unternimmt, d.h. ihre Bedeutung auf die phonetische Ebene durch eine Formel wie *ḱ � [k] überträgt, übergeht man auf die ontologische Ebene. Zawadowski unterscheidet also zwischen relationeller Rekonstruktion und Rekonstruktion von Substanz und behauptet, dass letztere weniger nützlich ist. Ihr Wert bestehe nur darin, dass ein bestimmter phonetischer Wert prähistorischer Einheiten eine gute Hilfe für die Intuition im Prozess der Untersuchungen ist (Zawadowski 1962: 15). Das Hauptziel der vergleichenden Grammatik sei die Entdeckung von Relationen und nicht von Einheiten. Diese Schlussfolgerungen hält Lass (1993: 167) für unhaltbar, vor allem weil die Daten, auf welchen die relationellen Gruppierungen basieren unverständlich wären, wenn man die unterliegende Substanz der Relationen nicht erkennt:

„We cannot even take the first steps in relational reconstruction without some kind of phonetic sorting, which is a covert attribution of substance to the set being defined.“ (ibid.: 167)

Lass zieht noch eine weitere Ansicht als Beispiel heran, die der von Zawadowski ähnelt: die von Kuryłowicz (1964). Letzterer spricht von einem abstrakten systemischen Relationismus, nach welchem phonologische Rekonstruktion von Definition her nichtphonetisch ist, sondern rein „linguistisch“. Was er meint, durch Rekonstruktion wiederherzustellen, sind Punkte in einem System formeller intralinguistischer Relationen. Die Suche nach artikulatorischer Erklärung eines Wandels wie etwa Grimms Gesetz, sei nebensächlich. Statt phonetischer Elemente erhält man nach dieser Auffassung Punkte in einem abstrakten System (Kuryłowicz 1964: 11-12). Lass (1993: 168-169) hält diese Einschränkung der Rekonstruktionen auf formelle Relationen für inkohärent. Auch

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Kuryłowicz’ Relationen seien letztendlich nach bestimmten Merkmalen gewählt und daher implizit phonetisch. Lass meint, ein einfaches, jedoch schlagendes prinzipielles Argument gegen alle relationellen, abstrakten und algebraistischen (wie er sie nennt) Herangehensweisen an das Konzept für Sprachgeschichte und Rekonstruktion zu besitzen:

„If the system of underlying representations […] is totally ‘abstract’ or non-phonetic, all mappings between ‘deeper’ and more ‘superficial’ or ‘underlying’ and phonetic levels of representation, and all class-groupings and particular morphophonemic relations, are arbitrary.” (ibid.: 169)

Wenn z.B. idg. *p einfach ein Deckungssymbol oder uninterpretiertes Etikett für Reihen wie lat. ped-, ai. páda-, engl. foot ist und idg. *t das gleiche in Bezug auf lat. tenuis, air. tanae, engl. thin, dann gibt es keinen Grund, warum man konsequent den einen mit dem Reflex [p,f] und den anderen mit [t, ϑ] verbinden soll.

„Protosegments must be assumed to have some kind of phonetic content of their reflexes are to be intelligible. […] The reconstructing historian is making claims about substance whether he thinks he is or not.” (ibid.: 169)

Rekonstruktion muss also zu einem gewissen Grad realistisch sein. Alle Theorien, die versuchen, die abstrakte von der realen Ebene bei der Behandlung von Rekonstrukten völlig abzutrennen, sind unhaltbar. Ich stimme mit dieser Meinung von Roger Lass überein.

Ich sehe bei dieser Debatte aber die Symptome eines viel tiefer greifenden Problems der Indogermanistik. Wie von Fox zugegeben (s.o.), hat sich unser Wissen über historische und nicht nur historische Prozesse in der Sprache inzwischen entwickelt, so dass die vor mehr als hundert Jahren entwickelte Methodik der Rekonstruktion und ihre Grundannahmen sich mit den neuen Erkenntnissen und daraus entstehenden neuen Bedürfnissen für Repräsentation, Modellierung und Erklärung von Sprachphänomenen nicht mehr decken. Klar hat die Rekonstruktion indogermanischer Urformen für die Indogermanisten des vergangenen Jahrhunderts bedeutet, dass diese Formen wirklich existierten, dass sie sich dann durch die heute nicht mehr haltbaren Modellen des „reinen“ vertikalen Wandels abgespalten und bis zu ihrem heutigen Zustand verändert haben. Das Hinterfragen zu dieser Thematik war besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht besonders verbreitet.4 Auch heutzutage schleppen wir aber stückweise Überbleibsel dieser veralteten Interpretationsmuster in unseren Untersuchungen und in der methodischen Behandlung der Daten weiter mit. Und da sich die Indogermanistik, so wie die Geisteswissenschaften allgemein, jetzt schon von vielen alten irrationalen Vorurteilen befreit hat, ist es vielleicht an der Zeit, dass man versucht, neue Modelle für die historische Sprachbetrachtung zu schaffen, die das Brauchbare von den alten Modellen behalten, aber auch neue Elemente inkorporieren, die dem gewachsenen Wissen entsprechen würden und es eben nicht in den alten Grenzen verengen. Vielleicht kann man schon Omas alte Brille als lange verehrtes Relikt zur Seite legen und sich eine neue Brille anschaffen.

Die „Ursprache“ und das „Urvolk“ „[…] a fable in Proto-Indo-European […] verse in Proto-@ostratic […]

This is rather like writing historical novels in which Attila the Hun converses with Vespasian; it is not, as a form of activity in linguistics, a serious pursuit.“

(Lass 1997: 273)

Ein Teil des genannten Relikts ist auch die verbreitete Vorstellung von der indogermanischen Ursprache und dem entsprechenden Urvolk. Selbst die Bezeichnung „Urindogermanisch“ spricht dafür, dass man damit ein völlig ausgebautes Sprachsystem meint, das irgendwann in Verwendung war. Zumindest ist das die erste Assoziation, die dann für die meisten Menschen wie für einige Wissenschaftler doch bestimmend bleibt. Wenn oben die Diskussion über den Status der rekonstruierten Formen lief, dann geht es hier schon um eine weitere Extrapolation anhand dieser Formen, deren Substanz so ambivalent ist. Kaum hat man den Status der Formen bestimmt und man vermutet schon, dass sie zu einem ganzen kohärenten System gehören, das sogar einmal existiert

4 S. z. B. Bloomfield 2001: 381.

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haben soll, d.h. als Sprache gesprochen wurde. Und da es gesprochen wurde, hatte es auch seine Sprecher, die ethnisch wie sprachlich zusammenhingen – die „Indogermanen“. Jemand könnte sich hier freuen, dass man durch die wissenschaftliche Methode endlich die reale, menschliche und alltägliche Ebene erreicht hat, die Geschichte belebt also (wie es letzterzeit modern ist zu sagen), ich behaupte aber, dass man hier nur einen Phantom ans Leben gerufen hat. Zuerst möchte ich aber einige andere Meinungen zum Thema beachten.

Die wichtigste Frage, die viele versucht haben, zu beantworten ist, ob die indogermanische Ursprache als eine historische Sprache anzunehmen ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit tatsächlich gesprochen wurde. Oder ist das nur ein wissenschaftlicher Konstrukt, der die Analyse der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den indogermanischen Sprachzweigen erleichtert, die Struktur des Materials also veranschaulicht? Ernst Pulgram hat sich in einer Reihe von Veröffentlichungen darüber ausgesprochen, von welchen ich hier zwei berücksichtigen möchte – eine ältere und eine neuere. Seines Erachtens schafft man durch die Rekonstruktion indogermanischen Vokabulars einen „Idiolekt“, der einen hohen Grad an Einheitlichkeit aufweist. Das besondere daran aber ist, dass das nur der Idiolekt des Wissenschaftlers ist, der Methode also.

„[…] it must be conceded that such a reconstruction is something of a fiction, since the terms Proto-, Ur-, Primitive are firmly attached to formulae which are timeless, non-dialectal, and non-phonetic. […] Anything in linguistics that is timeless, nondialectal and nonphonetic by definition does not represent a real language.” (Pulgram 1959: 422)

Pulgram warnt vor der Verwechslung der Methoden, die wir anwenden, und der Ergebnisse, die sie hervorbringen, mit Tatsachen. Das rekonstruierte Urindogermanische ist für ihn „gar keine Sprache“, zumindest nicht nach einer haltbaren Definition von Sprache (ibid.:423). Daher möchte er hier zwei Termini voneinander unterscheiden: den Begriff der „rekonstruierten urindogermanischen Sprache“ vom Begriff der „realen urindogermanischen Sprache“. Die eine ist eine Fiktion, oder eher eine Ansammlung von sprachlichen Formen und Strukturen, die sich aus der vergleichenden Methode ergibt. Diese ‚Sprache’ weise einen hohen Grad an Uniformität auf, wie keine existierende Sprache, und bestehe aus Formen, die, jede für sich allein, aus dem vorhandenen belegten Material erschlossen wurden. Dieses Ausgangsmaterial ist chronologisch divers, was für die Zeitlosigkeit der Rekonstrukte spricht. Zusätzlich ist die Phonetik dieser ‚Sprache’ nur hypothetisch – wir wissen nicht, wie die Laute, die wir rekonstruieren, ausgesprochen wurden und können sie nur abstrakt phonologisch markieren. Die „reale urindogermanische Sprache“ sei hingegen das, worauf die Wissenschaft manchmal versucht zuzugreifen, eine reale Ursprache also, die real existiert haben soll und die, wie jede andere Sprache, zum Teil uneinheitlich, dialektal geteilt und zeitlich bestimmt gewesen ist. Nach Pulgram ist es unmöglich, etwas über die historische Realität und die Sprecher dieser realen Sprache zu ermitteln:

„In short, we must plead ignorance not only concerning Real Proto-Indo-European itself, but also concerning the place and time and cultural condition of its speakers.” (Pulgram 1959: 425)5

Er setzt seine Argumentation fort und behauptet, wobei ich gleich zustimmen muss, dass unsere Vorstellungen von der urindogermanischen Sprache durch die optische Illusion beeinflusst worden sind, die das Stammbaummodell schafft. Und zwar stellt es immer das Urindogermanische ganz oben und ganz alleine an der Spitze des genealogischen Baumes, womit es andeutet, dass das Urindogermanische der alleinige „Anfang“ gewesen sein soll. Es gibt aber, so Pulgram, keinen „Anfang“ der Sprache:

5 Pulgram hält zusätzlich die Behauptungen über eine Sprache, basiert auf Überlegungen über die Kultur der Sprecher, für „gefährlich“ (1959: 424). Auch Spekulationen in die umgekehrte Richtung, die Rekonstruktion von Kultur anhand der Sprache, heißt er nicht willkommen, da sie zu „tautological circularities“ führen. Solche Zirkelschlüsse bieten sich beispielsweise reichlich in den Ausführungen von Kitson (1997) an. Weitere Aspekte dieser Problematik, einschließlich aus archäologischer Sicht, habe ich im meinem Beitrag zur Präsentation der Ergebnisse des Projekttutoriums „Zur Aktualität der ethnischen Deutung in der Archäologie“ (2008: 14-23) zusammenfassend besprochen. Die Details dieser Problematik können kein Thema dieser Arbeit sein und werden daher hier nur erwähnt.

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„Proto-Indo-European, although at the apex of the Indo-European genealogical tree, is actually no more a ‘beginning’ than is Latin, which is at the apex of the Romanic genealogical tree – since true ‘beginning’ in linguistic history makes sense only with reference to a wholly inaccessible glottogonic period.” (ibid.: 425)

Doch der genealogische Baum lässt die Täuschung weiter bestehen, dass man bei einem langen genug Rückgang in die Vergangenheit auf eine einzige, reine, einheitliche Sprache als Ursprung aller behandelten Sprachen ankommen würde. Sollte die rekonstruierte Sprache doch Unregelmäßigkeiten aufweisen, dann müsste man einfach zeitlich noch weiter nach hinten gehen, um die ersehnte Einheitlichkeit zu erreichen. Dies erklärt die eifrigen Bemühungen der Indogermanisten, die vergleichende Methode solange am Material anzuwenden, bis jede formelle Unregelmäßigkeit ausgelöscht wird. Man muss hier zugestehen, dass solche Problematiken den wissenschaftlichen Diskurs zum großen Teil ausmachen – uns ‚stört’ diese oder jene Form, die ins angenommene Muster nicht gezwungen werden kann, daher behandeln wir sie, bis sie ‚aufgibt’. Pulgram besteht darauf, dass man die essenzielle Künstlichkeit des Urindogermanischen erkennen muss, um dieser verbreiteten Täuschung zu entlaufen.

Für die zeitliche und kompositionelle Willkürlichkeit der rekonstruierten urindogermanischen Sprache gibt Pulgram in einer späteren Veröffentlichung von 1995 ein interessantes Beispiel. Dort zieht er einen Vergleich mit der Paläoanthropologie und der Rekonstruktion menschlicher Skeletten aus prähistorischer Zeit, und zwar vor der Entdeckung in 1974 der berühmten ‚Lucy’, eines 3,5 Millionen Jahre alten partiell erhaltenen menschlichen Skeletts, das zurzeit das älteste ist, das wir kennen. Dieses Beispiel verdient hier ein längeres Zitat:

„The oldest [complete skeleton – until recent finds: see below] was one of those Neanderthalers [which] is about seventy-five thousand years old. Yes, there are older hominid fossils, but they are all fragments. Everything that has been reconstructed from them has had to be done by matching up those little pieces – a tooth here, a bit of a jaw there, maybe a complete skull from somewhere else, plus a leg bone from some other place. The fitting together has been done by scientists who know these bones as well as I know my hand. And yet, when you consider that such a reconstruction may consist of pieces from a couple of dozen individuals who may have lived hundreds of miles apart and may have been separated from each other by a hundred thousand years in time – well, when you look at the complete individual you’ve just put together you have to say to yourself: ‘Just how real is he?’” (Johanson und Edey 1981: 22-24, Op.cit. Pulgram 1995: 231, Bemerkungen und Ergänzungen von Pulgram)

Das Beispiel ist interessant, weil es erstaunlichen Parallelismus mit der Situation in der Indogermanistik aufweist. Genauso besteht unsere ‚Ursprache’ aus disjecta membra, die wir aus einer großen Anzahl Sprachen vereinheitlicht haben. Sind diese Formen realistisch oder absurd? Eigentlich haben wir unsere Lucy noch nicht entdeckt, die die Ergebnisse unserer Methoden bestätigen könnte. Das, was wir zurzeit an Material aus dem „Urindogermanischen“ haben, ähnelt sehr der chaotischen und anachronistischen Ansammlung menschlicher Fossilien der Anthropologen. Ob man darauf hoffen darf, eine linguistische ‚Lucy’ einmal zu entdecken, die die Existenz des Urindogermanischen bestätigt? Daran würde ich persönlich zweifeln, denn gerade hier funktioniert die Parallele nicht. Es geht hier nicht um den Beweis, im allgemeinen, dass es eine menschliche Ursprache gab, die alle Züge heutiger Sprachen besaß und die zeitlich weit genug in der Vergangenheit lag, um alle bisher belegten Sprachen daran weit zu übertreffen und uns also etwas über die entfernte Vergangenheit der Sprache zu sagen. Hier geht es um die Rekonstruktion einer bestimmten Gruppe von Sprachen und um ihren eventuell existierenden prähistorischen Vorgänger, den wir uns als lebendige Einzelsprache mit bestimmten Merkmalen vorstellen möchten. Hier sind die Ausgangskriterien schon zu eng im Vergleich zur Situation mit Lucy, um uns so viel „Glück“ zu verheißen. Hier werden wir, fürchte ich, nie etwas finden, was unsere Rekonstruktionen bestätigt. Dafür gibt es zusätzliche Gründe, aber die werde ich eher für das Fazit dieser Arbeit reservieren und meine Aufmerksamkeit jetzt auf ein Paar weitere Meinungen richten.

Es gab auch „Gegenstimmen“ zu dem, was Pulgram sagte, sowie Stimmen, die einen Mittelweg in der Betrachtung suchten. Hall (1960) war mit den Aussagen Pulgrams über das Lateinische nicht einverstanden und besonders mit der Auffassung, dass das Lateinische mit dem Urromanischen nicht zu verwechseln sei und dass eine Rekonstruktion des letzteren keine Ähnlichkeiten zwischen den beiden ergeben würde (vgl. Hall 1960: 203-204; Pulgram 1959: 423, Anm. 8). Hall gibt also

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eine in rekonstruierter ‚urromanischer’ Sprache geschriebene Geschichte als Beispiel, um zu zeigen, dass es Ähnlichkeiten tatsächlich gäbe. Er schließt:

„[…] this reconstructed text is, as a whole, quite close to what we know about popular Latin from other sources, and it is certainly not incomprehensible to those with a knowledge of Classical Latin, although its ‘Latinity’ (in the puristic sense) is admittedly execrable.” (Hall 1960: 205)

Die Frage hier ist, ob es für die besprochene Problematik als ausreichend gelten kann, dass der geschriebene experimentelle Text “verständlich“ ist. Man muss natürlich die Tatsache beachten, dass der informierte, gebildete Leser heutzutage nicht nur mit Latein, sondern mit anderen europäischen Sprachen vertraut ist, die mit Latein zwar eng zusammenhängen, die aber durchaus auch ihre eigene Entwicklung gegangen sind. Dazu ist der Lesen aber noch mit Sprachen vertraut, die gar nicht zur romanischen Gruppe gehören, aber durchaus „romanische“ (ob lateinische oder andere) Schichten in ihrem Vokabular enthalten (z.B. Englisch). Dies ist eine moderne kulturelle Gegebenheit. D.h., die Kompetenz, die das Verständnis dieses Textes erlaubt, hat nicht nur mit Latein zu tun, sondern auch mit Teilen der restlichen romanischen Sprachen, auf der Grundlage deren das ‚Urromanische’ rekonstruiert wurde und zwar anhand der gleichen Logik, die der Leser dann nutzen würde, um die “urromanische“ Geschichte zu entziffern. Ich habe daher eine Vermutung: dass es für den gleichen Leser tatsächlich schwieriger wäre, einen echten lateinischen Text zu verstehen, als diese konstruierte urromanische Sprache, und zwar aus einem einfachen Grund: eine lebendige Sprache ist voller Ausnahmen und kleiner Überraschungen für die Logik und zwar, egal warum das so ist, gerade im Bereich des am meisten verwendeten Vokabulars, womit die Schwierigkeit des (lebendigen) Spracherwerbs zusammenhängt. Diesen Stolperstein bietet die von Hall geschriebene Geschichte nicht. Ihre Sprache ist, wie eine rekonstruierte Sprache sein soll, völlig regelmäßig – und damit tot. Es stimmt also prinzipiell, dass diese Sprache mit diesen Merkmalen keine lebendige Sprache ist und sein kann, und dass sie mit dem Lateinischen (oder egal welcher anderen romanischen Sprache) nicht identisch ist, und zwar aus tieferen, strukturellen, und nicht rein pedantisch-puristischen Gründen.

Nehring (1961: 360f.) kritisiert Pulgram wegen der von ihm angenommenen Uniformität des Urindogermanischen als Teil seiner Definition, die dann in dieser Form Gegenstand der Betrachtung wird. Die Kritik ist m.E. teilweise berechtigt. Nehring weist darauf hin, dass „heute kein Indogermanist Einheitlichkeit des Urindogermanischen annimmt.“ Dazu hat „gerade die Rekonstruktion Unterschiede innerhalb des Urindogermanischen herausgearbeitet.“ Die letztere Aussage lässt er leider ohne Beispiele. Er bezieht sich nur allgemein auf die Versuche der Gliederung des Urindogermanischen in Dialekte und Isoglossengebiete. Und er ist gar nicht mit der Aussage einverstanden, dass die Methode der Rekonstruktion zur Annahme einer Uniformität zwingt. Während ich der Aussage über die versuchte dialektologische Teilung des Urindogermanischen aus Allgemeinwissen zustimmen kann, bin ich in Bezug auf die letztere Formulierung anderer Meinung. Die vergleichende Methode zwingt wirklich zur Rekonstruktion einer Uniformität und zwar aus Gründen, die ich oben behandelt habe und die von Fox vielleicht am besten dargestellt sind (s.o. S. 7-8 und 10f.). Schon das Verfahren der Rückführung mehrerer Formen auf eine Urform, die dazu mit anderen ähnlich rekonstruierten Formen in einheitlichem Verhältnis stehen soll, bedeutet (praktisch, auch wenn nicht direkt theoretisch formuliert), dass man eine einheitliche Ursprache sucht – ob man es zugestehen möchte oder nicht.

Lass (1997) leistet einen eigenen Beitrag zu dieser Debatte und zwar nicht speziell in Verbindung mit dem vom Pulgram Geschriebene. Er bezieht sich auf Mary Haas (1969) und ihre Studie über die „Prähistorie der Sprachen“, wo sie eine interessante Ansicht präsentiert, und zwar, dass jede Sprache eine potenzielle Ursprache ist, aus welcher weitere Sprachen entstehen. Diese Aussage nimmt Lass auf, um weiter zu behaupten, dass eine Ursprache eine natürliche Sprache wie jede andere ist, was bedeuten würde, dass nichts an einer Ursprache gegen die Voraussetzungen für eine moderne Sprache verstoßen dürfte. Auf das Urindogermanische übertragen bedeutet das, dass die Ursprache auf der einen Seite, realistisch gesehen, kein Bündel von Abstraktionen oder Decksymbolen sein kann, aber es ist auf der anderen Seite auch kein Corpus von Äußerungen oder

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Texten. Es ist zusätzlich keine Sprache, in welcher Äußerungen gemacht werden können. Diese Erkenntnis hat die Menschen trotzdem nicht davon abgehalten, Versuche in Richtung des Gegenteils zu machen – und hier verweist Lass (unter Anderem) auf die berühmte Fabel in rekonstruierter urindogermanischer Sprache Schleichers (1868) mit einer ironischen Bemerkung, die ich zum Motto dieses Teils der Arbeit (s.o.) gemacht habe.

Für Lass sind also Ursprachen Sprachen wie alle anderen (ibid.: 274), auch wenn mit ärmeren Informationsquellen, wo Schlussfolgerungen, die auf verschiedenen Arten der Rekonstruk-tionsmethoden basieren, das Material anschaffen. Es gibt für ihn keinen Grund anzunehmen, dass eine rekonstruierte Ursprache, egal wie unvollständig sie in bestimmter Hinsicht sein kann, zweifelhafter sein muss als jede wirklich belegte solche:

„In effect a protolanguage is a very special and important kind of Trümmersprache, one which paradoxically may, because of the power of reconstructive techniques and uniformity constraints, be more “complete” than many or even most of the attested descendants.” (Lass 1997: 276)

Hier muss ich in meiner Meinung stark von Lass abweichen. Er nimmt eine Behauptung von Haas auf, die, wie er selbst zugesteht (ibid: 272) nur „trivial korrekt“ ist, und baut eine Argumentation darauf, die sich, wie ich glaube, im Kreis dreht und nur formell richtig ist, jedoch nicht im Wesentlichen. Eine Ursprache im Sinne der rekonstruierten urindogermanischen Ursprache kann keine „natürliche“ Sprache wie alle anderen sein. Wenn eine Sprache per Definition „gesprochen“ werden muss und Sprecher haben soll, können wir fürs Indogermanische solche nicht nachweisen, nicht einmal mit Sicherheit vermuten. Wie Lass selbst zugesteht, ist das keine Sprache, in der Äußerungen gemacht werden können. Eine natürliche Sprache ist dazu so wie sie ist, egal welche Theorien wir dazu aufbauen, und sie bietet uns oft „Überraschungen“ in der Form von Unregelmäßigkeiten, die wir in den Theorien nicht einbauen können. Diese Freiheit und Kreativität, und teilweise Unvoraussagbarkeit der Entwicklung menschlicher Sprachen, macht ihr Wesen als natürliche Sprachen aus. „Mysteriös“ wie es manchmal erscheint, funktionieren diese Sprachen als Systeme der Kommunikation und Verständigung auch ohne jegliches explizite Wissen der Sprecher über den Sprachbau oder über irgendwelche Regeln, die über den Sprachbau herrschen sollten – und trotzdem besitzen solche Sprachen eine hohe Kohärenz. Die genannten Regeln sind also sekundär, sie stammen aus unseren Beobachtungen und sind völlig unnötig für die Funktion der lebendigen Sprache als solche.

Eine solche lebendige Sprache, wie auch oben anhand des Zitats von Johanson und Edey ersichtlich wurde, ist von der rekonstruierten urindogermanischen Sprache so weit entfernt, wie der lebende Mensch von der Kreatur Frankensteins. Man kann nicht eine lebendige Sprache aus disjecta membra und anhand von Theorien, die aus Beobachtungen über Strukturelemente stammen, aufbauen und dann das Leben in diese Sprache „hineinhauchen“ oder den „Strom einschalten“. Dies ist eine Vorstellung, die aus der Kultur unserer mechanistisch-orientierten Welt stammt, aber sie ist völlig absurd und zwar auch deswegen, weil es in der Natur (und wir sprechen von „natürlichen“ Zuständen) nirgendwo der Fall ist, dass aus irgendwelchen toten Teilen etwas zusammengesetzt wird, was danach leben kann. Ganz im Gegenteil, funktioniert die Schöpfung in eine völlig entgegengesetzte Richtung: aus einer totipotenten Zelle entsteht der Mensch, aus einer Idee und einem Wunsch entsteht eine Form. Genauso aus dem Wunsch zu sprechen entsteht die Sprache.6 Wir setzen nicht die Teile der lebenden Wesen zusammen, um sie dann zu „beleben“ (wie man ein Auto zusammensetzen würde und dann noch mit Brennstoff versehen), sondern sie wachsen aus einem wesentlichen Zentrum heraus – was auch immer dieses Zentrum enthalten soll (das sollten wir zuerst entdecken). Dies ist eine genauso „triviale“ Beobachtung über das Leben, von welchem die Sprache einen wichtigen Teil ausmacht, wie die von Haas, aufgrund welcher aber ich nicht versuche, in der rekonstruierten urindogermanischen Sprache etwas zu erkennen, was sie nicht ist und nicht sein kann. Es ist vielleicht höchste Zeit für uns zu verstehen, zumindest an der zugestandenen Mangelhaftigkeit unserer Methoden, dass das, was die Sprache als lebender 6 Eine gute Inspiration für Gedanken hierzu wären die berühmten Harvard Lectures von Leonard Bernstein (1976) und besonders ihr erster Teil über „Musikphonologie“.

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Organismus ist, und das, was die Wissenschaft daraus macht, zwei verschiedene und oft unvereinbare Dinge sind. Diese Dichotomie ist nicht zwingend, sie liegt an unserer Methodik, die den Prozessen im Leben widerspricht oder sie jedenfalls nicht gebührend anerkennt. Mag das philosophisch klingen…

Rekonstruktion und Realität: Zusammenfassung

I have often thought that if it was literally true that in the beginning was the word, it must have been a sung word.

(L. Bernstein, Harvard Lectures 1976)

Um zurück zur ursprünglichen Fragestellung dieser Arbeit zu gehen: nach allen vorliegenden Ausführungen, die auf keinen Fall wirklich alles zum Thema sagen, wie steht es letztendlich mit dem Problem der Realität der rekonstruierten Formen und Systeme/Sprachen in der historischen Linguistik? Die Initiative selbst, eine prähistorische Dimension der Sprache der Menschheit zugänglich zu machen, ist zweifelsohne eine edle Unternehmung, die prinzipiell nicht aufgehalten werden darf. Wie wir aber heute feststellen müssen, reichen unsere historisch entwickelten Methoden für die Behandlung der Fragestellung nicht aus. Diese Methoden können das gesetzte Ziel nicht erreichen, da sie an wesentlichen Punkten mangelhaft sind.

Wie reagiert die Wissenschaft auf diese Feststellung? Wie man an den hier schon angeführten Meinungen sehen kann (z.B. Fox 1995: 138ff.; hier Seite 10f.) reagiert der wissenschaftliche Diskurs dadurch, dass die Ziele der Methode eingeschränkt werden. Wir sagen, dass, da unsere Methoden so sind, wir uns nur mit der Untersuchung von genetischen Verwandtschaftsverhältnissen oder mit dem, was Fox ‚Erbschaft’ („inheritance“) nennt, befassen möchten. Die rekonstruierten Formeln seien jetzt nur Deckungssymbole oder inhaltsfreie Etiketten (Zawadowski), „Punkte in einem System formeller intralinguistischer Relationen“ (Kuryłowicz), „signes par lesquels on exprime en abrégé les correspon-dances” (Meillet) – formelle Einheiten ohne Substanz. Unser Ziel ist nicht mehr, alle Prozesse des Sprachwandels darzustellen oder zu erklären, sondern wir beschäftigen uns nur mit den Phänomenen, die unsere Methoden beschreiben können.

Ganz vergessen wir aber bei diesen schön formulierten Gedanken, dass wir auf dem Weg den Zweck und Sinn unserer Wissenschaft untermauert und verloren haben – und zwar, um unsere Methoden zu retten, die uns offensichtlich näher am Herzen liegen als die Wissenschaft. Wie kann eine Fachrichtung „historisch-vergleichend“ heißen, wenn sie über keine brauchbaren Mittel zur ausführlichen Darstellung und Erklärung ihres (historischen) Gegenstands verfügt? Eine bessere, konstruktivere Reaktion des Diskurses aufs genannte Problem also wäre, statt dessen unsere Ziele zu revidieren und einzuschränken, die Methoden anzupassen, die sich als mangelhaft erwiesen haben oder wo nötig neue Modelle zu entwickeln, womit die alten ersetzt oder ergänzt werden können. Gerade darin aber wird keine Energie investiert, sondern die Konzentration geht überwiegend auf die Aufrechterhaltung des veralteten Paradigmas. Diese Tendenz muss umgekehrt werden oder die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft wird zukünftig in eine Sackgasse geraten und sich selbst leugnen. Das tut sie schon einigermaßen, wie die hier angeführten Gedanken einiger Wissenschaftler demonstrieren…

Ich möchte also die Arbeit mit einem sehr passenden Zitat von Roger Lass (1980: 172) beenden, das uns vieles über die Aussichten für die Zukunft sagt, sollten wir die Tendenz nicht umkehren:

„Commitment and intellectual passion vested in particular ideas – rather than in the critical

enterprise and the attempt to find better ideas – are a vice and a peril. (Ideology kills.)”

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Literatur

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