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Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft Ländliche Erwachsenenbildung Baden-Württemberg e.V., 13. Juli 2009
PD Dr. Arnold Hinz
Vertretungsprofessur Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
Stärkung des Selbstbewusstseins bei Jugendlichen als präventive
Maßnahme
Theorie und empirische Befunde am Beispiel des Programms „Stark im Leben“
Was ist Selbstbewusstsein?
feste Persönlichkeitseigenschaft (trait self-esteem) oder variabler Zustand (state self-esteem) ?
Eisberg der Selbstsicherheit
Beispielitem für trait:
„Ich fürchte, es gibt nicht viel, woraus ich stolz sein kann“ (-)
Beispielitem für state:
„Wenn mir eine kalte Pizza am Imbissstand verkauft wird, beschwere ich mich“
Prävention durch Selbstbewusstsein?
Hohe Selbstsicherheit führt zu geringem Risikoverhalten Selbstsicherheit → Standfestigkeit → Zufriedenheit (viele Freunde, viel
Anerkennung, guter Kontakt zur Familie → deshalb kein Risikoverhalten nötig)
Hohe Selbstsicherheit führt zu hohem Risikoverhalten
Selbstsicherheit → Glaube daran, nicht abhängig zu werden / hoher Anspruch auf Genuss → Ausprobieren/ Experimentieren, hoher Substanzkonsum, hohes Risikoverhalten
Empirische Befunde zum Verhältnis von Selbstbewusstsein (self-esteem) und Substanzkonsum
Veselska et al., 2009, Fragebogenerhebung Slowakei (N = 3694; Alter M = 14.3): Korrelation zwischen geringem Selbstbewusstsein und Risikoverhalten bei Jungen, nicht aber bei Mädchen; Korrelation zw. guter Familienbeziehung und geringem Substanzkonsum; Korrelation zwischen hoher Sozialkompetenz und Tabak- und Cannabiskonsum bei Jungen und Mädchen
Kaufman & Augustson, 2008, Längsschnittstudie USA (N = 6956 Mädchen, 7. – 12. Klasse): Korrelation zwischen niedrigem Selbstbewusstsein und Tabakkonsum
Kokkevi et al., 2007, Fragebogenerhebung Bulgarien/Kroatien/Griechen-land/Rumänien/Slowenien/UK (N = 16445, 16 Jahre alt): keine signifikante Korrelation zw. Selbstbewusstsein und Tabak-, Alkohol-, Marihuanakonsum, andere illeg. Drogen, nur sign. Korrelation zum Substanzkonsum der älteren Geschwister und der Peergruppe
Engels et al., 2005, Längsschnittstudie Niederlande (N = 1861, 12-13 Jahre alt): Korrelation zw. geringem Selbstbewusstsein, depress. Stimmung, niedriger Selbstwirksamkeit und Tabakkonsum
Chabrol et al., 2005, Fragebogenerhebung Frankreich (N = 257): keine sign. Korrelation zwischen Selbstbewusstsein und Cannabiskonsum
Empirische Befunde zum Verhältnis von Selbstbewusstsein (self-esteem) und Substanzkonsum
Wilkinson & Abraham, 2004, Längsschnittsstudie UK (N = 225; 13-14 Jahre alt): signifikante prospektive Faktoren: Rauchabsicht, Anzahl der rauchenden Freunde, Prozentsatz von rauchenden älteren Brüdern, geringes Selbstbewusstsein
Daten der eigenen Studie, Hinz 2004, Längsschnittstudie (N = 717; 12-16 Jahre alt): signifikante prospektive Faktoren bei Jungen: Rauchabsicht, Rauchens des besten Freundes, Rauchen des Bruders, Tabakkonsum der Mutter, Tabakkonsum des Vaters, mehr selbstsichere Verhaltensgewohn-heiten
sign. prosp. Faktoren bei Mädchen: Rauchabsicht, Rauchen der besten Freundin, Rauchen der Schwester, Rauchen des Bruders, Tabakkonsum des Vaters, mehr selbstsichere Verhaltensgewohnheiten, stärkere Sorgen bezüglich des Fremdbildes
Miller & Plant, 2003, Fragebogenerhebung UK (N = 2641): kein Einfluss des Selbstbewusstseins auf den Substanzkonsum
Empirische Befunde zum Verhältnis von Selbstbewusstsein (self-esteem) und gewalttätigem Verhalten
These: Geringes Selbstbewusstsein führt zu externalisierendem Problemverhalten wie antisozialem Verhalten
Gegenthese: Hohes Selbstbewusstsein führt zu aggressivem Verhalten Boden, Fergusson & Horwood, 2007; Längsschnittstudie Neuseeland (N > 1000): sign. Korrelation zwischen niedrigem Selbstwusstsein im Alter von 15 Jahren und gewalttätigem Verhalten im Alter von 18, 21 und 25 Jahren, aber keine signif. Beziehung mehr, wenn Störvariablen wie Sozialstatus herausgerechnet werden
Greve & Wilmers, 2003, Fragebogenstudie Deutschland (N = 990): bei Opfern von Gewalt geringes Selbstwertgefühl; etwas höheres Selbstwertgefühl bei Jugendlichen, die sowohl Opfer als auch Täter waren; bei gewalttätigen Jugendlichen sehr hohes Selbstwertgefühl (noch höher als bei Jugendlichen, die weder Opfer noch Täter waren)
Fazit der Studie: ein zu hohes, aber fragiles (d.h. nicht durch Bewältigungsressourcen geschütztes Selbstbewusstsein) ist ein Risikofaktor für gewalttätiges Handeln
Thesen der Suchtpräventionsforschung
Suchtverhalten muss verstanden werden als (durchaus erfolgreicher) Versuch, jugendspezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen (Franzkowiak, 1986).
Mögliche Gewinne:
Provokative Abgrenzung von den Erwachsenen
Eroberung der Erwachsenenöffentlichkeit und Selbstdarstellung als erwachsene Person
Sich-Erwachsen-Fühlen
Zugang zur Freundesgruppe
Anbahnung von Kontakt zum anderen Geschlecht
Steigerung des Selbstwertgefühls
Konsequenzen für die Präventionsarbeit:Präventionsprogramme sollten funktionale Äquivalente für Risikoverhalten anbieten (Silbereisen, 1995; Silbereisen & Kastner, 1985)
Präventionskonzepte
gesetzliche Verbote
finanzielle Anreize
sozialpräventive und strukturelle Maßnahmen
massenmedialer Ansatz
Furchtappelle
Informationsvermittlung
Alternativaktivitäten
Ansatz zum sozialen Einfluss
Life Skills Trainings
Bisherige Evaluationen Suchtprävention „Fit und stark fürs Leben“ (Aßhauer & Hanewinkel, 1999, 2000)
„ALF/Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten“ (Walden et al., 2000)
„Soester Programm zur Suchtprävention“ (Petermann et al., 1997)
Programme zielen auf Nichtraucher Keine speziellen Bausteine für Jungen und Mädchen Keine dauerhaften signifikanten Programmeffekte hinsichtlich des Rauchverhaltens für die Gesamtgruppe
Geschlechtseffekte bisheriger Programme Bessere Wirksamkeit bei Mädchen: In 9 von 10 Studien bessere Effekte für Mädchen oder nur für Mädchen signifikante Effekte (Blake et al., 2001)
Geschlechtsspezifische Präventionsprogramme schon entwickelt und erprobt, aber noch nicht evaluiert
Philosophie des Programms „Stark im Leben“ (Hinz, 2006)
funktionale Äquivalente für Risikoverhalten bieten/Unterstützung bei Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (z.B. Flirttraining)
Spezielle Präventionseinheiten für Jungen und Mädchen sowie für Raucher und Nichtraucher („differenzielle Suchtprävention“)
Lebenskompetenztraining
Peer-Education-Ansatz
begleitende Nikotinberatung für Eltern
Exkurs: Geschlechtsunterschiede Rauchen Häufigkeit des RauchensKaum Geschlechtsunterschiede, aber bei Jungen härterer Konsum (z.B. filterlose Zigaretten)
KonsummotiveBei Jungen: Demonstration der Härte gegenüber dem eigenen Körper
Bei Mädchen: Rauchen hat den Hauch von etwas „Verruchtem“ (Fromm & Proissl, 1998); Festhalten am Rauchen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme
Geschlechtergerechte Argumente Bei Jungen: Konditionsverschlechterung, Impotenz
Bei Mädchen: Hautalterung; bei gleichzeitiger Einnahme der Pille Thrombosegefahr und Gefahr der Wirkungslosigkeit der Pille
Klasse 7
1. Freiarbeit in Gruppen zu den Themen Schutzmaßnahmen, Verletzungen, Risikoverhalten, Kosten des Rauchens, Sucht, angenehme Körperempfindungen
2. Lesetext: Die Mutprobe
3. Standfestigkeitstraining
4. Selbstsicheres Verhalten in „Sympathiesituationen“
5. Nikotinprävention
6. Persönliche Stärken/Flirttraining
7. Körperberührungen und Sexualität bei Jungen / Körperbild bei Mädchen
8. Der Marlboro-Mann und der Alltagsmann/ Frauen und Rauchen/ Quiz
Klasse 8
9. Training "Recht haben/Beziehungen"
10. Rauchen; Krebsselbstuntersuchungen (Brust-, Hodenkrebs)
11. Gefühle erkennen/ausdrücken, Umgang mit schlechten Stimmungen
12. Hilfe holen
Programminhalte
ProgrammevaluationZielexplikation: geringerer Nikotinkonsum (auch bei Jungen und Rauchern), mehr Selbstsicherheit, weniger Risikofreude, größere Bereitschaft, Hilfe zu holen, Wissenszuwachs (Rauchen, selbstsicheres Verhalten, Flirtwissen) bei Jungen Abkehr von traditioneller Männlichkeitsideologie bei Mädchen besseres Körperselbstbild
DesignNichtrandomisiertes Kontrollgruppendesign mit Prätest, Posttest (3 Monate später) und Follow-up (6 Monate später)
Stichprobe660 Schüler aus 12 Interventions- (6 Realschulklassen, 6 Hauptschulklas-sen) und 14 Kontrollklassen (7 Realschulklassen, 7 Hauptschulklassen)
Beim Posttest konnten 96.8 % der Schüler erreicht werden, danach Erhöhung der Ausfälle durch Wechsel von der 7. zur 8. Klasse.Von 589 Schülern (89.2 % der Ausgangsstichprobe) liegen Prätest-, Posttest- und Follow-up Daten vor.
MessinstrumenteSchülerfragenbogen 30-Tage-Prävalenz des Rauchens, Selbstsicheres Verhalten (Cronbachs α = .70/.78/.79), State Self Esteem Scale (α = .76/.80/.81), Risikobereitschaft (α = .83/.88/.89), Hilfe holen (α = .62/.70/.72), Männlichkeitsideologie der Jungen (α = .74/.79/.76), Körperselbstbild der Mädchen (α = .88/.89/.88), 2-Monats-Prävalenz Appetitzügler Gruppeninterview
Intervention/DurchführungProjektunterricht war Teil des normalen Unterrichts
Schulung der Interventionslehrer an einem Nachmittag; Auswahl der Teamleiter (Peer Education) durch anonyme Fragebogenerhebung in der Klasse; Schulung der Teamleiter an einem Vormittag (Herausnahme aus dem Unterricht)
Akzeptanz des Programms
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
sehr gut gut befrie-digend
aus-reichend
mangel-haft
ungenü-gend
Prozent
Bei der Programmbewertung zeigten sich keine signifikanten Geschlechtsunterschiede und auch keine signifikanten Unterschiede zwischen
Rauchern und Nichtrauchern
30-Tage-Prävalenz des Rauchens
26,4
22,8
29,4
25
27,7
29,8
22
26
30
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollgruppen
Prozentsatz der Schüler, die in den letzten 30 Tagen geraucht haben
Jungen (Signifikanter Effekt beim Posttest: Wald (1) = 12.86, p = .001)
28
18,8
25,223,8
31,7
29
18
23
28
Prätest Posttest Follow-up
IGJungen KGJungen
Prozentsatz der Jungen, die in den letzten 30 Tagen geraucht haben
Multivariate Varianzanalyse nach dem allgemeinen linearen Modell (Pillai-Spur)
Zielvariablen Zeitpunkt F (Bedingung) Effektstärke η2
F (Geschlecht x
Bedingung)
Selbstsicheres Verhalten
Post 7.22** .01 4.43*
Follow-up 8.40** .01 4.90*
State Self Esteem Scale (soz. Bereich)
Post 5.37* .01 .70
Follow-up 2.18 .00 .04
RisikoverhaltenPost 1.75 .00 .62
Follow-up .34 .00 .07
Hilfe holenPost 5.85* .01 .00
Follow-up .94 .00 .02
Wissen über das Rauchen
Post 247.97*** .30 .00
Follow-up 163.97*** .22 .19
Wissen über selbstsicheres V.
Post 110.57*** .16 .00
Follow-up 58.15*** .09 3.34
FlirtwissenPost 178.64*** .24 2.10
Follow-up 120.97*** .17 .04
Selbstsicheres Verhalten
40
42
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Hoher Wert = hohe Selbstsicherheit
Selbstsicheres Verhalten bei Mädchen Prä-Post-Vergleich: F (Gruppe x Zeit) (1, 323) = 6.52, p = .011;
Prä-Post-Follow-up-Vergleich: F (Gruppe x Zeit) (2, 264) = 4.66, p = .010
39
41
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Hoher Wert = hohe Selbstsicherheit
State-Self-Esteem-Scale
19
20
21
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Hoher Wert = hohe Selbstsicherheit
Wissen über das Rauchen
29,2
34,1
29,229,6
30
34,3
29
30
31
32
33
34
35
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Wissen über „selbstsicheres Verhalten“
30,7
33,6
33
30,4 30,4 30,430
32
34
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsgruppe Kontrollgruppe
Flirtwissen
30,8
35,134,5
30,5
31,3 31,2
30
31
32
33
34
35
36
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsgruppen Kontrollgruppen
Männlichkeitsideologie der JungenPrä-Post-Vergleich: F (Gruppe x Zeit) (1, 303) = 10.73, p = .001;
Prä-Post-Follow-up-Vergleich: F (Gruppe x Zeit) (2, 299) = 5.73, p = .004
24,6
25,6
26,6
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsgruppe Kontrollgruppe
Niedriger Wert = traditionelles Männlichkeitsbild
Projekteffekte bei den Jungen
• Signifikante Abkehr von der traditionellen Männlichkeitsideologie
• Signifikanter Rückgang des Nikotinkonsums
Körperbild der Mädchen (N = 305)7. Klasse Haupt- und Realschule
0
5
10
15
20
25
30
35
Mein Bauch ist zu dick Meine Oberschenkel sind zu dick
stimmt
stimmteher
stimmteher nicht
stimmtnicht
Körperbild Mädchen (N = 305), 7. Klasse Haupt- und Realschule
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
Ich müsste mehr auf meine Figur achten. Nach dem Essen mache ich mir Sorgen,zu dick zu werden.
stimmt
stimmteher
stimmtehernichtstimmtnicht
Körperselbstbild der Mädchen
24,3
25,3
Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Hoher Wert = positives Körperselbstbild
2-Monats-Prävalenz Appetitzügler Mädchen
0,1360 00,069
0,484
1,46
0Prätest Posttest Follow-up
Interventionsklassen Kontrollklassen
Prozentsatz der Mädchen, die in den letzten 2 Monaten Appetitzügler genommen haben
Projekteffekte bei den Mädchen
• Kein sign. Interventionseffekt hinsichtlich des Körperselbstbildes
• Abkehr vom Konsum von Appetitzüglern aufgrund des Bodeneffektes nicht signifikant
• Mädchen profitierten im Vergleich zu den Jungen signifikant stärker vom Selbstsicherheitstraining
30-Tage-Prävalenz des Rauchens in den Interventionsklassen mit Bezug auf das von den Schülern wahrgenommene Lehrerengagement
33
19,1
23,6
28
33
38,3
19
24
29
34
39
Prätest Posttest Follow-up
Sehr engagierte Lehrer geringeres Engagement
Fazit:
gute Akzeptanz des Programms gute Wissenseffekte
sign. Reduktion des Tabakkonsums bei Jungen Programmeffekt hinsichtlich selbstsicheren Verhaltens bei Jungen und (besonders bei) Mädchen
Abkehr von traditioneller Männlichkeitsideologie bei den Jungen
starke Abhängigkeit des Projekteffekts vom Lehrerengagement
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!