wdr 3 · pdf filecollage – deutsch-japanischer chor „ogenki desu ka? - wie geht...
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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben
(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
WDR 3 Kulturfeature
ARD-Themenwoche: ZUKUNFT DER ARBEIT
Heimatlos – Tokios digitale Tagelöhner
Regie:
Musik, Straßensound Tokyo, wird hinterlegt, langsam fade-out.
Overvoice: O-Ton 01 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)
Ich stehe um sechs Uhr morgens auf – mache mir Frühstück – und bin um sieben in
der Bahn, weil ich gut anderthalb Stunden Fahrzeit brauche, bis ich im Büro bin. Um
neun fange ich an zu arbeiten, ich arbeite lange und fahre abends den ganzen Weg
wieder zurück, nach Hause. Dann esse ich zu Abend, bade und gehe so gegen zehn
Uhr schlafen. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los.
Sprecher:
Du bist Ende zwanzig, arbeitest in Tokyo und wohnst in der Präfektur Saitama in einem
kleinen Ein-Zimmer-Apartment. Du arbeitest als Manager in einem Call-Center der
staatlichen Eisenbahn. Früher hast Du dort auch schon gearbeitet. Aber befristet, als
Freeter.
Overvoice: O-Ton 02 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)
Der Vorteil als Freeter ist, dass man einfach aufhören kann, wenn einem etwas nicht
gefällt. Ich muss jetzt viele Sachen machen, obwohl sie sinnlos sind, einfach weil mein
Chef sie angeordnet hat. Ich habe mehr Verantwortung als früher, das ist auch so eine
Sache. Aber ich bin wirklich dankbar, dass es geklappt hat.
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Sprecher:
Du bist jetzt ein Sarari-man, ein Angestellter, trägst schwarzen Anzug, weißes Hemd.
Overvoice: O-Ton 03 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)
Nach meinem Lebenstraum suche ich noch. Und …einen beruflichen Traum habe ich
eigentlich nicht - es hört sich vielleicht komisch an, aber wenn es jetzt so bleibt, wie es
ist, ist es gut. Ich habe jetzt eine Festanstellung – das reicht mir. Ich wünsche mir
nichts weiter für mein Leben.
Regie:
Bahnschranke, Musik, wird hinterlegt.
Sprecher:
Jeden Tag fährst Du wie alle anderen mit den überfüllten „white collar“-trains, den
Vorortzügen, nach Tokyo zur Arbeit hin und zurück. Du hast einen Job, der Dich
absolut nicht interessiert. Du bist noch nicht mal dreißig und hast keine Träume mehr.
Denn Du hast es jetzt geschafft: Du hast eine Festanstellung.
Ansage:
HEIMATLOS. Tokios digitale Tagelöhner. Feature von Serotonin
Regie:
Musik endet.
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Sprecher:
In den Achtzigern, als Japan noch gefunkelt hat vor Wohlstand – die hellen Lichter der
nagelneuen weißen Autos, die vielen glitzernden Läden – damals hatten alle noch
Geld. Du kannst Dich daran nicht mehr erinnern, denn damals warst Du noch ein Kind.
Aber Deine Eltern haben es Dir erzählt. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, lag bei knapp
2%. Alle waren genki – fit, gesund, fröhlich. Alle strengten sich an, haben eisern
durchgehalten – ganbatte kudasai, halte bitte durch! Spaß haben war wichtig, neue
Klamotten waren wichtig, schrille Trends, teure Restaurants, Bars. Lustig sein. Geld
ausgeben. Style eben.
Regie:
Szene im Kaiten-Sushi.
Overvoice: O-Ton 04 – im Kaiten (Übersetzungen werden eingebaut)
Willkommen, bitte hereinspaziert! Wie viele Personen? Zwei? Zwei Plätze für unsere
neuen Gäste! … Ich möchte gerne Aal und Weißfisch. … Aal und Weißfisch, kommt
sofort! … Die Herrschaften hier möchten zahlen. Vielen Dank für Ihren Besuch! …
Regie:
Collage – Deutsch-Japanischer Chor „Ogenki desu ka? - Wie geht es Ihnen? Danke,
mir geht es sehr gut“, Musik kommt dazu, stolpert unter Sprecher aus.
Sprecher:
Bis Mitte der 80er Jahre gab es sie noch, die typische Mittelstandsgesellschaft, für die
Japan so berühmt war, die lebenslange Festanstellung, die vielen Überstunden, die
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üppigen Bonuszahlungen. Die Firmen offerierten gar keine andere Möglichkeit, als eine
unbefristete Festanstellung. Und damit auch das Hamsterrad. Das war normal.
Overvoice: O-Ton 05a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
Angefangen hat alles um das Jahr 1986 herum ...
Sprecher:
Genda Yuji, Wirtschaftswissenschaftler am Sozialwissenschaftlichen Institut der Tokyo
Universität, Professor für Arbeitsökonomie.
Overvoice: O-Ton 05b (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
… es begann mit der Personalfirma Recruit, die mit Stellenanzeigen um „Arubaito“-
Arbeitskräfte warb. Und die Leute, die sich dann auf diese Jobs bewarben, dachten,
dass das eigentlich eine ganz gute Art und Weise ist, sein Geld zu verdienen: frei,
unabhängig und nach eigenem Interesse.
Sprecher:
Das Wort „arubaito“ stammt vom deutschen Wort „Arbeit“ ab. Es handelt sich bei
„arubaito“ um Arbeitsverhältnisse aller Art jenseits der Festanstellung.
Overvoice: O-Ton 05c (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
Freeter – das war also eher ein positiv besetzter Begriff.
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Regie:
Musik wird unterlegt
Sprecher:
Das Wort „Freeter“ setzt sich aus dem englischen „free“ - frei - und der letzten Silbe
des deutschen Wortes „Arbeiter“ zusammen. Japaner lieben ja solche Wort-
schöpfungen. Freeter sind all jene, die nicht festangestellt arbeiten. So, wie Du früher.
Egal, ob sie eine einfache oder anspruchsvollere Arbeit verrichten. Das
Unterscheidungsmerkmal ist lediglich, dass die Freeter eben nicht festangestellt sind.
So, wie Du jetzt.
Regie:
Harter Schnitt.
Regie: Szene „Am Eingang vom DICE“ setzt ein und wird hinterlegt.
Overvoice: 06 O-Ton (Tresenpersonal auf Japanisch, wird übersetzt):
„Guten Abend, herzlich willkommen! Eine Box für eine Stunde … Man passt zu zweit in
eine Box, das ist kein Problem … Hier bitte schön. Sie haben die Box Nummer 277 für
eine Stunde gemietet, Raucher … Bezahlt wird hinterher. Wenn Sie uns wieder
verlassen, geben Sie diese Karte wieder bei uns ab und bezahlen dann die Zeit, die sie
bei uns waren. Einen schönen Aufenthalt!“
Overvoice: O-Ton 07 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
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Ich habe einen Universitätsabschluss, einen Master für internationale Business-
Beziehungen. Ich war drei Jahre lang festangestellt bei einer deutschen Firma als
wissenschaftliche Assistentin. Das war eine sichere Arbeit, aber ich wollte lieber frei
sein und habe dann gekündigt. Meine Eltern haben mittlerweile aufgegeben, sich
darüber zu ärgern. Während der 3 Jahre, in denen ich für Daimler gearbeitet habe,
waren sie beruhigt, denn natürlich gab mir das und ihnen auch eine gewisse
Sicherheit, aber tatsächlich wollte ich doch lieber frei arbeiten und mein Leben selbst
gestalten.
Regie:
17-Uhr-Sound in den Straßen Tokyos
Sprecher:
Es ist 17 Uhr, eine Melodie erklingt aus den Lautsprechern, wie fast überall im Land.
Brave Kinder gehen jetzt nach Hause. Ayako, Anfang 30, sitzt im Internetcafé in
Ikebukuro. Sie lebt in Tokyo, hat eine gute Ausbildung, hat Berufserfahrung.
Overvoice: O-Ton 08 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Ich hatte schon als Kind Schwierigkeiten, mich an eine Gruppe anzupassen, ich war
sehr froh, als die Schule endlich vorbei war. Die Arbeit bei Daimler war dann natürlich
gut bezahlt, aber jeden Tag zum gleichen Ort gehen, jeden Tag dasselbe erleben,
jeden Tag dieselben Leute zu sehen, mit ihnen zu arbeiten, das war für mich sehr hart.
Das ist wohl mein Charakter. Ich arbeite jetzt frei, als Englisch-Übersetzerin. Jetzt kann
ich mir das alles aussuchen. Es stimmt, die meisten wünschen sich, festangestellt zu
sein - aber dann bin ich eben wohl kein typischer Japaner ...
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Sprecher:
Du bekommst als Kind Nachhilfe, damit Du gut bist in der Schule und eine hohe
Punktzahl im landesweiten Abschlusstest erreichst. So kommst Du auf eine gute Uni.
Schon während Deines Studiums kümmerst Du Dich um eine Stellung. Möglichst in
einer guten Firma und was eine gute Firma ist, bestimmen Sozialleistungen und Image.
Sony ist eine gute Firma, Toyota, Mitsubishi. Was genau Du dort arbeiten wirst,
interessiert Dich nicht, es wird schon jemand kommen, der es Dir sagt. Zum Dank gibt
es die Vollausstattung für Dein Leben: Der Arbeitgeber zahlt Dir die Monatskarte, einen
Mietzuschuss, Kindergeld, einen Anteil für die Kita und weil Deine Ehefrau nicht
arbeitet, auch dafür etwas Geld. Außerdem: sechs Monate Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall, 24 bezahlte Urlaubstage plus 14 gesetzliche Feiertage. Auch wenn Du
den Urlaub niemals ganz in Anspruch nehmen würdest. Und, wenn es für die Firma gut
läuft, bis zu fünf Monatsgehälter extra - als Bonus.
Ayako hatte so eine sehr gute Festanstellung. Sie hat sie freiwillig weggeworfen. Und
ist jetzt Freeter.
Overvoice: O-Ton 09 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Für die, die sich Sicherheit in ihrem Leben wünschen, ist es das optimale System, für
alle die, die sich am liebsten in der Gruppe aufhalten, ist es ein wunderbares System,
es gibt keine Geldsorgen, es ist leicht, ein Haus zu bauen - aber ich wollte eigentlich
niemals in eine große Firma. Ich kenne mich und weiß, wenn ich Teil einer Gruppe
werde und so zu sein versuche, wie alle anderen, dass ich das einfach nicht gut kann.
Sprecher:
Du weißt, dass ihre Kollegen darüber lächeln. Aber keiner wird sagen, Ayako sei selbst
schuld, dazu sind sie zu höflich. Vielleicht verstehen sie sogar, was Ayako am
Angestelltendasein stört. Sie selbst jedoch sind in der Firma geblieben. Das wiederum
kannst Du verstehen.
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Regie:
Einspieler Bahnschranke schließt sich mit Bing-bong-Geräusch, dann Zugdurchfahrt.
Darauf Chor: Japanisch-Deutsche Stimmen – „Yoroshiku onegaishimasu. Watashi wa
Sony desu – Ich bin ein Sony-Mann. Ich bitte Sie meinem Anliegen wohlgesonnen zu
sein.“.
Sprecher:
Amamiya Karin, Ex-Freeter, Ex-Punksängerin, jetzt Schriftstellerin, Anti-
Armutskämpferin, schillernde Pop-Ikone, Medienstar.
Overvoice: O-Ton 10 (Amamiya Karin auf Japanisch, wird übersetzt)
„In Japan hat sich die Firma schon immer sehr stark um ihre Leute gekümmert und auf
die soziale Versorgung „aufgepasst“ – die Sozialleistungen, Renten- und
Krankenkassenbeiträge, der Festangestellten wurden übernommen, selbst
Wohnungsprobleme wurden durch die Firma gelöst – sie hat sich quasi um alles
gekümmert. Als Freeter kommst du einfach nicht in diesen Genuss. Um dich als
Freeter kümmert sich die Firma nicht. Und außerhalb der Firma gibt es in Japan nichts
und niemanden, der sich um das Wohlergehen der Menschen wirklich sorgt. Also ist
das kulturell sehr stark in Japan verwurzelt, dass man nur in und mit einer Firma
zusammen wirklich gut leben kann.“
Regie:
Musik. Japanisch-Deutscher Chor: „Erfreut, Sie kennen zu lernen. Ich bin ein Sony-
Mann. Yoroshiku onegaishimasu“.
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Sprecher:
Die Firma kümmert sich in Japan um fast alles. Um Deine Sicherheit. Um Deine
Wohnung. Deine Rente. Deine Gewerkschaft. Dein soziales Leben. Deine Hoch-
zeitsfeier. Deine Beerdigung. Das ist der Deal. Dafür tust Du – ohne viel zu fragen –
was verlangt wird. Du passt Dich ein.
Overvoice: O-Ton 11 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):
Die Leute können ja überhaupt nicht mehr sagen, was genau sie in ihrer Firma
machen. Wenn man sie fragt, z.B. bei einem Vorstellungsgespräch: Was machst Du?
Antworten sie: Ich bin bei Sony. Oder bei Mitsui Bussan. Aber was sie genau dort tun,
können sie nicht sagen.
Regie:
Sodateage-Net „Yoroshiku onegaishimasu“ - Gruppengespräch.
Overvoice: O-Ton 12 (Studentengruppe auf Japanisch, wird übersetzt):
Klar wollen alle eine Festanstellung! Was wir werden MÖCHTEN, können wir uns ja
nicht mehr aussuchen, wenn wir festangestellt werden wollen. Das haben wir alle
schon aufgegeben. Wir haben alle unsere Wünsche, aber das geht ja alles nicht, wir
müssen nun einfach durchhalten und uns Mühe geben. Sicherheit geht eben vor.
Regie:
Musik
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Overvoice: O-Ton 13 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):
Also, in meinen Augen ist es viel wesentlicher, als dass alle festangestellt arbeiten,
eine Gesellschaft zu erschaffen, in der sich alle einbringen können.
Regie:
Musik plus Stimmen-Collage
Overvoice: O-Ton 14 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Mein Spezialgebiet an der Uni damals waren die Verkäufermärkte. Und nach der
Universität kamen eigentlich auch alle anderen irgendwo unter, Sony, IBM, NTT – alle
kamen in einer möglichst großen Firma unter. Aber ich mag es eben, für mich zu
arbeiten und nachzudenken. So bin ich eben …
Sprecher:
Freeter leben nicht nur für die Firma. Wenn Ayako ausgeht, kann sie das auch ohne
ihre Kollegen tun. Sie trägt weniger Verantwortung, sie nimmt nicht Teil am sozialen
Gefüge des Angestelltendaseins. Sie arbeitet nicht nur, sie lebt auch anders als
Festangestellte.
Regie:
Musik plus Japanisch-Deutscher Chor: „O tsukare-sama deshita! Ganbatte kudasai!
Oh, Du Ermüdeter! Bitte halte durch! Ach, es ist wirklich hart. Bitte halte durch, Du
hältst doch durch? Du gibst Dir doch Mühe, nicht wahr? Taihen desu yo! Ganbatte
kudasai, ganbatte, ne?!“
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Sprecher:
In Tokyo zu wohnen ist teuer - wer nicht wirklich gut verdient, zieht an den Rand der
Stadt. Die Stadt ist riesig, es leben über 35 Millionen Menschen im gesamten
Ballungsraum. Wenn Du den Abend in der Stadt verbringst, mit Kollegen oder auch in
Bars und Clubs, dann wird der Weg nach Hause lang. Manche blieben deshalb
irgendwann einfach über Nacht in der Stadt; nicht in den klaustrophobisch engen
Kapsel-Hotels, sondern in einem Internetcafé. Es war billig, es war Freizeit. Es war
schick.
Overvoice: O-Ton 15 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Der Service im Internetcafé ist gut, es ist sauber, es ist billig, es kostet maximal
zwanzig Euro pro Nacht, im Businesshotel kostet es 100 Euro oder so, schade ums
Geld! Letztlich schläft man doch nur. Und man hat genug Platz, man muss nichts
machen, um alles zu haben, es gibt freie Softdrinks an den Automaten, man kann so
viel trinken, wie man will, manchmal trinke ich so viel, dass ich nichts mehr essen
muss, weil ich schon von den Getränken satt bin. Es gibt genug zu lesen, es gibt
Duschen, man sagt einfach am Empfang, was man will und wie lange man bleiben will
und das ist alles.
Regie:
Musik
Sprecher:
Du kennst diese Internetcafés. Sie haben sich auf ihre Kundschaft eingerichtet. Jeder
Rechner steht in einer einzelnen Box. Man zieht eine Schiebetür zu und ist für sich. Die
Boxen sind groß genug, dass man sich bequem hinlegen und ausstrecken kann.
Decken, Kissen und Slipper bekommt man am Eingang. Die Betreiber bieten spezielle
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Tarife an, wenn man nach 22 Uhr kommt und über Nacht bleibt. Auch Duschen gibt es
hier. Seine Habseligkeiten kann man in der Box in einer Art Safe verstauen. Es ist so
groß wie eine Mikrowelle. Und manche bleiben schließlich auch für länger. Einige
sogar für viel länger als nur für eine Nacht. Das geht. Solange man bezahlt.
Overvoice: O-Ton 16 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Ja, es gibt Leute, die in einem Internetcafé wirklich wohnen, die mit all ihrer Habe dort
sind. Wenn man die Miete nicht mehr zahlen kann und das Türschloss ausgetauscht
wird, man nicht mehr in seine Wohnung kommt, also rausgeschmissen wird, dann hat
man nichts mehr als das, was man auf dem Leib hat. Und da ist es gut, dass es diese
Cafés gibt.
Regie:
Zuggeräusch des Shinkansen mit Ansage setzt ein und wird hinterlegt.
Sprecher:
Jeden Freitagnachmittag packt Shinji, ein junger Mann Anfang 20, seine Sachen
zusammen. Alles passt in einen kleinen Rucksack. Er fährt übers Wochenende aufs
Land zu seinen Eltern. Er muss höllisch aufpassen, dass er das Geld für die Hin- und
Rückfahrt parat hat. Sonst muss er seine Mutter bitten, die Rückfahrt zu bezahlen. Das
ist nicht leicht, denn offiziell verdient er gut. Hat er seinen Eltern gesagt. Seine Eltern
haben es schließlich verdient, dass er eine feste Stelle hat. Also hat er sich kurzerhand
eine ausgedacht. Das hat alle sehr glücklich und stolz gemacht – vor allem seine
Eltern. Auch die Nachbarn gratulierten. Sogar ein alter Lehrer hat ihn beglückwünscht.
So geht das, in einer kleinen Stadt in Japan. Wo jeder jeden kennt.
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Regie:
Zuggeräusch zu Ende.
Overvoice: O-Ton 17 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Im Internetcafé kann ich machen, was ich will, ich hab meine Ruhe. Manchmal gehe
ich auch noch zwischendurch dahin, wenn ich einen Termin vormittags und einen
nachmittags habe mit drei Stunden Pause dazwischen. Das Image der Internetcafés ist
schlecht, deswegen sage ich es niemandem, aber eigentlich ist es nicht übel dort, ich
habe nicht den Eindruck, als seien da nur Obdachlose, Arme, und die, die da
hingehen, hätten keine Erwartungen mehr an ihr Leben. Das wäre ja total traurig. Ich
denke, das haben die japanischen Medien konstruiert, denn für mich ist das überhaupt
nicht so. Diejenigen, die ins Internetcafé kommen, machen sich darüber keine großen
Gedanken, sie kümmern sich nicht um das schlechte Image. Sie machen einfach ihr
Ding.
Regie:
Zuggeräush setzt ein.
Sprecher:
Die Fahrkarte zu den Eltern kostet den jungen Mann 8200 Yen. Das sind ungefähr 80
Euro. Zusätzlich zur Fahrkarte kauft er sich, wie alle anderen Fahrgäste auch, ein
Obento, ein Lunchpaket. Insgesamt gibt er für die Fahrt nach Hause also jedes
Wochenende knapp 100 Euro aus. Das ist viel Geld, aber auf das Obento will er nicht
verzichten. Es ist sonst einfach zu traurig, wenn alle ein Obento haben und nur er hat
keins.
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Japanische Stimme:
Zugdurchsage auf Japanisch – Mamonaku Yokohama de gozaimasu.
Sprecher:
Für Zehntausend Yen kann der junge Mann im Internetcafé fünf, fast sechs Nächte
schlafen. Was er auch macht. Seit Monaten schon. Es rechnet sich für ihn nicht, heim
zu fahren. Und bald fährt er auch nicht mehr an jedem Wochenende. Das werden die
Eltern verstehen, er muss eben arbeiten. Sein Vater ist früher auch nicht jedes
Wochenende nach Hause gekommen, weil er in der Firma bleiben musste. Das ist ja
ganz normal, wenn man eine feste Stelle in einer guten Firma hat.
Regie:
Japanisch-Deutscher Chor: „Ganbatte kudasai! Du hältst doch durch? Du gibst Dir
doch Mühe, nicht wahr?“ plus Musik.
Sprecher:
Wenn seine Mutter ihn unter der Woche auf dem Smartphone anruft und im
Hintergrund die Computer des Internetcafés zu hören sind, wird sie ihn fragen: „Shinji,
mein Junge, arbeitest Du denn noch?“ Und er wird ein bisschen seufzen und sagen:
„Ja, es dauert wohl noch etwas länger heute“. Und seine Mutter wird ihn aufmuntern
und auch ein wenig bemitleiden, aber eigentlich wird sie stolz auf ihn sein, denn sie
weiß, dass er jetzt auch dazu gehört. Dass er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
geworden ist, ein Shaikaijin. Und wenn er aufgelegt hat, wird er sich noch einen
Softdrink aus dem Automaten holen, die Ohrstöpsel reinstecken und weiter seine DVD
gucken. Solange, bis er schlafen kann, um morgens um 6 Uhr wieder, wie jeden Tag,
die Seite mit den Stellenanzeigen aufzurufen.
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Overvoice: O-Ton 18a (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):
Es ist ja nicht so, dass die Leute sagen: Ich will ein Internetcafe-Flüchtling werden, bitte
lasst mich ein Internetcafé-Flüchtling werden! Die Leute wollen einfach nur arbeiten.
Sprecher:
Kudo Kei, 33 Jahre alt, Gründer der NPO sodateagenet – einer Non Profit
Organisation, die jungen Leuten helfen will, Krisen im Arbeitsleben zu bewältigen.
Overvoice: O-Ton 18b (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):
Um in Japan eine Arbeit zu finden, braucht man eine Adresse. Ohne Adresse keine
Arbeit. Wenn man keine eigene Meldeadresse hat, gibt man normalerweise die
Adresse der Eltern an, aber wenn man kein Zuhause mehr hat oder sich mit den Eltern
entzweit hat, dann geht das nicht.“
Sprecher:
Während des Studiums hat der junge Mann noch in einer Ein-Zimmer-Wohnung in
Kichijoji gewohnt, in einem Sechs-Tatami-Zimmer, das entspricht ungefähr der drei-
fachen Fläche eines Doppelbetts, mit Küche auf dem Gang. Die Eltern haben die Miete
bezahlt, acht Man Yen, also 800 Euro. Die Wohnung lag ziemlich nah an der
Bahnstation, was sehr praktisch war, aber das Haus wurde abgerissen. Jetzt steht da
ein neuer, schicker Apartmentblock, mit viel höheren Mieten. Er hat damals zu Hause
nicht Bescheid gesagt, er wollte niemanden beunruhigen und ist erst mal für ein paar
Nächte ins Internetcafé gegangen. Daraus sind jetzt 10 Monate geworden.
Overvoice: O-Ton 19 – Im Dice, Teil 1 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
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(Schuhe aus und rein in die Box) Wir haben jetzt 1 Stunde bestellt, wenn es länger
wird, dann können wir einfach nachzahlen. Hier kann man wirklich gut schlafen, wie du
siehst, es ist auch ziemlich leise … ich kann hier ganz in Ruhe meine Sachen machen,
fernsehen kann man auch – mir macht es Spaß, hier zu sein und ich will oft gar nicht
mehr nach Hause. Musik gibt es auch, aber die hört man mit Kopfhörern, deswegen ist
es auch so leise hier und man kann hier wie gesagt gut schlafen, aber manchmal gibt
es so viel zu tun, dass man gar nicht zum Schlafen kommt.
Overvoice: O-Ton 20a – Ayako – Im Dice, Teil 2 (Ayako, wird übersetzt):
Wenn ich jetzt von hier aus Arbeit suchen will, habe ich viele Möglichkeiten …
(Tastaturgeklapper) guck mal hier:
Regie: Tastaturgeklapper
Sprecher:
Auf dem Bildschirm erscheint die Homepage des Internetcafés. Rechts unten sieht
man das Feld „Stellenangebote“. ….
Overvoice: (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Hier sucht man sich die Gegend aus … in dieser Gegend hier gibt es sehr viele
Angebote, z.B. Taschentücher verteilen als Giveaway … für 1000 Yen die Stunde hier
in der Nähe oder am Bahnhof Shinjuku ... wenn ich in der Gegend um Ikebukuro
suche, 1500 Yen die Stunde und hier: irre! 1800 Yen pro Stunde!
Sprecher:
Das sind 18 Euro!
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Overvoice: (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Wenn Du das jetzt machen willst, dann klickst du hier … und meldest dich mit deinem
Namen und deiner Email-Adresse an.
Sprecher:
Wenn ein Freeter etwas Anspruchsvolleres als Taschentücher-Verteilen sucht, z.B.
eine projektbezogene IT-Arbeit oder auch etwas in der Werbung oder eine
Bürotätigkeit, muss er noch in einer zusätzlichen Zeile der Bildschirmmaske eine
Postleitzahl eintragen. In das Feld kann er einfach die Postleitzahl des Internetcafés
eintippen. Das reicht, um Arbeit zu finden. Jetzt braucht er keine eigene Wohnung
mehr. Er hat ja das Internetcafé.
Overvoice: O-Ton 21 – Im Dice, Teil 3 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Hier muss man die Postleitzahl eintragen, sonst bekommt man den Job nicht. Zum
Beispiel: Nähe Ikebukuro als Sekretärin, dann braucht man hier noch den
Ausbildungsstand, hier die Versicherungsleistungen …
Regie:
Musik setzt ein, wird hinterlegt.
Sprecher:
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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Ayako hat noch eine eigene Wohnung irgendwo weit draußen in den riesigen
Vorstädten, sie übernachtet nur zuweilen im Internetcafé. Wenn sie nach einem langen
Arbeitstag keine Lust mehr hat, den Weg nach Hause zu fahren. Oder wenn sie am
nächsten Tag wieder in der Nähe des Cafés arbeiten wird. Oder einfach auch nur, weil
sie ihre Ruhe haben und den Service in Anspruch nehmen will – schnelle
Internetverbindung, Softdrinks, Manga, Zeitschriften, DVDs. Wenn jetzt etwas schief
geht, ist sie auf dem besten Wege, ein NettoKafe-Nanmin, ein Internetcafé-Flüchtling
zu werden.
Overvoice: O-Ton 22a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):
Das hat sich das Fernsehen ausgedacht, ich gebrauche dieses Wort
NettoKafe-Nanmin nicht.
Sprecher:
Genda Yuji, Professor für Arbeitsökonomie.
Overvoice: O-Ton 22b
Ich finde, dass es die tatsächlichen Probleme verdeckt. Schließlich ist an einem
Internetcafé nichts Schlechtes. Es ist auch kein Internetcafé-Problem. Es ist ein
Problem der Familie, d.h. aus vielerlei Gründen können die Jugendlichen nicht nach
Hause. Es wäre daher treffender von „Familien-Flüchtlingen“ anstatt von Internetcafé-
Flüchtlingen zu sprechen. Es gibt auch andere Fälle, z.B. haben vor einiger Zeit sehr
viele Leiharbeiter in einem Firmenheim gewohnt und als die Firma dann pleite ging,
hatten diese Arbeiter keine Unterkunft mehr, keine Arbeit, keine Bleibe. Die
Internetcafé-Flüchtlinge können, ebenso wenig wie die einstigen Leiharbeiter, nach
Hause zurückkehren. Was sollen sie also machen?
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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Sprecher:
Freeter sind keineswegs nur Hilfsarbeiter, es gibt auch viele junge Leute, die gut
ausgebildet sind, die oft sogar einen Universitätsabschluss haben. Doch weil den viele
haben, bedeutet er auch nicht so viel.
Sprecher:
Kudo Kei, Sodateagenet.
Overvoice: O-Ton 23 (Kudo Kei, wird übersetzt):
Wenn man nach Tokyo geht und seiner Familie auf dem Land erzählt, man habe keine
Arbeit, dann wird die Familie von dem gesamten Umfeld attackiert, dass sie daran
schuld sei. Deswegen lügen viele, um ihnen keine Schande zu bereiten, sagen, dass
sie eine Festanstellung haben, um die Familie zu schützen ... mehr als dass man
selber zurechtkommt, will man seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht
wäre es besser, wenn sich die jungen Leute wie in Frankreich wehrten, aggressiv
würden, um sich zu schützen. Aber in Japan macht man das nicht, man wird still und
sagt gar nichts mehr.
Regie:
Musik
Overvoice: O-Ton 24 – Im Dice, Teil 4 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):
Man kann sich hier auch für 1 oder 2 Wochen einmieten, wenn man nix macht und
bezahlt, geht das ohne Probleme. Wenn man sich hier eingemietet hat, kann man auch
zwischendurch raus und ein Obento kaufen. Das Café ist so groß, dass es nie
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vollkommen belegt ist, aber es gibt oft eine Warteschlange am Eingang. Hier ist es
wirklich am komfortabelsten, in Shibuya gibt es auch Internetcafés, aber die sind
ziemlich anders, dreckig und so weiter, da würde ich nicht schlafen. Hierher komme ich
immer gerne.
Regie:
Musik geht über in Geräusche aus der Patchinko-Halle
Sprecher:
Als die Wohnung weg war, änderte sich erst mal nicht so viel für den jungen Mann. Er
arbeitete zunächst tageweise als IT-Kraft, verdiente auch ganz gut. Jetzt gibt es öfter
mal nichts mehr im IT-Bereich, dann arbeitet er auch im Büro.
Overvoice: O-Ton 25 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)
Das Angestelltensystem ist ein sehr gutes System … Aber es verschwindet
zunehmend und ich glaube, dass die Japaner mit dieser Veränderung gar nicht
umgehen können. Viele Uniabsolventen finden gar keine Anstellung, aber die jungen
Leute kennen ja nur diese Art der Arbeit von ihren Eltern, es gab ja jahrzehntelang die
Firmenstabilität. Jetzt befinden sich die Firmen in instabiler Lage. Ich fühle mich trotz
meiner ständigen finanziellen ups und downs eigentlich sicher, ich habe keine Angst,
ich kenne es ja so und weiß, dass es geht. Aber diejenigen, die in der Firma fest
angestellt sind, leben nur für die Firma und wenn die wegbricht, dann stürzen sie
wirklich ab. Man kann sich da nicht bei den Verwandten oder Freunden auffangen
lassen, in solchen Situationen gibt es viele Selbstmorde, denn die Menschen sind auf
derartige Umwälzungen der Wirtschaft weder im Kopf noch im Herzen vorbereitet.
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Sprecher:
Mittlerweile arbeitet über ein Drittel der japanischen Beschäftigten in nichtregulären
Arbeitsverhältnissen. Es gibt auch eine Freeter-Bewegung, die Freeter-undo. Sie wird
nur von den Firmen nicht weiter beachtet. Es gibt soziale Bewegungen und es gibt eine
Straße in Tokyo, dort trifft sich die lockere Gruppe um die Shiroto no ran – die so
genannte Amateurrevolte. Gemeinsam im Kampf gegen den Kommerz. Man kann dort
gebrauchte Sachen kaufen oder sich beraten lassen, wenn man in Schwierigkeiten
steckt. Aber es ist nur eine sehr kleine Straße, verglichen mit den vielen
Prachtboulevards in Tokyo. Und es gibt eine Initiative gegen die Sportfirma Nike, die
einen ehemals öffentlichen Park mitten in Tokyos Shopping Distrikt Nummer Eins
übernommen hat und daraus einen Sportpark machen will. Was bedeutet, dass Du
künftig nicht mehr, einfach so, auf einer Bank sitzen kannst im spärlichen Grün Tokyos,
sondern dafür bezahlen musst. Der öffentliche Raum verschwindet.
Regie:
No Nike – Atmo auf der Demonstration setzt ein. Japanisch-Deutscher Chor: Ganbatte
ne. Mo ganman dekinai yo. Nein, ich kann nicht mehr.
Sprecher:
Der Slogan der No-Nike-Bewegung lautet: Ton de mo nike – eine Verballhornung des
Japanischen „Ton de mo nai“: Unglaublich, schrecklich, auf keinen Fall! Ton de mo
nike – auf keinen Fall Nike!
Regie: No Nike – Atmo
Sprecher:
Der Park ist trotz aller Proteste an Nike gegangen. Und vielleicht würde auch Ayako
lieber in den Nike-Sportpark gehen. Denn Nike ist schick, die alten Leute im
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öffentlichen Park waren das wohl eher nicht. Aber das Verschwinden des öffentlichen
Raumes bedeutet auch für Ayako, dass es immer öfter Geld kostet, sich in der Stadt
aufzuhalten. Nichts ist mehr umsonst.
Overvoice: O-Ton 26 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)
Ich arbeite in der Regel vier Tage in der Woche, im Frühjahr und im Herbst eher sechs
Tage, im Winter und Sommer weniger. Ich bin krankenversichert, was schmerzhaft
teuer ist, ich habe eigentlich keine Lust so viel zu bezahlen. Klar, ist es wichtig, aber
ich gehe nie! zum Arzt und ich bin nie krank! Ich zahle nur für die alten Leute, wenn ich
selber etwas älter wäre, dann ….aber ich bin diejenige, die nur einzahlt. Als ich noch
festangestellt war, ging es ja automatisch runter, aber jetzt ... schade ums Geld.
Sprecher:
Noch verdient sie genug, um auch die Krankenversicherung zu bezahlen. Aber was,
wenn es dafür nicht mehr reicht? Wenn sie mal länger krank ist. Wenn es nicht mehr
für die Miete reicht? Verkauft Ayako dann auch ihre Sachen und zieht ins Internetcafé?
Wenn die Wohnung erstmal weg ist, wird es für sie teuer. Eine neue Wohnung in
Tokyo kostet drei bis vier Monatsmieten als Kaution, das ist üblich, zusätzlich das
Schlüsselgeld, Maklergebühren, Höflichkeitsgeld … Zusammen sind das leicht fünf,
manchmal sieben Monatsmieten zusätzlich. Im ersten Monat.
Overvoice: O-Ton 28 (Freeter auf Japanisch, wird übersetzt):
Wenn man erst mal ein Internetcafé-Flüchtling geworden ist, ist es schwer, ein
Apartment zu finden, denn man kann das Ganze nicht mehr bezahlen … wenn man
erst mal ein Internetcafé-Flüchtling ist, gibt es keinen Ausweg mehr, da kommt man
nicht mehr raus.
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Sprecher:
Für Shinji, den jungen Mann aus der Box schräg gegenüber, bleibt jetzt, ohne die
Miete, sogar mehr Geld übrig als früher. Denn es ist nicht nur die Miete, die er spart, er
spart auch Wasser, den Telefonanschluss, die Müllabfuhr und Strom. Er kann jetzt
ausgehen, Geld ausgeben, Spaß haben. Von außen sieht es aus, als sei alles in bester
Ordnung.
Overvoice: O-Ton 27 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)
Wenn ich mich nicht auf meine Familie und nicht auf den Staat verlassen oder stützen
kann, was soll ich machen? Ich amüsiere mich jetzt, denn was später wird …
Regie:
Motorrad fährt weg. Darauf: Okyakusama ni oshirase itashimasu … Wir weisen unsere
Gäste höflichst darauf hin, dass die Besucher in diesem Internetcafé nicht durch
unangenehmen Körpergeruch belästigt werden möchten… Go kyoroku arigatou
gozaimasu.
Sprecher:
Du weißt, dass es früher für die Obdachlosen eine Straße gab. In Sanya, einem
Stadtviertel, in dem Morgens am Straßenrand auf die Toyota-Pickups gewartet wurde,
die die Männer – und es waren damals fast nur Männer – abholten, zur Arbeit fuhren
und Nachts wieder zurück brachten. Es waren Tagelöhner, die die drei-K-Jobs, kitsui,
kitanai, kiken, verrichteten, die gefährliche, dreckige und sehr schlecht bezahlte Arbeit,
die niemand sonst machen wollte. Das Ganze wurde organisiert und stand unter dem
„Schutz“ der Yakusa, der japanischen Mafia.
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Regie:
Musik. Wird hinterlegt.
Sprecher:
Heute kannst Du im Stadtteil Sanya nicht mehr viel davon sehen. Die modernen
Tagelöhner werden über das Internet vermittelt. Und während die älteren Männer mit
ihren blauen Plastikplanen-Zelten aus den Innenstädten verdrängt werden, rücken die
neuen jungen und gut ausgebildeten Obdachlosen in die Vergnügungszentren der
Großstädte vor, denn dort liegen die Internetcafés. Sie sind die Speerspitze der
Flexibilität. Sie sind schneller bei der Arbeit, können früher kommen und später gehen,
ohne dass sie deswegen weniger freie Zeit haben. Sie können leben wie ein Student,
mit viel Zeit für die Dinge, die sie mögen und trotzdem sind sie nicht arm. Wenigstens
nicht auf den ersten Blick.
Regie:
Muisk plus Japanisch-Deutscher Chor: Asobi ni iko ka? Hai, ikimasho! Iko, iko yo!
Wollen wir feiern gehen? Ja, lass uns gehen, los, lass uns Spaß haben!
Sprecher:
Japan gilt als eines der reichsten OECD-Länder. So reich, dass Japan selbst bis 2009
keinerlei offizielle Zahlen zur Armut im eigenen Land erhoben oder veröffentlicht hat.
Japanische Stimme und deutsche Stimme:
Purekariato Bungaku. Prekariatsliteratur. Atarashii puroretaria bungaku. Neue
Proletarische Literatur. Furiita shosetsu. Freeter Romane. Atarashii Homulessu
Bungaku. Obdachlosigkeitsliteratur.
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Prof. Lisette Gebhardt: O-Ton 29
Die großen, berühmten Buchläden, wie Kinokuniya oder Yaesu-Bookstore in Tokyo,
die haben wirklich seit einigen Jahren Sparten wie Freeter, Neet, soziale Probleme,
shakai mondai, Unterschichtsgesellschaft, Abstiegsgesellschaft, die Ecken sind
tatsächlich zu finden, Obdachlose auch, ja, also alle sozialen Problemfelder sind da
abgedeckt, in den Buchhandlungen.
Sprecher:
Lisette Gebhardt, Professorin für Japanologie, Literaturwissenschaft Universität
Frankfurt.
Prof. Lisette Gebhardt: O-Ton 30
Nach 2006 ist massiv diese Prekariats- und Sozialproblematik in die Buchläden
gekommen. Natürlich kann man dann auch sagen, die Verfasser haben das auch als
Boom erkannt und wollen daran auch verdienen, das ist ja auch legitim und jeder der
kann, publiziert jetzt zu Neets und Freetern und anderen Problemjugendlichen.
Sprecher:
Freeter kommunizieren nicht mehr wie früher nur über Blogs. Sie schreiben und lesen
auch über sich. Es gibt mittlerweile Romanen, Essays, Erzählungen zu dem Thema.
Und Du nimmst diese literarische Stimme wahr. Es gibt Preise. Auszeichnungen. Du
hast Amamiya Karin im Fernsehen gesehen, als sie den Arbeiter-Roman
„Krabbenfangschiff“ mit den heutigen Arbeitsbedingungen der Freeter verglichen hat,
ein 1929 erschienenes Werk, das sich mit der brutalen Ausbeutung der Arbeiter auf
einem Krabbenkutter auseinandersetzt. Danach verkaufte sich das Buch mehrere
100.000 Mal. Du hast eine Fernsehserie über einen Freeter gesehen, eine soap opera
im staatlichen japanischen TV. Und auch die Internetcafés machen ihre Geschäfte mit
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ihnen - und zwar recht gute. Armutsbusiness – so regelt das der Markt, wenn man ihn
lässt.
Overvoice: O-Ton 31 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt)
Nicht die Freeter sind das Problem. Das Problem ist, dass der Unterschied zwischen
den Freetern und den Festangestellten so extrem ist. In Japan ist es sehr schwer,
jemandem zu kündigen – was zum einen den Aufstieg von jungen Leuten innerhalb
einer Firma sehr behindert und man sich zum anderen damit abfinden muss, wenn die
Leute nicht richtig arbeiten. Es muss einfach unterschiedliche Arbeitsmodelle in einer
Gesellschaft geben, nicht nur das eine Modell des Festangestelltendaseins.“
Sprecher:
Die zweigeteilte Gesellschaft in Deinem Land – Freeter hier, Angestellte dort –
verdeckt, dass es auch Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen gibt. Natürlich
verdienst Du bei der staatlichen Eisenbahn viel weniger als ein Gehirnchirurg in einer
Privatklinik. Tatsächlich aber sind die Unterschiede in Japan nicht so groß wie in den
westlichen Industrieländern. Topmanager verdienen hier nicht das Tausendfache,
sondern nur das zwanzigfache eines Arbeiters. Aber der Arbeiter gehört eben dazu.
Der Freeter nicht. Mit sechsundzwanzig Jahren gehört ein Freeter schon zum alten
Eisen. Beim Eintritt in die Firma muss man jung sein. Für Frauen bleibt dann noch der
Weg in die Ehe und an einen Herd. Du hast einfach Glück gehabt.
Overvoice: O-Ton 32 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):
„In Japan geht es nicht so stark um das Individuum und dessen Bezahlung, sondern
um die Familie als kleinste Einheit. Es ist absolut selbstverständlich, dass man heiratet,
dass man eine Familie gründet und dabei geht man nicht davon aus, dass die Frau
genauso viel zum Familieneinkommen beiträgt wie der Mann. Das Verhältnis liegt also
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nicht bei 1 zu 1, sondern eher bei 0,5 zu 1,5: ein Viertel macht das Einkommen der
Frau aus und drei Viertel das Einkommen des Mannes – d.h. der Mann verdient
deutlich mehr als die Frau. Das ist bis heute die Denke in Japan: Verheiratete Frauen
können ruhig als Freeter arbeiten. Und nun ist es eben seit einiger Zeit so, dass
zusätzlich zu den verheirateten Frauen auch noch unverheiratete Frauen, verheiratete
und unverheiratete Männer hinzu gekommen sind, die alle in diese „ein Viertel“ – Welt
abgestiegen sind.“
Sprecher:
Genda Yuji:
Overvoice: O-Ton 34a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
Wenn man es mal ganz einfach sagen will: die ganze Misere liegt eigentlich an der
mittelalterlichen Denke in Japan, d.h. um den eigenen Job zu behalten, beseitigt man
die jüngeren. Am meisten Chancen haben noch die Neugraduierten auf eine
Arbeitsstelle. Doch schon kurz nach dem Universitätsabschluss wird es schwer. Es gibt
ja sehr viele Freeter, die einen Universitätsabschluss haben. Es ist auch nicht
auszuschließen, dass Todai-Absolventen Freeter werden.
Sprecher:
Die Todai, die Tokyo Daigaku, ist die beste Universität Japans.
Overvoice: O-Ton 34b (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
Die Bildungsmöglichkeiten in Japan können jedenfalls nicht garantieren, dass die
Jugendlichen einen Arbeitsplatz bekommen.
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Sprecher:
Durch die Entlassungen und den Einstellungsstopp in den 1990er Jahren, die nie
wieder aufgeholt wurden, war hunderttausenden junger Menschen der Zugang zur
japanischen Wirtschaft verwehrt. Du hast es auf den letzten Drücker doch noch
geschafft. Viele Deiner Freunde nicht. Zwei Absolventen-Generationen konnten keine
Anstellung finden. Und wenn sie älter als 34 Jahre sind, fallen sie einfach aus der
Statistik raus. Das ändert aber nichts daran, dass sie mit 35 immer noch Freeter sind.
Was in Deutschland „Generation Praktikum“ genannt wird, heißt hier: Rosujene – lost
generation oder: makeinu – Verliererhunde.
Regie:
Deutsch-Japanischer Chor: Ganbatte ne! Nein, ich kann nicht mehr!
Overvoice: O-Ton 35 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)
Wenn es egal ist, wie sehr man sich auch anstrengt und es dann doch nichts hilft, dann
kommt man schon auf Todesgedanken. Wenn sich das gesamte Gefüge zu schnell
ändert, kommt schließlich keiner mehr mit. Und die Politiker machen gar nichts für uns!
Aber es ist unsere Schuld, wir haben sie ja gewählt. Dann kann man sich auch nicht
beschweren.
Regie:
Im Taxi mit Herrn Sugimura – wird hinterlegt.
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Sprecher:
Sugimura Taizo war einer der jüngsten Abgeordneten in Japan, LDP-Mitglied, und er
verteidigt das Modell – kein Wunder, seine Partei ist sehr für die Zeitarbeit und die
traditionelle Frauenrolle.
Overvoice: O-Ton 36 (Sugimura Taizo auf Japanisch, wird übersetzt):
„Folgende Situation: Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite natürlich, aber
meine Frau möchte sich etwas Taschengeld dazu verdienen. Also geht sie an der
Kasse in einem Supermarkt arbeiten, als Part-Time-Beschäftigte, also als Freeter. Das
ist genau das, was wir als Freeter bezeichnen, aber in diesem Fall gibt es ja überhaupt
kein Problem! Überhaupt keins! Das größte Problem … haben die Männer! Die Männer
können nicht heiraten, wenn sie zu lange als Freeter arbeiten. Das ist das Problem!“
Sprecher:
Sugimura war selbst einmal Freeter. Bevor er Abgeordneter wurde. Er sagt über sich
selbst auf seiner Webseite, er sei der erste Freeter Japans gewesen – und meint damit
wahrscheinlich seine Wichtigkeit und, dass er es geschafft hat.
Overvoice: O-Ton 37 (Sugimura Taizo auf Japanisch, wird übersetzt)
„Die Wirtschaft muss wachsen! Das ist es, was sich ändern muss! Mein Vorschlag ist
es momentan gerade, ganz Japan mit Windenergie und Sonnenkollektoren
auszurüsten. Und dafür braucht man irre viele Leute! Das bedeutet: Vollbeschäftigung!
In 10 Jahren ist der Strom kostenlos und die gesamte Wirtschaft saniert. Spätestens.
Wenn ich Premierminister wäre, würde ich das machen.“
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Sprecher:
Ist das die Lösung? Wieder zurück zu dem Modell der landesweiten Festanstellung, ins
Hamsterrad der 80er Jahre?
Overvoice: O-Ton 38 (Amamiya Karin wird übersetzt)
„Ich glaube nicht, dass sich groß etwas ändern würde, wenn sich die wirtschaftliche
Situation wieder erholen würde. Mittlerweile gibt es so viele Nicht-Regulär-
Beschäftigte, dass es ein zu großer Paradigmenwechsel wäre, diese unregelmäßigen
Arbeitsverhältnisse wieder rückgängig zu machen und in regelmäßige umzuwandeln.
Dazu wird es nicht kommen.“
Sprecher:
Was früher noch romantisches Ideal war – selbstbestimmt zu arbeiten, frei über seine
Zeit verfügen zu können – entwickelt sich zum Albtraum und zu einem Vehikel für
Lohndrückerei. Pech für die Freeter. Denn niemand kümmert sich um sie. Auch nicht
der Staat. Brauchte er auch nicht. Bislang. Es lief ja alles über die Firmen.
Japanische Stimme:
Flash-mop: Stand up!
Sprecher:
Wenn es keine Firma gibt, die sich um Dich kümmert, springt Deine Familie ein, sagt
der Staat. Sozialhilfe wird in Japan gewährt. Solange Du arbeitsfähig bist, hast Du
keinerlei Anspruch auf Sozialhilfe.
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Overvoice: O-Ton 40 (Amamiya Karin wird übersetzt):
„Die Festangestellten werden teilweise gezwungen, sich zu überarbeiten, teilweise
zwingen sie sich selber, um nicht zu Freetern zu werden. Und die Freeter wollen nicht
obdachlos werden und versuchen alles, um angestellt zu werden, also arbeiten auch
sie bis zum Umfallen …
Es gibt gegenseitige Einflüsse, was das Phänomen der Überarbeitung betrifft. Die
treibende Kraft ist die Angst vor dem Abstieg – die fühlen sowohl Freeter als auch
Angestellte. Und deswegen halten sie diesen Zustand aus, bzw. bemühen sich, ihn
auszuhalten.“
Regie:
Atmo – Anti-Armutsbewegung-Flashmob: Stand up!
Sprecher:
Sono Ryota, Vizevorsitzender der Freeter-Bewegung.
Overvoice: O-Ton 41(Freeter-Undo-Vizevorsitzender Japanisch, wird übersetzt)
Was wir von der Politik erwarten, ist natürlich ein bedingungsloses Grundeinkommen
für alle.
Regie:
Faito, faito, kore kara desu. Kämpfe, kämpfe, ab jetzt gilt es!
Overvoice: O-Ton 42 (Amamiya Karin liest ihren Text auf Japanisch vor)
Wir starten den Gegenangriff.
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Gegen all jene, die junge Leute mit Niedriglöhnen abspeisen, um sich selbst zu
bereichern und sie dafür auch noch beschimpfen.
Gegen all jene, die im Namen der „Eigenverantwortlichkeit“ die Menschen in die Enge
treiben.
Wir starten den Gegenangriff.
Gegen all jene, die uns im Namen des Primats der Wirtschaft und der Marktprinzipien
zwingen, uns selbst auszubeuten, indem wir unsere sogenannten Kompetenzen weiter
entwickeln, nur um uns in eine Freiheit zu entlassen, in der immer, immer, immer nur
der Stärkste überleben kann.
Schuld daran sind die Firmen, die die Absicht verfolgen, ihre Gewinne zu erhöhen,
wenn sie Löhne drücken und Leute nach Belieben heuern und feuern. Für den Sieg in
der internationalen Konkurrenz wird der Jugend die Zukunft geraubt.
Regie:
TV-Zappen plus Musik, japanische Stimmen: Ganbatte kudasai!
Sprecher:
Du bist jetzt ein Angestellter und hast trotzdem Angst um Deinen Job. Ein
Themenschwerpunkt auf NHK beschäftigt sich eine Woche lang jeden Tag eine Stunde
mit der „Krise der Mittelschicht“. Danach zeigt der staatliche Fernsehsender fünf
Minuten lang schöne Bilder von Blumenwiesen, damit sich Dein Kimochi – Deine
Stimmung – wieder erholt. Es gibt keine Garantien mehr, keine Sicherheit. Und am
nächsten Morgen gehst Du in die Firma und arbeitest doppelt so hart. Damit Du nicht
das nächste Mal selbst im Fernsehen bist.
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Regie:
Sodateage-Net „Yoroshiku onegaishimasu“
Overvoice: O-Ton 44 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):
„Wenn es in Japans Firmen keine Freeter gebe, könnten die Unternehmen nicht
überleben. Das ist einfach ein strukturelles Problem. Und es gibt sicher auch Leute, die
Freeter werden wollen oder das ganz gut finden. Man kann sich aussuchen, was man
zur Arbeit anzieht, kann sich die Zeit selber einteilen und man verdient ganz gutes
Geld von Anfang an – aber wie sieht das zehn oder zwanzig Jahre später aus? Daran
denken die jungen Leute noch nicht. Sie wissen nicht, was es wirklich heißt, Freeter zu
sein. Das muss man ihnen wirklich deutlich und ehrlich sagen, finde ich.“
Overvoice: O-Ton 45 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)
Es ist überhaupt nicht so, dass die Lebensweise der Angestellten glücklich macht. Es
gibt viele, die diese Form der Arbeit alleine gesundheitlich nicht aushalten. Meiner
Ansicht nach wäre es für Japan wesentlich besser, wenn mehr Leute ihr eigenes
Business aufmachen würden. Das Geheimnis der japanischen Stärke lag keineswegs
nur in den großen Firmen begründet wie Sony oder Panasonic, es lag vor allem an den
vielen kleinen Businesses. Es wäre besser, wenn sich dieser Geist wieder durchsetzen
würde: Ich arbeite für mich.
Sprecher:
Auch Sono Ryota von der „Freeter-undo“ weiß, dass sich in Deinem Land für alle
etwas ändern muss. Niemandes Zukunft sollte mehr der Profitmaximierung geopfert
werden, sondern alle sollen gut arbeiten und leben können. In der Freeter-Bewegung
sind deswegen alle willkommen, auch Du als Angestellter.
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Overvoice: O-Ton 46 (Sono Ryota auf Japanisch, wird übersetzt)
Ob Freelancer, Arubaito, Arbeitslose, Festangestellte – wir machen das hier alle
zusammen. Da sollte man keine Unterschiede machen!
Absage:
„Heimatlos. Tokios digitale Tagelöhner.“ Feature von Serotonin.
Mit: Bernhard Schütz, Sprecher, Jule Böwe, Overvoice.
Originalaufnahmen von:
Amamiya Karin, Kudo Kei, Genda Yuji, Sugimura Taizo, Lisette Gebhardt, Sono Ryota,
Ayako und anderen.
Musik: Matthias Pusch
Regie und Realisation: Serotonin
Redaktion: Annette Blaschke
Eine Produktion im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks, des Südwestrundfunks und
von DeutschlandRadio Kultur 2011,
(gefördert von der Filmstiftung Nordrhein Westfalen).