wdr 3 · pdf filecollage – deutsch-japanischer chor „ogenki desu ka? - wie geht...

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. WDR 3 Kulturfeature ARD-Themenwoche: ZUKUNFT DER ARBEIT Heimatlos Tokios digitale Tagelöhner Regie: Musik, Straßensound Tokyo, wird hinterlegt, langsam fade-out. Overvoice: O-Ton 01 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt) Ich stehe um sechs Uhr morgens auf mache mir Frühstück und bin um sieben in der Bahn, weil ich gut anderthalb Stunden Fahrzeit brauche, bis ich im Büro bin. Um neun fange ich an zu arbeiten, ich arbeite lange und fahre abends den ganzen Weg wieder zurück, nach Hause. Dann esse ich zu Abend, bade und gehe so gegen zehn Uhr schlafen. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los. Sprecher: Du bist Ende zwanzig, arbeitest in Tokyo und wohnst in der Präfektur Saitama in einem kleinen Ein-Zimmer-Apartment. Du arbeitest als Manager in einem Call-Center der staatlichen Eisenbahn. Früher hast Du dort auch schon gearbeitet. Aber befristet, als Freeter. Overvoice: O-Ton 02 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt) Der Vorteil als Freeter ist, dass man einfach aufhören kann, wenn einem etwas nicht gefällt. Ich muss jetzt viele Sachen machen, obwohl sie sinnlos sind, einfach weil mein Chef sie angeordnet hat. Ich habe mehr Verantwortung als früher, das ist auch so eine Sache. Aber ich bin wirklich dankbar, dass es geklappt hat.

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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

WDR 3 Kulturfeature

ARD-Themenwoche: ZUKUNFT DER ARBEIT

Heimatlos – Tokios digitale Tagelöhner

Regie:

Musik, Straßensound Tokyo, wird hinterlegt, langsam fade-out.

Overvoice: O-Ton 01 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)

Ich stehe um sechs Uhr morgens auf – mache mir Frühstück – und bin um sieben in

der Bahn, weil ich gut anderthalb Stunden Fahrzeit brauche, bis ich im Büro bin. Um

neun fange ich an zu arbeiten, ich arbeite lange und fahre abends den ganzen Weg

wieder zurück, nach Hause. Dann esse ich zu Abend, bade und gehe so gegen zehn

Uhr schlafen. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los.

Sprecher:

Du bist Ende zwanzig, arbeitest in Tokyo und wohnst in der Präfektur Saitama in einem

kleinen Ein-Zimmer-Apartment. Du arbeitest als Manager in einem Call-Center der

staatlichen Eisenbahn. Früher hast Du dort auch schon gearbeitet. Aber befristet, als

Freeter.

Overvoice: O-Ton 02 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)

Der Vorteil als Freeter ist, dass man einfach aufhören kann, wenn einem etwas nicht

gefällt. Ich muss jetzt viele Sachen machen, obwohl sie sinnlos sind, einfach weil mein

Chef sie angeordnet hat. Ich habe mehr Verantwortung als früher, das ist auch so eine

Sache. Aber ich bin wirklich dankbar, dass es geklappt hat.

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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Sprecher:

Du bist jetzt ein Sarari-man, ein Angestellter, trägst schwarzen Anzug, weißes Hemd.

Overvoice: O-Ton 03 (ehemaliger Freeter, auf Japanisch, wird übersetzt)

Nach meinem Lebenstraum suche ich noch. Und …einen beruflichen Traum habe ich

eigentlich nicht - es hört sich vielleicht komisch an, aber wenn es jetzt so bleibt, wie es

ist, ist es gut. Ich habe jetzt eine Festanstellung – das reicht mir. Ich wünsche mir

nichts weiter für mein Leben.

Regie:

Bahnschranke, Musik, wird hinterlegt.

Sprecher:

Jeden Tag fährst Du wie alle anderen mit den überfüllten „white collar“-trains, den

Vorortzügen, nach Tokyo zur Arbeit hin und zurück. Du hast einen Job, der Dich

absolut nicht interessiert. Du bist noch nicht mal dreißig und hast keine Träume mehr.

Denn Du hast es jetzt geschafft: Du hast eine Festanstellung.

Ansage:

HEIMATLOS. Tokios digitale Tagelöhner. Feature von Serotonin

Regie:

Musik endet.

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Sprecher:

In den Achtzigern, als Japan noch gefunkelt hat vor Wohlstand – die hellen Lichter der

nagelneuen weißen Autos, die vielen glitzernden Läden – damals hatten alle noch

Geld. Du kannst Dich daran nicht mehr erinnern, denn damals warst Du noch ein Kind.

Aber Deine Eltern haben es Dir erzählt. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, lag bei knapp

2%. Alle waren genki – fit, gesund, fröhlich. Alle strengten sich an, haben eisern

durchgehalten – ganbatte kudasai, halte bitte durch! Spaß haben war wichtig, neue

Klamotten waren wichtig, schrille Trends, teure Restaurants, Bars. Lustig sein. Geld

ausgeben. Style eben.

Regie:

Szene im Kaiten-Sushi.

Overvoice: O-Ton 04 – im Kaiten (Übersetzungen werden eingebaut)

Willkommen, bitte hereinspaziert! Wie viele Personen? Zwei? Zwei Plätze für unsere

neuen Gäste! … Ich möchte gerne Aal und Weißfisch. … Aal und Weißfisch, kommt

sofort! … Die Herrschaften hier möchten zahlen. Vielen Dank für Ihren Besuch! …

Regie:

Collage – Deutsch-Japanischer Chor „Ogenki desu ka? - Wie geht es Ihnen? Danke,

mir geht es sehr gut“, Musik kommt dazu, stolpert unter Sprecher aus.

Sprecher:

Bis Mitte der 80er Jahre gab es sie noch, die typische Mittelstandsgesellschaft, für die

Japan so berühmt war, die lebenslange Festanstellung, die vielen Überstunden, die

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üppigen Bonuszahlungen. Die Firmen offerierten gar keine andere Möglichkeit, als eine

unbefristete Festanstellung. Und damit auch das Hamsterrad. Das war normal.

Overvoice: O-Ton 05a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

Angefangen hat alles um das Jahr 1986 herum ...

Sprecher:

Genda Yuji, Wirtschaftswissenschaftler am Sozialwissenschaftlichen Institut der Tokyo

Universität, Professor für Arbeitsökonomie.

Overvoice: O-Ton 05b (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

… es begann mit der Personalfirma Recruit, die mit Stellenanzeigen um „Arubaito“-

Arbeitskräfte warb. Und die Leute, die sich dann auf diese Jobs bewarben, dachten,

dass das eigentlich eine ganz gute Art und Weise ist, sein Geld zu verdienen: frei,

unabhängig und nach eigenem Interesse.

Sprecher:

Das Wort „arubaito“ stammt vom deutschen Wort „Arbeit“ ab. Es handelt sich bei

„arubaito“ um Arbeitsverhältnisse aller Art jenseits der Festanstellung.

Overvoice: O-Ton 05c (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

Freeter – das war also eher ein positiv besetzter Begriff.

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Regie:

Musik wird unterlegt

Sprecher:

Das Wort „Freeter“ setzt sich aus dem englischen „free“ - frei - und der letzten Silbe

des deutschen Wortes „Arbeiter“ zusammen. Japaner lieben ja solche Wort-

schöpfungen. Freeter sind all jene, die nicht festangestellt arbeiten. So, wie Du früher.

Egal, ob sie eine einfache oder anspruchsvollere Arbeit verrichten. Das

Unterscheidungsmerkmal ist lediglich, dass die Freeter eben nicht festangestellt sind.

So, wie Du jetzt.

Regie:

Harter Schnitt.

Regie: Szene „Am Eingang vom DICE“ setzt ein und wird hinterlegt.

Overvoice: 06 O-Ton (Tresenpersonal auf Japanisch, wird übersetzt):

„Guten Abend, herzlich willkommen! Eine Box für eine Stunde … Man passt zu zweit in

eine Box, das ist kein Problem … Hier bitte schön. Sie haben die Box Nummer 277 für

eine Stunde gemietet, Raucher … Bezahlt wird hinterher. Wenn Sie uns wieder

verlassen, geben Sie diese Karte wieder bei uns ab und bezahlen dann die Zeit, die sie

bei uns waren. Einen schönen Aufenthalt!“

Overvoice: O-Ton 07 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

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Ich habe einen Universitätsabschluss, einen Master für internationale Business-

Beziehungen. Ich war drei Jahre lang festangestellt bei einer deutschen Firma als

wissenschaftliche Assistentin. Das war eine sichere Arbeit, aber ich wollte lieber frei

sein und habe dann gekündigt. Meine Eltern haben mittlerweile aufgegeben, sich

darüber zu ärgern. Während der 3 Jahre, in denen ich für Daimler gearbeitet habe,

waren sie beruhigt, denn natürlich gab mir das und ihnen auch eine gewisse

Sicherheit, aber tatsächlich wollte ich doch lieber frei arbeiten und mein Leben selbst

gestalten.

Regie:

17-Uhr-Sound in den Straßen Tokyos

Sprecher:

Es ist 17 Uhr, eine Melodie erklingt aus den Lautsprechern, wie fast überall im Land.

Brave Kinder gehen jetzt nach Hause. Ayako, Anfang 30, sitzt im Internetcafé in

Ikebukuro. Sie lebt in Tokyo, hat eine gute Ausbildung, hat Berufserfahrung.

Overvoice: O-Ton 08 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Ich hatte schon als Kind Schwierigkeiten, mich an eine Gruppe anzupassen, ich war

sehr froh, als die Schule endlich vorbei war. Die Arbeit bei Daimler war dann natürlich

gut bezahlt, aber jeden Tag zum gleichen Ort gehen, jeden Tag dasselbe erleben,

jeden Tag dieselben Leute zu sehen, mit ihnen zu arbeiten, das war für mich sehr hart.

Das ist wohl mein Charakter. Ich arbeite jetzt frei, als Englisch-Übersetzerin. Jetzt kann

ich mir das alles aussuchen. Es stimmt, die meisten wünschen sich, festangestellt zu

sein - aber dann bin ich eben wohl kein typischer Japaner ...

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Sprecher:

Du bekommst als Kind Nachhilfe, damit Du gut bist in der Schule und eine hohe

Punktzahl im landesweiten Abschlusstest erreichst. So kommst Du auf eine gute Uni.

Schon während Deines Studiums kümmerst Du Dich um eine Stellung. Möglichst in

einer guten Firma und was eine gute Firma ist, bestimmen Sozialleistungen und Image.

Sony ist eine gute Firma, Toyota, Mitsubishi. Was genau Du dort arbeiten wirst,

interessiert Dich nicht, es wird schon jemand kommen, der es Dir sagt. Zum Dank gibt

es die Vollausstattung für Dein Leben: Der Arbeitgeber zahlt Dir die Monatskarte, einen

Mietzuschuss, Kindergeld, einen Anteil für die Kita und weil Deine Ehefrau nicht

arbeitet, auch dafür etwas Geld. Außerdem: sechs Monate Lohnfortzahlung im

Krankheitsfall, 24 bezahlte Urlaubstage plus 14 gesetzliche Feiertage. Auch wenn Du

den Urlaub niemals ganz in Anspruch nehmen würdest. Und, wenn es für die Firma gut

läuft, bis zu fünf Monatsgehälter extra - als Bonus.

Ayako hatte so eine sehr gute Festanstellung. Sie hat sie freiwillig weggeworfen. Und

ist jetzt Freeter.

Overvoice: O-Ton 09 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Für die, die sich Sicherheit in ihrem Leben wünschen, ist es das optimale System, für

alle die, die sich am liebsten in der Gruppe aufhalten, ist es ein wunderbares System,

es gibt keine Geldsorgen, es ist leicht, ein Haus zu bauen - aber ich wollte eigentlich

niemals in eine große Firma. Ich kenne mich und weiß, wenn ich Teil einer Gruppe

werde und so zu sein versuche, wie alle anderen, dass ich das einfach nicht gut kann.

Sprecher:

Du weißt, dass ihre Kollegen darüber lächeln. Aber keiner wird sagen, Ayako sei selbst

schuld, dazu sind sie zu höflich. Vielleicht verstehen sie sogar, was Ayako am

Angestelltendasein stört. Sie selbst jedoch sind in der Firma geblieben. Das wiederum

kannst Du verstehen.

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Regie:

Einspieler Bahnschranke schließt sich mit Bing-bong-Geräusch, dann Zugdurchfahrt.

Darauf Chor: Japanisch-Deutsche Stimmen – „Yoroshiku onegaishimasu. Watashi wa

Sony desu – Ich bin ein Sony-Mann. Ich bitte Sie meinem Anliegen wohlgesonnen zu

sein.“.

Sprecher:

Amamiya Karin, Ex-Freeter, Ex-Punksängerin, jetzt Schriftstellerin, Anti-

Armutskämpferin, schillernde Pop-Ikone, Medienstar.

Overvoice: O-Ton 10 (Amamiya Karin auf Japanisch, wird übersetzt)

„In Japan hat sich die Firma schon immer sehr stark um ihre Leute gekümmert und auf

die soziale Versorgung „aufgepasst“ – die Sozialleistungen, Renten- und

Krankenkassenbeiträge, der Festangestellten wurden übernommen, selbst

Wohnungsprobleme wurden durch die Firma gelöst – sie hat sich quasi um alles

gekümmert. Als Freeter kommst du einfach nicht in diesen Genuss. Um dich als

Freeter kümmert sich die Firma nicht. Und außerhalb der Firma gibt es in Japan nichts

und niemanden, der sich um das Wohlergehen der Menschen wirklich sorgt. Also ist

das kulturell sehr stark in Japan verwurzelt, dass man nur in und mit einer Firma

zusammen wirklich gut leben kann.“

Regie:

Musik. Japanisch-Deutscher Chor: „Erfreut, Sie kennen zu lernen. Ich bin ein Sony-

Mann. Yoroshiku onegaishimasu“.

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Sprecher:

Die Firma kümmert sich in Japan um fast alles. Um Deine Sicherheit. Um Deine

Wohnung. Deine Rente. Deine Gewerkschaft. Dein soziales Leben. Deine Hoch-

zeitsfeier. Deine Beerdigung. Das ist der Deal. Dafür tust Du – ohne viel zu fragen –

was verlangt wird. Du passt Dich ein.

Overvoice: O-Ton 11 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):

Die Leute können ja überhaupt nicht mehr sagen, was genau sie in ihrer Firma

machen. Wenn man sie fragt, z.B. bei einem Vorstellungsgespräch: Was machst Du?

Antworten sie: Ich bin bei Sony. Oder bei Mitsui Bussan. Aber was sie genau dort tun,

können sie nicht sagen.

Regie:

Sodateage-Net „Yoroshiku onegaishimasu“ - Gruppengespräch.

Overvoice: O-Ton 12 (Studentengruppe auf Japanisch, wird übersetzt):

Klar wollen alle eine Festanstellung! Was wir werden MÖCHTEN, können wir uns ja

nicht mehr aussuchen, wenn wir festangestellt werden wollen. Das haben wir alle

schon aufgegeben. Wir haben alle unsere Wünsche, aber das geht ja alles nicht, wir

müssen nun einfach durchhalten und uns Mühe geben. Sicherheit geht eben vor.

Regie:

Musik

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Overvoice: O-Ton 13 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):

Also, in meinen Augen ist es viel wesentlicher, als dass alle festangestellt arbeiten,

eine Gesellschaft zu erschaffen, in der sich alle einbringen können.

Regie:

Musik plus Stimmen-Collage

Overvoice: O-Ton 14 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Mein Spezialgebiet an der Uni damals waren die Verkäufermärkte. Und nach der

Universität kamen eigentlich auch alle anderen irgendwo unter, Sony, IBM, NTT – alle

kamen in einer möglichst großen Firma unter. Aber ich mag es eben, für mich zu

arbeiten und nachzudenken. So bin ich eben …

Sprecher:

Freeter leben nicht nur für die Firma. Wenn Ayako ausgeht, kann sie das auch ohne

ihre Kollegen tun. Sie trägt weniger Verantwortung, sie nimmt nicht Teil am sozialen

Gefüge des Angestelltendaseins. Sie arbeitet nicht nur, sie lebt auch anders als

Festangestellte.

Regie:

Musik plus Japanisch-Deutscher Chor: „O tsukare-sama deshita! Ganbatte kudasai!

Oh, Du Ermüdeter! Bitte halte durch! Ach, es ist wirklich hart. Bitte halte durch, Du

hältst doch durch? Du gibst Dir doch Mühe, nicht wahr? Taihen desu yo! Ganbatte

kudasai, ganbatte, ne?!“

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Sprecher:

In Tokyo zu wohnen ist teuer - wer nicht wirklich gut verdient, zieht an den Rand der

Stadt. Die Stadt ist riesig, es leben über 35 Millionen Menschen im gesamten

Ballungsraum. Wenn Du den Abend in der Stadt verbringst, mit Kollegen oder auch in

Bars und Clubs, dann wird der Weg nach Hause lang. Manche blieben deshalb

irgendwann einfach über Nacht in der Stadt; nicht in den klaustrophobisch engen

Kapsel-Hotels, sondern in einem Internetcafé. Es war billig, es war Freizeit. Es war

schick.

Overvoice: O-Ton 15 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Der Service im Internetcafé ist gut, es ist sauber, es ist billig, es kostet maximal

zwanzig Euro pro Nacht, im Businesshotel kostet es 100 Euro oder so, schade ums

Geld! Letztlich schläft man doch nur. Und man hat genug Platz, man muss nichts

machen, um alles zu haben, es gibt freie Softdrinks an den Automaten, man kann so

viel trinken, wie man will, manchmal trinke ich so viel, dass ich nichts mehr essen

muss, weil ich schon von den Getränken satt bin. Es gibt genug zu lesen, es gibt

Duschen, man sagt einfach am Empfang, was man will und wie lange man bleiben will

und das ist alles.

Regie:

Musik

Sprecher:

Du kennst diese Internetcafés. Sie haben sich auf ihre Kundschaft eingerichtet. Jeder

Rechner steht in einer einzelnen Box. Man zieht eine Schiebetür zu und ist für sich. Die

Boxen sind groß genug, dass man sich bequem hinlegen und ausstrecken kann.

Decken, Kissen und Slipper bekommt man am Eingang. Die Betreiber bieten spezielle

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Tarife an, wenn man nach 22 Uhr kommt und über Nacht bleibt. Auch Duschen gibt es

hier. Seine Habseligkeiten kann man in der Box in einer Art Safe verstauen. Es ist so

groß wie eine Mikrowelle. Und manche bleiben schließlich auch für länger. Einige

sogar für viel länger als nur für eine Nacht. Das geht. Solange man bezahlt.

Overvoice: O-Ton 16 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Ja, es gibt Leute, die in einem Internetcafé wirklich wohnen, die mit all ihrer Habe dort

sind. Wenn man die Miete nicht mehr zahlen kann und das Türschloss ausgetauscht

wird, man nicht mehr in seine Wohnung kommt, also rausgeschmissen wird, dann hat

man nichts mehr als das, was man auf dem Leib hat. Und da ist es gut, dass es diese

Cafés gibt.

Regie:

Zuggeräusch des Shinkansen mit Ansage setzt ein und wird hinterlegt.

Sprecher:

Jeden Freitagnachmittag packt Shinji, ein junger Mann Anfang 20, seine Sachen

zusammen. Alles passt in einen kleinen Rucksack. Er fährt übers Wochenende aufs

Land zu seinen Eltern. Er muss höllisch aufpassen, dass er das Geld für die Hin- und

Rückfahrt parat hat. Sonst muss er seine Mutter bitten, die Rückfahrt zu bezahlen. Das

ist nicht leicht, denn offiziell verdient er gut. Hat er seinen Eltern gesagt. Seine Eltern

haben es schließlich verdient, dass er eine feste Stelle hat. Also hat er sich kurzerhand

eine ausgedacht. Das hat alle sehr glücklich und stolz gemacht – vor allem seine

Eltern. Auch die Nachbarn gratulierten. Sogar ein alter Lehrer hat ihn beglückwünscht.

So geht das, in einer kleinen Stadt in Japan. Wo jeder jeden kennt.

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Regie:

Zuggeräusch zu Ende.

Overvoice: O-Ton 17 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Im Internetcafé kann ich machen, was ich will, ich hab meine Ruhe. Manchmal gehe

ich auch noch zwischendurch dahin, wenn ich einen Termin vormittags und einen

nachmittags habe mit drei Stunden Pause dazwischen. Das Image der Internetcafés ist

schlecht, deswegen sage ich es niemandem, aber eigentlich ist es nicht übel dort, ich

habe nicht den Eindruck, als seien da nur Obdachlose, Arme, und die, die da

hingehen, hätten keine Erwartungen mehr an ihr Leben. Das wäre ja total traurig. Ich

denke, das haben die japanischen Medien konstruiert, denn für mich ist das überhaupt

nicht so. Diejenigen, die ins Internetcafé kommen, machen sich darüber keine großen

Gedanken, sie kümmern sich nicht um das schlechte Image. Sie machen einfach ihr

Ding.

Regie:

Zuggeräush setzt ein.

Sprecher:

Die Fahrkarte zu den Eltern kostet den jungen Mann 8200 Yen. Das sind ungefähr 80

Euro. Zusätzlich zur Fahrkarte kauft er sich, wie alle anderen Fahrgäste auch, ein

Obento, ein Lunchpaket. Insgesamt gibt er für die Fahrt nach Hause also jedes

Wochenende knapp 100 Euro aus. Das ist viel Geld, aber auf das Obento will er nicht

verzichten. Es ist sonst einfach zu traurig, wenn alle ein Obento haben und nur er hat

keins.

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Japanische Stimme:

Zugdurchsage auf Japanisch – Mamonaku Yokohama de gozaimasu.

Sprecher:

Für Zehntausend Yen kann der junge Mann im Internetcafé fünf, fast sechs Nächte

schlafen. Was er auch macht. Seit Monaten schon. Es rechnet sich für ihn nicht, heim

zu fahren. Und bald fährt er auch nicht mehr an jedem Wochenende. Das werden die

Eltern verstehen, er muss eben arbeiten. Sein Vater ist früher auch nicht jedes

Wochenende nach Hause gekommen, weil er in der Firma bleiben musste. Das ist ja

ganz normal, wenn man eine feste Stelle in einer guten Firma hat.

Regie:

Japanisch-Deutscher Chor: „Ganbatte kudasai! Du hältst doch durch? Du gibst Dir

doch Mühe, nicht wahr?“ plus Musik.

Sprecher:

Wenn seine Mutter ihn unter der Woche auf dem Smartphone anruft und im

Hintergrund die Computer des Internetcafés zu hören sind, wird sie ihn fragen: „Shinji,

mein Junge, arbeitest Du denn noch?“ Und er wird ein bisschen seufzen und sagen:

„Ja, es dauert wohl noch etwas länger heute“. Und seine Mutter wird ihn aufmuntern

und auch ein wenig bemitleiden, aber eigentlich wird sie stolz auf ihn sein, denn sie

weiß, dass er jetzt auch dazu gehört. Dass er ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft

geworden ist, ein Shaikaijin. Und wenn er aufgelegt hat, wird er sich noch einen

Softdrink aus dem Automaten holen, die Ohrstöpsel reinstecken und weiter seine DVD

gucken. Solange, bis er schlafen kann, um morgens um 6 Uhr wieder, wie jeden Tag,

die Seite mit den Stellenanzeigen aufzurufen.

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(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Overvoice: O-Ton 18a (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):

Es ist ja nicht so, dass die Leute sagen: Ich will ein Internetcafe-Flüchtling werden, bitte

lasst mich ein Internetcafé-Flüchtling werden! Die Leute wollen einfach nur arbeiten.

Sprecher:

Kudo Kei, 33 Jahre alt, Gründer der NPO sodateagenet – einer Non Profit

Organisation, die jungen Leuten helfen will, Krisen im Arbeitsleben zu bewältigen.

Overvoice: O-Ton 18b (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):

Um in Japan eine Arbeit zu finden, braucht man eine Adresse. Ohne Adresse keine

Arbeit. Wenn man keine eigene Meldeadresse hat, gibt man normalerweise die

Adresse der Eltern an, aber wenn man kein Zuhause mehr hat oder sich mit den Eltern

entzweit hat, dann geht das nicht.“

Sprecher:

Während des Studiums hat der junge Mann noch in einer Ein-Zimmer-Wohnung in

Kichijoji gewohnt, in einem Sechs-Tatami-Zimmer, das entspricht ungefähr der drei-

fachen Fläche eines Doppelbetts, mit Küche auf dem Gang. Die Eltern haben die Miete

bezahlt, acht Man Yen, also 800 Euro. Die Wohnung lag ziemlich nah an der

Bahnstation, was sehr praktisch war, aber das Haus wurde abgerissen. Jetzt steht da

ein neuer, schicker Apartmentblock, mit viel höheren Mieten. Er hat damals zu Hause

nicht Bescheid gesagt, er wollte niemanden beunruhigen und ist erst mal für ein paar

Nächte ins Internetcafé gegangen. Daraus sind jetzt 10 Monate geworden.

Overvoice: O-Ton 19 – Im Dice, Teil 1 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

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(Schuhe aus und rein in die Box) Wir haben jetzt 1 Stunde bestellt, wenn es länger

wird, dann können wir einfach nachzahlen. Hier kann man wirklich gut schlafen, wie du

siehst, es ist auch ziemlich leise … ich kann hier ganz in Ruhe meine Sachen machen,

fernsehen kann man auch – mir macht es Spaß, hier zu sein und ich will oft gar nicht

mehr nach Hause. Musik gibt es auch, aber die hört man mit Kopfhörern, deswegen ist

es auch so leise hier und man kann hier wie gesagt gut schlafen, aber manchmal gibt

es so viel zu tun, dass man gar nicht zum Schlafen kommt.

Overvoice: O-Ton 20a – Ayako – Im Dice, Teil 2 (Ayako, wird übersetzt):

Wenn ich jetzt von hier aus Arbeit suchen will, habe ich viele Möglichkeiten …

(Tastaturgeklapper) guck mal hier:

Regie: Tastaturgeklapper

Sprecher:

Auf dem Bildschirm erscheint die Homepage des Internetcafés. Rechts unten sieht

man das Feld „Stellenangebote“. ….

Overvoice: (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Hier sucht man sich die Gegend aus … in dieser Gegend hier gibt es sehr viele

Angebote, z.B. Taschentücher verteilen als Giveaway … für 1000 Yen die Stunde hier

in der Nähe oder am Bahnhof Shinjuku ... wenn ich in der Gegend um Ikebukuro

suche, 1500 Yen die Stunde und hier: irre! 1800 Yen pro Stunde!

Sprecher:

Das sind 18 Euro!

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Overvoice: (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Wenn Du das jetzt machen willst, dann klickst du hier … und meldest dich mit deinem

Namen und deiner Email-Adresse an.

Sprecher:

Wenn ein Freeter etwas Anspruchsvolleres als Taschentücher-Verteilen sucht, z.B.

eine projektbezogene IT-Arbeit oder auch etwas in der Werbung oder eine

Bürotätigkeit, muss er noch in einer zusätzlichen Zeile der Bildschirmmaske eine

Postleitzahl eintragen. In das Feld kann er einfach die Postleitzahl des Internetcafés

eintippen. Das reicht, um Arbeit zu finden. Jetzt braucht er keine eigene Wohnung

mehr. Er hat ja das Internetcafé.

Overvoice: O-Ton 21 – Im Dice, Teil 3 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Hier muss man die Postleitzahl eintragen, sonst bekommt man den Job nicht. Zum

Beispiel: Nähe Ikebukuro als Sekretärin, dann braucht man hier noch den

Ausbildungsstand, hier die Versicherungsleistungen …

Regie:

Musik setzt ein, wird hinterlegt.

Sprecher:

18/34

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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben

(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.

Ayako hat noch eine eigene Wohnung irgendwo weit draußen in den riesigen

Vorstädten, sie übernachtet nur zuweilen im Internetcafé. Wenn sie nach einem langen

Arbeitstag keine Lust mehr hat, den Weg nach Hause zu fahren. Oder wenn sie am

nächsten Tag wieder in der Nähe des Cafés arbeiten wird. Oder einfach auch nur, weil

sie ihre Ruhe haben und den Service in Anspruch nehmen will – schnelle

Internetverbindung, Softdrinks, Manga, Zeitschriften, DVDs. Wenn jetzt etwas schief

geht, ist sie auf dem besten Wege, ein NettoKafe-Nanmin, ein Internetcafé-Flüchtling

zu werden.

Overvoice: O-Ton 22a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt):

Das hat sich das Fernsehen ausgedacht, ich gebrauche dieses Wort

NettoKafe-Nanmin nicht.

Sprecher:

Genda Yuji, Professor für Arbeitsökonomie.

Overvoice: O-Ton 22b

Ich finde, dass es die tatsächlichen Probleme verdeckt. Schließlich ist an einem

Internetcafé nichts Schlechtes. Es ist auch kein Internetcafé-Problem. Es ist ein

Problem der Familie, d.h. aus vielerlei Gründen können die Jugendlichen nicht nach

Hause. Es wäre daher treffender von „Familien-Flüchtlingen“ anstatt von Internetcafé-

Flüchtlingen zu sprechen. Es gibt auch andere Fälle, z.B. haben vor einiger Zeit sehr

viele Leiharbeiter in einem Firmenheim gewohnt und als die Firma dann pleite ging,

hatten diese Arbeiter keine Unterkunft mehr, keine Arbeit, keine Bleibe. Die

Internetcafé-Flüchtlinge können, ebenso wenig wie die einstigen Leiharbeiter, nach

Hause zurückkehren. Was sollen sie also machen?

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Sprecher:

Freeter sind keineswegs nur Hilfsarbeiter, es gibt auch viele junge Leute, die gut

ausgebildet sind, die oft sogar einen Universitätsabschluss haben. Doch weil den viele

haben, bedeutet er auch nicht so viel.

Sprecher:

Kudo Kei, Sodateagenet.

Overvoice: O-Ton 23 (Kudo Kei, wird übersetzt):

Wenn man nach Tokyo geht und seiner Familie auf dem Land erzählt, man habe keine

Arbeit, dann wird die Familie von dem gesamten Umfeld attackiert, dass sie daran

schuld sei. Deswegen lügen viele, um ihnen keine Schande zu bereiten, sagen, dass

sie eine Festanstellung haben, um die Familie zu schützen ... mehr als dass man

selber zurechtkommt, will man seine Familie nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht

wäre es besser, wenn sich die jungen Leute wie in Frankreich wehrten, aggressiv

würden, um sich zu schützen. Aber in Japan macht man das nicht, man wird still und

sagt gar nichts mehr.

Regie:

Musik

Overvoice: O-Ton 24 – Im Dice, Teil 4 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt):

Man kann sich hier auch für 1 oder 2 Wochen einmieten, wenn man nix macht und

bezahlt, geht das ohne Probleme. Wenn man sich hier eingemietet hat, kann man auch

zwischendurch raus und ein Obento kaufen. Das Café ist so groß, dass es nie

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vollkommen belegt ist, aber es gibt oft eine Warteschlange am Eingang. Hier ist es

wirklich am komfortabelsten, in Shibuya gibt es auch Internetcafés, aber die sind

ziemlich anders, dreckig und so weiter, da würde ich nicht schlafen. Hierher komme ich

immer gerne.

Regie:

Musik geht über in Geräusche aus der Patchinko-Halle

Sprecher:

Als die Wohnung weg war, änderte sich erst mal nicht so viel für den jungen Mann. Er

arbeitete zunächst tageweise als IT-Kraft, verdiente auch ganz gut. Jetzt gibt es öfter

mal nichts mehr im IT-Bereich, dann arbeitet er auch im Büro.

Overvoice: O-Ton 25 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)

Das Angestelltensystem ist ein sehr gutes System … Aber es verschwindet

zunehmend und ich glaube, dass die Japaner mit dieser Veränderung gar nicht

umgehen können. Viele Uniabsolventen finden gar keine Anstellung, aber die jungen

Leute kennen ja nur diese Art der Arbeit von ihren Eltern, es gab ja jahrzehntelang die

Firmenstabilität. Jetzt befinden sich die Firmen in instabiler Lage. Ich fühle mich trotz

meiner ständigen finanziellen ups und downs eigentlich sicher, ich habe keine Angst,

ich kenne es ja so und weiß, dass es geht. Aber diejenigen, die in der Firma fest

angestellt sind, leben nur für die Firma und wenn die wegbricht, dann stürzen sie

wirklich ab. Man kann sich da nicht bei den Verwandten oder Freunden auffangen

lassen, in solchen Situationen gibt es viele Selbstmorde, denn die Menschen sind auf

derartige Umwälzungen der Wirtschaft weder im Kopf noch im Herzen vorbereitet.

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Sprecher:

Mittlerweile arbeitet über ein Drittel der japanischen Beschäftigten in nichtregulären

Arbeitsverhältnissen. Es gibt auch eine Freeter-Bewegung, die Freeter-undo. Sie wird

nur von den Firmen nicht weiter beachtet. Es gibt soziale Bewegungen und es gibt eine

Straße in Tokyo, dort trifft sich die lockere Gruppe um die Shiroto no ran – die so

genannte Amateurrevolte. Gemeinsam im Kampf gegen den Kommerz. Man kann dort

gebrauchte Sachen kaufen oder sich beraten lassen, wenn man in Schwierigkeiten

steckt. Aber es ist nur eine sehr kleine Straße, verglichen mit den vielen

Prachtboulevards in Tokyo. Und es gibt eine Initiative gegen die Sportfirma Nike, die

einen ehemals öffentlichen Park mitten in Tokyos Shopping Distrikt Nummer Eins

übernommen hat und daraus einen Sportpark machen will. Was bedeutet, dass Du

künftig nicht mehr, einfach so, auf einer Bank sitzen kannst im spärlichen Grün Tokyos,

sondern dafür bezahlen musst. Der öffentliche Raum verschwindet.

Regie:

No Nike – Atmo auf der Demonstration setzt ein. Japanisch-Deutscher Chor: Ganbatte

ne. Mo ganman dekinai yo. Nein, ich kann nicht mehr.

Sprecher:

Der Slogan der No-Nike-Bewegung lautet: Ton de mo nike – eine Verballhornung des

Japanischen „Ton de mo nai“: Unglaublich, schrecklich, auf keinen Fall! Ton de mo

nike – auf keinen Fall Nike!

Regie: No Nike – Atmo

Sprecher:

Der Park ist trotz aller Proteste an Nike gegangen. Und vielleicht würde auch Ayako

lieber in den Nike-Sportpark gehen. Denn Nike ist schick, die alten Leute im

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öffentlichen Park waren das wohl eher nicht. Aber das Verschwinden des öffentlichen

Raumes bedeutet auch für Ayako, dass es immer öfter Geld kostet, sich in der Stadt

aufzuhalten. Nichts ist mehr umsonst.

Overvoice: O-Ton 26 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)

Ich arbeite in der Regel vier Tage in der Woche, im Frühjahr und im Herbst eher sechs

Tage, im Winter und Sommer weniger. Ich bin krankenversichert, was schmerzhaft

teuer ist, ich habe eigentlich keine Lust so viel zu bezahlen. Klar, ist es wichtig, aber

ich gehe nie! zum Arzt und ich bin nie krank! Ich zahle nur für die alten Leute, wenn ich

selber etwas älter wäre, dann ….aber ich bin diejenige, die nur einzahlt. Als ich noch

festangestellt war, ging es ja automatisch runter, aber jetzt ... schade ums Geld.

Sprecher:

Noch verdient sie genug, um auch die Krankenversicherung zu bezahlen. Aber was,

wenn es dafür nicht mehr reicht? Wenn sie mal länger krank ist. Wenn es nicht mehr

für die Miete reicht? Verkauft Ayako dann auch ihre Sachen und zieht ins Internetcafé?

Wenn die Wohnung erstmal weg ist, wird es für sie teuer. Eine neue Wohnung in

Tokyo kostet drei bis vier Monatsmieten als Kaution, das ist üblich, zusätzlich das

Schlüsselgeld, Maklergebühren, Höflichkeitsgeld … Zusammen sind das leicht fünf,

manchmal sieben Monatsmieten zusätzlich. Im ersten Monat.

Overvoice: O-Ton 28 (Freeter auf Japanisch, wird übersetzt):

Wenn man erst mal ein Internetcafé-Flüchtling geworden ist, ist es schwer, ein

Apartment zu finden, denn man kann das Ganze nicht mehr bezahlen … wenn man

erst mal ein Internetcafé-Flüchtling ist, gibt es keinen Ausweg mehr, da kommt man

nicht mehr raus.

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Sprecher:

Für Shinji, den jungen Mann aus der Box schräg gegenüber, bleibt jetzt, ohne die

Miete, sogar mehr Geld übrig als früher. Denn es ist nicht nur die Miete, die er spart, er

spart auch Wasser, den Telefonanschluss, die Müllabfuhr und Strom. Er kann jetzt

ausgehen, Geld ausgeben, Spaß haben. Von außen sieht es aus, als sei alles in bester

Ordnung.

Overvoice: O-Ton 27 ( Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)

Wenn ich mich nicht auf meine Familie und nicht auf den Staat verlassen oder stützen

kann, was soll ich machen? Ich amüsiere mich jetzt, denn was später wird …

Regie:

Motorrad fährt weg. Darauf: Okyakusama ni oshirase itashimasu … Wir weisen unsere

Gäste höflichst darauf hin, dass die Besucher in diesem Internetcafé nicht durch

unangenehmen Körpergeruch belästigt werden möchten… Go kyoroku arigatou

gozaimasu.

Sprecher:

Du weißt, dass es früher für die Obdachlosen eine Straße gab. In Sanya, einem

Stadtviertel, in dem Morgens am Straßenrand auf die Toyota-Pickups gewartet wurde,

die die Männer – und es waren damals fast nur Männer – abholten, zur Arbeit fuhren

und Nachts wieder zurück brachten. Es waren Tagelöhner, die die drei-K-Jobs, kitsui,

kitanai, kiken, verrichteten, die gefährliche, dreckige und sehr schlecht bezahlte Arbeit,

die niemand sonst machen wollte. Das Ganze wurde organisiert und stand unter dem

„Schutz“ der Yakusa, der japanischen Mafia.

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Regie:

Musik. Wird hinterlegt.

Sprecher:

Heute kannst Du im Stadtteil Sanya nicht mehr viel davon sehen. Die modernen

Tagelöhner werden über das Internet vermittelt. Und während die älteren Männer mit

ihren blauen Plastikplanen-Zelten aus den Innenstädten verdrängt werden, rücken die

neuen jungen und gut ausgebildeten Obdachlosen in die Vergnügungszentren der

Großstädte vor, denn dort liegen die Internetcafés. Sie sind die Speerspitze der

Flexibilität. Sie sind schneller bei der Arbeit, können früher kommen und später gehen,

ohne dass sie deswegen weniger freie Zeit haben. Sie können leben wie ein Student,

mit viel Zeit für die Dinge, die sie mögen und trotzdem sind sie nicht arm. Wenigstens

nicht auf den ersten Blick.

Regie:

Muisk plus Japanisch-Deutscher Chor: Asobi ni iko ka? Hai, ikimasho! Iko, iko yo!

Wollen wir feiern gehen? Ja, lass uns gehen, los, lass uns Spaß haben!

Sprecher:

Japan gilt als eines der reichsten OECD-Länder. So reich, dass Japan selbst bis 2009

keinerlei offizielle Zahlen zur Armut im eigenen Land erhoben oder veröffentlicht hat.

Japanische Stimme und deutsche Stimme:

Purekariato Bungaku. Prekariatsliteratur. Atarashii puroretaria bungaku. Neue

Proletarische Literatur. Furiita shosetsu. Freeter Romane. Atarashii Homulessu

Bungaku. Obdachlosigkeitsliteratur.

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Prof. Lisette Gebhardt: O-Ton 29

Die großen, berühmten Buchläden, wie Kinokuniya oder Yaesu-Bookstore in Tokyo,

die haben wirklich seit einigen Jahren Sparten wie Freeter, Neet, soziale Probleme,

shakai mondai, Unterschichtsgesellschaft, Abstiegsgesellschaft, die Ecken sind

tatsächlich zu finden, Obdachlose auch, ja, also alle sozialen Problemfelder sind da

abgedeckt, in den Buchhandlungen.

Sprecher:

Lisette Gebhardt, Professorin für Japanologie, Literaturwissenschaft Universität

Frankfurt.

Prof. Lisette Gebhardt: O-Ton 30

Nach 2006 ist massiv diese Prekariats- und Sozialproblematik in die Buchläden

gekommen. Natürlich kann man dann auch sagen, die Verfasser haben das auch als

Boom erkannt und wollen daran auch verdienen, das ist ja auch legitim und jeder der

kann, publiziert jetzt zu Neets und Freetern und anderen Problemjugendlichen.

Sprecher:

Freeter kommunizieren nicht mehr wie früher nur über Blogs. Sie schreiben und lesen

auch über sich. Es gibt mittlerweile Romanen, Essays, Erzählungen zu dem Thema.

Und Du nimmst diese literarische Stimme wahr. Es gibt Preise. Auszeichnungen. Du

hast Amamiya Karin im Fernsehen gesehen, als sie den Arbeiter-Roman

„Krabbenfangschiff“ mit den heutigen Arbeitsbedingungen der Freeter verglichen hat,

ein 1929 erschienenes Werk, das sich mit der brutalen Ausbeutung der Arbeiter auf

einem Krabbenkutter auseinandersetzt. Danach verkaufte sich das Buch mehrere

100.000 Mal. Du hast eine Fernsehserie über einen Freeter gesehen, eine soap opera

im staatlichen japanischen TV. Und auch die Internetcafés machen ihre Geschäfte mit

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ihnen - und zwar recht gute. Armutsbusiness – so regelt das der Markt, wenn man ihn

lässt.

Overvoice: O-Ton 31 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt)

Nicht die Freeter sind das Problem. Das Problem ist, dass der Unterschied zwischen

den Freetern und den Festangestellten so extrem ist. In Japan ist es sehr schwer,

jemandem zu kündigen – was zum einen den Aufstieg von jungen Leuten innerhalb

einer Firma sehr behindert und man sich zum anderen damit abfinden muss, wenn die

Leute nicht richtig arbeiten. Es muss einfach unterschiedliche Arbeitsmodelle in einer

Gesellschaft geben, nicht nur das eine Modell des Festangestelltendaseins.“

Sprecher:

Die zweigeteilte Gesellschaft in Deinem Land – Freeter hier, Angestellte dort –

verdeckt, dass es auch Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen gibt. Natürlich

verdienst Du bei der staatlichen Eisenbahn viel weniger als ein Gehirnchirurg in einer

Privatklinik. Tatsächlich aber sind die Unterschiede in Japan nicht so groß wie in den

westlichen Industrieländern. Topmanager verdienen hier nicht das Tausendfache,

sondern nur das zwanzigfache eines Arbeiters. Aber der Arbeiter gehört eben dazu.

Der Freeter nicht. Mit sechsundzwanzig Jahren gehört ein Freeter schon zum alten

Eisen. Beim Eintritt in die Firma muss man jung sein. Für Frauen bleibt dann noch der

Weg in die Ehe und an einen Herd. Du hast einfach Glück gehabt.

Overvoice: O-Ton 32 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):

„In Japan geht es nicht so stark um das Individuum und dessen Bezahlung, sondern

um die Familie als kleinste Einheit. Es ist absolut selbstverständlich, dass man heiratet,

dass man eine Familie gründet und dabei geht man nicht davon aus, dass die Frau

genauso viel zum Familieneinkommen beiträgt wie der Mann. Das Verhältnis liegt also

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nicht bei 1 zu 1, sondern eher bei 0,5 zu 1,5: ein Viertel macht das Einkommen der

Frau aus und drei Viertel das Einkommen des Mannes – d.h. der Mann verdient

deutlich mehr als die Frau. Das ist bis heute die Denke in Japan: Verheiratete Frauen

können ruhig als Freeter arbeiten. Und nun ist es eben seit einiger Zeit so, dass

zusätzlich zu den verheirateten Frauen auch noch unverheiratete Frauen, verheiratete

und unverheiratete Männer hinzu gekommen sind, die alle in diese „ein Viertel“ – Welt

abgestiegen sind.“

Sprecher:

Genda Yuji:

Overvoice: O-Ton 34a (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

Wenn man es mal ganz einfach sagen will: die ganze Misere liegt eigentlich an der

mittelalterlichen Denke in Japan, d.h. um den eigenen Job zu behalten, beseitigt man

die jüngeren. Am meisten Chancen haben noch die Neugraduierten auf eine

Arbeitsstelle. Doch schon kurz nach dem Universitätsabschluss wird es schwer. Es gibt

ja sehr viele Freeter, die einen Universitätsabschluss haben. Es ist auch nicht

auszuschließen, dass Todai-Absolventen Freeter werden.

Sprecher:

Die Todai, die Tokyo Daigaku, ist die beste Universität Japans.

Overvoice: O-Ton 34b (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

Die Bildungsmöglichkeiten in Japan können jedenfalls nicht garantieren, dass die

Jugendlichen einen Arbeitsplatz bekommen.

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Sprecher:

Durch die Entlassungen und den Einstellungsstopp in den 1990er Jahren, die nie

wieder aufgeholt wurden, war hunderttausenden junger Menschen der Zugang zur

japanischen Wirtschaft verwehrt. Du hast es auf den letzten Drücker doch noch

geschafft. Viele Deiner Freunde nicht. Zwei Absolventen-Generationen konnten keine

Anstellung finden. Und wenn sie älter als 34 Jahre sind, fallen sie einfach aus der

Statistik raus. Das ändert aber nichts daran, dass sie mit 35 immer noch Freeter sind.

Was in Deutschland „Generation Praktikum“ genannt wird, heißt hier: Rosujene – lost

generation oder: makeinu – Verliererhunde.

Regie:

Deutsch-Japanischer Chor: Ganbatte ne! Nein, ich kann nicht mehr!

Overvoice: O-Ton 35 (Ayako auf Japanisch, wird übersetzt)

Wenn es egal ist, wie sehr man sich auch anstrengt und es dann doch nichts hilft, dann

kommt man schon auf Todesgedanken. Wenn sich das gesamte Gefüge zu schnell

ändert, kommt schließlich keiner mehr mit. Und die Politiker machen gar nichts für uns!

Aber es ist unsere Schuld, wir haben sie ja gewählt. Dann kann man sich auch nicht

beschweren.

Regie:

Im Taxi mit Herrn Sugimura – wird hinterlegt.

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Sprecher:

Sugimura Taizo war einer der jüngsten Abgeordneten in Japan, LDP-Mitglied, und er

verteidigt das Modell – kein Wunder, seine Partei ist sehr für die Zeitarbeit und die

traditionelle Frauenrolle.

Overvoice: O-Ton 36 (Sugimura Taizo auf Japanisch, wird übersetzt):

„Folgende Situation: Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder und arbeite natürlich, aber

meine Frau möchte sich etwas Taschengeld dazu verdienen. Also geht sie an der

Kasse in einem Supermarkt arbeiten, als Part-Time-Beschäftigte, also als Freeter. Das

ist genau das, was wir als Freeter bezeichnen, aber in diesem Fall gibt es ja überhaupt

kein Problem! Überhaupt keins! Das größte Problem … haben die Männer! Die Männer

können nicht heiraten, wenn sie zu lange als Freeter arbeiten. Das ist das Problem!“

Sprecher:

Sugimura war selbst einmal Freeter. Bevor er Abgeordneter wurde. Er sagt über sich

selbst auf seiner Webseite, er sei der erste Freeter Japans gewesen – und meint damit

wahrscheinlich seine Wichtigkeit und, dass er es geschafft hat.

Overvoice: O-Ton 37 (Sugimura Taizo auf Japanisch, wird übersetzt)

„Die Wirtschaft muss wachsen! Das ist es, was sich ändern muss! Mein Vorschlag ist

es momentan gerade, ganz Japan mit Windenergie und Sonnenkollektoren

auszurüsten. Und dafür braucht man irre viele Leute! Das bedeutet: Vollbeschäftigung!

In 10 Jahren ist der Strom kostenlos und die gesamte Wirtschaft saniert. Spätestens.

Wenn ich Premierminister wäre, würde ich das machen.“

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Sprecher:

Ist das die Lösung? Wieder zurück zu dem Modell der landesweiten Festanstellung, ins

Hamsterrad der 80er Jahre?

Overvoice: O-Ton 38 (Amamiya Karin wird übersetzt)

„Ich glaube nicht, dass sich groß etwas ändern würde, wenn sich die wirtschaftliche

Situation wieder erholen würde. Mittlerweile gibt es so viele Nicht-Regulär-

Beschäftigte, dass es ein zu großer Paradigmenwechsel wäre, diese unregelmäßigen

Arbeitsverhältnisse wieder rückgängig zu machen und in regelmäßige umzuwandeln.

Dazu wird es nicht kommen.“

Sprecher:

Was früher noch romantisches Ideal war – selbstbestimmt zu arbeiten, frei über seine

Zeit verfügen zu können – entwickelt sich zum Albtraum und zu einem Vehikel für

Lohndrückerei. Pech für die Freeter. Denn niemand kümmert sich um sie. Auch nicht

der Staat. Brauchte er auch nicht. Bislang. Es lief ja alles über die Firmen.

Japanische Stimme:

Flash-mop: Stand up!

Sprecher:

Wenn es keine Firma gibt, die sich um Dich kümmert, springt Deine Familie ein, sagt

der Staat. Sozialhilfe wird in Japan gewährt. Solange Du arbeitsfähig bist, hast Du

keinerlei Anspruch auf Sozialhilfe.

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Overvoice: O-Ton 40 (Amamiya Karin wird übersetzt):

„Die Festangestellten werden teilweise gezwungen, sich zu überarbeiten, teilweise

zwingen sie sich selber, um nicht zu Freetern zu werden. Und die Freeter wollen nicht

obdachlos werden und versuchen alles, um angestellt zu werden, also arbeiten auch

sie bis zum Umfallen …

Es gibt gegenseitige Einflüsse, was das Phänomen der Überarbeitung betrifft. Die

treibende Kraft ist die Angst vor dem Abstieg – die fühlen sowohl Freeter als auch

Angestellte. Und deswegen halten sie diesen Zustand aus, bzw. bemühen sich, ihn

auszuhalten.“

Regie:

Atmo – Anti-Armutsbewegung-Flashmob: Stand up!

Sprecher:

Sono Ryota, Vizevorsitzender der Freeter-Bewegung.

Overvoice: O-Ton 41(Freeter-Undo-Vizevorsitzender Japanisch, wird übersetzt)

Was wir von der Politik erwarten, ist natürlich ein bedingungsloses Grundeinkommen

für alle.

Regie:

Faito, faito, kore kara desu. Kämpfe, kämpfe, ab jetzt gilt es!

Overvoice: O-Ton 42 (Amamiya Karin liest ihren Text auf Japanisch vor)

Wir starten den Gegenangriff.

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Gegen all jene, die junge Leute mit Niedriglöhnen abspeisen, um sich selbst zu

bereichern und sie dafür auch noch beschimpfen.

Gegen all jene, die im Namen der „Eigenverantwortlichkeit“ die Menschen in die Enge

treiben.

Wir starten den Gegenangriff.

Gegen all jene, die uns im Namen des Primats der Wirtschaft und der Marktprinzipien

zwingen, uns selbst auszubeuten, indem wir unsere sogenannten Kompetenzen weiter

entwickeln, nur um uns in eine Freiheit zu entlassen, in der immer, immer, immer nur

der Stärkste überleben kann.

Schuld daran sind die Firmen, die die Absicht verfolgen, ihre Gewinne zu erhöhen,

wenn sie Löhne drücken und Leute nach Belieben heuern und feuern. Für den Sieg in

der internationalen Konkurrenz wird der Jugend die Zukunft geraubt.

Regie:

TV-Zappen plus Musik, japanische Stimmen: Ganbatte kudasai!

Sprecher:

Du bist jetzt ein Angestellter und hast trotzdem Angst um Deinen Job. Ein

Themenschwerpunkt auf NHK beschäftigt sich eine Woche lang jeden Tag eine Stunde

mit der „Krise der Mittelschicht“. Danach zeigt der staatliche Fernsehsender fünf

Minuten lang schöne Bilder von Blumenwiesen, damit sich Dein Kimochi – Deine

Stimmung – wieder erholt. Es gibt keine Garantien mehr, keine Sicherheit. Und am

nächsten Morgen gehst Du in die Firma und arbeitest doppelt so hart. Damit Du nicht

das nächste Mal selbst im Fernsehen bist.

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Regie:

Sodateage-Net „Yoroshiku onegaishimasu“

Overvoice: O-Ton 44 (Kudo Kei auf Japanisch, wird übersetzt):

„Wenn es in Japans Firmen keine Freeter gebe, könnten die Unternehmen nicht

überleben. Das ist einfach ein strukturelles Problem. Und es gibt sicher auch Leute, die

Freeter werden wollen oder das ganz gut finden. Man kann sich aussuchen, was man

zur Arbeit anzieht, kann sich die Zeit selber einteilen und man verdient ganz gutes

Geld von Anfang an – aber wie sieht das zehn oder zwanzig Jahre später aus? Daran

denken die jungen Leute noch nicht. Sie wissen nicht, was es wirklich heißt, Freeter zu

sein. Das muss man ihnen wirklich deutlich und ehrlich sagen, finde ich.“

Overvoice: O-Ton 45 (Prof. Genda auf Japanisch, wird übersetzt)

Es ist überhaupt nicht so, dass die Lebensweise der Angestellten glücklich macht. Es

gibt viele, die diese Form der Arbeit alleine gesundheitlich nicht aushalten. Meiner

Ansicht nach wäre es für Japan wesentlich besser, wenn mehr Leute ihr eigenes

Business aufmachen würden. Das Geheimnis der japanischen Stärke lag keineswegs

nur in den großen Firmen begründet wie Sony oder Panasonic, es lag vor allem an den

vielen kleinen Businesses. Es wäre besser, wenn sich dieser Geist wieder durchsetzen

würde: Ich arbeite für mich.

Sprecher:

Auch Sono Ryota von der „Freeter-undo“ weiß, dass sich in Deinem Land für alle

etwas ändern muss. Niemandes Zukunft sollte mehr der Profitmaximierung geopfert

werden, sondern alle sollen gut arbeiten und leben können. In der Freeter-Bewegung

sind deswegen alle willkommen, auch Du als Angestellter.

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Overvoice: O-Ton 46 (Sono Ryota auf Japanisch, wird übersetzt)

Ob Freelancer, Arubaito, Arbeitslose, Festangestellte – wir machen das hier alle

zusammen. Da sollte man keine Unterschiede machen!

Absage:

„Heimatlos. Tokios digitale Tagelöhner.“ Feature von Serotonin.

Mit: Bernhard Schütz, Sprecher, Jule Böwe, Overvoice.

Originalaufnahmen von:

Amamiya Karin, Kudo Kei, Genda Yuji, Sugimura Taizo, Lisette Gebhardt, Sono Ryota,

Ayako und anderen.

Musik: Matthias Pusch

Regie und Realisation: Serotonin

Redaktion: Annette Blaschke

Eine Produktion im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks, des Südwestrundfunks und

von DeutschlandRadio Kultur 2011,

(gefördert von der Filmstiftung Nordrhein Westfalen).