antike und abendland

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Antike und Abendland

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Antike und Abendland

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Antikeund

AbendlandBeiträge zum Verständnis der Griechen und Römer

und ihres Nachlebens

herausgegeben von

Werner von Koppenfels · Helmut KrasserWilhelm Kühlmann · Peter von Möllendorff

Christoph Riedweg · Ernst A. SchmidtWolfgang Schuller · Rainer Stillers

Band LIII

2007

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 4: Antike und Abendland

Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Bo-berweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, GermanistischesSeminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Institut für Altertumswis-senschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Christoph Riedweg,Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Ernst A. Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelm-str. 36, 72074 Tübingen – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560,78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Mar-burg, Wilhelm-Köpke-Str. 6 D, 35032 Marburg. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und denDruck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten.Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückge-schickt werden.

Abstracts sind publiziert in / indexiert in:

Arts and Humanities Citation Index · Current Contents Arts and Humanities · Dietrich’s Index philosophicus ·IBR – Internationale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriften-literatur / IBZ – Internationale Bibliographie geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur

ISBN (Print): 978-3-11-019236-0ISBN (Online): 978-3-11-019237-7

ISBN (Print + Online): 978-3-11-019238-4

ISSN 0003-5696

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb derengen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in GermanySatz: Dörlemann Satz, 49448 Lemförde

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Inhaltsverzeichnis

Jonas Grethlein, FreiburgVariationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im

20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Gregor Vogt-Spira, MarburgSecundum verum fingere. Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und

Fiktionalität: Epistemo-logische Überlegungen zur hellenistisch-römischenLiteraturkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Thorsten Fögen, BerlinAntike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren . . . . . . . . . . . . 39

Giampiero Scafoglio, NapoliElementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Andreas Heil, DresdenChristliche Deutung der Eklogen Vergils. Die Tityre-Initiale im Codex

Klosterneuburg CCl 742 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Robert Porod, GrazVon der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität:

Überlegungen zu Lukians Schrift ��« ��� ¹���� �������� . . . . . . 120

Angelika Starbatty, MünchenKaiser und Gott in den Panegyrici Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Eckard Lefèvre, FreiburgDaniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5) . . . . . . . . . . . 166

Florian Schaffenrath, InnsbruckEin angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator. Niccolò Giannettasios

Verweise auf frühere und kommende Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Peter Habermehl, BerlinOrfeus in Niedersaxn. Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos» . . . . 190

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VI

Mitarbeiter des Bandes

Dr. Thorsten Fögen, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Klassische Philologie,Unter den Linden 6, 10099 Berlin

Prof. Dr. Jonas Grethlein, Department of Classics, Mail Code 3120,University of California, Santa Barbara, CA 93106–3120

PD Dr. Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische-Akademie der Wissenschaften,Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin

Dr. Andreas Heil, Technische Universität Dresden, Fakultät Sprach-,Literatur- und Kulturwissenschaften, Zeunerstraße 1e, 01062 Dresden

Prof. Dr. Eckard Lefèvre, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,Seminar für Klassische Philologie, Werthmannplatz 3, 79085 Freiburg

Prof. Dr. Robert Porod, Institut für Klassische Philologie der Karl-Franzens-UniversitätGraz, Universitätsplatz 3/II, 8010 Graz, Austria

Prof. Giampiero Scafoglio, Via Manzoni 210, 80046 San Giorgio a Cremano (Napoli),ITALIA

Dr. Florian Schaffenrath, Institut für Sprachen und Literaturen, Bereich Latinistik,Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Austria

Angelika Starbatty, Schleißheimerstraße 60, 80333 München

Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira, Seminar für Klassische Philologie der Philipps-Universität,Wilhelm-Röpke-Straße 6, Block D, 35032 Marburg

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 1

Jonas Grethlein

Variationen des «nächsten Fremden»1.Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert

In seiner Dissertation über Aischylos und das Handeln im Drama schreibt Bruno Snell:«Hiketiden und Perser wirken archaisch vor allem deswegen, weil sie nicht eine folgerichtigeHandlung aufbauen, sondern eine Reihe großer Bilder an uns vorüberziehen lassen. EinPlan der Handlung, dem sich auch das Geringste eingliedert, existiert nicht.»2 Ähnlich be-schreibt Thomson die Perser: «A queen and a number of old men stand or move aboutlistening to bad news. [The Persians] is little more than a lamentation for the fall of greatand ancient Persia as a notable instance of God’s vengeance upon earthly pride.»3 Es ließesich ein ganzer Chor von Philologen anführen, welche die Statik der Perser beklagen.4

Und in der Tat, die erste uns vollständig erhaltene Tragödie glänzt nicht durch ein Über-maß an «action». Vergegenwärtigen wir uns kurz die Handlung: In der Parodos singt derChor, bestehend aus alten Persern, vom Feldzug des Xerxes gegen Griechenland. Sie selbstsind als Wächter in Susa zurückgeblieben und warten auf Nachrichten vom Schlachtfeld.Der Chor rühmt die Stärke des Heeres, zugleich verrät er aber auch Sorge – alles mensch-liche Handeln, auch das des Mächtigsten, kann scheitern.

Im ersten Epeisodion gesellt sich Xerxes’ Mutter, Atossa, dazu und erzählt von einemschlimmen Traum. In ihm spannte Xerxes zwei Schwestern, eine in griechischem, die an-dere in persischem Gewand, unters Joch. Die Griechin riß sich los und brachte Xerxes zuFall. Beunruhigt von diesem Traum, wollte Atossa opfern, wurde aber durch ein Vogelzei-chen noch weiter verstört: ein Falke, der einen Adler jagt und bezwingt.

Kaum ist es den alten Männern gelungen, Atossa zu beruhigen, da kommt ein Bote, derschreckliche Kunde bringt: Das persische Heer ist nicht nur bei Salamis unterlegen, son-dern fast völlig aufgerieben worden. Nur wenige, unter ihnen Xerxes, haben die Schlachtund den sich anschließenden Rückzug überlebt.

Im ersten Stasimon beklagt der Chor die Niederlage und den Schaden für das persischeReich. Atossa bittet dann den Chor, den Geist ihres Mannes, des Dareios, zu beschwören,den sie um Rat fragen will. Auf die Beschwörung im zweiten Stasimon hin erscheint derGeist des Dareios und läßt sich von seiner Frau die Ereignisse erzählen. In scharfen Wortenverurteilt er das Tun seines Sohnes als Hybris und sieht in dem Desaster die unerwartet

1 Die Bezeichnung der Antike als das «nächste Fremde» stammt von Hölscher 1965, 81. Der Verfasser danktBernhard Zimmermann sowie den Herausgebern von «Antike & Abendland», besonders Ernst A.Schmidt, für Hinweise und Anregungen. Der griechische Text folgt, sofern nicht anders angegeben, derAusgabe von West 21998; die Übersetzungen basieren auf Schadewaldt 1964.

2 Snell 1928, 68. S. bereits v. Wilamowitz-Moellendorff 1914, 48: «Aber die Einheit der Handlung hat er nochnicht erreicht. Es ist sehr beherzigenswert, daß Aischylos noch 472 eine Tragödie ohne jede Einheit derHandlung bauen konnte.»

3 Thomson 1973, 77.4 S. die Sammlung kritischer Urteile in Holtsmark 1970, 5–7.

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schnelle Erfüllung eines alten Orakels. Schließlich prophezeit er die Niederlage von Salamisund rät dem Chor, nie wieder gegen Griechenland zu ziehen.

Auf den Abgang von Dareios folgt das dritte Stasimon. In ihm schwelgen die alten Perserin Erinnerungen an die Herrschaft des alten Königs – welch ein Kontrast zur gegenwärtigenMisere! Das Ende des Stückes bildet dann die Rückkehr des Xerxes. Der in Lumpen ge-hüllte König und der Chor stimmen im Wechselgesang eine Klage an.

Selbst für eine griechische Tragödie sind die Perser arm an äußerer Handlung. Trotz sei-ner Statik hat Aischylos’ Stück eine ganze Reihe von neuen Übertragungen und deren In-szenierungen angeregt.5 Im folgenden sollen einige dieser Adaptionen aus dem 20. Jh. vor-gestellt werden. Dabei werden sowohl Übersetzungen als auch Übertragungen und derenAufführungen, in einem Fall sogar eine Ausstrahlung im Radio, herangezogen (I).6 Der Ge-schichte der antiken Tragödie in der Gegenwart nachzugehen, ist nicht nur an sich ein loh-nendes Unterfangen, sondern der Horizont moderner Übertragungen und Inszenierungenerlaubt es uns auch, neue Fragen an antike Tragödien zu stellen.7 Dementsprechend sollenzweitens die aischyleischen Perser im Lichte ihrer modernen Adaptionen betrachtet werden(II). Abschließend wird auf die Poetik des Aristoteles zurückgegriffen, um die Beobachtun-gen zu konzeptionalisieren. Der Reiz der Perser für die moderne Bühne, so wird sich zei-gen, beruht auf dem gleichen Prinzip, das die Perser bereits im 5. Jh. interessant machte,wenn auch in diametral entgegengesetzter Weise (III).

I

Im Jahre 1914 übersetzte Lion Feuchtwanger die Perser im «Mittelweg zwischen Philologieund Dichtung»8. Er nutzte dafür eine vierwöchige Schonfrist, die ihm nach seiner Rück-kehr aus Italien und Tunis vor seiner Einberufung gewährt wurde.9 Seine Übersetzungerschien sogleich in der Zeitschrift «Die Schaubühne» und wurde in Teilen auch in der re-

5 Zu Aufführungen antiker Tragödien auf der modernen Bühne s. u. a. Walton 1987; Flashar 1991; Taplin1991, 51–79; Colakis 1993; Hartigan 1995; die Beiträge in Hall et al. eds. 2000; 2004; Hall/ Macintosh, eds.2005. Allgemein zur Rezeption der griechischen Tragödie s. v. Fritz 1962; Friedrich 1967; Mueller 1980;Burian 1997; Hölzl et al. eds. 1998.

6 Es erscheint sinnvoll, zwischen Übersetzungen und Übertragungen zu differenzieren. Während Überset-zungen vor allem dem Originaltext verpflichtet sind, sind Übertragungen stärker am Transfer in die Ge-genwart interessiert. Beiden liegt aber ein «Übersetzungsvorgang» zwischen dem Horizont, in dem derText entstanden ist, und dem Horizont der Gegenwart zugrunde. Dieser «Übersetzungsvorgang» wird ineiner Inszenierung durch Bühnenbild, Requisiten etc. über den Text hinausgeführt. Als hermeneutischesModell sowohl für Übersetzung, Übertragung und Inszenierung kann Gadamers Kategorie der «Applika-tion» dienen (61990, 312–346). Zur Übersetzung von griechischen Tragödien s. Burian 1997, 271–276, zurÜbersetzung von Dramen Upton, ed. 2000 und zu den Implikationen von Übersetzung im allgemeinenHardwick 2000.

7 Cf. Foley 1999; 2000/2001. Auch McDonald 1992, 10 f. plädiert für eine wechselseitige Befruchtung vonwissenschaftlicher Untersuchung und gegenwärtiger Aufführungspraxis.

8 Feuchtwanger 1984, 11.9 Cf. v. Sternburg 1994, 134–136; 154 f. In Syrakus sah Feuchtwanger eine Aufführung des Agamemnon, die

er allerdings scharf kritisierte. V. Sternburg 1994, 155 f. interpretiert Feuchtwangers Übertragung der Perserals eine «Frucht der Begegnung mit diesem griechischen Tragödiendichter im weiten Rund des Amphithea-ters von Syrakus und seine erste literarische Reaktion auf die deutschen Zustände».

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 3

nommierten «Zukunft» abgedruckt.10 Die Uraufführung fand am Münchner Schauspiel-haus unter Eduard Schorrer-Santer 1917 statt. Aufführungen in weiteren Theatern folgten.11

Die Rezeption der Aufführungen entsprach allerdings nicht Feuchtwangers Intention.Die Kritiker lobten das «patriotische Werk», man identifizierte die Perser mit den Feindendes Deutschen Reiches und verstand die Aufführungen deswegen als künstlerische Unter-stützung der deutschen Politik.12 In der Tat hatte die aktuelle politische Situation Feucht-wanger dazu angeregt, die Perser zu übersetzen,13 allerdings in ganz anderer Weise. Feucht-wanger war entsetzt angesichts der Kriegs-Propaganda, die den Gegner auf jedeerdenkliche Weise verunglimpfte.14 Im Vorwort zu seiner Übersetzung schreibt er:

«Die Perser werden nicht geschmäht, es ist nirgends vom perfiden Persien die Rede: imGegenteil, sie sind tapfer; ja, selbst der göttertrotzende Übermut des Xerxes wird mit desKönigs Jugend entschuldigt, und der alte Dareios gar wird – gegen das bessere Wissen desDichters – als milder, erhabener, gottgleicher Herrscher geschildert. Es ist kein trunkenesHurra-Schreien in dem Stück, sondern überall starkes, stolzes, selbstverständliches Ver-trauen in die Fügung der Götter.»15

Das menschliche Portrait des Gegners ließ die Perser Feuchtwanger als einen willkomme-nen Kontrast zum «trunkenen Hurra-Schreien» seiner Zeit erscheinen.

Briefe aus späterer Zeit lassen erkennen, daß Feuchtwanger darüber hinaus auch Paral-lelen zwischen dem persischen und dem deutschen Imperialismus sah.16 An Kantorowiczschreibt er im Jahre 1943 über seine Tätigkeit während des 1. Weltkrieges:

«Auf verhüllte oder auch offene Art gegen die deutschen Eroberungspläne geschrieben.Die ‹Perser› des Aischylos übersetzt, den ‹Frieden› des Aristophanes, ein Stück gegen denImperialismus geschrieben, ‹Warren Hastings›, das während der Krieges von den Englän-dern scharf angegriffen und nach dem Krieg von ihnen gespielt wurde.»17

10 Feuchtwangers Übersetzung wurde außerdem 1915 vom Charlottenburger Verlag der Schaubühne und 1917vom Georg Müller Verlag (München) gedruckt.

11 Auf Feuchtwangers Übersetzung wurde auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zurückgegriffen, bei-spielsweise in einer Inszenierung in Stuttgart 1963, cf. Flashar 1991, 206 Anm. 26.

12 Cf. Dietschreit 1988, 7; v. Sternburg 1994, 175–177. Eine Ausnahme bildete die Besprechung von Eisner inder linken Münchener Post.

13 Feuchtwangers Interesse an der Vergangenheit als Archiv, dessen Parallelen die Gegenwart beleuchten kön-nen, zeigt sich noch deutlicher in seinen historischen Romanen, cf. Ongha 1982. Eine theoretische Refle-xion über historische Analogieschlüsse findet sich in Feuchtwangers Rede beim Ersten InternationalenSchriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris (s. Feuchtwanger 1956, 508 ff.)

14 Feuchtwanger waren aber patriotische Gefühle nicht fremd, cf. v. Sternburg 1994, 154 f.15 Feuchtwanger 1984, 9.16 Es ist nicht ganz einfach, sichere Anhaltspunkte für eine solche Interpretation in der Übersetzung zu fin-

den, die dem griechischen Text recht nahe ist. Für v. Sternburg 1994, 177 sind die folgenden Verse eine klareAnspielung an die Situation des Kaisers, der unter den «Übervätern» Bismarck und Moltke litt, 33: «Eslockte schlechter Freunde schlimmer Rat / Den Allzukühnen. Du, so sagten sie, / Du habest Reichtum dei-nem Haus erkämpft, / Mit Schwertesschärfe; er indes, unmännlich, / Sei Krieger nur im eigenen Palast /Und laß an Vaters Schätzen sich’s genügen. / So häuften sie ihm Schmach, bis ihn der Hohn / Zu diesemHeerzug gegen Hellas trieb.» Da Feuchtwanger hier dem aischyleischen Text (753–758) recht genau folgt,mag man bezweifeln, daß es sich um eine Anspielung handelt – was aber nicht heißt, daß Feuchtwangerund zeitgenössische Leser und Zuschauer die Parallele, auf die v. Sternburg hinweist, nicht gesehen hätten.

17 Feuchtwanger 1991, II 202, Brief an Kantorowicz vom 21. 1. 1943. S. a. Feuchtwangers Brief an den Auf-bau-Verlag vom 28. Januar 1952 (1991, I, 493 f.): «Freuen würde ich mich auch, wenn meine Versdramenneu aufgelegt würden, ‹Vasantasena›, meine Bearbeitung des ‹Frieden› von Aristophanes und meine Nach-

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Während die Kritiker in den Persern also die Gegner Deutschlands sahen, war für Feucht-wanger das Scheitern der Perser eine Warnung an das Deutsche Reich.18

Die Offenheit der Perser für verschiedene politische Interpretationen zeigt sich in zweiAufführungen, die zwar fast zur gleichen Zeit stattfanden, aber entgegengesetzten Inten-tionen folgten. Nachdem in den 30er Jahren in Deutschland nur ganz wenige griechischeTragödien zur Aufführung gekommen waren, wurden während des 2. Weltkrieges nebenmodernen Dramen mit antiken Gestalten verstärkt griechische Tragödien, vor allem vonSophokles, auf die Bühne gebracht. Der Aias, die Trachinierinnen und die Elektra botensich an als Auseinandersetzungen mit Krieg, Leiden und Heldentum.19 1942 wurden inGöttingen auch die Perser des Aischylos aufgeführt – angesichts der Situation an der Ost-front bot die Niederlage der Perser einen Präzedenzfall für den erfolgreichen Kampf gegeneine östliche Übermacht.

Einer ganz anderen Interpretation war die Radio-Übertragung der Perser in MurraysÜbersetzung vom britischen Home Service im Jahre 1939 gefolgt.20 Hier war der persischeExpansionsdrang Spiegel für den deutschen Imperialismus. Die Perser wurden also im2. Weltkrieg sowohl von Deutschen als auch Engländern in ihrem Sinne gedeutet – abhän-gig von der Perspektive diente Xerxes mit seinem Heer als Chiffre entweder für russischeTruppen oder deutsche Angreifer.

Wenden wir uns einem weiteren Beispiel der Perser-Rezeption im 20. Jh. zu. MattiasBraun verfaßte eine Übertragung, die 1960 am Berliner Schillertheater unter Hans Lietzauuraufgeführt wurde und in den 60er Jahren immer wieder auf die Bühne kam. Braun gehtrecht frei mit dem aischyleischen Stück um: Er spaltet den Chor in fünf Individuen auf undführt als zusätzliche Figur einen Statthalter ein, der in Xerxes’ Abwesenheit über Susawacht.21 Dem Tyrannen Xerxes stehen die Choreuten als einfache Männer aus dem Volk,sozusagen antike «Protoproletarier»,22 gegenüber. Nicht nur der Chor diskutiert die Frage,wie man sich dem Tyrannen gegenüber verhalten soll – sich ducken oder ihn stürzen, son-dern auch Atossa wird von Dareios’ Geist dazu aufgefordert, ihren eigenen Sohn zu töten,um das Leben vieler zu retten.

Braun behält den antiken Hintergrund bei, aber die Gegenüberstellung von Volk undHerrscher gibt seiner Adaption eine marxistische Färbung, und die Darstellung von Xerxes

dichtung der ‹Perser› des Aischylos. Ich glaube, die aktuelle Bedeutung gerade dieser letzten beiden Stückemüßte von jedem verstanden werden.» Feuchtwanger 1963, 413 beschreibt die Perser als «jenes Werk, dasdem Feinde so großartig gerecht wird und welches auf der anderen Seite den Übermut des Machtgierigenund die Strafe dieses Übermuts in so mächtigen Versen darstellt.»

18 Ein Übersetzungsversuch aus den 20er Jahren sei noch erwähnt: Borchardt arbeitete 1922 an einer Über-setzung der Perser, die aber Fragment blieb (sie reicht bis Vers 444). Das Fragment wurde 1931 in der Zeit-schrift «Corono» veröffentlicht (s. Borchardt 1958). Auch wenn Borchardts Übersetzung dem griechischenText sehr nahe ist, so läßt sich doch vermuten, daß sein Interesse an den Persern durch die Zeitgeschichteangeregt wurde.

19 Cf. Flashar 1991, 168 f. Der Aias wurde aufgeführt am Bayrischen Staatsschauspiel München (1943), die Tra-chinierinnen am Stadttheater Düren (1944) und die Elektra am Prinzregententheater in München (1941),Stadtheater Guben (1941), Stadttheater Göttingen (1941), Schauspielhaus Düren (1941) und Staatsschau-spiel in München (1944).

20 Cf. West 1984, 216. Während des 2. Weltkrieges wurden auch die Sieben gegen Theben in Murrays Über-setzung im Radio ausgestrahlt.

21 Cf. Trilse 1975, 151 f. Nach Trilse entstand die Übertragung aus dem Versuch einer wortgetreuen Überset-zung (145).

22 S. beispielsweise das Lob des einfachen Lebens in Braun 1969, 55 f.

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erinnert an Adolf Hitler.23 Die Antike dient dazu, ganz im Brechtschen Sinne Diktatur undMilitarismus im 20. Jh. zu verfremden. Auf der Bühne wurde Brauns Stück zuerst als Pa-rabel für Amerikas Intervention in Korea und dann in mehreren Aufführungen als Parabelfür den Vietnamkrieg inszeniert.24

Das letzte Beispiel, das hier vorgestellt werden soll, ist Peter Sellars’ Inszenierung derPerser in der Übertragung von Robert Auletta, die zuerst im Rahmen der Salzburger Fest-spiele 1993 und danach noch beim Edinburgh-Festival, im Mark Taper Forum in LosAngeles und im Berliner Hebbel-Theater gezeigt wurde.25 Aulettas Übertragung folgt deraischyleischen Handlung stärker als die Version von Braun und enthält immer wieder mehroder weniger getreue Übersetzungen von Passagen des griechischen Textes.26 Am stärkstensind die Veränderungen der aischyleischen Vorlage am Ende in der Charakterisierung vonXerxes, den Auletta ausgiebig über seine Kindheit reflektieren und sich damit ein vonFreud nicht unberührtes Psychogramm erstellen läßt. Außerdem wird der Kampf der Per-ser gegen die Griechen mit dem der Iraker gegen die Amerikaner überblendet. So sind dieKriegsbeschreibungen nicht nur aktualisiert, sondern evozieren Bilder des Golfkrieges.27 Inseiner Schlachtbeschreibung sagt der Bote beispielsweise (39):

For a long time there was nothing,As we lay motionless in the desert …Dug into trenches … sandbagged …Surrounded by fields of landmines,And moats of oil …

Darüber hinaus wird Athen auch unverhüllt als Amerika bezeichnet. Atossa beipielsweisesagt (37):

I curse the name of America.What she has taken from us –Cutting from each Persian woman,A living husband, or a son, or a father;Or more; immeasurable, all immeasurable;And now our city too is being bombed,And the women themselves being killed.

In diesen Versen läßt sich in nuce Aulettas Umgang mit dem aischyleischen Text erfassen.Werfen wir einen Blick auf die zugrundeliegenden Verse bei Aischylos, 286–289:

������� � κ �� �«α�������� � � ����,³« P����� � ���« �����Κ���« ��������  # $���� �«.28

23 Cf. Trilse 1975, 151.24 Cf. Trilse 1975, 154–156.25 Hartigan 1995, 104 Anm. 2 nennt weitere amerikanische Aufführungen aus den Jahren 1993/1994.26 Hall 2004, 180 betont zudem, Auletta’s Adaption sei «absolutely faithful to the emotional register of the

original».27 Das geringe Interesse von Sellars am ursprünglichen Kontext der Perser zeigt sich bereits, wenn er schreibt,

die Perser seien mehr als zehn Jahre nach der Schlacht von Salamis aufgeführt worden (1993a, 7).28 Für den Text der Verse 288 f. folge ich der Ausgabe von Page 1972 mit den Konjekturen von Weil und

Boeckh.

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6 Jonas Grethlein

Athen verhaßt den Unglückseligen!Ja daran denken muß man,Wie viele der Perserfrauen es –Für nichts! –Gemacht zu Witwen und männerlos.

Atossas Bemerkung, Athen sei seinen Feinden verhaßt, wird zu einem Fluch, und der Ver-lust der Ehemänner wird durch den Verlust von Söhnen und Vätern variiert. Hier ver-schärft Aulettas Übertragung also den aischyleischen Text. Das Bombardement der Stadtist dagegen hinzugefügt. Es evoziert nicht nur einen modernen Krieg, sondern erzeugt eineParallele zu den amerikanischen Angriffen auf Bagdad. Die Überblendung von Salamis undGolfkrieg zeigt sich in den Ländernamen: Ganz unvermittelt treffen hier die Horizonte desgriechischen Originals und der Aktualisierung aufeinander, wenn dem zeitgenössischenAmerika das antike Persien gegenübersteht.

In Aulettas Übertragung und Sellars Inszenierung bleibt der despotische Charakter vonXerxes’ Herrschaft sichtbar,29 aber der Fokus ist auf das Leiden der Perser bzw. Iraker ge-richtet. Im Programmheft zur Aufführung bei den Salzburger Festspielen beklagt Sellarsdie einseitige Dokumentation des Irakkrieges in den Nachrichtenmedien.30 Auch im Stückselbst findet sich Medienkritik. So fragt der Chor (40):

Why don’t they put it all on television? –The sight of our dead,The screams of our agony,And let the world seeThe fruits of their labor?31

Angesichts dieser Situation sieht Sellars im Theater ein alternatives öffentliches Informa-tionssystem.32 Seine Perser-Inszenierung sei der Versuch, den Irakern eine Stimme zu ver-leihen:

«What can’t be shown on television can be said on the stage. In America the war in Iraqwas shown with no Iraqis at all – dead or alive. So, in this evening, we’re saying come andmeet a few.»33

29 So werden Folter und Mord erwähnt, s. beispielsweise Atossa in 31 f.: «I’ve heard the cries. / I’ve alwaysknown … you see, / What rulers must do … / Deep in the basements, / What really happens there – / Menand women shackled … sound drifts … / Descending in the elevators … / Darius had to; / But somehow itgot much worse / In the rule of Xerxes … / The terror of it all … / … this palace built of human flesh, / Andveined with living blood.» S. a. 47 f. und 64. Cf. Hall 2004, 177–179.

30 Zu Sellars’ Medienkritik s. a. Sellars 1993b.31 Im Stück wird nicht nur die mangelhafte Berichterstattung angeprangert, sondern auch eine Verbindung

zwischen Krieg und der Darstellung von Gewalt in Medien hergestellt, wenn der Bote sagt (45): «As a childI’d love / To watch monster movies; / These Japanese made monsters / Seemed to jump right out / Of the te-levision set, / And take me in their jaws, / Shaking me … filling me, / With this child terror, delighting me. /But now … the monsters and terrors / Are suddenly real American made monsters – / Rambo, The Termi-nators, / Torn from their Hollywood homes … / Fantasy screens … and set down upon us … / Given per-mission for a true killing spree … / Breathing bullets … the true American way.»

32 Sellars 1993a, 8.33 Sellars in einem Artikel von Pappenheim («The Greeks have a word for it») im Independent vom 16. August

1993.

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 7

Was fällt bei der Betrachtung der hier vorgestellten Perser-Adaptionen auf? Am verblüf-fendsten ist wohl die Vielfalt der Perspektiven, in welche das Stück gestellt worden ist. Be-reits bei unserer ersten Station, der Übersetzung von Feuchtwanger, konnten wir feststel-len, daß der intendierten Warnung die Rezeption als patriotisches Stück gegenübersteht.Während 1939 die Perser im britischen Radio als Spiegel für die Bedrohung durch das Deut-sche Reich dienen, sind sie nur drei Jahre später in Deutschland Chiffre für eine asiatischeÜbermacht. Diesen Adaptionen sowie der Übertragung von Braun ist aber gemeinsam,daß Xerxes und die Perser Sinnbild für den Imperialismus sind.

Demgegenüber folgt Sellars Inszenierung einer anderen Interpretation. In ihr sind diePerser vor allem Opfer und die Aufmerksamkeit gilt ihrem Leiden. Während die übrigenAdaptionen die Perser als das problematische «andere» inszenieren, erregen sie in SellarsVersion das Mitleid der Zuschauer.

Ein zweiter Aspekt hängt eng mit der Vielfalt der Perspektiven zusammen. In allen vonmir vorgestellten Übersetzungen und Übertragungen besteht ein enger Zusammenhangzwischen der antiken Handlung und der Gegenwart. Feuchtwanger dient die Schlacht vonSalamis als Spiegel für den 1. Weltkrieg. Braun gestaltet seinen Xerxes als einen persischenHitler und bei Auletta schiebt sich der Golfkrieg sogar vor die Schlacht von Salamis.

Oft verstärken Inszenierungen die Aktualisierungen, so daß auch mit einer nahe beimaischyleischen Text bleibenden Übersetzung Gegenwart und Vergangenheit sich auf derBühne wechselseitig beleuchten können. Durs Grünbein etwa vermeidet in seiner Übertra-gung aus dem Jahre 2001 weitgehend Annäherungen an die Gegenwart.34 Aber bereits beider Uraufführung seiner Perser im Schloßtheater Dresden unter Niels-Peter Rudolph brin-gen Monitore, die links und rechts auf der Bühne Wüstenlandschaften zeigen, nicht nurmoderne Massenmedien ins Spiel, sondern evozieren auch den Golfkrieg.35 Die Perser,so können wir zusammenfassen, wecken vor allem als Chiffre für zeitgenössische KriegeInteresse.36

34 Für Grünbeins Übersetzung wirbt auf dem Buchrücken die Frage «Wo, um Himmels willen, liegt diesesAthen?» Aber selbst Grünbeins Übersetzung spielt mit Parallelen. Beispielsweise übersetzt er das griechi-sche ������� # ¹� � T��� � ������ / ���μ� $�!�"��%� &�� � 'E���� (49 f.), von Schade-waldt wiedergegeben mit «Und bereit stehn des heiligen Tmolos / Anwohner, um das Knecht-Joch / Hellasaufzulegen» mit «Und die vom Tmolus, dem heiligen Fluß, / Drohten: Und morgen gehört uns Griechen-land!», eine deutliche Anspielung an deutsche Kriegspropaganda.

35 Cf. Stephan 2002.36 Cf. Hartigan 1995, 102 f.; Favorini 2003, 110. Als Beispiel für eine Inszenierung, die auf Aktualisierung weit-

gehend verzichtet, sei Dimiter Gotscheffs Aufführung der Perser am deutschen Theater in Berlin aus demJahr 2006 genannt. Zwei jüngere extreme Adaptionen der Perser seien hier außerdem erwähnt: Wuttke ließ2003 die Perser als «Naturschauspiel mit Live-Video-Projektion» im brandenburgischen Neuhardenbergauf einem Flugzeughangar und Rollfeld aufführen (zugleich gezeigt als Fernsehadaption von ZDF und arte).Die Schauspieler bewegten sich auf dem ganzen Areal, wobei sie gefilmt wurden, so daß das Publikum sievon einer Tribüne aus sowohl realiter, wenn auch aus weiter Entfernung, als auch in Nahaufnahme aufsechs Leinwänden betrachten konnte. Zugrundegelegt wurde die Übersetzung von Grünbein, allerdingsmit vielen Streichungen und zahlreichen Zusätzen, welche die Assoziationen durch den Ort, die Nähe zuden Seelöwer Höhen und die frühere Nutzung als Regierungsflughafen der DDR, verstärkten und weitereAssoziationen weckten. So wurde beispielsweise Ernst Jüngers «blumige, blutbetaute Wiesen» zitiert undWuttke ließ seine Schauspieler Karten spielen mit einem Set, das irakische Politiker zeigt. Burckhardt 2003,39 bemerkt treffend: «The making of a B-movie oder Die Auflösung der Zentralperspektive. Die «Perser»hätte es dafür nicht unbedingt gebraucht.»Ist bei Wuttke bereits das «Spielfeld» erweitert, so überschritt 2003 die Düsseldorfer Künstlergruppe«hobbypopMUSEUM» die Grenzen des Mediums Theaters und machte aus den Persern eine begehbare In-

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8 Jonas Grethlein

II

Die beiden Beobachtungen, die so verschiedene Darstellung der Perser und die Tendenzzur parabelhaften Aktualisierung, sollen jetzt an das griechische Original herangetragenwerden. Wenden wir uns zuerst den verschiedenen Interpretationen zu – Imperialismus-Kritik oder Darstellung von Leiden? Die beiden Deutungen sind so verschieden, daß esscheinen mag, nur eine von ihnen sei möglich, und es handle sich entweder beim verächt-lichen Blick auf die Perser um eine chauvinistische Instrumentalisierung der Tragödie oderSellars Fokus auf die persischen Leiden entspringe einer gewollt boshaften Inversion derGriechen-Barbaren-Antithese.

Gegen diesen Anschein soll die These entwickelt werden, daß nicht nur beide Interpre-tationen sich auf den aischyleischen Text stützen können, sondern daß gerade die Span-nung zwischen diesen Aspekten den Erfolg der Perser in der Antike ausgemacht hat. DiePerser sind bei Aischylos sowohl das Fremde als auch das nächste.

Man wird im Stück nur schwerlich die Imperialismuskritik finden, die im Mittelpunktvieler moderner Adaptionen steht.37 So prangern weder der Chor noch Dareios eine ag-gressive Außenpolitik an; ganz im Gegenteil, Dareios rühmt, wie er und seine seine Väterdas persische Reich groß und bedeutend gemacht haben, und im dritten Stasimon schwelgtder Chor in der Erinnerung an Dareios’ Feldzüge.38 Kritisiert wird lediglich das Scheiternvon Xerxes.

Trotzdem können die modernen Adaptionen, in denen die Perser zu einem imperialis-muskritischen Stück werden, bei Aischylos’ Stück anknüpfen. So wird Xerxes’ Zug gegenGriechenland immer wieder als frevelhaft bezeichnet. Dareios verurteilt die Überbrückungdes Hellespont als einen Akt der Transgression und prangert das Schänden griechischerHeiligtümer an.39

Außerdem hat Hall eindrucksvoll aufgezeigt, wie die Perser in Aischylos’ Stück dasandere verkörpern.40 Ein wichtiger Aspekt der Alterität ist ihr politisches System, das alsTyrannis immer wieder der athenischen Demokratie gegenübergestellt wird. Im ersten Sta-simon beispielsweise singt der Chor, 584–594:41

stallation, cf. den Bericht in Theater heute 1/2003, 15. Zu weiteren zeitgenössischen Aufführungen der Per-ser s. Dreyer 2007.

37 Der Verfasser verdankt Ernst A. Schmidt den Hinweis auf eine Beobachtung von Uvo Hölscher 1994:388 f., nach der bereits in der Antike die Rezeption mythischer Figuren von Vereinfachungen bzw. Verzeich-nungen geprägt ist: «Schon die frühen Jahrhunderte nach Homer nehmen von ihnen nur noch das populärEingängige wahr, wandeln sie ins Charakteristische und Karikaturistische, und das ist, für ein aufgeklärtesPublikum, das Negative. Es war damals wie auf dem heutigen Regisseur-Theater: die Figuren der griechi-schen Mythen scheinen fast nur noch in der euripideischen Verzeichnung dem Publikum zugänglich.»

38 S. Dareios’ Ausführungen mit seiner Genealogie in 759–786, besonders 780 f.: �$��������� � ����(� � ��)� �����)�, / $��# * ���μ� � �+� �� �,"�� � �+�-�. Der Chor rühmt die Kriegszügeund Herrschaft des Dareios in 857–903. Mit einer Imperialismuskritik vertragen sich auch schlecht dieWorte des Chores in 102–107: �+�� ��� ���� M %�# .����-�� / �μ �����+�, .�,��-/ 0P,����« / � �,� �« ���� -���� �« / �,��� ¹��� 1����« / � ��+� �« �+��� �# $�������«.

39 744–750; 807–815.40 Hall 1989, 76–100, s. a. Hutzfeldt 1999: 24–96; Föllinger 2001.41 S. a. das Unverständnis der Königin dafür, daß die Griechen keinem Herren folgen, in 241–244. Zur Ge-

genüberstellung von griechischer Demokratie und persischem Despotismus in den Persern cf. Paduano1978, 101; Michelini 1982, 128; Goldhill 1988; Hall 1989, 93–98; Harrison 2000, 76–91.

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 9

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Doch die Völker der Asischen ErdeLassen sich nicht mehr langeNach persischer Satzung regieren.Nicht zollen sie mehr TributeUnter herrscherlichem Zwang,Noch fallen sie nieder zur Erde,Um sich befehlen zu lassen.Denn, wahrlich! Die königliche, sie istGanz vernichtet, die Kraft!Und nicht mehr in GewahrsamLiegt die Zunge den Sterblichen.Denn losgebunden ist das Volk,Um frei zu reden,Da gelöst istDas Joch der Macht.

Der despotische Charakter des persischen Reiches tritt klar zutage: Die Perser treiben vonihren Untertanen Abgaben ein und verlangen eine gottgleiche Verehrung; die Freiheit derRede, so wichtig für die griechischen Poleis, gibt es nicht. Wenn die Darstellung des persi-schen Frevels und Despotismus auch noch keine Imperialismuskritik ist, erzeugt sie docheine problematische Alterität, die in einer modernen Sicht leicht zu grundsätzlicher Kritikan militärischer Aggression werden kann.

Wie sieht es auf der anderen Seite mit Sellars’ Aufführung aus, die dem irakischen Leidenim Gewand des persischen die Aggression Athens alias Amerikas gegenüberstellt? Handeltes sich hier um eine willkürliche Umdeutung im Dienste der Provokation?

In der Tat werden die Athener im aischyleischen Stück nicht als Aggressoren charakteri-siert, sondern, gebrochen durch die persische Perspektive, gerühmt ob ihrer Tapferkeit.Dennoch ist es nur schwer vorstellbar, daß das athenische Publikum sich am Leiden derPerser auf der Bühne weidete und es nur als Spiegel des eigenen Erfolges wahrnahm.Immer wieder legen Gnomen es nahe, das persische Desaster als Beispiel der menschlichenFragilität im allgemeinen zu sehen.42 So fragt etwa der Chor in der Parodos, 93–100:43

42 Dieser Aspekt wird betont beispielsweise von Broadhead 1960, xxviii-xxix; Vogt 1972; Said 1981.43 Zu dieser und weiteren Stellen s. Grethlein 2007.

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10 Jonas Grethlein

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Doch dem list-sinnenden Trug des Gottes:Welcher sterbliche Mann entrinnt ihm?Wer, der mit schnellem FußWohlbeflügelten SprungsEnteilte?Denn freundlichen Sinnes schmeichelndZuerst, verführt den MenschenIn ihre Netze Ate,Die Göttin des Verderbens.Daraus vermag entschlüpfendKein Sterblicher zu entrinnen.

Dadurch, daß die Niederlage der Perser in den Rahmen der condicio humana projiziertwird, wird das athenische Publikum dazu angehalten, sie nicht nur als ihren eigenen Tri-umph zu sehen, sondern auch das Leiden der Perser als solches wahrzunehmen. Die Ver-blendung, welcher Xerxes anheimgefallen ist und unter deren Folgen die Perser zu leidenhaben, ist eine allgemeine Gefahr, von der Griechen nicht ausgenommen sind. DiesenAspekt, die mögliche Identifikation mit den Persern, hebt Sellars in seiner Inszenierunghervor, indem er die Schrecken des Krieges aktualisiert und zusätzlich Athen bzw. Amerikadie Rolle der imperialistischen Großmacht zuweist.

Während also die Inszenierungen, welche eine Kritik an Imperialismus und Militarismusin den Mittelpunkt stellen, auf die Darstellung Persiens als des anderen abheben, richtetSellars Version den Fokus auf das Leid der Perser im Horizont der condicio humana. BeideTendenzen lassen sich in nuce in einer Aussage von Dareios aufzeigen, 821–828:44

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Denn Überheblichkeit, herausgeblüht,Setzt fruchtend an die Ähre der Verblendung,Woher sie einen tränenreichen Herbst sich mäht.Die ihr für diese solcherlei Vergeltung seht:Denkt an Athen und Hellas! Und mag keiner,Gering den Daimon achtend, welcher ihm gegeben,

44 Cf. Grethlein 2007.

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 11

Nach anderem begierig, ausschütten den großen Segen.Wahrhaftig! Zeus, als Zuchtmeister, steht überDen gar zu hoch hinaus lärmenden Sinnesarten,Ein Einforderer schwerer Rechenschaft.

Auf der einen Seite räsoniert Dareios hier über das Desaster der Perser. Athen und Griechen-land, die triumphiert haben, sollen den Persern eine Lehre sein! Zugleich ist seine Reflexionaber allgemein formuliert: Zeus straft nicht nur persischen Frevel, sondern überhaupt Un-recht; auch die Griechen unterliegen seiner Macht.

Zwei Punkte machen wahrscheinlich, daß das athenische Publikum oder zumindest Teilevon ihm45 die Warnung des Dareios auch auf sich selbst beziehen würden. Dareios richtetseine Worte zwar auf der Bühne an die Perser, aber bei allgemeinen Aussagen kann der Im-perativ der zweiten Person Plural, ohne die dramatische Illusion aufzuheben, leicht dieGrenzen zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem verwischen und bewir-ken, daß die Zuschauer sich direkt angesprochen fühlen.46

Hinzu kommt, daß die Warnung, gegenwärtigen Segen nicht leichtfertig aufs Spiel zusetzen, nicht nur allgemein ist, sondern mehr Sinn im äußeren als im inneren Kommuni-kationssystem macht. Die Perser haben nach der Niederlage, wie Aischylos sie darstellt,nicht mehr viel zu verlieren. Athen dagegen steht am Beginn eines Aufschwungs. Wir müs-sen uns davor hüten, ex post in Dareios’ Worten eine Antizipation des athenischen Impe-rialismus zu sehen;47 aber es liegt nahe, daß das athenische Publikum die Warnung vorÜberheblichkeit auch auf sich bezogen hat.

Fassen wir kurz zusammen: Die gegensätzlichen Tendenzen in den modernen Versionender Perser fügen dem aischyleischen Original beide etwas hinzu: so enthalten die Perserweder eine grundsätzliche Kritik am Krieg noch weisen sie den Athenern die Rolle einesAggressors zu. Zugleich können sich aber beide Ansätze auf Aspekte in Aischylos’ Stückberufen. Dort steht der Stilisierung der Orientalen als des anderen die Betonung ihres Lei-dens als Ausdruck der condicio humana gegenüber.48

Kommen wir zur zweiten Beobachtung zu den modernen Adaptionen. Die meisten Über-tragungen und Inszenierungen der Perser sind, so hat sich gezeigt, um eine starke Aktua-lisierung bemüht. In ihnen wird der Perserkrieg zum Spiegel für einen zeitgenössischenKrieg, seien es nun die beiden Weltkriege, der Krieg in Vietnam oder der Golfkrieg.

In Aischylos’ Persern können wir eine gegenläufige Tendenz feststellen, nämlich eine Di-stanzierung. Die Seeschlacht von Salamis wird in das projiziert, was Pat Easterling «heroicvagueness»49 nennt. Die Handlung findet im fernen Susa statt und alle Charaktere sind Per-ser.50 Wie in den Grabreden und den Epigrammen zu den Perserkriegen wird kein einzigerGrieche namentlich erwähnt. Die Anonymität der Griechen dient nicht nur dazu, daß die

45 Pelling 1997, 17 f. betont zu Recht, daß man nicht von einer uniformen Wahrnehmung des Publikums aus-gehen könne, sondern daß die Perser unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen haben dürften.

46 Dazu s. anhand eines Beispiels in den Eumeniden Grethlein 2003, 223 f.47 Melchinger 1979, 36 geht hier wohl zu weit.48 Zur Spannung zwischen der Stigmatisierung der Perser als des «anderen» und ihrer Rolle des tragischen

Helden, der Mitleid hervorruft, s. Gagarin 1976, 30; Michelini 1982, 109; Pelling 1997, 17; Hutzfeldt 1999,79–81.

49 Cf. Easterling 1997. Zu den Persern in der Spannung zwischen Mythos und Geschichte s. Péron 1982.50 Cf. Vernant 1988, 244 f.; Hutzfeldt 1999, 80 f.

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12 Jonas Grethlein

Polis als handelnde Kraft erscheint, sondern bewirkt auch, daß das Ereignis von der Ge-genwart weggerückt wird.

Die spatiale Entfernung wird durch eine temporale Distanzierung ergänzt. Bereits die inder Tragödie übliche epische Färbung der Sprache51 bettet die Handlung in den Rahmen derheroischen Vergangenheit ein. Darüber hinaus finden sich in den Persern weitere epischeElemente; am auffälligsten sind wohl drei Listen persischer Soldaten.52 In der Parodos zähltder Chor Perser auf, die nach Griechenland gezogen sind (21–58), der Bote gibt eine Listeder Gefallenen (302–330), und in der Exodos hat die gemeinsame Klage von Xerxes undChor die Form eines Katalogs. Diese drei Listen erinnern stark an epische Kataloge, vorallem an den Katalog der Schiffe, in dem der Erzähler der Ilias die griechischen und trojani-schen Helden auflistet.

Der Bericht des persischen Boten erinnert nicht nur durch die Katalogform ans Epos,sondern evoziert grundlegender das Bild eines epischen Barden. In 429 f. reflektiert derBote auf die Grenzen seiner Berichterstattung:

���)� 0 �����«, *# ω� 4 ,�# =������ �1-� � �-�, *� ω� ������ � � �.

Der Übel Menge – und wollte ich zehn TageIn einem fort erzählen, ich könnte sie dir nicht erschöpfen.

Wie Barrett ausgeführt hat, erinnert diese Reflexion an die folgende Bemerkung des Erzäh-lers der Ilias in der Musen-Anrufung, 2, 488 f.:53

������ # *� ω� .�Ω ���3� ��� *# ?� �3��, *# @ � � ���� �0� ��)����, ���� 0 ��+���# ρ�.

Die Menge freilich könnte ich nicht künden und nicht benennen,Auch nicht, wenn mir zehn Zungen und zehn Münder wären.54

Der Bote verzeitlicht die Feststellung des epischen Erzählers, Vollständigkeit in einer Er-zählung sei unmöglich, und macht aus ihr eine Reflektion über Erzählzeit und erzählteZeit. Selbst wenn die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit – zehn Tage Erzählung füreine eintägige Schlacht, kann eine Erzählung keine getreue Wiedergabe eines Ereignissessein. Mit diesen Anklängen stilisiert sich der Bote wie ein epischer Barde und entrückt daszeitgeschichtliche Ereignis in die «heroic vagueness».

Während die unterschiedlichen Tendenzen in der Darstellung der Perser auf das griechi-sche Original zurückgeführt werden konnten, ist jetzt festzustellen, daß der in allen Adap-tionen beobachtbaren Aktualisierung die Distanzierung des Ereignisses im Stück gegenüber-

51 Zur epischen Sprache in den Persern s. Stanford 1942, 26; Sideras 1971, 98–200; 212–215; Said 1988, 326 f.und Garner 1990, 22–24. Hall 1989, 79 und 1996, 24 vertritt die These, die epische Sprache helfe, die Perserals fremd zu charakterisieren. Außerdem betont sie, daß epische Sprache in der Tragödie nicht nur kopiert,sondern vielmehr transformiert werde (1996, 24).

52 Zur Verbindung der drei Kataloge s. Said 1988, 332 f., zum epischen Hintergrund s. Albini 1967,256; Paduano 1978, 51–70; Michelini 1982, 15; 77; Said 1988, 329. Belloni 1982, 195 f. betont die Unter-schiede zu epischen Katalogen. Hall 1989, 76 nennt «the cataloguing technique of Ionian logography»als einen weiteren Hintergrund. Die persischen Namen sind erfunden, cf. Lattimore 1943, 82–87; Bacon1961, 23 f.

53 Cf. Barrett 1995.54 Die Übersetzung stammt von Schadewaldt 1975.

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steht. Die Schlacht von Salamis, die moderne Übertragungen und Inszenierungen an dieGegenwart heranholen, ist von Aischylos in ein mythisches Register distanziert worden.

III

Ein Aspekt der aristotelischen Rezeptionstheorie kann beide Beobachtungen erklären undeinen Grund sowohl für die eminente Bedeutung der Tragödie im 5. Jh. als auch für das In-teresse an ihr in der Gegenwart geben.55 Wenden wir uns also in einem letzten Schritt Ari-stoteles zu. Nach Aristoteles bewirkt die Tragödie bei den Zuschauern eine Katharsis, in-dem sie Mitleid und Furcht hervorruft.56 Das Empfinden von Mitleid sei aber an bestimmteVoraussetzungen gebunden: der Leidende müsse schuldlos sein57 und eine Ähnlichkeitoder Nähe zum Rezipienten aufweisen.58 Dadurch könne sich der Rezipient mit dem Lei-denden vergleichen und, indem er sich in ihn hineinversetzt, mitleiden.

Zugleich betont Aristoteles, daß Mitleid von Furcht verdrängt werde, wenn der Lei-dende dem Rezipienten zu nahe stehe. Hier überlagert die Sorge um die eigene Person dieAnteilnahme am anderen. Mitleid und Furcht als Reaktion auf Tragödien setzen also eineBalance von Nähe und Distanz des Rezipienten zum Leidenden voraus. Es muß ein Bezugzum eigenen Leben möglich sein, der aber nicht so stark sein darf, daß sich die Sorge umdie eigene Person zu sehr in den Vordergrund schiebt.59

Diese Formel, die Balance zwischen Nähe und Distanz, beschreibt genau die Spannung,die wir in der Darstellung der Perser in modernen Versionen feststellen konnten. Die An-dersartigkeit der Perser erzeugt die Distanz, welche das Mitleid voraussetzt. Das Leid derFeinde ist nicht das eigene. Zugleich erzeugen die Gnomen und die Betonung der condiciohumana einen gemeinsamen Horizont und damit genügend Ähnlichkeit, daß ein atheni-scher Zuschauer das Leid der Perser auf sich übertragen kann und von ihm gerührt wird.Während die imperialismuskritischen Adaptionen die Distanz hervorheben, tritt bei Sellarsdas menschliche Leiden und damit die Nähe in den Vordergrund.

Zwei Vergleiche, der erste werkimmanent, der zweite zu einer anderen Tragödie, könnendie Balance zwischen Nähe und Distanz verdeutlichen. Der Chor fungiert in der erstenHälfte als ein «inneres Publikum».60 Genauso wie die Zuschauer warten die alten Perser in

55 Es sei ausdrücklich betont, daß es hier weniger um Aristoteles-Exegese als um die Nutzung von Aristotelesfür heuristische Zwecke geht. So wird nur ein Aspekt aus der komplexen Rezeptionstheorie des Aristotelesherausgegriffen und mit einer gewissen Freiheit angewandt. Beispielsweise beschreibt Aristoteles mit der Ba-lance von Nähe und Distanz die Identifikation der Rezipienten mit dem tragischen Helden, hier soll sie auchauf das Verhältnis zwischen Gegenwart der Aufführung und Vergangenheit des Stücks bezogen werden.

56 Poet. 1449b24–28.57 Poet. 1453a4–6, cf. Rhet. 1385b13 f.58 Rhet. 1383a8–12; 1386a24–26. Dazu, daß Aristoteles in der Poetik Gleichheit nur als Voraussetzung für

Furcht nennt, s. Grethlein 2003b, 42 Anm. 5 mit weiterer Literatur.59 Ausführlicher dazu Grethlein 2003b, 41–45. Zum Mitleid bei Aristoteles und in der Tragödie s. a. Halliwell

1986; 2002, 207–233; Belfiore 1992, 177–253; Lada 1993; Zierl 1994; Konstan 2001. Zum Mitleid in der An-tike im allgemeinen cf. Burkert 1955.

60 Diese Feststellung greift nicht die alte These auf, daß der Chor als Kollektiv den Zuschauern als Identifika-tionsfigur diene und ihre Rezeption präfiguriere. Wie u. a. Gould 1996 gezeigt hat, bestehen viele Chöreaus «marginalen» Gruppen und laden athenische Bürger deswegen nicht zur Identifikation ein. Zum Chorin den Persern s. a. Grethlein 2007.

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14 Jonas Grethlein

der Orchestra auf Neuigkeiten aus Griechenland, und beide lauschen dann dem Bericht desBoten. In ähnlicher Weise verfolgen Chor und Zuschauer als «inneres» und «äußeres» Pu-blikum das Gespräch zwischen Atossa und Dareios. Dies wird besonders deutlich, wenndie Charaktere Akte der sinnlichen Wahrnehmung erwähnen. In vv. 210 f. beispielsweisesagt Atossa über ihren Traum:

… ����# .� � � ����# ���# 4%�,8�%� �# $� &�� …

… Dies sind Schreckgesichte, für mich zu sehen,für euch zu hören …

Genauso wie der Chor hat das Publikum den Traum nicht gesehen, sondern nur AtossasBericht gehört.61 Vielleicht können wir folgenden Vers sogar als Ausdruck dieser Doppe-lung des Publikums verstehen. Als der Bote naht, sagt der Chor in 248:

��λ !,�� ��!,« �� ��»� « .���μ� ν ���μ� ���%�.

Und er bringt gewisse Kunde, gut oder schlecht zu hören.

Die Bestimmung «gut oder schlecht zu hören» ist natürlich der Tendenz des Griechischenzu polaren Ausdrücken geschuldet. Hier markiert sie aber zugleich implizit die Doppelungdes Publikums, indem sie die Qualität der Neuigkeiten für beide benennt: Sowohl die Zu-schauer als auch der Chor hören nun vom Boten die Kunde, die für die ersteren gut, für dieletzteren schlecht ist.

Wie dieses Beispiel zeigt, nehmen das «innere» und «äußere» Publikum die Schlacht vonSalamis aus entgegengesetzten Perspektiven statt. Für die Zuschauer im athenischen Thea-ter handelt es sich um die Niederlage ihrer Feinde; sie haben genügend Distanz zum tra-gischen Geschehen, um Mitleid und Furcht empfinden zu können. Der Chor in derOrchestra dagegen hört von der eigenen Niederlage und dem Tod von Verwandten undLandsleuten. Die alten Perser sind vom Leid zu sehr selbst betroffen, als daß sie mit Mitleidund Furcht reagieren könnten. Legen wir also Aristoteles’ These zu Nähe und Distanz zu-grunde, so können wir sagen, daß in die gelungene Tragödie für das athenische Publikumdie mißlungene Tragödie für die Perser eingebettet ist.

Diese Überlegung führt uns zum zweiten Vergleich, nämlich der Gegenüberstellung miteiner anderen Tragödie, die sich mit den Ereignissen der Perserkriege auseinandersetzte. ImJahre 493 wurde Phrynichos’ Stück Halosis Miletou in Athen aufgeführt.62 Wie der Titelzeigt, handelte die Tragödie von der Einnahme Milets durch die Perser. Nach dem BerichtHerodots sorgte die Aufführung für einen Tumult und Phrynichos wurde bestraft.63 AlsGrund gibt Herodot an, die Einnahme Milets habe den Athenern 4�%� ����, eigeneÜbel, zugemutet. Die Milesier waren als Ionier stammverwandt, und Athen war auchselbst in den Ionischen Aufstand involviert gewesen. Ebenso wie die Perser behandelt dieHalosis Miletou ein Ereignis aus dem Perserkrieg, doch während Aischylos ein persischesDesaster auf die Bühne bringt, thematisiert Phrynichos eine griechische Niederlage. Die

61 S. a. 331 f. �4�%, ���)� 9/���� κ ��&� ��, / �@�1- � P,����« ��λ ���,� ���&����; 565: �����# .�!��%� Ν����# �*�+�, ³« $� & ��; 582 f.: ��+�� � �,� ��« /�μ �»� κ ��& ���� Ν�� «;843 f.: D � ��� ��λ ���+��� ��λ �,�� ��# ��� / =��-�# $� &��« "��"�� ��� �3����.

62 Cf. Rosenbloom 1993; Mülke 2004 mit weiterer Literatur in 234 Anm. 1.63 Hdt. 6, 21, 2.

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Variationen des «nächsten Fremden». Die Perser des Aischylos im 20. Jahrhundert 15

Reaktionen können als Bestätigung für Aristoteles’ Rezeptionstheorie verstanden werden:Das Stück, welches das eigene Leid zeigt, fällt durch; das andere, welches Leiden in sichererDistanz vorführt, gewinnt den ersten Preis.

Übertragen wir die Forderung, Nähe und Distanz miteinander auszubalancieren, vonder Identifikation mit den Charakteren auf die zeitliche Ebene, so läßt sich mit ihr auchdie Gegenläufigkeit von Distanzierung und Aktualisierung in den Persern und ihren moder-nen Adaptionen erfassen. Die Perser sind die einzige vollständig überlieferte und einevon wenigen uns namentlich bekannten historischen Tragödien.64 Alle anderen Tragödienhaben mythische Sujets. Und auch wenn die Griechen nicht so scharf wie wir zwischenMythos und Geschichte unterschieden, so zog man für die Tragödien offensichtlich dieheroische Vergangenheit vor. Folgen wir Aristoteles’ Rezeptionstheorie, so können wirvermuten, daß ein Grund dafür die Distanz war, welche der Mythos bot.65 So konntenaktuelle Probleme und Spannungen in der «heroic vagueness» entfaltet werden, ohne fürAnstoß zu sorgen.66

Dem entspricht die Beobachtung, daß die aischyleischen Perser ein zeitgeschichtlichesEreignis in einen heroischen Rahmen projizieren. Zwischen der Schlacht von Salamis undder Aufführung der Perser lagen nur acht Jahre. Erst die Entrückung in ein heroisches Re-gister stellte die Distanz her, die nach Aristoteles für eine Tragödie notwendig war.67

Aber auch die gegenläufige Aktualisierung, die wir in den modernen Adaptionen fest-stellen konnten, läßt sich mit der aristotelischen These zu Nähe und Distanz erklären. DieSchlacht von Salamis ist für heutige Rezipienten weit entfernt. Der Konflikt zwischen Grie-chen und Persern ist verblaßt und das Procedere in antiken Seeschlachten ist uns im Zeital-ter der High-tech-Kriege fremd. Bringt man die Perser auf die moderne Bühne, so bestehtdas Problem nicht in einem Mangel an Distanz, sondern es geht darum, Nähe zu er-zeugen.68 Erst die Aktualisierung ermöglicht die Balance von Nähe und Distanz, die nachAristoteles für eine Katharsis notwendig ist.69

Einen ähnlichen Mechanismus können wir in vielen Tragödien beobachten, die ein my-thisches Sujet haben. Immer wieder wird die heroische Handlung an die Gegenwart des de-

64 S. beispielsweise Castellani 1986 und Hall 1996, 9 f. zu den historischen Tragödien. Wir wissen noch voneiner dritten Perser-Tragödie, den phrynicheischen Phoenissen, von denen sogar ein paar Fragmente erhal-ten sind (TrGrF 3 Phrynichos fr. 8–12).

65 Für andere mögliche Gründe s. Castellani 1986.66 Cf. Grethlein 2003, 63 f.67 In einem anderen Aufsatz (Grethlein 2007) werden die Perser als eine Reflexion über die Tragödie als kom-

memoratives Medium interpretiert. Das dichte Netz von Reflexionen über Erinnerung auf der Handlungs-ebene bildet eine Hermeneutik der memoria und läßt sich auf die Perser selbst als einen Akt der Erinnerungübertragen. Es ist zu vermuten, daß das zeitgeschichtliche Thema, verschärft durch das Scheitern des Phry-nichos mit seiner Halosis Miletou, zu einer derartigen Reflexion angeregt hat.

68 Cf. Burian 1997, 252 f., der Psychoanalyse und Anthropologie als zwei Filter nennt, durch welche antikeMythen von modernen Schriftstellern fruchtbar gemacht werden.

69 Sellars’ Perser-Inszenierung mag als Beispiel dafür dienen, wie fragil das Gleichgewicht von Nähe und Di-stanz ist. Auch in Europa wurden die Aufführungen nicht unkritisch aufgenommen, aber von der Entrü-stung, die sie in den USA auslösten (s. die Liste von Rezensionen bei Favorini 2003, 110 n. 63), war nichtszu spüren. Laut Lahr 1993, 103 verließen in Los Angeles jeden Abend mehr als hundert Zuschauer dasTheater vorzeitig. Folgen wir Aristoteles, so läßt sich vermuten, daß, während die Europäer die harscheKritik an der amerikanischen Außenpolitik nicht unmittelbar tangierte, für viele amerikanische Zuschauerdie nötige Distanz zu ihrer Lebenswelt nicht gewahrt war.

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mokratischen Athen «herangezoomt».70 In Aischylos’ Hiketiden beispielsweise wird Athenzwar vom König Pelasgos regiert, aber die Volksversammlung entscheidet, ob dem Hike-siegesuch der Danaiden stattgegeben wird. Der Bericht über die Volksversammlung stellteinen demokratischen Entscheidungsprozeß dar und enthält prägnante Termini aus derzeitgenössischen athenischen Praxis.71 Dadurch wird die mythische Handlung an die Weltdes Publikums herangerückt.

Das «zooming» in den Tragödien und die Aktualisierungen im zeitgenössischen Theaterunterscheiden sich aber voneinander. Das «zooming» vollzieht sich auf der Ebene der Spra-che – einzelne Begriffe blenden die Gegenwart ein. In modernen Übertragungen finden wirmanchmal ähnliches, beispielsweise in Aulettas Version der Perser, wo moderne Kriegstech-niken oder sogar «Amerika» genannt werden. Zumeist wird aber die Gegenwart nicht aufder sprachlichen Ebene, sondern durch die Requisiten eingeblendet, etwa wenn Xerxeseine Nazi-Uniform trägt. In aristotelischen Kategorien hat sich der Schwerpunkt hier vonder �,6�Γ zur ;/�Γ, die Aristoteles bezeichnenderweise für das am wenigsten wichtige Ele-ment der Tragödie hält,72 verschoben.

Fassen wir zusammen: Die aristotelische Reflexion über Nähe und Distanz bietet unseine Formel, mit der sowohl die Distanzierung der Schlacht von Salamis im Theater Athensals auch ihre Aktualisierung auf der modernen Bühne erfaßt werden können. Beiden liegtdas gleiche Prinzip zugrunde, nämlich Nähe und Distanz der Bühnenhandlung zur Wirk-lichkeit des Publikums auszutarieren, allerdings mit entgegengesetzten Tendenzen. Wäh-rend das zeitgeschichtliche Ereignis distanziert werden muß, gibt erst die Aktualisierungder antiken Handlung Relevanz in der Gegenwart.

Vielleicht ist dieser Ansatz über die Perser hinaus fruchtbar, und die von Aristoteles skiz-zierte Spannung zwischen Nähe und Distanz ist – neben vielen anderen – ein Grund,warum griechische Tragödien auch in der Gegenwart noch Interesse erregen.73 Zwar ist dieSpannung zwischen Fremdheit und Aktualisierung bei den Persern besonders stark ausge-prägt, aber ähnliches läßt sich für die Tragödie im allgemeinen feststellen. Die starren Kon-ventionen der Tragödie, ihre stilisierte Sprache und ihre archaische Welt gewährleisten aus-reichend Distanz zu unserer Wirklichkeit. Seidensticker nennt die Distanzierung – aufästhetischer, zeitlicher und räumlicher Ebene – als einen wichtigen Aspekt, warum wir«Vergnügen an tragischen Gegenständen» haben.74 Die Fremdheit antiker Tragödien ver-

70 Zu diesem Terminus s. Sourvinou-Inwood 1989; Grethlein 2003a, 36–41.71 Cf. Grethlein 2003a, 86–88 mit weiterer Literatur.72 Cf. Poet. 1450b16–20.73 Taplin 1991, 53 vermutet, «daß in den letzten zehn bis zwölf Jahren wahrscheinlich so viele Tragödien zur

Aufführung gelangten wie in keiner gleichen Zeitspanne seit der Antike.» Für das Interesse an der griechi-schen Tragödie werden unterschiedliche Gründe genannt: Taplin 1991, 57 hebt die «Erfahrung der Überle-bensfähigkeit» hervor, die der Tragödie in einer von Risiken belasteten Zeit Bedeutung verschaffe, s. a. Hall2004, 45 f. McDonald 1992, 4 sieht in der Tragödie «the redemptive power of individual human suffering»,das sie der elitenbildenden Funktion der Tragödie entgegenstellt. Laut Foley 1999, 3 erlaubt die griechischeTragödie «a political response to irresolvable, extreme situations without being crudely topical». Sie weistaußerdem auf die Qualität der Plots und die dramatischen Möglichkeiten hin, welche die griechische Tra-gödie Frauen biete (4 f.). Wertenbaker 2004, 366 meint, in einer Zeit, die erkenne, daß der Mensch nichtverstanden werden könne und irrational sei, komme der Tragödie eine besondere Bedeutung zu. Rehm2003, 141 sieht in der Tragödie «a potential form of cultural resistance against the temporal compulsion ofcapitalism».

74 Cf. Seidensticker 2005, 225–232.

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stärkt auf inhaltlicher Ebene dieses dem Drama inhärente Moment der Distanz. Könnenwir die Funktion dieser Distanz noch weiter spezifizieren? Nach Hall erlaubt sie es uns, an-sonsten nicht Zeigbares zu zeigen und nicht Sagbares zu sagen:

«We can’t bear to look upon the corpses of the Iraquis our own soldiers and pilots havekilled, nor on our own angry poor we have created by class war and unemployment, andhave great difficulty even imagining an art form adequate to the representation of the sub-jectivity of the millions of dead victims of the Holocaust. But through the familiar,ancient, formal lineaments of Greek tragedy, by peering, at first cautiously, through itsmask, even the pain on which our lives and society are predicated, even the countless for-gotten people whose suffering we have permitted can be briefly remembered, be renderedfaintly visible and audible, at least for a little while.» s. Hall 2004, 194 f.

Diese Begründung wird jeden, der Zugang zu modernen Massenmedien hat, überraschen.Die Berichterstattung über den Irakkrieg mag von einer Pressezensur eingeschränkt gewe-sen sein, aber ansonsten leidet unsere Medienlandschaft sicherlich nicht an einem Mangelan verstörenden Bildern und schon gar nicht ist nachzuvollziehen, wie eine Theaterauffüh-rung mit den Schrecken von dem konkurrieren will, was in Nachrichten oder gar in fiktivenFilmen gezeigt wird! Die Debatte um die Darstellbarkeit des Holocaust wiederum ist eineästhetische Diskussion, die nichts aussagt über die Bilder, die – mit welchem Repräsenta-tionsanspruch auch immer – im Umlauf sind.

Die von Hall behauptete Funktion der Distanz, nämlich das Unsagbare zu sagen, mag inDiktaturen mit einer restriktiv kontrollierten Öffentlichkeit von Bedeutung sein. So bot dieAntikenrezeption Schriftstellern der DDR wie Heiner Müller einen Rahmen, in dem sieKritik äußern konnten.75 In den westlichen Demokratien ist der Reiz, den antike Tragödienausüben, aber anders gelagert. So wird die Fremdheit durch Vertrautheit ausbalanciert, diedarauf beruht, daß die griechische Kultur eine wichtige Grundlage unserer Zivilisation ist –eine Dialektik, die Hölscher mit dem Begriff des «nächsten Fremden» so treffend charak-terisiert hat. Die Aktualisierungen können also an bereits in den Texten angelegte Verbin-dungen anknüpfen, wobei Übersetzung und Inszenierung die Ventile bilden, welche dieSpannung zwischen Nähe und Distanz regulieren.

Über ihre Verfremdungsfunktion hinaus zeichnen sich die antiken Modelle dadurch aus,daß sie eine gegenüber unserer Welt geringe Komplexität haben,76 aber zugleich keine ein-fachen Antworten bieten, sondern Spannungsräume entwerfen. Zudem wird «klassischen»Texten zwar keine überzeitliche Geltung mehr zugesprochen, sie genießen aber doch nocheine gewisse Autorität. Welchem Regisseur es gelingt, ein aktuelles Problem in der Insze-nierung einer griechischen Tragödie anzusprechen, der wird mehr Gehör finden als einer,der das gleiche mit einem japanischen Noh-Drama tut.

Auch wenn die griechische Tragödie nicht benötigt wird, um das Unsagbare zu sagen, sobietet sie sich doch als ein Rahmen der Verfremdung an, in der das nächste fremd wird undim Fremden das nächste neu gesehen werden kann. Mit dieser Einladung zur Reflexion, die

75 Cf. Seidensticker 1991, 424–427; 1992, 351, der von der Beobachtung ausgeht, daß die Antike in der ost-deutschen Nachkriegsliteratur eine wesentlich größere Rolle spielt als in der westdeutschen. Ein weitererGrund sei die Bedeutung der Antike bei Brecht, der die DDR-Literatur prägte (1992, 350). Für einen Über-blick zur Antikenrezeption bei DDR-Schriftstellern s. Riedel 1984.

76 Cf. Seidensticker 1992, 363.

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auf der bereits von Aristoteles formulierten Dialektik von Nähe und Distanz beruht, erfül-len die Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides bei allen Unterschieden heutenoch eine Funktion, die ihnen bereits in der Antike zukam.

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Gregor Vogt-Spira

Secundum verum fingere

Wirklichkeitsnachahmung, Imagination und Fiktionalität: EpistemologischeÜberlegungen zur hellenistisch-römischen Literaturkonzeption

I

Die griechisch-römische Antike hat ein Text- und Literaturkonzept ausgebildet, das in sei-nen zentralen Kategorien für den literaturtheoretischen Diskurs bis heute ein Bezugspunktgeblieben ist. Indes weist es eine Reihe von Zügen auf, die auf dem Hintergrund gegenwär-tiger Gewohnheiten und Erwartungen schwer verständlich erscheinen. Zwar haben dieletzten Jahrzehnte die Einsicht in die Historizität von Text- und Literaturkonzepten erheb-lich geschärft, gleichwohl ist die historische Spezifik der antiken Schriftkultur bislang ka-tegorial noch wenig erschlossen.

Dabei gibt es Auffälligkeiten genug. Eine solche ist die Verhältnisbestimmung von Lite-ratur und ‹Wirklichkeit›; in der Terminologie von Rhetorik und Poetik: das Verhältnis vonres und verba. Es scheint zum Grundbestand geläufiger Auffassungen über Literatur zu ge-hören, daß dieses Verhältnis fiktional ist: Literatur kann Realität nie abbilden oder nachah-men, und wenn sie das vermeint, muß es grundsätzlich mißlingen. Fiktionaliät ist seit dem16. Jahrhundert nachgerade zur spezifischen Differenzqualität von Literatur avanciert; jün-gere Arbeiten haben die Schlüsselrolle deutlich gemacht, die die Kommentierung der ari-stotelischen Poetik seit Robortello dabei spielt.1 Wenn in der Folge als Problem ins Zentrumtritt, daß die ‹Kluft› zwischen Text und ‹Wirklichkeit› nicht zu überwinden ist, erscheintdie Forderung konsequent, daß Literatur sich von der Fixierung auf eine ‹Nachahmung derWirklichkeit› zu lösen habe. Das führt schließlich bis zum Modell einer Literatur- und Äs-thetikgeschichte, nach der die Überwindung von mimesis zu Ausweis und Telos literari-scher Modernisierung avanciert.

Das Leitideal der ‹Lebensechtheit›, das die Antike durchzieht, geht indes in diesen Prä-missen nicht auf. Auffallend ist zunächst, mit welcher Selbstverständlichkeit es zumal inHellenismus und Kaiserzeit den normativen Horizont bildet. Ein eindrückliches Zeugnisliefert nicht zuletzt die Malerei, die sich ohne weiteres für literaturtheoretische Fragen her-anziehen läßt, da entsprechend der Auffassung, daß Malerei und Dichtung austauschbarseien, in zentralen Punkten dieselben Kriterien angesetzt werden.2 So leitet etwa der älterePlinius seine ‹Kunstgeschichte› mit dem Fall eines Freigelassenen Neros ein, der ein Fecht-spiel zu Antium gegeben und dazu die Säulenhallen mit Darstellungen der ganzen spiel-beteiligten Gladiatoren versehen habe: Malereien, so heißt es näher, auf denen die Bilder

1 Vgl. zuletzt Schönert / Zeuch (2004); hierin besonders Schmitt (2004).2 Zur Rückwirkung der Literatur- auf die Kunstkritik Pollitt (1974). Zum systematischen Hintergrund Vogt-

Spira (2002).

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der Gladiatoren und Diener lebensgetreu wiedergegeben worden seien. Hierin, kommen-tiert Plinius, habe bereits seit vielen Jahrhunderten der höchste Sinn der Malerei bestanden;das Beispiel liefert dann nachgerade den Ausgangspunkt, ‹die berühmten Vertreter in dieserKunst durchzugehen›.3 Und in der Tat erweisen sich verum und veritas – in der weiten,die Spanne von ‹Wahrheit› und ‹Wirklichkeit› umfassenden Bedeutung des lateinischen Be-griffs – durchgängig als leitender Maßstab.4

Nicht minder als für die Kunst gilt dies für die literarische Seite; so liefert etwa Nach-ahmung im Sinne einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Darstellung einen der Haupt-gesichtspunkte der kaiserzeitlichen Vergilkommentierung.5 Geradezu als Mustergattungfür das Ideal der Lebensechtheit wird die Komödie betrachtet. Der locus classicus findetsich in Ciceros De re publica; der dreigliedrige Ausdruck macht deutlich, daß die Traditioneine gewisse Varianz der Formulierung für die Relation ausgebildet hat:6

Comoediam esse Cicero ait imitationem vitae, speculum consuetudinis, imaginem veritatis.

In ähnlichem Sinne rühmt später Quintilian an Menander, er habe ein vollständiges Bild desmenschlichen Lebens zum Ausdruck gebracht; 7 dahinter steht ein Dictum des Aristopha-nes von Byzanz, der Menander zum vorzüglichsten Autor der ganzen griechischen Lite-ratur nach Homer erklärt hatte:8 τ M������� �λ ���, �����« Ν�# ���� ������$ ���������; Das Kriterium der Lebensechtheit wird dann schließlich so durchgängig,daß es für die Komödienexegese der Kaiserzeit die maßgebliche Leitlinie liefert.9

Die Beispiele, die sich leicht vermehren lassen, zeigen, daß dieses Ideal die gesamteWirklichkeit, alle Dinge, die Natur oder wie der Formulierungen mehr sind, umfaßt. DieNachahmung läßt sich hierin also nicht auf einen bestimmten Gegenstand begrenzen wieetwa ‹Handelnde› in der aristotelischen Poetik, vielmehr geht es um die Welt insgesamt: mitspäteren Schlagworten um imitatio rerum oder imitatio naturae.

Hier stößt man nun auf eine methodische Grundsatzfrage: Denn die Prämisse der histo-rischen Erkenntnis, die für Werke der Kunst und Literatur nachgerade selbstverständlichgilt, findet weit weniger Anwendung auf die ästhetischen Theorien, die zu ihnen überliefertsind und die ihren Rahmen abgeben; im Gegenteil dominiert hier eine systematischePerspektive, unter der die Theorien der Vormoderne als vorkritisch und damit gegenüberheutigen Standards ungenügend erscheinen. Wenn indes jene Standards etwa auf Phäno-mene aus der Antike angewandt werden, besteht Gefahr, daß dabei Vorannahmen zur Wir-kung kommen, die historisch nicht zutreffen. Daher gilt auch für die Literaturtheorie, wasfür die Künste längst geleistet ist, daß die ‹querelle des anciens et des modernes› in das Sta-dium der Historisierung weiterzutreiben ist: Es bedarf mithin einer historischen Epistemo-

3 Plin. N. h. 35, 52: Libertus eius, cum daret Antii munus gladiatorum, publicas porticus occupavit pictura, utconstat, gladiatorum ministrorumque omnium veris imaginibus redditis. Hic multis iam saeculis summus ani-mus in pictura. […] nunc celebres in ea arte quam maxima brevitate percurram.

4 Für die Popularität dieser Anschauung stehe hier exempli gratia nur noch Vitr. De arch. 7, 5, p. 173, 19 f.:Neque enim picturae probari debent quae non sunt similes veritati.

5 Einige gute Beobachtungen bei Lazzarini (1989), 100–104.6 Cic. Rep. 4, 13: «Die Komödie, sagt Cicero, sei eine Nachahmung des Lebens, ein Spiegel der Gewohnheit,

ein Abbild der Wirklichkeit.» Dazu Blänsdorf (1983).7 Quint. Inst. 10, 1, 69.8 Men. Test. 32 K-Th = 83 K.-A.: «O Menander und Leben, wer von euch beiden hat den anderen nachge-

ahmt?»9 Vgl. Jakobi (1996), 158–177, bes. 176 f.

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logie, indem der Blick auf die Bezugssysteme zu lenken ist, innerhalb deren ein solchesLeitbild der möglichst lebensechten Wirklichkeitsnachahmung verständlich werden kann.

Ausgangs- und Angelpunkt der folgenden Überlegungen ist der für die gesamte Antikegültige und weit über sie hinaus wirksame enge Konnex zwischen Sinneswahrnehmungund Denken, zwischen physikalisch-physiologisch-neurologischer Welt und jener der Be-deutungsgebung. Er hat seine Fundierung insbesondere im Seelenmodell des Aristotelesgefunden, das in De anima entwickelt, in den einzelnen Philosophenschulen verschiedenfacettiert und dabei zumal in der Spätantike einer reichen Kommentartätigkeit unterzogenworden ist, doch in seinen wesentlichen Grundzügen konstant blieb. Der enge Konnexzwischen Sinneswahrnehmung und Denken hat den Status eines allgemeinen Wissens er-langt, das vielerlei Vorstellungen prägt, ohne daß es dabei im einzelnen immer der theore-tischen Explikation bedürfte.

Dies gilt nun speziell für einige Grundannahmen im Bereich der Literatur. Es liegt auf derHand, daß die Annahme eines Konnexes zwischen Sinneswahrnehmung und Denken unmit-telbar an die Frage nach dem Verhältnis von ‹Wirklichkeit›, also sinnlich erfahrbarer ‹Welt›,und Texten rührt. Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die zur Zeit geläufigen Annah-men zur Fiktionalität von Literatur, wird deutlich, daß die epistemologischen Ausgangsvor-aussetzungen und Vorannahmen grundlegend verschieden sind. Das zeigt paradigmatischschon das Kolloquium ‹Funktionen des Fiktiven› der Gruppe ‹Poetik und Hermeneutik›, dasals erster umfassender interdisziplinärer Konzeptionalisierungsversuch mit seinem Pro-gramm, «aus der für die Neuzeit geltenden Opposition von Fiktion und Wirklichkeit» aus-zubrechen, für die letzten beiden Jahrzehnte katalysatorisch wirkte.10 Dort wurde das Ver-hältnis nunmehr offengelassen, wobei Gemeinsamkeit bestand in dem «Impuls, sich voreiner Konzeptualisierung der Differenz zu hüten». Statt indes die Annahme der Differenz inFrage zu stellen, wurde nur ihre statische Auffassung aufgelöst und dynamisiert; dabei erhieltinsbesondere die Kunst als Spezifikum zugewiesen, daß sich hier die Differenz zu einem un-endlichen Spiel entfalte in einer «Oszillationsbewegung, die eine ästhetische Affektion er-zeugt, in der wir nie ganz zur Ruhe kommen. Denn hier wird die Differenz als unabschließ-barer Prozeß gegenwärtig gehalten, der alle im Spiel befindlichen Positionen in ein Anderesihrer selbst kippen läßt».11 In Wolfgang Isers Triade des Realen, Fiktiven und Imaginärenschließlich findet sich dieser Ansatz reich ausgeformt und in direkten Bezug zu der von Pla-ton und Aristoteles ausgehenden mimesis-Debatte gestellt, wobei jedoch als Prämisse gilt,daß das Textspiel als Transformation seiner Referenzwelten verlaufe und folglich keine derReferenzwelten Gegenstand der Darstellung sein könne.12 Einmal also Differenz, das andereMal Verknüpfung von sinnlich erfaßbarer und kognitiver Welt: An diesem Beispiel ist schonzu erkennen, inwiefern die darein jeweils gegründeten Literaturmodelle geradezu notwendigvoneinander abweichen, ohne unmittelbar aufeinander abbildbar zu sein.

Wir werden im folgenden den Focus auf Hellenismus und Kaiserzeit richten als einerScharnierzeit, in der unter den Bedingungen einer vollausgebildeten Schriftkultur antikesWissen schulmäßige Standardform erlangt und von daher weitertradiert wird. Insbeson-dere in der frühen Neuzeit bleibt es für das poetisch-rhetorische Literaturmodell bestim-mend, das dann bei der Überformung durch die Rezeption der aristotelischen Poetik die

10 Henrich / Iser (1983); Zitat 497 (Iser).11 Zitate aus der zusammenfassenden Schlußbetrachtung Isers, ebd. 555.12 Iser (1993); hier bes. 481.

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Basis bildet. Es wird daher um die Frage gehen, wie Literatur innerhalb dieses grundsätz-lichen Konnexes von Wahrnehmung und Denken zu verorten ist.

II

In einem ersten Schritt seien einige charakteristische Züge des Modells entwickelt, das inScholien, Grammatiken und Sammelwerken in der Spätantike zu einem Basiswissen ge-ronnen ist und von daher einen der über die Antike hinausreichenden Kontinuitätsfädendarstellt. Auffallend ist dabei, welch große Rolle in konzeptionellen Äußerungen zu Lite-ratur das Moment sinnlicher Wahrnehmung spielt. Deutlich wird dies etwa bei dem zen-tralen Postulat der enargeia, das in der rhetorischen Theorie ausformuliert wird und ebensoin die hellenistische Homerkritik eindringt, um dann zu einem Grundwissen für Textpro-duktion und -rezeption zu avancieren.

Die Anforderung lautet, die Dinge so darzustellen, daß es ist, als sähe man sie deutlichvor sich.13 Die Zielrichtung liefert ein ostendere, das sich als Steigerung und Überbietungeines schlichten dicere versteht. Das Verfahren findet sich dabei unmittelbar mit den Sin-nesorganen in Verbindung gebracht. So heißt es explizit, eine Rede leiste nicht genug undübe ihre Herrschaft nicht gebührend aus, wenn ihre Kraft nur bis zu den Ohren reiche; alssumma virtus gilt vielmehr – hier paradigmatisch für den Fall der Gerichtsrede –, daß einRichter von dem, worüber er zu Gericht sitze, nicht glauben dürfe, es werde erzählt, viel-mehr es werde herausmodelliert und zeige sich vor dem geistigen Auge.14

Jenes ‹geistige Auge› ist die Instanz der phantasia, der Imaginationskraft. Ihre Leistungfindet sich an einer Schlüsselstelle bei Quintilian kanonisch formuliert:15

Quas ��������« Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerumabsentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videa-mur […].

Das findet sich nachfolgend am Beispiel dessen, der eine besonders reiche Einbildungskraftbesitzt, noch weiter veranschaulicht:16

Quidam dicunt ������������� qui sibi res voces actus secundum verum optime finget:quod quidem nobis volentibus facile continget; nisi vero inter otia animorum et spes ina-nes et velut somnia quaedam vigilantium ita nos hae de quibus loquor imagines prosecun-tur ut peregrinari navigare proeliari, populos adloqui, divitiarum quas non habemus usumvideamur disponere, nec cogitare sed facere.

13 Quint. Inst. 8, 3, 62.14 Ebd.; die Wendung oculi mentis geht auf Platons �μ ��« ����« ���� (Rep. 533 d 2) zurück.15 Quint. Inst. 6, 2, 29: «[…] was die Griechen ��������� nennen – wir können visiones dafür sagen –, wo-

durch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augensehen und sie wie leibhaftig vor uns haben […].» – Die Übersetzung aus Quintilian hier und im folgendennach H. Rahn.

16 Ebd. 30: «Manche nennen den ������������«, der sich Dinge, Stimmen und Vorgänge am wirklichkeits-getreuesten vorstellen kann, und das kann uns, wenn wir wollen, leicht gelingen. Umgeben uns doch schonin Zeiten der Muße, wenn wir unerfüllten Hoffnungen nachhängen und gleichsam am hellen Tage träumen,solche Phantasiebilder so lebhaft, als ob wir auf Reisen wären, zu Schiffe führen, in der Schlacht stünden,zum Volke redeten oder über Reichtümer, die wir nicht besitzen, verfügten, und das alles nicht nur in Ge-danken, sondern es wirklich täten.»

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Secundum verum fingere 25

Der Tagträumer liefert einen Extremfall, an dem sich der Mechanismus der phantasiabesonders eindrücklich veranschaulichen läßt. Strukturell beruht dies auf dem Grundge-danken einer der üblichen gegenläufigen Bewegung: Statt vom Sinnesorgan zum Vorstel-lungsvermögen verläuft der Prozeß vielmehr in Gegenrichtung auf das Telos einer Rück-koppelung an die Sinne hin. Zentral ist die Junktur praesentes habere, in welcher dierhetorische Schlüsselkompetenz des �μ !��"��� ���%�,17 der hier das cernere oculisentspricht, Verallgemeinerung erfährt. Wie geläufig dieser Gedanke ist, zeigt der Vergil-kommentar des Servius, der für das vierte und fünfte Jahrhundert sogar im lateinischen Be-reich einen geradezu selbstverständlichen Gebrauch des griechischen Terminus phantasiabezeugt. So findet sich zur zweiten Ekloge, als der unglücklich in Alexis verliebte Hirt Co-rydon jenen im Selbstgespräch anredet: quem fugis, a ! demens?, vermerkt: iterum per phan-tasiam quasi ad praesentem loquitur.18 Damit findet sich die Vorstellung, daß phantasia diePräsenz eines Abwesenden zu schaffen vermöge, auf der Ebene des Schulwissens wieder.19

Die Zielrichtung erhellt aus der etymologischen Deutung von Präsenz, die Isidor von Se-villa in seinen Origines in dem Abschnitt zu den sensus corporis bietet:20 unde et praesentianuncupantur, quod sint prae sensibus. In Quintilians Behauptung steckt also nichts weniger,als daß Worte, wenn sie Abwesendes gegenwärtig machen, es prae sensibus stellen. Daß diestatsächlich das Konzept ist, zeigt auch die Auffassung des Buchstabens, deren Quintessenzin einer berühmten Definition wiederum bei Isidor gefaßt ist, in der dasselbe Phänomennicht unter visuellem, sondern unter akustischem Aspekt beschrieben wird:21

Litterae autem sunt indices rerum, signa verborum, quibus tanta vis est, ut nobis dicta ab-sentium sine voce loquantur.

Das Leitmodell, daß Texte Abwesendes, Nicht-Vorhandenes sinnlich erfahrbar machen, esprae sensibus stellen – wobei oft Augensinn oder Tastsinn als pars pro toto genannt werden,wie in den Formulierungen ‹etwas vor Augen stellen› oder auch ‹etwas manifest werdenlassen›

22 –, findet eine programmatische Ausformung schließlich in der Gattung der Ek-phrasis: Im Rahmen der Zielvorstellung einer Überbietung des Bildes durch das Sprachme-dium beansprucht sie, potentiell alle Sinne einzubeziehen. So leitet Philostrat etwa eineBildbeschreibung mit der Bemerkung ein, die bloße optische Wahrnehmung vermittele denWohlgeruch eines Gartens noch nicht, mit den Worten hingegen würde auch der Duft vonÄpfeln zum Zuhörer gelangen.23 An anderer Stelle wird der Anspruch erhoben, daß derHörer oder Leser durch die Vermittlung der Worte auch den Duft von Rosen rieche, dieGeräusche einer Szene höre oder die Süße einer Marmelade schmecke.24

17 Arist. Rhet. iii 11, 1411 b 23.18 Serv. Verg. E. 2, 60.19 Vgl. Watson (1994), 4801 mit weiteren Beispielen; s. auch Lazzarini (1989), 100 f.20 Isid. Etym. 11, 1, 19: «Woher es auch als gegenwärtig bezeichnet wird, weil es sich vor den Sinnen befin-

det» – was anschließend am Spezialfall der Augen näher erläutert wird: sicut prae oculis, quae praesto suntoculis.

21 Isid. Etym. 1, 3, 1: «Die Buchstaben indes sind Anzeiger der Dinge und Zeichen der Worte, denen so vielKraft innewohnt, daß sie die Worte Abwesender ohne Stimme zu uns sprechen lassen.»

22 Quint. Inst. 8, 3, 70.23 Philostr. Eik. 1, 6, 1.24 Ebd. 1, 2, 4; 1, 2, 5; 2, 26, 3.

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Fassen wir zusammen, so gründet das hier faßbare Textmodell in dem Leitideal, daß einevon außen induzierte sowie eine durch Texte auf dem Weg über phantasia stimulierte Sin-neswahrnehmung nicht als verschieden erlebt werden: Ziel und Leitbild ist die Aufhebungder Differenzwahrnehmung – nicht die Differenz, sondern ihre Eliminierung und das Ab-sehen von ihr organisiert das Modell. Viele Ungewißheiten lassen sich darauf zurückfüh-ren, daß die uns geläufige Annahme von der Unhintergehbarkeit der Differenz als domi-nanter Problemkonstellation auf die Antike zurückprojiziert wird.

Daß dem antiken Textmodell keineswegs ein Mangel an Reflektiertheit oder eine nochungenügende Kategorienbildung zugrundeliegt, wird im übrigen aus der Zweckbestimmungdeutlich, zu der der beschriebene Mechanismus der Vorstellungsbildung in der Rhetorik ein-gesetzt wird. Denn es ist kein Zufall, daß Quintilian das Konzept der phantasia gerade in demKapitel zu den Affekten einführt. Die Problemstellung lautet, wie es möglich sei, sich ergrei-fen zu lassen, obwohl die Gemütsbewegungen doch nicht in unserer Gewalt stünden.25 Umhier eine Methode aufzuzeigen, wird der Umweg über das Imaginationsvermögen mit seinerFähigkeit, Dinge wie leibhaftig vor Augen zu stellen, genommen, um daraus zu folgern:26 Hasquisquis bene ceperit is erit in adfectibus potentissimus. Denn mit der Erzeugung von Vorstel-lungsbildern sei in entscheidendem Maße eine Disposition geschaffen, die die Auslösung vonAffekten begünstige; dies erhellt aus einem späteren Nachsatz zur Bestimmung der enargeia,die nicht mehr in erster Linie zu reden, vielmehr das Gesehene anschaulich vorzuführenscheine:27 […] et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur. Wenn die Ge-fühlsregungen nicht anders folgen, als wären wir selbst zugegen, reicht die präsentischeStruktur, die sich als spezifische Leistung sprachlicher Darstellung erwiesen hatte, soweit,daß sie über den Vorstellungsbereich hinaus in die Handlungssphäre hineinwirken kann.

Solches Leitbild der Aufhebung der Differenzwahrnehmung beruht nun auf einigen Vor-annahmen; eine zentrale Rolle kommt hierbei dem Vermögen der phantasia zu supplemen-tieren zu. In Plinius’ Kunstgeschichte heißt es einmal, man erkenne auf einem Bild immermehr, als gemalt sei.28 Quintilian beschreibt diesen Vorgang im Zusammenhang der Tech-niken, die enargeia erzeugen, deren eine unter dem Oberbegriff der Vervollständigungsteht: Mit den Worten werde gewissermaßen ein vollständiges Bild der Dinge nachgezeich-net.29 Es handelt sich um eine Passage aus dem Schlußbuch von Ciceros Zweiter Rede gegenVerres – mithin um eine ausdrücklich als solche gekennzeichnete Reaktion eines Lesers:30

An quisquam tam procul a concipiendis imaginibus rerum abest ut non, cum illa in Ver-rem legit: ‹stetit soleatus praetor populi Romani cum pallio purpureo tunicaque talari mu-liercula nixus in litore›, non solum ipsos intueri videatur et locum et habitum, sed quae-dam etiam ex iis quae dicta non sunt sibi ipse adstruat.

25 Quint. Inst. 6, 2, 29.26 Ebd. 30: «Jeder, der diese Erscheinung gut erfaßt hat, wird in den Gefühlsregungen am stärksten sein.»27 Ibid. 6, 2, 32: «[…] und ihr folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zu-

gegen.»28 Plin. N. h. 35, 74.29 Quint. Inst. 8, 3, 63: […] tota rerum imago quodam modo verbis depingitur.30 Ebd. 64: «Oder ist jemand so unempfänglich für die Gabe, die Dinge bildhaft aufzufassen, daß er, wenn er

die Stelle in den Reden gegen Verres liest: ‹Da stand in seinen Pantöffelchen der Praetor des römischen Vol-kes mit purpurnem Griechenumhang und bis zum Knöchel reichendem Leibrock auf sein Dämchen ge-stützt am Gestade›, nicht nur meint, die Personen selbst vor sich zu sehen, die Örtlichkeit sowie ihre Auf-machung, sondern sich auch manches von dem, was nicht gesagt worden ist, selbst hinzuergänzt?»

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Wir befinden uns in der glücklichen Lage, daß Quintilian als Beispiel im folgenden auchsein eigenes Supplementieren anführt:31

Ego certe mihi cernere videor et vultum et oculos et deformes utriusque blanditias et eo-rum qui aderant tacitam aversationem ac timidam verecundiam.

Der eine ciceronische Satz hat mithin eine rege Ergänzungstätigkeit zu einer richtiggehen-den kleinen Szene in Gang gesetzt, die in Abhängigkeit vom Träger und dessen Imagina-tionskraft jeweils leicht unterschiedlich ausfallen kann. Dies ist im übrigen nicht mit derKonzeption einer ‹logique supplémentaire› im Sinn einer Differenzlogik zu verwechseln:Es geht nicht um die Frage, ob der ‹Supplementcharakter› von Wort oder Schrift vermeint-lich sei oder nicht.32 Im Gegenteil, gerade die Differenzaufhebung zur sinnlichen Wahrneh-mung findet sich nachdrücklich markiert im Sinne der Definition der enargeia als �&����«��« � μ �'« �(�)����« Ν*���� �' +�*�����.33 Dafür stehe hier noch als Beispiel dieciceronische Beschreibung eines üppigen Gastmahls:34

videbar videre alios intrantis, alios autem exeuntis, quosdam ex vino vacillantis, quosdamhesterna ex potatione oscitantis. Humus erat inmunda, lutulenta vino, coronis languiduliset spinis cooperta piscium.

Quintilian zitiert dies mit dem anerkennenden Kommentar: Quid plus videret qui intras-set? 35 Die sprachliche Darstellung biete also eben das, was ein realer Beobachter hätte sehenkönnen. In welchem Grade solcher Bezug leitend ist, dafür sei zuletzt Quintilians Urteilüber Vergils Darstellung des Faustkampfs zwischen Dares und Entellus bei den Leichen-spielen für Anchises angeführt: Die Schilderung mache uns die Erscheinung der Boxer, wiesie zum Schlag ansetzten, derart sichtbar, wie sie auch dem Zuschauer nicht deutlicherhätte gewesen sein können.36 Man muß sich die Konstellation genau vergegenwärtigen:Der Hörer oder Leser wird also dem impliziten Zuschauer einer literarisch dargestelltenSzene parallel gesetzt und es wird dazu vermerkt, daß der innertextlich angenommenevisuelle Eindruck, der nach Maßgabe der ‹realistischen› Interpretation wie ein ‹live› erzeug-ter behandelt wird, nicht stärker sei als jener, der durch den Text hervorgerufen werde.37

Das ist eine Betrachtungsweise des Verhältnisses von ‹fiktionaler› und ‹realer› Welt, die

31 Ebd. 65: «Ich jedenfalls meine deutlich seinen Gesichtsausdruck vor meinen Augen zu sehen und die Au-gen und die ekelhaften Zärtlichkeiten der beiden einerseits und auf der anderen Seite die stumme Gebärdeder Ablehnung bei den Anwesenden und ihre betretene Scheu.»

32 So stellt er sich unter der Disjunktion ‹signifiant – signifié› notwendig dar: Unter der Perspektive histori-scher Wahrnehmungs- und Beschreibungsweise sind indes alle auf die Saussure’sche Opposition aufbauen-den Modelle zunächst einmal nur eine von mehreren denkbaren Optionen, bei denen zuallererst zu prüfenist, unter welchen Bedingungen historisch welche Option realisiert worden ist. Die Uminterpretation an-tiken Wissens in der frühen Neuzeit ist ein weites und aufschlußreiches Feld.

33 Dion. Hal. De orat. vet. Lys. 7: «eine Art Vermögen, die die Worte mit Wahrnehmungen unterlegt», diedann im folgenden eben als gedanklich erzeugt bestimmt werden.

34 Cic. fr. orat. 6, 1 Sch. (= Quint. Inst. 8, 3, 66–67): «Ich meinte es zu sehen, wie die einen hereinkamen, an-dere aber hinausgingen, manche vom Wein schwankten, manche vom gestrigen Zechen noch gähnten. DerBoden war unsauber, von Weinlachen schmierig, bedeckt mit den verwelkten Kränzen und den Gräten derFische.»

35 Quint. Inst. 8, 3, 67.36 Ebd. 8, 3, 63 mit Bezug auf Verg. Aen. 5, 426–460.37 Ebenso etwa Schol. bT zu Hom. Il. 23, 362. Dazu auch v. Franz (1943), 21 und Lazzarini (1989), 101.

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dann die gesamte Aeneis-Kommentierung durchzieht und die den modernen Interpretenvor das überraschende Fehlen manch vertrauter Kategorien stellt.38

III

Aus den vorstehenden Beispielen wurde deutlich, daß hier ein Leitkonzept zugrundeliegt,nach dem Literatur eine Analogie zu Sinnesempfindungen auszulösen vermag bis hin zudem idealen Wert, daß Induktion durch Texte von einer solchen durch Außenwahrneh-mung ununterscheidbar wird. Dieses Leitkonzept erhellt nun aus dem Kognitions- oder –historisch zutreffender – Seelenmodell39, durch welches Beschreibungsoptionen für denZusammenhang von physisch-physiologischer Welt und jener des Denkens geschaffenwerden. Diese epistemologische Basis gilt es in ihrer systematischen Bedeutung zu erschlie-ßen, zumal die erheblichen literaturtheoretischen Konsequenzen der hier grundgelegtenAnnahmen auf der Hand liegen.

Verdeutlichen kann dies vorab ein Blick auf jene Instanz, der in Hinblick auf Literatureine Schlüsselrolle beigemessen wird: phantasia. Ihre Einführung in das Seelenmodell alseine Art Zwischenglied, das die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung einerseitsund Denken andererseits gewährleisten soll, stellt eine eigentümliche aristotelische Inno-vation dar, die in ihren späteren Übertragungen als imaginatio, imaginazione, Imagination,imagination, fancy, Einbildungskraft etc. in der Philosophiegeschichte – und über diese hin-aus – außerordentliche Fortune erlebt hat und dabei auch für Literaturtheorien ein Bezugs-punkt blieb. Doch wird in der seit etwa 30 Jahren intensiv geführten Debatte um dasaristotelische phantasia-Konzept fast einhellig und mit großem Nachdruck auf den tief-greifenden Unterschied zu allen posthumeschen oder gar postkantischen Auffassungenhingewiesen.40 Und dies völlig zurecht, denn ‹Phantasie / Imagination / Einbildungskraft›,wie auch immer man übersetzen mag,41 haben eine ganz verschiedene Stellung, wenn sieinnerhalb eines Kontinuums, das von den Sinnesorganen bis zu dem höchsten noetischenVermögen reicht, angesiedelt oder als reine Geistestätigkeit unter Vorannahme einer un-überwindbaren Grenze zu den sensorischen Vermögen aufgefaßt werden.

Die Konsequenzen, die sich für antike Literaturtheorie daraus ergeben, sind bislang nichthinreichend in den Blick genommen worden.42 Dies dürfte nicht zuletzt daher rühren, daßman sich auf die aristotelische Poetik konzentriert hat, in der eine Verknüpfung mit demKonzept der phantasia – möglicherweise schon aus chronologischen Gründen – ganz au-

38 Nicht zuletzt hat dies Konsequenzen für die Konzeption des Autors: vgl. dazu Vogt-Spira (2006).39 Zum historischen Wandel vgl. Hagner (1997).40 So bereits Schofield (1992), bes. 250 f. (zuerst 1975). Der Ansatz von Rosenmeyer (1986), �������� unter

der Rubrik «Vorgeschichte eines Leitbegriffs der europäischen Ästhetik» zu behandeln, ist daher – unge-achtet teilweise vorzüglicher Einzelanalysen – mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten.

41 Es gibt einige Stimmen, die sich dagegen aussprechen, phantasia überhaupt mit dem durch die lateinischeTradition eingeführten Terminus Imagination zu übersetzen: Schofield (1992) 250 f.; Frère (1996), 337 et alii.Zur Übersetzungsgeschichte vgl. Rosenmeyer (1986), 197–199; speziell zur terminologischen Entwicklungim Lateinischen Flury (1988). Indes liegt das Problem nicht in dem Begriff, der für die Übersetzung gewähltwird, sondern in dem Konzept, das damit verknüpft wird.

42 Mit gutem Grund beklagt dies Jean Frère (1996), der neben einer phantasia aisthetike und einer phantasialogike auch eine phantasia mimetike bzw. poietike unterscheiden möchte, ohne dies allerdings konzeptionellklar durchzuführen.

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ßerhalb des Horizonts liegt. Vielmehr findet sich die Instanz der Imagination von einemanderen Ausgangspunkt her entwickelt: In De anima, der Hauptschrift zum Gegenstand,geht es um die Unterscheidung seelischer Vermögen als Grundlegung für die naturwissen-schaftlich-biologischen Schriften, ohne daß Literatur folglich im Blickfeld wäre.43 In jedemFall ist die Verbindung erst in der rhetorischen Theorie und dann der alexandrinischenLiteraturkritik, insbesondere der Homerexegese, hergestellt worden – dies läßt sich imübrigen als Quelle Quintilians wegen seiner auffallenden Verknüpfung von phantasia, en-argeia und Dichterzitaten wahrscheinlich machen44 – und dadurch zu einem Basiswissengeworden, ohne dabei allerdings die scharfe Kontur einer übergreifenden Literaturtheoriegewonnen zu haben.

Das Konzept der phantasia bildet die Scharnierstelle zwischen Sinnen und eigentlichemErkenntnisakt gemäß der Dreigliederung der Erkenntnisvermögen der Seele in aisthesis,phantasia und noesis, deren Leistungen jeweils aufeinander aufbauen. Mit Aristoteles’ sy-stematischer Begründung zeigt sich eine Reihe von Problemen verbunden; Malcolm Scho-field hatte in seinem die folgenden Diskussionen auch im Widerspruch prägenden Beitragvon 1975 in unnachahmlicher Weise konzediert:45 «I shall suggest […] that Aristotle can befairly interpreted as adopting different but complementary vantage-points on a more or lesscoherent family of psychological phenomena. But it would be a triumph of generosity overjustice to pretend that he manages to combine his different approaches to phantasia with anabsolutely clear head.» Gleichwohl hat sich die Einführung von phantasia in das Seelenmo-dell durchgesetzt und ist, wie die griechisch-lateinische Literatur- und Rhetoriktheorievom Hellenismus bis zur Spätantike zeigt, über den engeren philosophischen Rahmen hin-aus auf die Ebene allgemeinen Wissens gelangt.

Warum zunächst ein solches Zwischenglied überhaupt als notwendig betrachtet werdenkann, erhellt aus der Überlegung, daß der Intellekt als solcher nur Nicht-Wahrnehmbares,intelligible Formen denken kann, gleichwohl Bilder von Wahrnehmbarem benötigt, um beider Entscheidung, ob etwas wünschbar ist oder nicht, sich auf konkrete Situationen undGegenstände beziehen zu können.46 Man kann daher, je nach Perspektive, phantasia ent-weder als notwendiges Bindeglied oder, wie andere, als Grenzscheide zwischen Sinnen undIntellekt auffassen. Charakteristisch ist jedenfalls, wie Aristoteles vielfach betont, daßphantasia weder mit aisthesis noch mit dianoia identisch, gleichwohl Sinneswahrnehmungnotwendig für phantasia und diese notwendig für Denken ist.47

43 Angesichts der notorischen Probleme der relativen Chronologie, die das Corpus Aristotelicum bietet, istzwar eine sichere Aussage über das zeitliche Verhältnis der beiden Schriften nicht möglich, doch hat es einegewisse Wahrscheinlichkeit, daß die nähere Ausfaltung des phantasia-Konzepts erst nach der Poetik er-folgte. Wenn Frère (1996) versucht, einige Beobachtungen der Poetik als mit dem phantasia-Konzept kom-patibel zu erweisen, so ist dies allerdings durchaus möglich.

44 Vgl. die Skizze bei Schryvers (1982).45 Schofield (1992), 253.46 Vgl. Frede (1992), 289 in allerdings nicht ganz scharfer Formulierung.47 Arist. De an. iii 3, 427 b 6–16 und öfter. De anima iii 3, die einzige konzentrierte und ausführlichere

Diskussion des Gegenstands bei Aristoteles, in der es um die Schaffung eines «conceptual room for anindependent notion of phantasia, between thinking on the one side and sense-perception on the other»(Schofield [1992], 254) geht, ist jedoch, worauf insbesondere Frede (1992), 281 hinweist, ungewöhnlichflüchtig komponiert, was die Sache nicht einfacher macht.

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Zunächst zur Verbindung von phantasia und aisthesis. In seiner Rhetorik bezeichnet Ari-stoteles phantasia sogar einmal als �,�)-��« ��« $�)���« was jedoch wohl einen früherenund dann aufgegebenen Zugang darstellt. Denn in De anima wird mit Nachdruck betont,daß beide nicht zusammenfallen. Ein wesentlicher Unterschied liegt in folgendem: Da ais-thesis in einer Aufnahme der wahrnehmbaren Formen ohne Stoff besteht, zeigt sie sich aneinen auslösenden Reiz gebunden.48 Phantasia hingegen beruht auf dem Verbleiben derWahrnehmungen in der Seele auch nach Entfernung der Wahrnehmungsgegenstände.49

Daraus resultiert also, um es vorweg zu nehmen, ihr besonderes Vermögen, Abwesendespräsent zu machen – es prae sensibus zu stellen, um Isidors etymologische Deutung aufzu-greifen;50 dies liefert den Schlüssel dafür, daß Texte ‹Abwesendes›, ‹Nicht-Vorhandenes›sinnlich erfahrbar zu machen vermögen.

Für unseren Zusammenhang kommt es darauf an, daß phantasia, wenn sie sich auch ei-nerseits als eine Form des Denkens bezeichnet findet, insgesamt doch der sinnlichen Wahr-nehmung sehr nahe gerückt wird und mit dieser zusammen den untersten Seelenteil derpsyche aisthetike bildet. Daher konnte jüngst geradezu behauptet werden:51 «The faculty ofphantasia is the same faculty as the perceptional faculty, although different in essence anddefinition». Entscheidend ist die Funktion, die phantasia damit für die Erkenntnis erhält.Ein durch die Jahrhunderte hindurch wirkungsreicher aristotelischer Satz lautet:52

�9� �. �����-��9� ���9� �' ����"����� �/�� �(�)����� � "����. […] ���� ������% Ν��� ����"�����« π ����.

Das läßt sich komplementär auch in der Gegenrichtung betrachten: mithin unter dem Ge-sichtspunkt, was phantasia den aisthemata hinzufügt, um die Sinneswahrnehmungen demdianoetischen Seelenteil zugänglich zu machen. Dabei erweist sich, daß ihr geradezu dieLeistung der Semantisierung zugewiesen wird:53

… ��% 1������ �� �ρ��� �μ �& ��� �λ ���' ��������« ����« (�-�����μ« *'��� ��« ����« 3��λ� π ����)

Die menschliche Stimmäußerung wird also als ein semantikos psophos definiert, physiolo-gisch hervorgebracht und zugleich Bedeutung erzeugend, wobei die Bedeutungsgebung alsTätigkeit der Seele speziell in der phantasia angesiedelt wird.54 Dies erhält seinen Hinter-grund eben aus der Annahme, daß alles Denken Visualisierung impliziere, da die Seele «nieohne Vorstellungsbilder denkt».55 Daher konnte geradezu erklärt werden, daß die Einfüh-rung von phantasia und phantasmata in De anima iii 3 auf die spezifische Fähigkeit zur Vi-

48 Arist. De an. ii 12, 424 a 17–24.49 Ebd. iii 3, 429 a 4–5; vgl. De an. iii 2, 425 b 24–25: ��μ �λ $ �+)����� ��� �#��)-��� 1������ �λ

��������� 3� ��%« �(�)-�-����«.50 Vgl. o. Anm. 20.51 Modrak (2001), 234.52 Arist. De an. iii 7, 431 a 14–17: «Für die Denkseele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder.

[…] Die Seele denkt nie ohne Vorstellungsbilder.» – Die Übersetzungen aus De an. nach W. Theiler.53 Ebd. ii 8, 420 b 31–33 mit Ross’ 1������ für das überlieferte 1������: «[…] das Anschlagende muß tö-

nend sein und eine bestimmte Vorstellung haben, ist doch der Laut ein Ton, der etwas bedeutet.»54 Daraus wird zugleich klar, daß littera und vox in der Ars grammatica nicht zufällig verbunden werden, mit-

hin Textualität in der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren verankert wird.55 S.o. Anm. 52.

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Secundum verum fingere 31

sualisierung abziele.56 Im übrigen zeigt sich auch schon die platonische mimesis-Auffassungeng mit dem Begriff des Bildes verknüpft.57

Wir können dies hier nicht im einzelnen weiter verfolgen, sondern wollen zusammen-fassend festhalten, daß phantasia als Schlüsselfähigkeit konzipiert ist, die den Lautbereichmit Bedeutung versieht, und diese Semantisierung als eine Art Bildgestaltung vorgestelltwird. Hinzu kommt komplementär, daß für aisthemata und phantasmata eine Ähnlich-keitsbeziehung angenommen wird, was nichts anderes heißt, als daß das Denken, wennihm das eine gleichwie das andere ist, von dem ontologischen Unterschied abzusehen ver-mag. Das hat die Konsequenz, daß die naturalistische Frage, ob etwas dingliche Existenzbesitzt oder nicht, unter bestimmten Voraussetzungen unerheblich wird, und dies wie-derum hat unmittelbare Folgen für die Gegenstände der Literatur.

IV

Das in unserem zweiten Abschnitt knapp umrissene rhetorisch-poetische Textmodell, dasHellenismus und Kaiserzeit beherrscht, mit seinem Leitideal, daß eine von außen induziertesowie eine durch Texte auf dem Weg über phantasia stimulierte Sinneswahrnehmung nichtals verschieden erlebt werden, zeigt sich damit umfassend verankert in einer geläufigenVorstellung, wie Wahrnehmen und Denken ablaufen. Daraus lassen sich Ansätze gewin-nen, auch die Auffassung von Literatur näher zu beschreiben. Wir wollen uns daher nun-mehr einigen Konsequenzen zuwenden, die sich daraus ergeben: zunächst, wie die Nach-ahmungsrelation zwischen Text und ‹Wirklichkeit› näher bestimmt wird, sowie der Rolleder Visualität; im letzten Abschnitt schließlich dem Stellenwert, den Fiktion hat.

Wählen wir als Beispiel zunächst Macrobius’ Saturnalien, eine implizite Poetik der Spät-antike, die paradigmatisch für die grammatisch-rhetorische Textauffassung steht und dieihrerseits wieder von maßgeblicher Wirkung gewesen ist. Hier findet sich eine charakteri-stische Bestimmung der Relation von Literatur und Wirklichkeit: Mit Bezug auf die Aeneisheißt es, der Dichter sei keiner anderen Führerin gefolgt als der Mutter aller Dinge selbst,der Natur – Standardformel für das Verfahren der imitatio –, weshalb gelte:58

Quippe si mundum ipsum diligenter inspicias, magnam similitudinem divini illius ethuius poetici operis invenies.

56 Schofield (1992), 255. In welcher Weise dabei genauer phantasmata und aisthemata zusammengerückt wer-den können, so daß «für die Denkseele die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder sind», mag einePassage aus De memoria verdeutlichen, in der eikon als explanatorischer Terminus ein Bild und ein vergan-genes Ereignis in Relation setzt (Arist. De mem. 451 a 14–17): �� �.� �σ� 3��λ ����- �λ �μ ��-��-��&���, �,�-���, Ρ�� ����"�����«, ³« �(���« �7 �"������, 8:�«, �λ ����« ������ ��� 3� π�%�,Ρ�� ��; �<��� �(�)-���; �λ 9= ������ �(�)�����)�. Die Erläuterung von Modrak (2001), 234 f.und 237 zeigt gut, wie die Aristotelesforschung diese Beziehung zu fassen sucht: «The image is able torepresent the past event because the image is like the event», so daß sich als aristotelische Konzeptionformulieren lasse, «that a phantasma can function as a likeness that attaches the present mental state to anobject in the world.»

57 Vgl. Büttner (2004), 36–39.58 Macr. Sat. 5, 1, 19: «Denn wenn du die Welt sorgfältig betrachtest, wirst du eine große Ähnlichkeit zwi-

schen jenem göttlichen und diesem poetischen Werk finden.»

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Es wird also ein imitatio-Verhältnis konstituiert und dies als Ähnlichkeitsrelation – simili-tudo – zwischen res und verba, zwischen ‹Welt› und ‹Dichtung› näher expliziert. In Fort-führung der hier angelegten Linie konnte deshalb Bernard Weinberg in einem grundlegen-den Aufsatz zur Renaissancepoetik feststellen:59 «[…] the Res of poetry is indistinguishablefrom the Res of reality» – weshalb natura ihrerseits wieder an Texten exemplifiziert werdenkann, und je besser die Texte, desto wirkungsvoller geschieht dies. Dies gilt vorzugsweisefür Vergils Aeneis bis dahin, daß die durch den Dichter nachzuahmende Natur in vollkom-mener Weise allein in der Dichtung gefunden werden könne. Um dafür nochmals einepointierte Formulierung von Weinberg aufzugreifen:60 «Thus the norm of nature, represen-ted only imperfectly by objects in the real world, is represented perfectly by Vergil’s epic.Vergil is nature.»

Jene von Macrobius konstatierte similitudo ist nun nichts anderes als eine verknappteFormel für das oben entwickelte epistemologische Modell: den Prozeß, daß die durch denText in Gang gesetzten Vorstellungsbilder in Ähnlichkeitsrelation zu jenen Bildern stehen,die durch die Wahrnehmung der Natur ausgelöst werden. Tatsächlich spricht einiges dafür,daß das antike imitatio-Modell insgesamt in solcher Ähnlichkeitsbeziehung von aisthemataund phantasmata, von über die Sinne Wahrnehmbarem und durch Kunst oder Texte er-zeugten Vorstellungen begründet liegt.61 Hierzu sei ein prägnantes Beispiel aus Plinius’Kunstgeschichte gewählt. Zu Apelles, der alle Vorgänger und Nachfolger übertroffen habe,also als Gipfel der Disziplin statuiert wird, findet sich folgendes berichtet:62

Imagines adeo similitudinis indiscretae pinxit, ut – incredibile dictu – Apio grammaticusscriptum reliquerit, quendam ex facie hominum divinantem, quos metoposcopos vocant,ex iis dixisse aut futurae mortis annos aut praeteritae vitae.

Was macht die besondere Qualität des Bildes aus, die eine solche Auszeichnung veranlaßt?Offensichtlich gilt es deshalb als Gipfel der Lebensechtheit, weil es nicht nur die äußere Er-scheinung abbilde, sondern auch das ganze Schicksal des Dargestellten umfasse, welchesbei entsprechenden hermeneutischen Fähigkeiten daraus zu erschließen sei. Zwar mag dieBehauptung angesichts ihres Gewährsmannes einigem Zweifel unterliegen63 – ganz abgese-hen von der prinzipiellen Einschätzung solcher Prognosefähigkeit eines Physiognomikers.Gleichwohl, worauf es ankommt, ist das normative Ideal, das sich hier formuliert findet:eine Nachahmung der tota vita im denkbar umfassendsten Sinne. Erhellend ist die Junktursimilitudo indiscreta: Es handelt sich damit um eine Ähnlichkeit, die so weit reicht, daß sieununterscheidbar ist. Es wird also nicht ein Zusammenfall in der Sache als virtuelles Ideal

59 Weinberg (1942), 348.60 Ebd. 349.61 Daraus erhellt im übrigen auch die dem rhetorisch-poetischen Gebrauch zugrundeliegende Erweiterung

des Gegenstandsbereichs gegenüber der auf pragmata begrenzten aristotelischen mimesis-Konzeption, diedurch ihren abstrakteren, nicht gegenstandsorientierten Ansatz indes eine Reihe von Problemen vermeidet.

62 Plin. N. h. 35, 88: «Er malte auch Bilder von so vollkommener Ähnlichkeit, daß – unglaublich zu sagen –der Grammatiker Apion eine Schrift hinterließ, in der er berichtete, daß ein Mann, der nach dem Gesichtwahrsagte – man nennt solche Leute Physiognomiker –, aus ihnen entweder das kommende Todesjahr oderdie Zahl der vergangenen Lebensjahre bestimmt hat.» – Übersetzung nach Plinius, Naturalis historiae libri /Naturkunde Buch 35, hrsg. und übers. von R. König und G. Winkler, Düsseldorf – Zürich 21997.

63 Die communis opinio im Kommentar von König – Winkler (Anm. 62), 228, die die Aussage aus «der be-kannten Lügenhaftigkeit des Autors» herleiten. Indes ist dieser Grammatiker und Lexikograph, den Pliniusselbst gehört hat, etwas vorsichtiger zu beurteilen: vgl. F. Montanari, Art. «Apion», DNP 1 (1996), 845–847.

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angenommen – die Koinzidenz von Bezeichnendem und Bezeichneten wäre die moderneOption, die zwangsläufig paradox ist –, im Blick steht vielmehr der Erkenntnisakt, insofernUnterscheiden die genuine Tätigkeit des Denkens ist:64 Das Kunstwerk zielt auf das Er-kenntnisvermögen des Betrachters bis dahin, daß dieser keine Unterscheidung mehr anstel-len kann.

Ähnlichkeit bleibt die zentrale Relation im Nachahmungskonzept bis ins 16. Jahrhundert.Das zeigt noch Julius Caesar Scaligers Poetik, die im Einleitungskapitel zum dritten Buchdie Frage verhandelt, was nachzuahmen sei. Hierbei findet sich die Dichotomie von res undverba als vollständige Disjunktion vorgestellt und die Beziehung in folgender Weise kontu-riert:65 Die Wörter würden von den Dingen her ihre forma empfangen, indes nicht in demSinne, daß die Wörter von den Dingen selbst kraft ihrer eigenen Natur geschaffen würden,vielmehr würden statt der Dinge wir die Beschaffenheit und das Ausmaß der Rede der Be-schaffenheit und dem Ausmaß der Dinge angleichen. Nachahmung findet sich somit in denRahmen eines triadischen Schemas ›res – verba – nos› gestellt, in welchem die entschei-dende Rolle der Wahrnehmungs- und Denktätigkeit des Textproduzenten bzw. -rezipien-ten beigemessen wird: Nicht der unterschiedliche ontologische Status von res und verbasowie die Verweisrelation des einen auf das andere ist in dieser mimesis-Konzeption Gegen-stand; zwischen Welt und Dichtung wird vielmehr eine Ähnlichkeitsrelation konstituiert,die eines Erkenntnisaktes bedarf. Den Angelpunkt bildet damit eben jenes Modell, in wel-chem die Denkseele Vorstellungsbilder und Wahrnehmungsbilder zusammenrückt:66 �'*'� ����"����� —� �� �(�)����" 3���, +κ� Ν��� ?+-«.

Daraus erhellt nun insbesondere ein Merkmal, das für die rhetorisch-poetische Textauf-fassung überaus charakteristisch ist: die Verknüpfung von Nachahmungsmodell und visu-ellem Bereich. Mit auffallender Frequenz wird auf den Begriff des Bildes rekurriert: Sermosei nichts anderes als imago; exuberant ist der Gebrauch des Begriffs pingere für dichtenoder überhaupt das Verfassen eines Textes – eine semantische Interferenz zu scribere, diesich auch später noch durchzieht.67 Daher avanciert Visualisierungsqualität in der Litera-turkritik schließlich zu einem wesentlichen Kriterium für literarische Güte. Aufschlußreichist etwa der Vergleich zwischen homerischen Vorbildern und vergilischen Nachahmungenin Macrobius’ Saturnalien. In einem Kapitel, in dem Vergil den Preis davonträgt, heißt eseinmal, dies habe Vergil wunderbar und gleichsam wie in Farbe gemalt:68 Ein solches Urteilreicht bereits aus zu begründen, warum die betreffende Vergilstelle der entsprechenden ho-merischen überlegen sei.

Es sei hierbei nochmals an Quintilians Feststellung erinnert, daß ein Gesamtbild derDinge – tota rerum imago – in Worten abzuzeichnen sei, wofür als Meister Vergil und Ci-cero zitiert werden.69 Warum dies überhaupt anzustreben ist, findet sich in anschließendenÜberlegungen näher ausgeführt. Fallbeispiel liefert das Gefühl des Jammers bei der Ein-

64 Dazu Schmitt (1989); vgl. jetzt auch die große Synthese ders. (2003).65 Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, unter Mitwirkung von

M. Fuhrmann hrsg., übers., eingel. und erl. von L. Deitz und G. Vogt-Spira, 5 Bde., Stuttgart / Bad Cann-statt 1994–2003, iii 1 (Bd. 2, 60, 14–26).

66 Arist. De an. iii 8, 432 a 9–10: «Denn die Vorstellungsbilder sind gleichsam Wahrnehmungsbilder, nur ohneMaterie».

67 Vgl. Wenzel (1995).68 Macr. Sat. 5, 11, 11: hoc mire et velut coloribus Maro pinxit.69 Vgl. o. Anm. 29.

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nahme von Städten: Zwar erfasse einer, der sage, die Stadt sei erobert worden, alles, wasein solcher Schicksalsschlag enthalte, doch dringe es wie eine knappe Nachricht zu wenigtief in unser Gefühl ein:70

At si aperias haec, quae verbo uno inclusa erant, apparebunt effusae per domus ac templaflammae et ruentium tectorum fragor et ex diversis clamoribus unus quidam sonus, alio-rum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumqueploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacrorumquedireptio, efferentium praedas repetentiumque discursus, et acti ante suum quisque prae-donem catenati, et conata retinere infantem suum mater, et sicubi maius lucrum est pugnainter victores. Licet enim haec omnia, ut dixi, complectatur ‹eversio›, minus tamen est to-tum dicere quam omnia.

Hier ist der Übergang von Redekunst zu Literatur mit Händen zu greifen, denn was vomRedner gefordert wird, sind nachgerade literarische Qualitäten. Und in der Tat besteht einerder Wege der lateinischen Literaturgeschichte – etwa jener der neronisch-flavischen Zeit –darin, die Intensität solcher Darstellungen zu erhöhen. Der Bereich der Affekte, dem in derRhetorik aufgrund ihres Wirkungsziels eine Schlüsselrolle beigemessen wird, hat von daherauch in der Literaturtheorie einen systematischen Platz erhalten71 – und dies meint man inder Regel, wenn man von Wirkungsästhetik in Hinblick auf Literatur spricht. Doch ist diesnicht alles. Es sei daran erinnert, daß Quintilian das Vermögen der phantasia in dem Kapitelzu den Affekten aus dem Grunde einführt, weil sich nur durch Einwirkung auf das Vorstel-lungsvermögen Gefühlsregungen steuern ließen. Die Tätigkeit der phantasia ist dabei im-mer, wie gezeigt, als Kognitionsakt aufgefaßt, der Ähnlichkeiten erkennt bis hin zu demIdealwert einer similitudo indiscreta. Eine solche Konzeption von Literatur ist wirkungsäs-thetisch in umfassenderem Sinne: sowohl in Hinblick auf Affekte wie auf Kognition.

V

Halten wir damit zusammenfassend fest, daß sich von verschiedenen Seiten her das prä-senzschafffende ‹poietische› Vermögen der phantasia als Scharnierstelle in der Auffassungvon Literatur erweist, wie sie in der grammatisch-rhetorischen Tradition von Hellenismusund Kaiserzeit kanonisiert und in der Folge tradiert worden ist. Angelpunkt bildet dasKonzept, daß mit der Interpretation von phantasmata als aisthemata etwas Vorgestelltes als‹wirklich› erlebt werde; es gibt daher auch vielfach Anweisungen zu einem identifikatori-

70 Quint. Inst. 8, 3, 68–69: «Wenn du dagegen das entfaltetest, was alles das eine Wort enthielt, dann wird dasFlammenmeer erscheinen, das sich über die Häuser und Tempel ergossen hat, das Krachen der einstürzen-den Dächer und das aus den so verschiedenen Geräuschen entstehende eine Getöse, das ungewisse Fliehender einen, die letzte Umarmung, in der andere an den Ihren hängen, das Weinen der Kinder und Frauenund die unseligerweise bis zu diesem Tag vom Schicksal bewahrten Greise; dann die Plünderung der ge-weihten und ungeweihten Stätten, die Beute, die die Eroberer wegschleppen, deren Umhereilen, um sieeinzutreiben, die Gefangenen, die jeder Sieger in Ketten vor sich hertreibt, die Mutter, die versucht, wenig-stens ihr eigenes Kind festzuhalten, und wo es sich um größeren Beuteanteil handelt, der Wettstreit unterden Siegern. Mag auch das Wort ‹Zerstörung› all das, wie gesagt, umfassen, so ist es doch weniger, dasGanze auszusprechen als alles.»

71 Dies reicht bis dahin, daß etwa Ps.-Longin in der Wirkung auf die Gefühlsregungen das eigentliche Zielpoetischer Vergegenwärtigungsleistung erblicken zu können glaubt (Ps.-Long. De subl. 15, 2).

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Secundum verum fingere 35

schen Lektüremodus.72 Nun sind jene phantasmata jedoch dadurch bestimmt, daß sie ge-rade nicht mit den aisthemata identisch sind, es sich vielmehr um einen durch die Denk-seele vorgenommenen Akt der Identifizierung handelt, einen Mechanismus, der ein‹poietisches› Potential bietet, den Literatur spezifisch nutzt: Sie fingiert.

Es sei an dieser Stelle nochmals an den Grund des rhetorischen Interesses für das Phäno-men der phantasia erinnert: Die Erzeugung von Vorstellungsbildern wird als die entschei-dende Zwischenstufe betrachtet, um Affekte auszulösen und zu steuern; der Mechanismuslautet concipere imagines rerum et tamquam veris moveri, unabhängig, ob es sich dabei umWahrheit oder Fiktion handelt.73 Als Beleg dient nicht zuletzt immer wieder das Theater:Wenn schon bei Tragödien, bei denen man doch wisse, daß sie erdichtet seien, der Schau-spielervortrag Zorn, Tränen, Besorgnis hervorzurufen vermöge, dann müsse das a fortiorifür Dinge gelten, die man aufgrund der Überzeugungskraft des Redners für wirklichhalte.74 Der zuvor benannte Wirkungsmechanismus zeigt indes, daß der unterschiedlicheWirklichkeitsstatus für die Rezeption ganz unerheblich ist:75

Habet autem res ipsa [sc. actio] miram quandam in orationibus vim ac potestatem […]:nam ita quisque, ut audit, movetur.

Dasselbe gilt im übrigen für den Bildbereich, wie Macrobius einmal im Zusammenhangvergilischer Beschreibungskunst festhält:76 Et imago […] idonea est movendis affectibus. Eafit cum aut forma corporis absentis describitur, aut omnino quae nulla est fingitur. Insofern dieAlternative geboten wird, daß es sich um akzidentielle oder um prinzipielle Abwesenheitdes betreffenden Körpers handelt – so im Falle, daß das entsprechende Wesen wie etwaSkylla gar nicht existiere –, zeigt sich auch hier in aller Deutlichkeit: Kriterium für den Me-chanismus der Vergegenwärtigung bildet nicht die Überprüfung der Referenz; die Wirk-samkeit der Fiktionsanweisung wird vielmehr als anthropologisch gegeben vorausgesetzt.

Weiteren Aufschluß liefert in unserem Zusammenhang eine Passage aus Cicero, die dannspäter von Quintilian als Beispiel für besonders virtuosen Einsatz der Technik der Imagi-nationserzeugung angeführt wird.77 Es handelt sich um eine Rede, mithin um jene Gattung,die aufgrund der Anforderung, ein weiteres Publikum zu überzeugen, Einblick in allgemei-nes Wissen gibt. Der Zuhörer wird darin ausdrücklich zu einer Vorstellungstätigkeit auf-gerufen mit dem Argument, die cogitationes – an dieser Stelle für den noch nicht ins Latei-nische eingeführten phantasia-Begriff stehend78 – stünden in unserer Macht:79

72 Repräsentatives Beispiel, das auf quintilianscher Pädagogik beruht und als kanonische Schullektüre bis überdas 18. Jahrhundert hinaus gewirkt hat, M. H. Vida, De arte poetica 1, 115–122.

73 Quint. Inst. 11, 3, 62; vgl. auch o. S. 26 mit Anm. 25.74 Ebd. 11, 3, 5.75 Ebd. 11, 3, 2: «Das Gemeinte selbst aber bedeutet in den Reden etwas ganz Erstaunliches an Kraft und

Macht […]: denn es wird ein jeder so, wie er sie hört, von der Rede gepackt.»76 Macrob. Sat. 4, 5, 9: «Auch das Bild […] ist in der Lage, Affekte auszulösen. Es kommt zustande, indem

entweder die Gestalt eines abwesenden Körpers beschrieben wird, oder überhaupt eine Gestalt, die es garnicht gibt, ersonnen wird.»

77 Quint. Inst. 9, 2, 41.78 Zu den verschiedenen Ansätzen der Übertragung bis zur Durchsetzung des Begriffs imaginatio Flury

(1988).79 Cic. Pro Mil. 79: «Stellt euch vor – unsere Einbildungskraft ist ja unbeschränkt; sie kann sich jeden belie-

bigen Gegenstand ebenso lebhaft ausmalen wie wir das erkennen, was wir vor uns sehen […].» – Über-setzung von M. Fuhrmann.

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Fingite animis – liberae sunt enim nostrae cogitationes et quae volunt sic intuentur ut eacernimus quae videmus […].

Die Tätigkeit des Fingierens wird offenkundig nicht als Gegensatz zur Wahrheit, Vorge-stelltes nicht als Widerspruch zu tatsächlich gesehener Wirklichkeit behandelt, denn sonstwürde Cicero seine eigene Glaubwürdigkeit unterlaufen. Im Gegenteil gilt als nachgeradeselbstverständliche Leistung des Denkens, daß es Dinge genauso ‹manifest› werden zu las-sen vermag, wie dies durch sinnliche Wahrnehmung geschieht.

Es handelt sich hier also um eine Fiktionslizenz. Sie könnte auffällig erscheinen, wennman auf die griechische Seite blickt, auf der die Diskussion durch die Antithese aletheia –pseudos bestimmt ist. Auf lateinischer Seite allerdings wird diese Zweiteilung nie bestim-mend; an ihre Stelle tritt vielmehr seit Beginn des ersten Jahrhunderts v. Chr. im Kontextder Etablierung lateinischsprachiger Rhetorenschulen in Rom die Dreiteilung res verae – resfictae – res fabulosae; dies läßt sich plausibel damit erklären, daß mendacium eine zu verein-deutigende und im rhetorischen Zusammenhang untaugliche Übertragung von pseudos mitseinem viel weiteren semantischen Spektrum wäre.80

Die ficta res findet sich nun dadurch charakterisiert, daß sie geschehen könne (quae tamfieri potest): Sie ist zwar nicht wahr, doch wahrscheinlich (verosimile); dabei wird ihr dieGattung der Komödie aufgrund ihres lebensweltlichen Stoffes und dem Ideal der Lebens-echtheit zugeordnet.81 Daß hier noch res fabulosae, mythische Stoffe, die weder wahr nochwahrscheinlich seien, eigens abgegrenzt werden, erklärt sich aus der Genese der Dreitei-lung im Zusammenhang der Theorie der narratio, also des erzählend-darlegenden Teils derGerichtsrede: Denn hier ist der Umstand, daß eine Sache sich tatsächlich so abgespielt ha-ben könnte, für die Glaubwürdigkeit unabdingbar. Insofern jedoch fingere einer der geläu-figen Begriffe für ‹dichten› ist, wird res ficta rasch zum Terminus, der den Gegenstand vonLiteratur insgesamt bezeichnet. Hierbei fällt auf, daß Fiktionalität in Rom nicht in einen ge-nuinen Zusammenhang mit Lüge gebracht wird: Anders als in Griechenland erlangt in derrömischen Kultur der Vorwurf der Lüge gegen die Literatur nie Konjunktur.82 Fiktionalitätwird nicht vorab unter dem Gesichtspunkt der Differenz zu Wirklichkeit wahrgenommen;in der Spätantike kann man so weit gehen, die Dreiteilung res verae – res fictae – res fabu-losae in eine Zweiteilung zu transformieren, bei der Historisches und Fiktives als synonymbehandelt und gemeinsam dem Fabulösen entgegengesetzt werden.83

Damit dürfte deutlich geworden sein, in welch engem Zusammenhang Textkonzepte zuModellen stehen, in denen sinnliche Wahrnehmung und ihre Verknüpfung mit Kognitionbeschrieben wird und inwiefern dies Konsequenzen für den Bereich literaturwissenschaft-licher Modellbildungen hat. Denn die einzelnen Konzepte enthalten Vorannahmen, die ihre

80 Dazu näher Hose (1996), der die Konsequenzen daraus zieht, daß die Dreiteilung zunächst im lateinischenBereich begegnet.

81 Hauptquellen: Auctor ad Her. 1, 13; Cic. De inv. 1, 27; Quint. Inst. 2, 4, 2.82 Pointiert dazu Hose (1996), 273. Dies muß in Zusammenhang mit der spezifischen Auffassung von Litera-

tur in Rom gesehen werden, die sich von der griechischen in mancherlei Hinsicht grundlegend unterschei-det – was noch näherer Untersuchung harrt.

83 Serv. Aen. 1, 235 Th.-H. Dazu Lazzarini (1984), 120–126, die darin den «tono enunciativo di una formulateorica» (121) erkennt, ohne daß sich allerdings Näheres zu den Quellen sagen ließe; bei allen scharfsinni-gen Beobachtungen ist Lazzarini allerdings in ihrer Orientierung am «principio aristotelico della verosimi-glianza» (133) nicht frei davon, die frühneuzeitliche Uminterpretation der ‹aristotelischen Wahrscheinlich-keit› auf den kaiserzeitlichen Text zurückzuprojizieren.

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Grundlage in jeweils gültigen Kognitionsmodellen finden; daß dies in besonders hohemMaße für die Frage gilt, inwieweit Literatur ‹Nachahmung von Wirklichkeit› sein kann,liegt auf der Hand.

Die römische Reflexion in Rhetorik, Literatur- und Kunsttheorie zeigt dabei einen Mo-dus, Fiktionalität als konstitutives Merkmal von Literatur oder Kunst zu begreifen, ohnedaß dies in Widerspruch zur Orientierung an einer ‹Nachahmung von Wirklichkeit› tretenmuß, die bis hin zu dem Idealwert einer ununterscheidbaren Ähnlichkeit reicht. Solche Ko-härenz ergibt sich, wenn man nicht von einer binären Relation res – verba ausgeht, sondernein triadisches Modell anlegt, in dem die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeitimmer durch einen Erkenntnisakt hergestellt und die Aufgabe des Literaten darin begriffenwird, auf diese Erkenntnistätigkeit ebenso wie auf den Affekthaushalt des Hörers oderLesers einzuwirken. Indem die römische Kaiserzeit dieses Modell zu einem allgemeinenBasiswissen gemacht hat, ist sie eine Scharnierstelle für eine langdauernde Textauffassunggeworden.

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 39

Thorsten Fögen

Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren

«I was so fascinated by the animals with their little silentways, doing most of the things we humans do but lackingthe ability to tell us about it.»

Buchi Emecheta: Head Above Water (Kap. 14: The Zoo)1

«(…) wer im Tierreich uns ähnelt, sei in Gnaden in unserHerz aufgenommen.»

Günter Kunert: Der andere Planet 2

1. Einleitung

Sprache, wie auch immer sie konkret definiert sein mag, ist thematisch eng verknüpft mit derDiskussion über menschliche Vernunftbegabung. So ist es ein wesentlicher Bestandteil anti-ker Kulturentstehungstheorien, unter den besonderen Begabungen des Menschen vor allemseine Sprachbefähigung zu nennen.3 Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß dasBedeutungsspektrum des griechischen Wortes ����« sowohl diese Vernunftbegabung alsauch Sprache einschließt. Dem Menschen mag ein natürlicher Schutz in Form eines Fellsoder Federkleides fehlen, er mag zu seiner Verteidigung und Nahrungssicherung auf keiner-lei Krallen oder scharfe Schnäbel zurückgreifen können. Doch mit Hilfe seines ����« ist erin der Lage, seinen Status eines Mängelwesens durch zahlreiche kulturelle Errungenschaften,die Schaffung von Kulturtechniken, auszugleichen. Hinzu kommt die Selbstorganisation insozialen Gemeinschaften, die eine möglichst dauerhafte Selbsterhaltung gewährleisten sol-len. Zivilisatorisches Bemühen, das sich in der Etablierung eines sozialen Bewußtseins undzielgerichtetem politischen Handeln niederschlägt, wird dem Menschen jedoch erst durchseine ausgeprägte Befähigung zu differenzierter Kommunikation ermöglicht. Die kulturstif-tende Funktion menschlicher Sprache ist es, die in der Antike immer wieder als Grund fürdie Absetzung des Menschen vom Tier, vom �9��� Ν�����, angeführt wird.

1 Zuerst erschienen 1986; hier zitiert nach der Heinemann-Edition (Oxford 1994, 79).2 Zuerst erschienen 1974; hier zitiert nach der Ausgabe des Aufbau-Verlags (Berlin & Weimar 31978, 43).3 Zur Verbindung von menschlicher ratio und oratio u. a. Aristoteles, Pol. I 2 1253a7–18, Xenophon, Mem.

4.3.11 f., Diogenes Laertios 7.55–57, außerdem Isokrates, Ad Nic. (Orat. 3) 5–9 und Antid. (Orat. 15)253–257, sowie Quintilian, Inst. orat. 2.16.12–19 und 2.20.9. Zu Sprache als kulturstiftender und gesell-schaftsbildender Kraft vor allem Cicero, De orat. 1.30–34 und De inv. 1.1–5; siehe auch Sophokles, Ant.354–356 und Horaz, Sat. 1.3.99–106. Weitere Stellen und Literatur bei Fögen (2000: 36); siehe außerdemDierauer (1977: bes. 32–35, 125–128, 225–227, 234–238), Sorabji (1993: 80–86) und Heath (2005: 6–17).Überblicksdarstellungen zu antiken Kulturentstehungstheorien bieten Uxkull-Gyllenband (1924), Guthrie(1957), Dierauer (1977: 25–38), Blundell (1986), Levine Gera (2003) und Müller (2003), ferner Spoerri(1959), jeweils mit weiterer Literatur; besondere Akzentuierung sprachlicher Aspekte bei Ax (1986: 96–102).

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Doch bedeutet dies nicht, daß Tieren nach antiker Vorstellung jegliche Form von Kom-munikation fehlt. In der griechischen und römischen Literatur werden verschiedene For-men tierischer Kommunikation thematisiert. In diesem Beitrag werden exemplarisch einigeTexte analysiert, in denen von «Tiersprache» die Rede ist. Dabei wird jeweils überprüft,wie die Artikulationsformen von Tieren konkret gezeichnet sind. Für jeden Einzelfall sollbetrachtet werden, wie die Kommunikation konkret erfolgt, also wer was mitteilt und ver-steht. Eingeschlossen werden Zeugnisse sowohl zu verbalen als auch zu non-verbalen Ver-ständigungsformen.

Bevor allerdings eine Auswahl antiker Zeugnisse behandelt wird, bietet sich zunächsteine kurze Skizze einiger Ergebnisse der modernen Natur- und Sozialwissenschaften zumThema «Kommunikation von Tieren» an. Daß dabei nur sehr selektiv vorgegangen werdenkann, versteht sich von selbst.

2. Einige Ergebnisse der modernen Forschung zu tierischer Kommunikation

Untersuchungen zur Kommunikation von Tieren werden in verschiedenen Disziplinendurchgeführt, vor allem in der Verhaltensforschung. Die jeweiligen Forschungsperspekti-ven und -absichten sind dabei keineswegs uniform. Es sollen hier lediglich zwei Ansätze er-wähnt werden, die sich in ihrer Ausrichtung durchaus ähneln: die Zoosemiotik und dieBiokommunikationsforschung. Die Zoosemiotik analysiert artspezifische Kommunika-tionssysteme einzelner Tierarten sowie die Eigenschaften von Kommunikation in biologi-schen Systemen. Thomas A. Sebeok (1920–2001), der den Begriff «Zoosemiotik» bereits1963 einführte (Sebeok 1963), hat wiederholt darauf hingewiesen, daß es dabei nicht alleinum das Studium tierischer Kommunikation geht, auch wenn der Terminus häufig so ver-standen wurde:

«Human semiotic systems are of two kinds: anthroposemiotic, that is, species-specificsystems of man; and zoosemiotic, that is, those component sub-systems of human com-munication that are found elsewhere in the animal kingdom as well» (Sebeok 1972: 163;wiederaufgenommen in Sebeok 1977: 1056)

Des weiteren findet sich der Begriff «Biokommunikation», den der VerhaltensphysiologeGünter Tembrock geprägt hat (Tembrock 31982: 8; ausführlicher Tembrock 2004) und mitdem Formen der Nachrichtenübertragung zwischen Lebewesen bezeichnet werden. Esgeht insbesondere um die Fragen, was wie und weshalb kommuniziert wird und welcheVoraussetzungen Lebewesen dafür benötigen.

Da die Vielfalt der modernen Forschung zu tierischer Kommunikation, die sich je nachSpezies auf verschiedenen Ebenen (optisch, akustisch, chemisch-olfaktorisch, taktil) voll-zieht, hier unmöglich dokumentiert werden kann, sollen im folgenden einige Forschungs-ergebnisse zu den Kommunikationsformen dreier ausgewählter Tierarten vorgestellt wer-den, nämlich der Vögel, Bienen und Affen.4

4 Einen nützlichen und gut nachvollziehbaren Überblick über Kommunikationsformen bei Tieren vermitteltder Katalog zur Ausstellung «Tiere lügen nicht», die u. a. im Berliner Museum für Kommunikation gezeigtwurde (Kallinich & Spengler 2004; dort auch weitere Literatur). Knapp und informativ ist der Abschnitt«Do animals have language?» bei Corballis (2002: 21–40).

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Zunächst einige Beispiele für sprachbegabte Vögel:5 Die Fähigkeit von Papageien zurImitation von Lauten ist allgemein bekannt. Als keineswegs außergewöhnlich erscheint derFall des Vasa-Papageis Jacob, der sich seit 1828 im Besitz Alexander von Humboldts befandund über dreißig Jahre in dessen Wohnung lebte: Jacob bekam von Humboldt jeden Mor-gen die Frage gestellt, wer von beiden wohl zuerst sterben werde, und antwortete stets mitdem Satz «Viel Zucker, viel Kaffee, Herr Seifert». Herr Seifert war Alexander von Hum-boldts Diener. Beachtlicher ist dagegen die Leistung des sprechenden Wellensittichs SparkieWilliams, der von 1954 bis 1962 lebte: Sein Vokabular setzte sich aus zehn Kinderrei-men, 383 Sätzen und 531 Wörtern zusammen. 1958 gewann er den europaweiten «BBC In-ternational Cage Bird Contest» für sprechende Wellensittiche und machte zudem imRadio Werbung für Vogelfutter. Noch erstaunlicher ist der folgende Fall: Mit dem Grau-papagei Alex (Psittacus erithacus) beschäftigt sich die amerikanische VerhaltensforscherinIrene Pepperberg bereits seit beinahe drei Jahrzehnten.6 1977 begann sie, dem Vogel dasSprechen beizubringen. Alex verfügt über einen Wortschatz von über 100 englischen Wör-tern und ist in der Lage, auf einschlägige Fragen überwiegend (d. h. zwischen 75 und 85 %)korrekte Antworten zu liefern. Ihm ist es möglich, fünfzig verschiedene Objekte zu benen-nen und ihnen Eigenschaften wie Farbe, Material oder Form zuzuordnen. Zudem kanner bis sechs zählen sowie die Kategorien «größer» vs. «kleiner» und «gleich» vs. «ungleich»auseinanderhalten.

Sind die Laute von Vögeln unüberhörbar und auch durchaus als differenzierte Formender Verständigung einzuordnen, so mag man dies bei anderen Tierarten wie staatenbilden-den Insekten wie Bienen, Wespen und Ameisen nicht sogleich vermuten. Nachdem derösterreichische Biologe Karl von Frisch (1886–1982) in seinen frühen Arbeiten aufzeigte,daß Fische Farben wahrnehmen können und einen empfindlichen Hörsinn besitzen, wid-mete er sich seit 1919 der Erforschung der Honigbiene (apis mellifera). Er fand heraus, daßBienen die Entdeckung und Lage von Futterquellen über tanzähnliche Bewegungen vermit-teln.7 Dabei signalisiert der sogenannte Rundtanz, daß die Nahrungsquelle sich bis maxi-

5 Siehe z. B. Kainz (1961: 54–86) und Sebeok (1968: 311–337). Zahlreiche Aufnahmen «sprechender» Vögel,aber auch vieler anderer Tierarten sind in dem 1951 von Günter Tembrock begründeten Berliner Tierstim-menarchiv zusammengetragen, das als Teil des Museums für Naturkunde dem Institut für Biologie derHumboldt-Universität angegliedert ist. Zum Berliner Tierstimmenarchiv siehe Karl-Heinz Frommolt, DasTierstimmenarchiv am Fachbereich Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin, in: Berliner ornithologi-scher Bericht 3 (1993), 6–8, ferner Karl-Heinz Frommolt, The archive of animal sounds at the Humboldt-University of Berlin, in: Bioacoustics 6 (1996), 293–296. Der Dokumentation von Forschungen zu Tierstim-men widmet sich die seit 1988 bestehende Zeitschrift Bioacoustics: The International Journal of AnimalSound and Its Recording. Überblicke über Methoden und Ergebnisse der Bioakustik bieten u. a. Tembrock(31982), Tembrock (1996), Hopp & al. (1998) und Owings & Morton (1998).

6 Irene M. Pepperberg, The Alex Studies. Cognitive and Communicative Abilities of Grey Parrots, Cambridge,Mass. 2000. Eine Kurzfassung ihrer Forschungen zu dem Graupapagei Alex bietet Pepperbergs folgenderAufsatz: Kommunikation zwischen Mensch und Vogel. Eine Fallstudie zu den kognitiven Fähigkeiten einesPapageis, in: Zeitschrift für Semiotik 15 (1993), 41–67; siehe dazu die kritische Stellungnahme von GünterTembrock, Verhaltensprogramme, unmerkliche Mitteilungen und prozessuales Lernen, in: Zeitschrift fürSemiotik 15 (1993), 68–72. Ein komplettes Literaturverzeichnis der Forschungen Pepperbergs findet sich imInternet (http://web.media.mit.edu/~impepper/impcv.html). Kurzüberblicke z. B. bei Rogers & Kaplan(2000: 67 f., 72), Hillix & Rumbaugh (2004: 237–253) und Anderson (2004: 300–304).

7 Karl von Frisch, Über die «Sprache» der Bienen. Eine tierpsychologische Untersuchung, in: ZoologischeJahrbücher (Physiologie) 40 (1923), 1–186, ferner: Die Tänze der Bienen, in: Österreichische Zoologische Zeit-schrift 1 (1946), 1–48. Spätere Zusammenfassungen seiner Forschungsergebnisse bilden die beiden Mono-

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mal 100 Meter vom Bienenstock entfernt befindet; die Ergiebigkeit der Futterstelle wirddurch die Schnelligkeit des Tanzes angezeigt. Der am Sonnenstand orientierte Schwänzel-tanz dagegen verweist auf eine Nahrungsquelle, die weiter als 100 Meter vom Stock ent-fernt ist; mit Hilfe dieses kommunikativen Verfahrens kann selbst die Lage solcher Nah-rungsquellen vermittelt werden, die bis zu 10 Kilometer vom Bienenstock entfernt sind.Insgesamt verfügen Honigbienen über ca. zwanzig verschiedene Formen der Kommunika-tion, vor allem über Pheromone. So ziehen Stachelpheromone, die in semiotischer Hin-sicht der Signalfunktion einer Alarmglocke (im Sinne von «Gefahr!») gleichzusetzen wä-ren, weitere Bienen an und verstärken deren Aggressivität.

Weitere Untersuchungen zu tierischer Kommunikation wurden vor allem für Men-schenaffen vorgenommen.8 Deren Sprachwerkzeuge sind für vokales Sprechen nicht hin-reichend ausgebildet, so daß man versuchte, Schimpansen ausgewählte Bestandteile derAmerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language) zu vermitteln. Die Schim-pansin Washoe lernte ab 1967, seit dem Alter von etwas mehr als einem Jahr, 132 ASL-Zei-chen und vermochte es schließlich, einzelne Zeichen zu Bedeutungsverbindungen zusam-menzufügen (z. B. will Beere, Zeit trinken, da Schuh). Für die Aneignung zweier Zeichenbenötigte Washoe jedoch allein ein halbes Jahr.9 Einige der im Zusammenhang mit denWashoe-Experimenten aufgestellten Behauptungen wurden in der Forschung kontroversbeurteilt, so z. B. daß die Schimpansin bei der Verständigung mit anderen Affen auf ASLzurückgegriffen habe. Zum Teil wurde sogar der gesamte Ansatz verworfen, u. a. mit derBegründung, daß die von Washoe verwendeten ASL-Zeichen nur eine verkümmerte Formder bei Menschen üblichen Amerikanischen Gebärdensprache seien.

Die hier versammelten Beispiele belegen allesamt, daß die Formen der Kommunikation,über die Tiere verfügen, entscheidende Unterschiede zur menschlichen Sprache,10 wie auchimmer man diese konkret definieren mag, aufweisen:

graphien Tanzsprache und Orientierung der Bienen (Berlin 1965) und Aus dem Leben der Bienen (Berlin91977). Aus der neueren Forschung: Adrian M. Wenner & Patrick H. Wells, Anatomy of a Controversy. TheQuestion of a «Language» Among Bees, New York 1990. Kurzüberblicke finden sich z. B. bei Kainz (1961:9–25), Sebeok (1968: 217–243) und Anderson (2004: 63–89); siehe auch Ingold (1998: 92–94) und Steiner(2005: 245–250).

8 Aus den zahlreichen Veröffentlichungen zur Kommunikation bei Affen sei eine Publikation jüngeren Da-tums herausgegriffen: Sue Savage-Rumbaugh, Stuart G. Shanker & Talbot J. Taylor, Apes, Language, andthe Human Mind, Oxford 1998 (mit weiterer Literatur). Überblicke z. B. bei Kainz (1961: 86–119), Sebeok(1968: 466–522), Sebeok & Rosenthal (1981: 35–129), Bright (1984: 212–230), Lestel (1995, 1998), Rogers &Kaplan (2000: 63–66), Hillix & Rumbaugh (2004: 55–66, 69–211, 255–267), Anderson (2004: 166–196,264–300) und Steiner (2005: 238–242).

9 Zu Washoe siehe Beatrix T. Gardner & R. Allen Gardner, Two-way communication with an infant chim-panzee, in: Allan M. Schrier & Fred Stollnitz (Hrsg.), Behavior of Nonhuman Primates. Modern ResearchTrends (Vol. 4), New York & London 1971, 117–184, außerdem R. Allen Gardner, Beatrix T. Gardner &Thomas E. van Cantfort (Hrsg.), Teaching Sign Language to Chimpanzees, Albany, New York 1989. – Zuden andersgearteten Magnettafel-Experimenten mit Schimpansen siehe die folgenden Arbeiten: Ann J. Pre-mack & David Premack, Teaching language to an ape, in: Scientific American 227 (1972), 92–99. – DavidPremack, Intelligence in Ape and Man, Hillsdale, N. J. 1976. – David Premack & Ann J. Premack, The Mindof an Ape, New York 1983.

10 Siehe beispielsweise Hockett (1959, 1960), Lenneberg (1967: 227–270), Ramsay (1969), Thorpe (1972),Bright (1984: 231–234), Ingold (1998: 91 f., 95), Makepeace Tanner (1998: 128), Anderson (2004: 20–37,49–62, 318–324) und Hillix & Rumbaugh (2004: 18–21, 28 f.), außerdem Steiner (2005: 18–36). Kainz(1961: 1–9, 157–282) liefert einen gründlichen Forschungsüberblick. Eine knappe Zusammenfassung bietetDavid Crystal, Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache, Frankfurt & New York 1995, 396 f.

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a) Natürliche Sprachen weisen eine «zweifache Gliederung» (double articulation) auf, wievor allem André Martinet betont hat.11 Dies bedeutet, daß sich sprachliche Ausdrückeauf zwei unterschiedlichen Ebenen zerlegen lassen: zum einen in Morpheme (kleinstebedeutungstragende Einheiten, bei Martinet «Moneme» genannt), also Segmente, dieaus Form und Bedeutung bestehen, zum anderen in Phoneme (kleinste bedeutungsun-terscheidende Einheiten), die nur Form, aber keine Bedeutung aufweisen. Aus derStrukturierung auf phonologischer Ebene, auf der zahlreiche verschiedene Laute nachbestimmten Kombinationsregeln miteinander verknüpft werden, ergibt sich die Unend-lichkeit natürlicher Sprachen. Laute wie Vogelrufe lassen sich dagegen nur in bedeu-tungstragende Einheiten der ersten Ebene aufgliedern, jedoch nicht in kleinere bedeu-tungsunterscheidende Segmente.

b) Was artspezifische Signale bedeuten, muß von den meisten Tierarten nicht erst erlerntwerden; das Wissen darüber ist ihnen offenbar bereits weitgehend, bei manchen Tierar-ten sogar vollständig angeboren. So beruht auch der Schwänzeltanz der Bienen auf In-stinkt.

c) Formen tierischer Kommunikation sind zumeist Reflexe auf äußere Signale, beruhenalso auf einem situationsgebundenen Reiz-Reaktions-Schema. Außerdem haben Tierenicht (oder wie im Falle von Schimpansen nur sehr begrenzt) die Möglichkeit, einzelneKommunikationselemente je nach Situation neu zu kombinieren.

d) Tieren fehlt die Möglichkeit zu sprachlicher Abstraktion und zu metasprachlichen Aus-sagen, also mittels Sprache über Sprache zu reden. Dieser Umstand dürfte zugleichkommunikative Aussagen über Vergangenheit und Zukunft ausschließen. Zudem kön-nen Tiere begriffliche Verallgemeinerungen nicht durch Symbole ausdrücken.

e) Die Hervorbringung mancher tierischer Signale ist geschlechtsabhängig. So können z. B.bei manchen Tierarten bestimmte Balzsignale nur von Männchen oder Weibchen einerTierart produziert werden, nicht aber von beiden.

Diskussionen derartiger Unterscheidungen zwischen menschlicher Sprache und tierischerKommunikation durchziehen die neuzeitliche Sprachwissenschaft. So hob beispielsweiseJacob Grimm in seiner Akademierede «Über den Ursprung der Sprache» (1851) hervor,daß zwar entwickeltere Tierarten ihre Empfindungen durch eine besondere lautliche Arti-kulation zum Ausdruck brächten, diese Lautäußerungen aber nicht erlernt, sondern ange-boren seien und zudem keinem Wandel unterlägen. Diese Charakteristika setzten Tierlautedeutlich von menschlicher Sprache ab, deren Schaffung nicht auf einer göttlichen Offenba-rung beruhe, wie häufig angenommen wurde, sondern allein auf der rationalen Fähigkeitdes Menschen.12

11 André Martinet, La linguistique synchronique. Études et recherches, Paris 1965 (Deutsche Fassung: Synchro-nische Sprachwissenschaft, Berlin 1968).

12 Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache. Gelesen in der Akademie am 9. Januar 1951, in: Ders.,Selbstbiographie: Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen. Hrsg. und eingeleitet von Ulrich Wyss,München 1984, 154–189, hier S. 160 f.: «jedem vollkommneren warmblutigen thier, vögeln wie säugenden,ist immer ein ganz besonderer laut eigen, mit welchem es seine empfindungen wechselweise des behagens,der lust und des schmerzes, lockend oder scheuchend kund thun kann; einigen unter ihnen und zwar nichtden uns sonst verwandten vierfüßigen thieren, sondern voraus dem gevögel wurde ein klangvoller, mei-stens anmutiger und herzerfreuender gesang zugetheilt. stehn alle thierlaute nicht der menschensprachezur seite? Diese thierische in ihrer äußerung gleich der thiergestalt selbst manigfaltigste stimme ist abersichtbar von natur in jedes thier geprägt und wird von ihm hervorgebracht ohne sie erlernt zu haben. (…)

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Die Differenzierungskriterien der Arbitrarität und Konventionalität betonte der ameri-kanische Linguist William Dwight Whitney (1827–1894) in seinem 1875 erschienenenBuch The Life and Growth of Language. Tierische Kommunikationsformen wichen so mas-siv von menschlicher Sprache ab, daß man diese keinesfalls mit dem Begriff «Sprache» be-zeichnen könne.13

Besonderes Interesse an Kommunikationsformen von Tieren zeigte auch Georg von derGabelentz (1840–1893) in seinem Buch Sprachwissenschaft, zuerst veröffentlicht im Jahre1891. Im einleitenden Kapitel definiert er den Begriff der menschlichen Sprache und diskutiertin diesem Zusammenhang auch die «Sprachen der stimmbegabten Thiere», deren rhetorischeLeistungsfähigkeit beachtlich sei. Tiersprachen glichen in vielerlei Hinsicht gestisch-mimi-schen Elementen, doch fehle ihnen «der gegliederte Ausdruck des Gedankens durch Laute»;daher falle deren Untersuchung auch nicht in den Zuständigkeitsbereich des Linguisten.14

Auf Gabelentz und dessen Bemerkungen zu den Grundlagen des menschlichen Sprach-vermögens verweist rund drei Dezennien später Otto Jespersen (1860–1943) zu Beginn desKapitels «The Origin of Speech» in seiner Darstellung Language (1922). Dabei erinnert erzugleich daran, daß der Mensch nicht als einziger über eine «Sprache» (bezeichnender-weise in Anführungszeichen gesetzt) verfüge und manche Tiere möglicherweise sogar einvollendeteres Verständigungsmedium als der Mensch besäßen; doch räumt er ein, daß manüber tierische Kommunikation noch zu wenig wisse und daher Spekulationen über derenCharakter wenig ertragreich seien.15 Die Anfänge menschlicher Sprache vergleicht er jeden-

darum bleibt die jeder thierart angewiesene stimme immer einförmig und unveränderlich: ein hund belltnoch heute wie er zu anfang der schöpfung boll, und mit demselben tirelieren schwingt die lerche sich aufwie sie vor vielen tausend jahren that. das angeschaffene hat weil es angeschaffen ist unvertilgbaren charak-ter. (…) Die stimme, mit welcher die thierwelt für alle einzelnen geschlechter einförmig und unabänderlichausgestattet wurde, steht demnach in unmittelbarem gegensatz zur menschlichen sprache, die immer ab-änderlich ist, unter den geschlechtern wechselt und stets erlernt werden muß. Was der mensch nicht zu ler-nen braucht und alsobald in das leben tretend von selbst kann, das bei allen völkern sich gleich bleibendewimmern, weinen und stöhnen oder jede anderen ausbrüche leiblicher empfindung, das allein könnte demschrei der thierischen stimme mit recht an die seite gesetzt werden, das gehört aber auch zu menschenspra-che nicht, und läßt mit deren werkzeugen sich eben so wenig als der thierlaut genau ausdrücken, nicht ein-mal vollständig nachahmen.»

13 William Dwight Whitney, The Life and Growth of Language. An Outline of Linguistic Science, New York1875, 2 f.: «(…) man is the sole possessor of language. It is true that a certain degree of power of commu-nication, sufficient for the infinitely restricted needs of their gregarious intercourse, is exhibited also bysome of the lower animals. (…) But these are not only greatly inferior in their degree to human language;they are also so radically diverse in kind from it, that the same name cannot justly be applied to both.Language is one of the most marked and conspicuous, as well as fundamentally characteristic, of the facul-ties of man.» Ähnlich S. 281 f. und 305 f., bes. 282: «The essential difference, which separates man’s meansof communication in kind as well as degree from that of the other animals, is that, while the latter is in-stinctive, the former is, in all its parts, arbitrary and conventional.»

14 Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, Leip-zig 21901 (repr. Tübingen 1969), 2–4. Ferner wichtig ist das Kapitel «Die Grundlagen des menschlichenSprachvermögens», darin vor allem der Abschnitt zu physischen und psychischen Grundlagen(S. 304–313), in dem u. a. die Fähigkeit von Vögeln zur Lautimitation thematisiert wird.

15 Otto Jespersen, Language. Its Nature, Development and Origin, London 1922, 412: «(…) we must first of allrealize that man is not the only animal that has a ‹language›, though at present we know very little about thereal nature and expressiveness of the languages of birds and mammals or of the signalling system of ants, etc.The speech of some animals may be more like our language than most people are willing to admit – it mayalso in some respects be even more perfect than human language precisely because it is unlike it and has de-veloped along lines about which we can know nothing; but it is of little avail to speculate on these matters.»

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falls mit den Balzlauten von Tieren und führt ihr Entstehen somit auf Emotionen und In-stinkt zurück; zugleich unterstreicht er das spielerisch-musikalische Element, das demFrühstadium von Sprache innewohne.16 Es könne allerdings erst dann von Sprache imeigentlichen Sinne die Rede sein, wenn es sich um eine ganz bewußte Mitteilung an anderehandelt und nicht lediglich um einen vokalen Gefühlsausbruch. Jespersens Ausführungenlaufen auf die Feststellung hinaus, daß der Mensch ungleich differenziertere Verständi-gungsmöglichkeiten als das Tier besitze.17

Einen wichtigen ethischen Aspekt menschlicher Kommunikation hob Jan Baudouin deCourtenay (1845–1929) im Rahmen einer 1923 in Kopenhagen gehaltenen Vortragsreihehervor: Nur mit Hilfe menschlicher Sprache könne man eine Untat wie einen Mord recht-fertigen oder gar schönreden.18 Diese Absetzung des Menschen vom Tier nimmt bei Bau-douin de Courtenay Züge einer Kulturkritik an, die sich vor allem gegen Euphemismenund Mißbrauch der Rhetorik richtet.

3. Antike Zeugnisse zu Formen tierischer Kommunikation

3.1 Vorbemerkungen

Die nachfolgend diskutierten Quellen zu tierischen Kommunikationsformen stammenzum einen aus Prosatexten (Ktesias, Aristoteles, Textausschnitte aus Lehrschriften derStoiker, Plinius der Ältere und Aelian), zum anderen aus dichterischen Werken (Homer,Ovid und Statius). Über das dritte nachchristliche Jahrhundert geht die folgende Darstel-lung schon aus Raumgründen nicht hinaus. Einige Zeugnisse wurden bewußt ausgeklam-mert, so z. B. die späteren griechischen und römischen Grammatiker, insbesondere derenfür die hier verfolgte Fragestellung interessanten ��λ ����«- bzw. de voce-Kapitel (dazuAx 1986: 15–58, 212–266). Damit wird deutlich, daß die hier betrachteten Texte, die eine

16 Jespersen (1922 [wie Anm. 15]: 434): «In primitive speech I hear the laughing cries of exultation when ladsand lasses vied with one another to attract the attention of the other sex, when everybody sang his merriestand danced his bravest to lure a pair of eyes to throw admiring glances in his direction. Language was bornin the courting days of mankind; the first utterances of speech I fancy to myself like something between thenightly love-lyrics of puss upon the tiles and the melodious love-songs of the nightingale.»

17 Jespersen (1922 [wie Anm. 15]: 437): «In the case of human language, communication is infinitely more fulland rich and elaborate».

18 Jan Baudouin de Courtenay, Einfluß der Sprache auf Weltanschauung und Stimmung, in: Prace filologiczne14 (1929), 185–256, hier 190 f.: «Ein hungriges tier kann zwar ein anderes ihm ähnliches tier töten, um es zuverzehren; wird aber nie seine mordtat mit schönklingenden heuchlerischen phrasen rechtfertigen. Umeine solche heuchelei zu treiben, um unverschämt zu erklären, dass man im namen der freiheit, der machtdes vaterlandes, der kultur, der zivilisation, der revolution, der gerechtigkeit, des fortschritts, kurz und gutim namen verschiedener schönklingenden losungsworte lebende wesen vernichtet und kulturschätze zer-stört, dazu gehört die verblendung und die fälschungssucht eines mit dem sprachlichen denken ausgestat-teten wesens, eines wesens, welches seine sogenannten ideen in wörter einverleibt und dieselben in seineabgötze und moloche verwandelt.» Siehe auch Thorpe (1972: 33) zu «prevarication»: «This connotes theability to lie or talk nonsense with deliberate intent. It is highly characteristic of the human species andhardly found at all in animals. Possible exceptions occur in the play of some mammals and a few birds,where we see what appear to be gestures, feints, and ruses designed to mislead»; ferner Owings & Morton(1998: 41 f., 204–211). – George Orwells Werk Animal Farm (1945), in dem Tiere einander durch Sprachemanipulieren, ist selbstverständlich eine Überspitzung, die sich aus der literarischen Allegorie ergibt.

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begrenzte, aber dennoch durchaus repräsentative Auswahl aus der Vielzahl an antiken Do-kumenten zu «Tiersprachen» darstellen, recht unterschiedlichen literarischen Gattungenzuzuordnen sind. Genre-Konventionen und damit verbundene darstellerische Intentionenhaben in nicht unerheblichem Maße den Gehalt und Charakter der einzelnen Zeugnisse be-einflußt. Neben einer kritischen Überprüfung des Aussagewerts der hier vorgestelltenTexte soll daher zugleich der Überlegung nachgegangen werden, inwiefern die Schilderun-gen von «Tiersprachen» Rückschlüsse auf die Anlage, die Art und Weise der Stoffpräsen-tation, die erzählerischen Strategien und den Gesamtcharakter eines Textes zulassen.

3.2 Aristoteles

Im ersten Buch seiner Historia animalium leistet Aristoteles eine generelle Systematisierungder Tiere nach zahlreichen physiologischen, biologischen und sozialen Differenzierungs-kriterien wie z. B. ihren Lebensweisen, Aktivitäten und Lebensräumen, ebenso nach ihrencharakterlichen Eigenschaften.19 In diesem Kontext nimmt er kurz eine Unterscheidungvon stummen und stimmbegabten Tieren vor, ohne jedoch ein hinreichend klares Bild überEinzelheiten zu vermitteln.20 Erhellung liefert erst ein ausführlicherer Abschnitt im viertenBuch derselben Schrift, der eigens der Stimme von Tieren gewidmet ist (Hist. anim. IV 9535a26–536b23):21 Tiere haben nur dann ���� («Stimme»), wenn sie über einen be-stimmten physiologischen Apparat verfügen, nämlich über Lunge und Pharynx. Was mitanderen Organen hervorgebracht wird, ist nicht ����, sondern lediglich ����« («Laut»)wie z. B. bei Insekten, die Laute durch Membrane erzeugen, und bei Fischen (535b12–32)mit Ausnahme des Delphins, der dank seiner Lungen und Luftröhre ���� besitzt, wennauch wegen des Fehlens von Lippen keine gegliederte ���� (535b33–536a3).22 Zu denTieren mit Zunge und Lungen, die eine – wenn auch schwache – ���� haben, gehörenSchlangen, Schildkröten und Frösche. Das Quaken letzterer wird als eine Art Brunftschreibeschrieben, der im übrigen auch anderen Tieren wie Ziegen, Schweinen und Schafen zu-eigen sei (536a4–16).

Bei den Vögeln kommen diejenigen der Äußerung von Sprache am nächsten, die ent-weder eine breite oder aber eine dünne, feine Zunge haben (536a20–32; ähnlich Part. anim.II 17 660a29-b2). Aufschlußreich sind in den betreffenden Passagen die folgenden ergän-zenden Bemerkungen: (1) Bei manchen Vogelarten haben Männchen und Weibchen die-

19 Zu Aristoteles als Zoologe, vor allem zu seiner Klassifikation von Tieren, siehe Pellegrin (1982) und Zucker(2005a, 2005b), ferner die Kurzüberblicke bei Dumont (2001: 225–258), Bouffartigue (2002: 136–140) undGiebel (2003: 61–68), jeweils mit weiterer Literatur. Siehe auch French (1994: bes. 42–53, 56–62).

20 Aristoteles, Hist. anim. I 1 488a32–488b2: ��λ �� ��� ��������, �� �� Ν����, �� �� ��������, ��λ������ �� ��� ��������� �!�� �� �� $��������, ��λ �� ��� ���"�� �� �� #�����, �� �# 9&���� ���# Ν�9���α ����� �� ����μ� �μ ��λ ��« (!�"�« ����#�� 9Ν���� ��λ ����)�.

21 Zum folgenden ausführlich Dierauer (1977: 125–128), Ax (1978; 1986: 119–138), Zirin (1980), Tabarroni(1988: 111–113), Sinnott (1989: 23–28, 41–103), Labarrière (1993; 2004: 19–59) und Wille (2001: 814–998);siehe auch Steiner (2005: 61–76, bes. 74 f.).

22 Zur Unterscheidung von ����« und ���� siehe auch De anima II 8 420b5–421a6, bes. 420b5–11: π �����κ ����« �"« ,#��� ,���!�-α ��� ��� $��!�� �./�� ����), $��� ��/# ²�������� �����������)�, �0�� �.�μ« ��λ ���� ��λ Ρ#� Ν��� ��� $��!�� $���#�� �!�� ��λ ����« ��λ ���������.����� ���, Ρ�� ��λ π ���κ ��2�# �!��. ���� �� ��� �93�� �.� �!�-#� �����, �0�� �� �� Ν�������λ ��� ,��"��� 4!/��« (��λ ��2�# �.����«, �5�� $���« �"��#"« �"« ,#��� ² ����«).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 47

selbe Stimme, bei anderen verschiedene (geschlechtsspezifisches Kriterium). Eine ge-schlechtsbezogene Differenzierung in bezug auf die Stimme wird im weiteren Verlauf auchfür alle anderen Tierarten zugrundegelegt.23 (2) Die Größe eines Vogels ist entscheidend fürKlangvariation und Häufigkeit des Gesangs: je kleiner, desto polyphoner und sangesfreu-diger (physiologisches Kriterium). (3) Während der Paarungszeit singt jede Vogelart ammeisten (zeitlich-saisonales Kriterium).24 (4) Bisweilen sind Äußerungen durch bestimmteAnlässe wie einen Kampf motiviert (situationales Kriterium). Die anatomisch-physiologi-schen Voraussetzungen hatte Aristoteles allerdings bereits im zweiten Buch der Historiaanimalium etwas präziser gefaßt als an dieser Stelle: Die Fähigkeit, Laute zu äußern, seiVögeln vor allen anderen Tieren eigen, die in diesem Punkt gleich hinter dem Menschenrangierten. Doch seien es vor allem Vögel mit einer breiten Zunge, die über diese Gabe ver-fügten (Hist. anim. II 12 504a34-b3).

Eine «sprachliche» Äußerung (��������«) ist für Aristoteles die Artikulation(����/��#�«) von ���� mit Hilfe der Zunge.25 Dabei werden Vokale mittels Stimme undLarynx produziert, Konsonanten mit Hilfe einer hinreichend beweglichen Zunge und derLippen (Hist. anim. IV 9 535a31-b3; Part. anim. II 16–17 659b27–660a29). Des weiterenbemerkt Aristoteles, daß die Stimme (����) sich vorrangig durch unterschiedliche Ton-höhen unterscheide, ansonsten aber innerhalb einer Tierart konsistent sei. Die gegliederteStimme (π �# ,� ��)« Ν�/���«, 6� Ν� ��« —#�� ��������� �5����) sei hingegen vonTierart zu Tierart anders, und selbst die Vertreter derselben Tierarten verfügten je nach Ortüber verschiedene ���������; damit existierten regionale Varianten von «sprachlichen»Äußerungen derselben Tierarten, ähnlich wie beim Menschen (diatopisches Kriterium).Als Beispiel werden Wachteln angeführt, deren Artikulation von einer Gegend zur anderendivergiere (Hist. anim. IV 9 536b8–14).26 Daß zudem ���� im Gegensatz zu der durchTraining formbaren ��������« von Natur aus (��#��) gegeben sei, veranschaulicht Ari-

23 Hist. anim. IV 11 538b13–15: ��λ ��λ ����« ��, ���� �� /���� ������������ ��λ (7-����-����, �κ� :��«, Ρ#� �!�� �����α �¹ �� :��« :�������� �/�������� �¹ /������ ��� $������.Weiter ausgeführt in Hist. anim. V 14 544b32–545a21, allerdings ergänzt durch ein altersspezifisches Krite-rium; siehe auch Gen. anim. V 7 786b7–788b2.

24 Siehe auch Hist. anim. IX 49B 632b14–633a28, woraus zumindest der Anfang (632b14–21) zitiert sei: ����# (����� ���� ����:����-#� ���� ��« —��« ��λ �μ !���� ��λ �κ� �����, �0�� ² ����-��«$��λ ������« 7��/�«, ��λ �κ� ���κ� 5#!�� $���"��α ,� ��� ��� �9� /���� 9Ν���, ��2 �� !������«�����) ��λ �/������� /��-:���«. ����:����� �� ��λ π �"!�� �μ !����α ��2 ��� ��� !������«���� ��2 �� /���-« ���"�� �� ��λ �μ� �.!��� 5#!��α �κ� ������ ���κ� �.��� ����:�����.Auch in diesem Passus wird hervorgehoben, daß Vögel während der Paarungszeit am häufigsten und va-riantenreichsten singen (633a10 f.).

25 Zu dem Terminus ����/��#�« siehe Zirin (1980: 336): «The notion of ����/��#�«, articulation, is to betaken quite literally here. ;���/��#�« is based upon Ν�/���, ‹joint›. Pure voice is indivisible, but speechis voice which has been provided with ‹joints› in the form of consonants through the action of the tongueand lips. The result of this ‹jointedness› is that speech is divisible into a series of discrete units.»

26 Der Aristoteles-Schüler Theophrast scheint sich mit diesem Aspekt näher befaßt zu haben. Für ihn istP��λ <�������"�« (�93��) ��� ²������� als Titel eines zoologischen Werks überliefert (DiogenesLaertios 5.43; Athenaios, Deipn. 9.43 390a). Auch Theophrast hat offenbar Wachteln als ein Beispiel für lo-kale Lautvariation angeführt, wie Aelian in De nat. anim. 3.35 bemerkt: P���"��� �/���� ‘� �.����#ω� $���#���« 4�����, $��� �#�� �������. ��λ #A/���#" �� �¹ ,������ ��2 K��-�����������- Ν���  !�2#�, ��λ �¹ ,"���� Ν���. �"�� �� ,#�� ��)« �/����#� �� (������, ,��) @�����-#��«. ,� �� �9� B����"9� ��λ �9� $������« E.�"9� ²������" �� �4#� ��λ ³« ω� �5�� ��« ²���������(ähnlich Athenaios, Deipn. 9.43 390a). Zu Einzelheiten siehe Sharples (1995: 43, 51–58).

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stoteles am Beispiel einer Nachtigall, die ihr Junges im Gesang unterrichtet (Hist. anim. IV 9536b17–19, siehe Anm. 58).

Es zeigt sich, daß nach der Darstellung der Historia animalium sowohl Menschen alsauch manche Vögel, die bestimmte anatomisch-physiologische Voraussetzungen aufwei-sen, im Besitz von ��������« sind. Doch mögen gewisse Tierarten auch über Stimmenverfügen, die auf eine differenziertere Kommunikation hindeuten, so handelt es sich gleich-wohl nicht um Äußerungen, die der menschlichen Sprache (����«) in jeder Hinsichtgleichkämen. «Sprechende» Vögel wie der Papagei, der allgemein als «mit einer mensch-lichen Zunge ausgestattet» ($�/����������) bezeichnet werde, werden im weiterenVerlauf der Schrift der Gruppe der Lebewesen zugeordnet, die eine imitative Begabung(��������) aufweisen (Hist. anim. VIII 12 597b25–28).27 Schon daran wird deutlich, daßsolchen Tieren keine menschliche Sprache im eigentlichen Sinne zugeschrieben wird, diemit einer aktiven, selbständigen Generierung von Äußerungen verbunden wäre. Daß zu-dem der Papagei nicht notwendigerweise auch selbst als $�/���������« eingestuftwird, zeigt sich an dem Zusatz �μ ��������� («der allgemein so bezeichnete»).

Über tatsächliche Sprachbegabung verfügen laut Aristoteles ausschließlich Menschen,allerdings nicht solche, die von Geburt an taub sind; zwar besäßen auch Gehörlose ����,jedoch keine Sprache (��������«)28 – ähnlich wie Kinder, die noch keine Kontrolle überihre Zunge hätten. Zu der Sozialisation des Menschen gehöre der allmähliche Sprach-erwerb, der als schrittweise Einübung der Zungenbewegung und damit als Überwindungvon unkontrollierter Artikulation (����"����, ���-�"����) zu sehen sei (Hist. anim. IV 9536a33-b7).29

Hinzu kommt ein semiotischer Aspekt: Wie aus der Definition des C���� in De inter-pretatione (2 16a19–29) und des #���!�)�� in der Poetik (20 1456b22–25 und ff.) ersichtlich,ist menschliche Sprache für Aristoteles zum einen aufgrund ihrer Konventionalität, zumanderen wegen der Kombinationsfähigkeit sprachlicher Laute zu komplexeren Einhei-ten von den Formen tierischer Kommunikation abzuheben. Er erkennt Tieren weder(������ noch #��:��� zu, auch wenn sie durchaus zu einem #���"���� imstande seien;die Bedeutung tierischer Zeichen beruht allerdings nicht wie bei menschlichen #��:���auf willkürlicher Zuordnung, sondern scheint gleichsam ��#�� zu sein, so bei Äußerungenvon Emotionen.30

27 Es sei allerdings der Vollständigkeit halber angemerkt, daß die Echtheit des siebten bis zehnten Buches derHistoria animalium und damit auch der hier behandelten Stelle bezweifelt wurde; dazu Sharples (1995:33–35), mit weiterer Literatur.

28 Hist. anim. IV 9 536a33-b7; siehe auch Gen. anim. V 7 786b20–22: ����#�� ��� ������« (i.e. ��)«$�/�3��«) ������ �κ� ������� $�������� π ��#�« ��� �9� ���9� !��#/�� ����-« ��� �93��,��2 �� ����- D��� �ρ��� �κ� �����. Ähnlich Plinius, Nat. hist. 10.192: auditus cui hominum primonegatus est, huic et sermonis usus ablatus, nec sunt naturaliter surdi, ut non iidem sint et muti.

29 Antike griechische Zeugnisse zu Sprachbehinderungen und Taubheit behandelt Martha L. Rose, The Staffof Oedipus. Transforming Disability in Ancient Greece, Ann Arbor 2003, 50–78.

30 Dazu ausführlicher Ax (1978: 262–269; 1986: 129–137), der allerdings mit Recht darauf verweist, daß sichdie Sache nicht ganz eindeutig verhält – zumindest nicht bei Tieren mit ��������«. Vor allem der PassageHist. anim. IV 9 536b14–19 (siehe oben) lasse sich entnehmen, daß auch den ����" und ��������� derVögel das Merkmal der Konventionalität innewohnt (Ax 1978: 265 f.; cf. Labarrière 1993: 254–256). An-dererseits ist zu konstatieren, daß sich Inkongruenzen vor allem terminologischer Art auch für Aristotelesnicht ausschließen lassen und somit die hier gezogenen Schlüsse nicht grundsätzlich in Zweifel zu stellensind.

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 49

Daß ����« etwas spezifisch Menschliches ist, hat laut Aristoteles nicht nur physiolo-gische und semiotische Gründe, sondern vor allem eine ethische Komponente, wie er zuBeginn der Politik darlegt: Stimme (����), die Emotionen wie Schmerz und Freudeanzeige, sei zwar auch anderen Lebewesen verliehen; doch über Sprache (����«), die einenAustausch über Wertmaßstäbe wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder Nützliches undSchädliches ermögliche, verfüge allein der Mensch. Diese Position impliziert, daß mancheTiere wie Vögel zwar zur Übermittlung von Informationen durchaus in der Lage sind, alsoüber ��������« verfügen,31 daß sie jedoch keine ethischen und damit politischen Inhalte dis-kutieren. Es ist somit Sprache als kulturstiftende und gesellschaftsbildende Kraft, die denMenschen in herausragender Weise zu einem �9��� �������� macht.32 Damit verbundenist seine Fähigkeit zu rationaler Überlegung und zu nachhaltiger Erinnerung; zwar gebe esTiere, die über Gedächtnis (�����) und Lernfähigkeit (����!�) verfügten, ein ausgepräg-tes Erinnerungsvermögen sei jedoch dem Menschen vorbehalten.33 Das Gleiche gelte fürsittliche Einsicht (NE VI 13 1144b).

3.3 Die Stoiker

Der Stoiker Diogenes von Babylon (ca. 240–150 v. Chr.) ist der Verfasser einer SchriftP��λ ����«. Wie bei Diogenes Laertios überliefert, definiert Diogenes den Begriff ����als eine Erschütterung der Luft oder die dem Gehörsinn zukommende Wahrnehmung.34

Menschliche Stimme unterscheidet sich von der tierischen in zweierlei Hinsicht: Sie wirdzum einen nicht lediglich durch einen natürlichen Impuls (Gμ ²���«) hervorgebracht,sondern durch eine Verstandesleistung ($μ �������«); zum anderen ist sie gegliedert(����/��«). Interessant ist der Zusatz, daß sie ihre Reife mit dem Alter von vierzehn Jah-ren erreicht; damit wird unterstrichen, daß der Mensch nicht von Geburt an über eine ar-

31 Der Begriff ��������« tritt in diesem Abschnitt bezeichnenderweise gar nicht auf; siehe dazu Zirin (1980:344).

32 Pol. I 2 1253a7–18: ;���� �� ������μ� ² Ν�/���« �9��� �#�« ���"���« ��λ ���μ« $����"�-�93�- �»����, �����. O./�� ���, ³« �����, ����� π ��#�« ���)α ����� �� ����� Ν�/���« �!����� �93��α π ��� �σ� ���κ ��2 �-���2 ��λ π���« ,#�λ #���)��, ��μ ��λ ��)« Ν����« G��!���93��«α ��!�� ��� �����- π ��#�« �.��� ,���-/�, ��2 �!��� �5#/�#�� �-���2 ��λ π���« ��λ��2�� #���"���� $������«α ² �� ����« ,λ �9� ����2� ,#�� �μ #-������ ��λ �μ :��:����, —#����λ �μ �"����� ��λ �μ Ν�����α ��2�� ��� �μ« �Θ��� �9�� ��)« $�/�3��« 5����, �μ �����$��/�2 ��λ ����2 ��λ ����"�- ��λ $�"��- ��λ ��� Ν���� �5#/�#�� �!���α π �� ������ ������"����) �4�"�� ��λ ����. Zum Fehlen einer Differenzierung von ����« und ���� in diesem Passus sieheSinnott (1989: 78): «Aristoteles berücksichtigt hier die in den biologischen Werken eingeführte Unterschei-dung zwischen artikulierter und unartikulierter Stimme nicht, aber man kann wohl annehmen, daß die andieser Stelle genannte tierische Stimme die zwei Varianten – die artikulierte und die unartikulierte – enthältund daß der Begriff von Sprache den artikulierten Ausdruck als eine Komponente umfaßt.»

33 Hist. anim. I 1 488b24–27: :�-��-���μ� �� ����� Ν�/���« ,#�� ��� �93��. ��λ �����« ��� ��λ����!�« ���� �������), $�������#��#/�� �# �.��� Ν��� ������� �κ� Ν�/���«. AusführlicherMet. A 1 980a27-b29. Siehe auch Mem. 449b28–30, 450a15–20 und 453a5–13; dazu Richard Sorabji, Ari-stotle on Memory, London 1972, bes. 40 f., 77–79, ferner Sorabji (1993: 50 f., 94 f.).

34 Aus Raumgründen ist der nachfolgende Überblick zur Stoa sehr verknappt und vereinfacht. Es sei daherauf die ausführliche Darstellung bei Ax (1986: 138–211) verwiesen, der zugleich ältere Literatur zum Themazu entnehmen ist. Einen Kurzüberblick gibt Gentinetta (1961: 94–102); siehe auch Dierauer (1977:234–238).

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tikulierte ���� verfügt, sondern in dieser wie in anderer Hinsicht einen Entwicklungs-prozeß durchläuft.35 Von der ���� werden im weiteren Verlauf zwei Termini abgesetzt,nämlich ��7�« und ����«. Eine aus Buchstaben zusammengesetzte und damit gegliederteStimme (���κ ,���������«) bildet im Gegensatz zu einem bloßen Schall (J!�«) eineÄußerung (��7�«). Doch ist nicht jede ��7�« bedeutungstragend (#��������«): Einegegliederte Lautäußerung wie z. B. :�"�-�� hat keine Bedeutung und damit nicht den Sta-tus eines ����«. Aus diesem Grunde ist eine Lautäußerung (������#/��) von einer be-deutungstragenden Aussage (������), die durch eine Verstandesleistung zustandekommt,abzusetzen.36 Der Begriff ��������« tritt freilich auch in der von Diogenes Laertios refe-rierten stoischen Lehre auf, hat aber aufgrund seiner enger gefaßten Definition als national-und regionalsprachliche Varianten der ��7�« eine andere Bedeutung als in den zuvor disku-tierten Passagen des Aristoteles.37

Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: Der Mensch ist deshalb sprachbegabt,weil er im Gegensatz zum Tier ein vernunftbegabtes Wesen ist. Tieren ist keine begrifflicheVorstellung gegeben, so daß sie lediglich Laute hervorbringen, die durch natürlicheImpulse evoziert sind. Diese Konzeption von Sprache ist eine Konsequenz der stoischenAnthropologie, die so nachdrücklich wie keine andere philosophische Schule der Antikedie Vernunftlosigkeit der Tiere postuliert und allein dem Menschen Vernunft zuschreibt.Damit ist eine gegenüber Aristoteles eindeutigere grundlegende Trennung von mensch-licher Sprache und tierischen Verlautbarungen gegeben, die aber (soweit ersichtlich) außeracht läßt, daß Artikulation nicht allein auf die menschliche Stimme begrenzt ist; darüberhinaus ist der von Aristoteles herausgearbeitete Aspekt des bedeutungshaften Charakters(#���"����) menschlicher wie auch tierischer Äußerungen ausgespart.

Eine vergleichbare Systematik findet sich bei Chrysippos von Soloi (ca. 280–208/04v. Chr.), dem Lehrer des Diogenes von Babylon. Wie Varro im sechsten Buch seiner SchriftDe lingua Latina berichtet, seien für Chrysippos sowohl bestimmte Vögel wie Raben undKrähen38 als auch Kinder nicht in der Lage, echte Wörter zu produzieren, da sie nicht wis-sen, wie sie ihre Laute richtig anordnen sollen – oder anders gesagt: weil sie keine Syntax

35 Diogenes Laertios 7.55: �#�� �� ���κ $κ� ��������« ν �μ 5���� �4#/��μ� $���«, —« ��#�;������« ² B�:-�3���« ,� �9� P��λ ����« ��!�9�. �93�- ��� ,#�� ���κ $κ� Gμ ²���«��������«, $�/�3�- �# �#��� ����/��« ��λ $μ �����"�« ,��������, ³« ² ;������«��#"�, M��« $μ ������##���� ,��� ������2���.

36 Diogenes Laertios 7.56: ��7�« �� ,#���, —« ��#� ;������«, ���κ ,���������«, �0�� NH����. ����«�� ,#�� ���κ #�������κ $μ �����"�« ,��������, �0�� NH���� ,#��. Weiter ausgeführt in 7.57:�������� �� ���κ ��λ ��7�«, Ρ�� ���κ ��� ��λ ² J!�« ,#��, ��7�« �� �μ ����/��� �����. ��7�« ������- ��������, Ρ�� ����« $�λ #��������« ,#��, ��7�« �� ��λ Ν#���«, ³« π :�"�-��, ����« ���.����«. �������� �� ��λ �μ ������ ��2 ������#/��α ���������� ��� ��� �¹ ����", ��������� �� �������, ψ �κ ��λ ����� �-�!����.

37 Diogenes Laertios 7.56: ��������« �� ,#�� ��7�« ��!�������� ,/����« �� ��λ NE�������«, ν ��7�«�����, ��-��#�� ��� ���� ���������, �0�� ���� ��� �κ� #A�/"�� @������, ���� �� �κ� #I���NH����. Dazu Gentinetta (1961: 100), Ax (1986: 201, 210) und Anna Morpurgo Davies, The Greek notionof dialect, in: Thomas Harrison (Hrsg.), Greeks and Barbarians, New York 2002, 161 f. mit Anm. 18 (zuerstin: Verbum 10 [1987], 7–27). Zu Recht verweist allerdings Ax (1986: 128 Anm. 45, 202) darauf, daß bereitsin Hist. anim. IV 9 536b8–14 (s. o.) der Begriff ��������« im Sinne einer diatopischen Sprachvarietät auf-gefaßt wird.

38 Diese Vögel galten vor allem in der römischen Antike als besonders sprechfreudig, wie z. B. Plinius, Nat.hist. 10.121–124 und Macrobius, Sat. 2.4.29 f. belegen. Dazu ausführlicher Keller (1893: bes. 5 f., 13) undSchmidt (2002: bes. 130 f., 155), ferner Pollard (1977: 25–27) und Sauvage (1975: 185–191).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 51

haben. Vogellaute und die Laute von Kindern befinden sich demnach auf derselben Ebene:in beiden Fällen handelt es sich nicht um ein wirkliches Sprechen (loqui ), sondern nur umein Quasi-Sprechen (ut loqui ), weil zum einen keine rationale Motivation hinter der Laut-produktion steht und zum anderen kein Bewußtsein für die korrekte serielle Positionierungdes Lautmaterials existiert.39 Impliziert ist hierbei eine Trennung zwischen reiner stimm-licher Äußerung (����« ��������«) und sinnhafter, auf Rationalität beruhender innererSprache (����« ,����/���«). Nur der vollentwickelte Mensch ist in der Lage, seine hör-baren Lautäußerungen mit inneren Konzepten zu verknüpfen. Demgegenüber verfügenKinder wie auch Vögel lediglich über ����« ��������«, nicht jedoch über ����« ,�-���/���«.40 Diese Differenzierung liegt auch in der bereits behandelten Passage bei Dioge-nes Laertios vor, in der ������ von ������#/�� abgehoben wird (7.57, siehe Anm. 36).

Auf einer primitiven Ebene verfügen Tiere jedoch nach stoischer Lehre durchaus über For-men der Kommunikation, vor allem im Falle symbiotischer Verhältnisse. Wie Chrysipposoffenbar im fünften Buch seiner Schrift über das Gute und die Lust darlegte, wird die Steck-muschel ("���, lat. pina) vom Seekrebs durch einen Biß darauf aufmerksam gemacht, wannsie ihre Schalen zuklappen soll, um die dazwischen befindlichen kleinen Fische zu fangen unddiese dann mit dem Krebs zu teilen. Eine solche gemeinsame Strategie der Nahrungsbeschaf-fung sei, wie in dem bei Cicero berichteten Beispiel hinzugefügt wird, angesichts der Ver-schiedenheit der beiden Tiere bemerkenswert. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen,ob diese Form der Symbiose von Natur aus (also schon immer) bestehe oder aber auf einerArt Übereinkunft basiere und sich erst im Laufe der Zeit (modern gesprochen: der Evolution)herausgebildet habe.41 Bei aller Bewunderung für verschiedene Einrichtungen innerhalb derTierwelt kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß für die Stoiker derartige Phänomenenicht-lautlicher, non-verbaler Kommunikation bei Tieren mit Sprache nichts zu tun haben.

Seneca äußert sich später zu den entscheidenden Punkten folgendermaßen: Tiere verfügentrotz ihrer fehlenden Sprachbegabung durchaus über Fähigkeiten, die der Lebenserhaltungdienen (Epist. 121.24).42 Daß ihre Stimme nicht zu mehr als reinen Lautäußerungen imstandeist, hat physiologische Gründe: ihre Zunge ist im Gegensatz zu der des Menschen nicht hin-reichend beweglich. Ebenso ist ihr seelisches Zentralorgan (π���������, im Lateinischenwiedergegeben als principale), das beim Menschen für das Zustandekommen sinntragender

39 Varro, De lingua Latina 6.56: Loqui ab loco dictum. Quod qui primo dicitur iam fari vocabula et reliqua verbadicit ante quam suo quique loco ea dicere potest, hunc Chrysippus negat loqui, sed ut loqui: quare ut imagohominis non sit homo, sic in corvis, cornicibus, pueris primitus incipientibus fari verba non esse verba, quod nonloquantur. Igitur is loquitur, qui suo loco quodque verbum sciens ponit, et is tum prolocutus, quom in animoquod habuit extulit loquendo. Dazu u. a. Ax (1986: 182 f.) und Sorabji (1993: 81; 1997: 369 f.), letzterer mitVerweis auf moderne Diskussionen über die Frage nach dem Vorhandensein von Syntax in «Tierspra-chen», ferner Hellfried Dahlmann, Varro und die hellenistische Sprachtheorie, Berlin & Zürich 21964, 41 f.(mit früherer Literatur).

40 Zu diesen beiden Termini siehe Mühl (1962: bes. 8–16), Matelli (1992), Glidden (1994: bes. 133–136) undLabarrière (1997).

41 Cicero, De off. 2.123 f. (= SVF II 729): Pina vero – sic enim Graece dicitur – duabus grandibus patula conchiscum parva squilla quasi societatem coit comparandi cibi; itaque cum pisciculi parvi in concham hiantem inna-taverunt, tum admonita a squilla pina morsu conprimit conchas: sic dissimillimis bestiolis communiter cibusquaeritur; in quo admirandum est, congressune aliquo inter se an iam inde ab ortu natura ipsa congregatae sint.Siehe auch Athenaios, Deipn. 3 89d (= SVF II 729a): ² �� ��������« (…) ������ �.�κ� —#��#���"���, ferner Plutarch, De soll. 30 980a-b (= SVF II 729b).

42 Zum Instinktgedanken und zur Oikeiosis-Lehre bei den Stoikern siehe insbesondere Dierauer (1977:199–224; 1998: 63–69) und Sorabji (1993: 122–133).

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Sprache verantwortlich ist, zu wenig fein ausgebildet und entwickelt.43 Manche Tiere mögenden Menschen durch ihre Stimmqualität übertreffen wie z. B. der Hund durch seine größereLautstärke, der Adler durch seine größere Schärfe, der Stier durch seine Stimmgewalt oderdie Nachtigall durch ihren anmutigen Klang; doch führt das Fehlen von Vernunft (ratio), dieden Menschen in die Nähe der Götter rückt und bei rechter Anwendung ein erfülltes Lebenbewirkt, bei diesen Tieren nie zum Besitz von echter Sprache (Epist. 76.9 f.).

Ein solches Konzept, das mit einer tiefgreifenden prinzipiellen Trennung von Menschund Tier einhergeht, blieb nicht unwidersprochen. Die folgenden Autoren haben beson-ders eingehend zum Status des ����« ��������« und des ����« ,����/���« Stellungbezogen:44 Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) vor allem in seinen Schriften De sollertia anima-lium und Bruta animalia ratione uti, ferner Sextus Empiricus (fl. Ende des 2. Jh. n. Chr.)45

sowie Porphyrios (ca. 234–305 n. Chr.) im dritten Buch seines Traktats De abstinentia. Ex-emplarisch sei hier lediglich eine Passage aus Plutarchs De sollertia animalium herausgegrif-fen (19 973a-e): Stare, Krähen und Papageien, die sprechen zu lernen vermögen, seien einBeispiel dafür, daß auch sie über ����« ��������« und eine gegliederte Stimme (���κ����/��«) verfügen. Plutarch verweist auf Aristoteles’ Schilderung der Lernfähigkeit vonNachtigallen (s.o.) und ergänzt eine Anekdote über einen Eichelhäher (�"���), der alle mög-lichen Laute – und zwar menschliche Sprache ($�/�3�- T�����) ebenso wie Tierlaute(/��"�� �/����-«) und den Klang von Musikinstrumenten (����-« (������) –nachahmen konnte.46 Nachdem dieser Vogel bei einem Begräbnis Trompetenmusik ver-nommen hatte, sei er für geraume Zeit verstummt. Er habe jedoch, anders als zunächst an-genommen wurde, keineswegs seine Stimme oder sein Gehör verloren, sondern währendder Phase seines Schweigens innerlich die Imitation des Trompetenklangs eingeübt, den ernach einer Weile präzise wiedergab. Diese Geschichte sieht Plutarch als einen Beleg dafüran, daß für eine solche Form der Selbstinstruktion die bloße Bereitschaft zum Lernen nichtausreicht, sondern eine rationale Leistung hinzukommen muß – und zwar eine Bewerk-stelligung, die aufgrund einer bewußten Auswahl dessen, was geäußert wird, über blindeImitation hinausgeht.47 Dieser Sichtweise zufolge ahmen Vögel also nicht beliebig Lautenach, sondern stellen eine innere Reflexion darüber an, was sie konkret «äußern» wollen.Plutarchs Position, daß auch Tiere Vernunft haben, steht der stoischen Lehre klar entgegenund bringt eine Reihe von Konsequenzen mit sich, insbesondere für die Haltung und den

43 Seneca, De ira 1.3.7: Nulli nisi homini concessa prudentia est, providentia, diligentia, cogitatio nec tantum vir-tutibus humanis animalia sed etiam vitiis prohibita sunt. Tota illorum ut extra ita intra forma humanae dissimilisest; regium est illud et principale aliter ductum. Ut vox est quidem sed non explanabilis et perturbata et verboruminefficax, ut lingua sed devincta nec in motus varios soluta, ita ipsum principale parum subtile, parum exactum.

44 Dazu u. a. Tabarroni (1988: 108–111), Sorabji (1993: 81–84), Glidden (1994: bes. 136–148) und Labarrière(1997); siehe auch Steiner (2005: 100 f., 107 f.).

45 Siehe Sextus Empiricus, Pyrrh. hyp. 1.62–78 (bes. 1.73–77) und Adv. math. 8.275 f., 8.285–288.46 Siehe auch Aristoteles, Hist. anim. IX 13 615b19 f.: π �� �"��� ����« ��� ����:����� ��"#��«

(��/# <��#��� ��� ³« �4�)� π����� Ν���� $�"�#�). Das Beispiel des Eichelhähers ist auch bei SextusEmpiricus angeführt (Pyrrh. hyp. 1.73): (…) ����#�� ��� ²����� �� ���, ��λ U� ² ����«, ��λ$�/��"��« ���������� ����«, ³« �"���« ��λ Ν��� ����.

47 Plutarch, De soll. 19 973d-e: (…) Ν#��#�« ³« ����� ��λ $��!3��#�« �4« <�-�μ ��2 ��������2, ��/-��� C������ ,7���-�����- �κ� ���κ� ��λ ���#��-������«α Ν��� ��� �σ/�« V�� ��λ$�������� �.��� ��� #-��/�� ��λ ������ ��������� ,��"���, $��� �� ���� ��� #��"�����.��)« �������« �/�������� ��λ ����:���« �#�« ��λ ���-����� ���7��2#� ����«T-/���«α —#��, Ρ�� ����, ��« �.��/�"�« ����������� �ρ��� �κ� �.����/���� ,� �.��)«.

Page 59: Antike und Abendland

Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 53

Umgang des Menschen mit Tieren.48 Dies schließt auf moralischer Ebene ein, daß sich derMensch Tiere durchaus zunutze machen kann, ihnen gegenüber jedoch keine Rücksichts-losigkeit oder Grausamkeit anwenden soll.

3.4 Plinius der Ältere: Naturalis historia

Über Plinius den Älteren und seine in der Naturalis historia angeblich zum Ausdruck kom-mende mangelnde Selbständigkeit und blinde Sammelwut las man lange Zeit geradezu ver-nichtende Urteile (Bodson 1986: 107 f.), so beispielsweise bei Arthur Schopenhauer, Theo-dor Mommsen oder Eduard Norden. Erst in den letzten Jahren hat man sich stärker darumbemüht, die Eigenart der Darstellung des Plinius zu erfassen und ihn selbst weniger vor-eingenommen zu sehen.49 Kein zweiter römischer Autor hat jedenfalls ein so breites Spek-trum an Wissensbeständen aus dem Bereich der Naturwissenschaften zusammengetragenund vermittelt damit einen wichtigen Einblick in die Wissenskultur der frühen Kaiserzeit.Zugleich durchzieht die Naturalis historia eine moralische Komponente. Aufschlußreich fürdie hier verfolgte Fragestellung sind neben der in der sogenannten Anthropologie (Buch 7)angesiedelten Debatte über den Menschen als Mängelwesen50 vor allem das achte Buch zuLandtieren und das zehnte Buch zu Vögeln, aber auch das elfte Buch zu Insekten.

Unter die zumindest passiv sprachbegabten Tiere rechnet Plinius nicht allein diverseVogelarten, sondern auch Elefanten und Löwen. Mit einer umfangreichen Beschreibungdes Elefanten beginnt das achte Buch der Naturalis historia (8.1–34; siehe Scullard 1974:208–218; French 1994: 216–218; Giebel 2003: 87–94; Mastrorosa 2003). Der Elefant sei dasgrößte unter den Landtieren und zudem dem Menschen an Sinn und Verstand am näch-sten; daher verstehe er die in seinem Land gesprochene Sprache, sei folgsam und gelehrigund verfüge sogar über gewisse moralische Tugenden.51 Plinius referiert unter Berufung auf

48 Siehe Newmyer (1992, 1999, 2005), Santese (1994), French (1994: 178–184), Dumont (2001: 350–365),Giebel (2003: 198–208), Goguey (2003: 87–89, 92), Steiner (2005: 93–103) und Gilhus (2006: 44–52).

49 Hier kann, zusätzlich zu dem Hinweis auf Beagon (1992) und French (1994: 196–255), nur eine kleine Aus-wahl zentraler Publikationen aufgeführt werden: Guy Serbat, Pline l’Ancien. État présent des études sur savie, son œuvre et son influence, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 32.4 (1986), 2069–2200. –Roger French & Frank Greenaway (Hrsg.), Science in the Early Roman Empire. Pliny the Elder, his Sourcesand Influence, London & Sydney 1986. – John F. Healy, Pliny the Elder on Science and Technology, Oxford1999. – Valérie Naas, Le projet encyclopédique de Pline l’Ancien, Roma 2002. – Trevor Murphy, Pliny theElder’s Natural History. The Empire in the Encyclopedia, Oxford 2004.

50 In bezug auf die menschliche Sprachbegabung heißt es in Nat. hist. 7.4 pointiert: hominem nihil scire sinedoctrina, non fari, non ingredi, non vesci, breviterque non aliud naturae sponte quam flere. Mit ungefähr sie-ben Jahren sei der Mensch in der Lage, sich sprachlich voll zu artikulieren (Nat. hist. 11.174); seine Stimmeerreiche ihre volle Kraft mit vierzehn Jahren (Nat. hist. 11.270). Als bemerkenswert wird allerdings die Viel-zahl der Sprachen hervorgehoben: sermones, tot linguae, tanta loquendi varietas, ut parvum dictu, sed in-mensum aestimatione, tot gentium externus alieno paene non sit hominis vice (Nat. hist. 7.7).

51 Plinius, Nat. hist. 8.1: Maximum est elephans proximumque humanis sensibus, quippe intellectus illis sermonispatrii et imperiorum oboedientia, officiorum, quae didicere, memoria, amoris et gloriae voluptas, immo vero,quae etiam in homine rara, probitas, prudentia, aequitas, religio quoque siderum solisque ac lunae veneratio.Zu ihrem Schamgefühl (pudor) siehe Nat. hist. 8.12 f., zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden (iustitia) siehe Nat.hist. 8.15. Von einer Art Gemeinsamkeit des Elefanten mit dem Menschen (quandam … cum genere humanosocietatem) spricht Cicero, Ad fam. 7.1.3. Siehe auch French (1994: 217): «Pliny obviously approved of theelephant and in projecting human traits to it made it almost a model Roman».

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54 Thorsten Fögen

den früheren Konsul C. Licinius Mucianus einen Fall, bei dem ein Elefant das Schreiben ingriechischer Sprache erlernt haben soll (Nat. hist. 8.6 [= HRR fr. 12]), ohne dabei zu hin-terfragen, wie dies rein anatomisch möglich gewesen sein soll; es ist nicht einmal angedeu-tet, daß der Elefant zum Schreiben möglicherweise seinen Rüssel benutzt haben könnte.Die Stelle ist ein Beispiel dafür, daß Plinius bisweilen recht unkritisch mit seinen Quellenumgeht und Informationen ganz unterschiedlichen Charakters unkommentiert aneinan-derreiht.

Für Löwen (Nat. hist. 8.41–58) berichtet Plinius, daß diese den Sinn menschlicher Bittenund Besänftigungsversuche verstünden und Milde gegen Flehende zeigten, insbesonderewenn es sich um Frauen handele. Dafür führt Plinius den Erfahrungsbericht einer nament-lich nicht genannten Gefangenen an, die in Wäldern von Löwen angefallen worden sei unddiese erfolgreich mit dem Hinweis auf ihr schwaches Geschlecht besänftigt habe. Der sichanschließende Kommentar zeigt jedoch, daß dieser eine Beleg Plinius nicht dafür ausreicht,das Verhalten der Löwen in diesem konkreten Einzelfall als allgemeingültig zu bezeichnen;da weitere empirische Belege fehlten, schließt er nicht aus, daß es sich genauso um einenZufall gehandelt haben könnte (Nat. hist. 8.48). Immerhin steht für ihn fest, daß man dieStimmung (animus) von Löwen an ihrem Schwanz erkennen könne: keine Bewegungbedeute Sanftmut, geringe Bewegung signalisiere Schmeichelei, heftiges Schlagen desSchwanzes trete bei Wut auf (Nat. hist. 8.49; ähnlich 11.137 in bezug auf die Ohren vonPferden und Lasttieren, die indicia animi seien). List und Argwohn seien ihnen fremd; da-her trete bei ihnen auch kein schielender Blick auf (Nat. hist. 8.51 f.).

Einem letztlich nicht identifizierbaren Tier, das als leucrocota bezeichnet wird und dessenKörperteile im einzelnen an Wildesel, Hirsch, Löwe und Dachs erinnern sollen (Nat. hist.8.72), wird die Fähigkeit zur Nachahmung der menschlichen Stimme zugeschrieben. Indiesem Punkt hat die leucrocota eine Ähnlichkeit mit Hyänen, die ihrerseits ihre angeblicheimitative Gabe zu dem Zweck verwenden, Menschen aus ihren Behausungen zu lockenund sie dann zu zerreißen; die Sprachbegabung dieser Tiere hat also für den Menschenetwas Bedrohliches. Doch leitet Plinius diese Darstellung mit dem Hinweis darauf ein, eswürde viel Seltsames (multa mira) über Hyänen erzählt, und stellt damit die Glaubwürdig-keit derartiger Berichte in Frage (Nat. hist. 8.106).52 In eine ähnliche Kategorie gehörenfür Plinius auch die beiden Zeugnisse zu sprechenden Tieren als Vorzeichen (prodigia),die in einem politischen Kontext stehen: Die Entthronung des Königs Tarquinius seiu. a. durch einen sprechenden Hund und eine bellende Schlange angekündigt worden (Nat.hist. 8.153). Als ein «Vorzeichen der Alten» (prodigiis priscorum) wird ein sprechenderOchse aufgeführt; dieses prodigium habe den Senat veranlaßt, seine Sitzungen unter freiemHimmel abzuhalten.53 Eine solche Form der Sprechfähigkeit von Tieren im Rahmen vonOmina signalisiert geradezu eine Widernatürlichkeit, eine verkehrte Welt, in der ein Unheildroht; derlei Ausnahmesituationen implizieren zugleich das Wirken übermenschlicherMächte.

52 Parallelstellen (dort aber �[�]�������, nicht leucrocota): Aelian, De nat. anim. 7.22; Dalion, FGrHist666F1; Porphyrios, De abst. 3.4.5. Diodor 3.35.10 stuft den Bericht ebenfalls als abstrus ein; cf. Aelian, Denat. anim. 7.22: �4 ��λ �-/���« �μ �4�������.

53 Zu sprechenden Ochsen beispielsweise auch Livius 3.10.6, 24.10.10, 27.11.4, 35.21.4, ferner Valerius Ma-ximus 1.6.5 und Tacitus, Hist. 1.86.1. Siehe auch Arnobius, Adv. nat. 7.9 (zum Kontext Gilhus 2006:151–154).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 55

Zu den Tieren, die als auch aktiv sprachbegabt beschrieben werden, kommt Plinius inseinem zehnten Buch, das der Beschreibung verschiedener Vogelarten54 gewidmet ist. Erführt in der Buchmitte zunächst zwei Beispiele für Vögel an, die die Stimmen anderer Tierezu imitieren imstande sind: der sogenannte «Stier» (gemeint ist wohl die Rohrdommel),der das Brüllen von Rindern nachahmt, sowie der anthos (vielleicht die Schafstelze; cf.Robert 1911: 62 f.; Thompson 21936: 51 f.; Pollard 1977: 52 f.), der das Gewieher von Pfer-den imitieren soll (Nat. hist. 10.116). Ausführlicher spricht Plinius dann über Vogelarten,die die menschliche Stimme nachahmen und zum Teil sogar sprechen (der hier verwendeteTerminus ist sermocinari ) wie beispielsweise Papageien, Elstern und Raben (Nat. hist.10.117–124). Als physiologischen Grund für diese Art der Sprachbegabung verweist Pli-nius, offenbar in Anlehnung an Aristoteles (s. o.), auf die breiteren Zungen dieser Vögel.Dafür, daß sie sich Wörter und zum Teil auch längere Wortgruppen aneigneten, sei jedochaußerdem eine bestimmte Lehrmethode erforderlich: Das Sprechtraining solle idealerweisean einem abgeschiedenen, ruhigen Ort erfolgen, an dem die Vögel nicht durch andere Stim-men abgelenkt würden. Ein wiederholtes Vorsprechen der Wörter, die die Tiere lernen sol-len, müsse von Belohnungen durch Futtergaben begleitet werden.

Auffällig ist bei Plinius, daß manche Tiere in seiner Darstellung geradezu vermenschlichtsind. Hatte er den Elefanten bereits gewisse moralische Qualitäten zugeschrieben, diesonst nur Menschen zueigen sind (s. o.), so sind seine Ausführungen zur Nachtigall55 (Nat.hist. 10.81–85) nahezu durchweg von einer anthropomorphisierenden Herangehensweisegetragen.56 Die Sangesleistung und Musikalität dieses Vogels sei, vor allem angesichts sei-ner geringen Körpergröße, derart beeindruckend, daß man sie als ars bezeichnen müsse.Dementsprechend geht Plinius davon aus, daß der Gesang von Nachtigallen in einem auf-wendigen Verfahren erlernt wird, und unterstreicht diese Position mit der kurzen Schilde-rung einer Gesangsstunde, bei der die Vogellehrerin ihre Schülerin tadele und die Schülerinsich im Gegenzug um eine Verbesserung ihrer Leistung bemühe. Zudem fänden öffentlicheGesangswettbewerbe statt, bei denen es hitzig zugehe.57 Auch Aristoteles bemerkt kurz,daß man beobachtet habe, wie eine ältere Nachtigall ihr Junges im Gesang unterwies; dochfehlt bei ihm jegliche Ausgestaltung dieses Berichts und ebenso eine Anthropomorphisie-rung der Vögel.58

54 Zu Vögeln in der Antike, einschließlich ihrer Beliebtheit als Haustiere, siehe vor allem Keller (1913: 1–246),ferner Giebel (2003: 129–134), Jennison (1937: 99–121), Toynbee (1973: 237–282) und Pollard (1977); cf.auch Thompson (21936), Sauvage (1975: 101–290) und Rink (1997).

55 Zu Nachtigallen siehe die entsprechenden Kapitel bei Keller (1887: 304–320), Thompson (21936: 16–22),Toynbee (1973: 276 f.), Pollard (1977: 42 f.) sowie Chandler (1934/35) und Sauvage (1975: 192–206), von de-nen die beiden letzteren primär dichterische Texte behandeln.

56 Kurze Bemerkungen zur graduell unterschiedlichen Anthropomorphisierung von Tieren in den Schriftendes Plinius, Plutarch und Aelian finden sich bei Martini, Küppers & Landfester (2000: 134 f., allgemeiner142–144).

57 Nat. hist. 10.83: certant inter se, palamque animosa contentio est. victa morte finit saepe vitam spiritu prius de-ficiente quam cantu. meditantur aliae iuveniores versusque, quos imitentur, accipiunt; audit discipula intentionemagna et reddit, vicibusque reticent: intellegitur emendatae correptio et in docente quaedam reprehensio. DazuChandler (1934/35: 78): «he (i.e. Pliny) strains our credulity when he tells us that the young take singinglessons from their elders and that the birds engage in musical contests (…).»

58 Aristoteles, Hist. anim. IV 9 536b17–19: W�� �# τ��� ��λ $��Ω� �����μ� ������#��-#�, ³« �.!²��"�« ��#�� ��« ��������- �Κ#�« ��λ ��« ����«, $��# ,���!������ �����#/�� (Aelian, derdiese Stelle in De nat. anim. 3.40 kurz aufgreift, ignoriert interessanterweise das Passiv τ��� und unter-stellt Aristoteles, er habe den von ihm beschriebenen Sachverhalt selbst gesehen: ����� �� #A��#������«

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56 Thorsten Fögen

Das elfte Buch der Naturalis historia ist den Insekten gewidmet, die trotz ihrer Kleinheiteine beeindruckende Perfektion aufwiesen, was auf das kunstvolle Wirken der Natur zu-rückzuführen sei (Nat. hist. 11.1 f.). Plinius geht hier nicht zuletzt auf die unterschiedlichenLautäußerungen von Insekten ein. In dem Abschnitt zu Bienen (Nat. hist. 11.11–70) greifter manches auf, was sich bereits bei Aristoteles findet. Aufschlußreich sind seine Differen-zierungen für die Laute von Zikaden (Nat. hist. 11.92–95; cf. Aelian, De nat. anim. 1.20,5.9): Er unterscheidet stumme (mutae) von singenden (canorae), was zum einen arten-,zum anderen geschlechtsspezifisch motiviert sei: Die kleinere Zikadenart ist im Gegensatzzur größeren stumm, bei beiden Arten singen nur die männlichen Zikaden (mares canunt inutroque genere, feminae silent). Bei den singenden gebe es graduelle Abweichungen. Auchdas geographische Vorkommen dieser Insekten hänge zusammen mit ihrer Sangesbega-bung; so gebe es in manchen Gebieten Zikaden, die überhaupt keine Laute äußerten.

Die Art und Weise, in der Aristoteles und Plinius die Formen tierischer Kommunikationbehandeln, ist nur ein Beispiel für die deutlichen Unterschiede zwischen den beiden Auto-ren. Physiologische Erklärungen nehmen bei Aristoteles einen weit größeren Raum ein alsbei Plinius. Die recht ausführliche Differenzierung zwischen Laut, Stimme und Sprache,die bei Aristoteles ein wichtiges Kriterium für die Absetzung verschiedener Tierarten von-einander bildet, fehlt bei Plinius. Überhaupt ist die Darstellung der Historia animalium sy-stematischer, stringenter und nüchterner als die der Naturalis historia. Auf die wiederholteEinflechtung von Paradoxa und Mirabilien hat Aristoteles zugunsten einer stark empirischorientierten Vorgehensweise verzichtet. Zwar kennzeichnet Plinius bestimmte Berichte alsunglaubwürdig, bezieht diese aber dennoch in seine Ausführungen ein. Die unterbliebeneAusfilterung von Unbelegtem kennzeichnet zugleich den für Plinius recht geringen Stellen-wert der Empirie. Sicher muß man den Römer – wie auch manche anderen Fachschriftstel-ler seiner Epoche und auch späterer Zeiten – als einen Autor sehen, der Wissensbeständeweniger aus eigener Anschauung als vielmehr aus der umfassenden Lektüre bereits beste-hender Werke offenbar recht unterschiedlichen Charakters zusammentrug. Doch ist zufragen, ob die Integration von Mirabilien wirklich allein zurückzuführen ist auf Plinius’mangelndes Vermögen, diese von sachlichen Elementen zu trennen. Im Gegensatz zuAristoteles schrieb er nicht für einen begrenzten Kreis von Spezialisten, sondern wollte mitseinem Werk durchaus ein breiteres Publikum erreichen. Plinius’ erklärte Absicht, interes-sierte Laien anzusprechen (Nat. hist. praef. 6 f., 11), wird man nicht in Abrede stellen wol-len, auch wenn die Vorworte zu antiken Fachschriften bestimmten Konventionen und Mu-stern folgen und nicht jede Aussage in ihnen wörtlich genommen werden darf (Fögen 2003:36 f., 38–42). Schon anders sieht es dagegen aus mit seinem Hinweis auf den bewußten Ver-zicht auf Abschweifungen und Elemente des Wunderbaren, die für den Leser eine ange-nehme Unterhaltung geboten hätten (Nat. hist. praef. 12 f.; siehe Bodson 1986: 110). DiePräsentation des eigenen Werkes als sprachlich-stilistisch anspruchslose, rein um Sachdar-stellung bemühte Schrift gehört zu der für Fachtext-praefationes üblichen Topik des Vorran-ges der res über verba, die den Tatsachen oft zuwiderläuft. Wenngleich in diesem Punkt die

4��)� �.�μ« �� ������� ��« $�����« Gμ ��« ����μ« ����#������ 9Ν����). An der Sache vorbei gehtdie Bemerkung von Heironimus (1934/35: 297): «Pliny describes the teaching process more fully thanAristotle; and if the details are added from his own observation, he is to be commended for its accuracy.»Die Anthropomorphisierung, die Plinius gegenüber Aristoteles vornimmt, und damit auch der unter-schiedliche Charakter der beiden Darstellungen sind hier übersehen. Richtig meint Goguey (2003: 86) inbezug auf Plinius’ Schilderung: «Tout le vocabulaire humain est présent, discipula, audit, docente».

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 57

Naturalis historia über das Programm ihres Verfassers hinausgeht, muß man andererseitszugestehen, daß Plinius weit davon entfernt ist, ein Paradoxon an das andere zu reihen.Auch das Element des Anekdotischen ist in der Buntschriftstellerei über Tiere und ihre Er-lebniswelt stärker vertreten als bei Plinius, der insgesamt Belehrung über reine Unterhal-tung setzt. So ist denn auch in denjenigen Partien seines Werkes, in denen er Formen tie-rischer Kommunikation behandelt, eine Mischung aus Sachorientierung einerseits undeinem Hang zur Akzentuierung des Kuriosen andererseits zu konstatieren.

3.5 Claudius Aelianus: P��λ ��9�� �� � �«

Eine im Vergleich zu Plinius dem Älteren weit stärker ausgeprägte Tendenz zur Wiedergabevon Mirabilien weisen die «Tiergeschichten» (P��λ �93�� 4�������«) des Claudius Aelia-nus (ca. 170 bis ca. 222–230 n. Chr.) sowie einige Partien seiner «Bunten Geschichte»(P���"�� ¹#���"�) auf.59 Dies betrifft auch Passagen zum Thema «Tiersprachen», die beiAelian insgesamt wenig oder gar keine echte Sachinformation bieten.

In der Anekdote über den Karthager Hanno (Var. hist. 14.30) heißt es, er habe sich einegroße Anzahl Singvögel zugelegt und diese den Satz «Hanno ist ein Gott» gelehrt. Nach-dem die Vögel diesen Satz beherrschten, habe Hanno sie freigelassen in der Hoffnung,durch die Tiere seinen Ruhm zu verbreiten. Es kommt jedoch anders als geplant: Die Vögelvergessen das Gelernte und singen wieder ihre eigenen Vogellieder. Daß es hier weniger umeinen Bericht über die stimmliche Begabung von Tieren geht, wird bereits im ersten Satzder kurzen Erzählung deutlich. Mit dem Verweis auf Hannos Überhebung über die demMenschen gesetzten Grenzen zeigt sich die moralische Komponente des kurzen Textes, dieauch sonst bei Aelian häufig auftritt.

Auch an anderen Stellen, an denen Aelian den Gesang von Vögeln thematisiert, handeltes sich nicht um mit Aristoteles vergleichbare zoologische Systematisierungsversuche miteiner entsprechend differenzierten Terminologie, sondern eher um impressionistische Skiz-zen. Über die Nachtigall heißt es lediglich, daß sie unter den Vögeln die hellste und musi-kalischste Stimme besitze; dieser Aspekt wird jedoch nicht weiter verfolgt, sondern stattdessen ergänzt, daß der Verzehr des Fleisches von Nachtigallen belebende Wirkung habe(De nat. anim. 1.43). Erst in einem viel späteren Kapitel wird hinzugefügt, daß der Gesangder Nachtigall wie auch der Amsel je nach Jahreszeit variiere (De nat. anim. 12.28). An an-derer Stelle wird die Sangesbegabung der Nachtigall verbunden mit einer geradezu mensch-lichen Eigenschaft, dem Streben nach Ruhm (������7��), das dafür verantwortlich sei,daß ihr Gesang nur in Gegenwart anderer, vor allem in Gefangenschaft, einen hohen Gradan Komplexität annehme, an einsamen Orten dagegen einfach sei (De nat. anim. 5.38).Auch Raben verfügten über eine große Spannbreite an Lauten, deren Verwendung sichnach der Stimmung der Vögel richte; zudem können sie es erlernen, die menschliche Spra-

59 Zu Aelian siehe besonders Jan Fredrik Kindstrand, Claudius Aelianus und sein Werk, in: Aufstieg und Nie-dergang der römischen Welt II 34.4 (1998), 2954–2996 (mit weiterer Literatur); ferner Hübner (1984), French(1994: 260–276) und Kullmann (1998: 135–137). Zur Varia historia jetzt auch Caroline Stamm, Vergangen-heitsbezug in der Zweiten Sophistik? Die Varia Historia des Claudius Aelianus, Frankfurt am Main 2003. Derkurze Abschnitt bei Dumont (2001: 419–429) geht über eine Zusammenstellung von Zitaten aus Aeliannicht wesentlich hinaus.

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58 Thorsten Fögen

che nachzuahmen (De nat. anim. 2.51). Besonders gut gelinge eine solche Imitation jedochden Papageien in Indien, was ihnen den Status heiliger Tiere eingebracht habe, vor derenVerzehr die Inder zurückschreckten (De nat. anim. 13.18; cf. auch 16.2). Übertroffen würdenPapageien nur von dem indischen Beo (Mynah), der nicht nur gesprächiger (���"#�����),sondern auch intelligenter (/-��#��3�����) sei (De nat. anim. 16.3).

Bei allen größeren Fischsorten hätten die Anführer eine Art Vorwarnsystem für Gefah-ren; sie verwenden dazu bestimmte Kontaktsignale, mit denen sie ihren Schwarm warnen(De nat. anim. 2.13). Darüber hinaus wendet sich Aelian gegen die These, daß Fische aus-schließlich stumm seien. Als Gegenbeispiele führt er verschiedene Arten an, die Laute pro-duzierten; dazu gehört auch der «Kuckuck» (����-7), dessen Laute dem des gleichnami-gen Vogels ähnelten (De nat. anim. 10.11). Mit diesem Hinweis bietet Aelian jedoch nichtsNeues, sondern greift lediglich einen Aspekt auf, der bereits bei Aristoteles erwähnt ist(Hist. anim. IV 9 535b14–24) – und zwar in Verbindung mit einer von Aelian bezeichnen-derweise ausgesparten physiologischen Erklärung für die Lauterzeugung bei Fischen.

Ein Beispiel für extreme Anthropomorphisierung eines Tieres ist die Geschichte über dieElefantin Nikaia, die ganz in ihrer Rolle als Amme für einen Säugling aufging (De nat.anim. 11.14). Dessen Mutter hatte ihn der Elefantin in indischer Sprache anvertraut, diediese Tiere prinzipiell verstünden (cf. aber De nat. anim. 11.25). Die Gewissenhaftigkeit,mit der sich die Elefantin um das Kind kümmerte, wird abschließend als etwas ganz Be-sonderes hervorgehoben; es ist impliziert, daß es man sich an dem Verhalten des Tiers alsMensch ein Beispiel nehmen kann.60 Die außergewöhnliche Rolle dieser Elefantin wird imübrigen auch dadurch unterstrichen, daß sie im Gegensatz zu vielen anderen Tieren, die inder antiken Literatur auftreten, einen eigenen Namen («Nikaia») trägt; es ist hier – andersals sonst üblich – nicht allgemein von einer Spezies und deren Eigenschaften die Rede, son-dern von einem ganz konkreten Einzelfall, der aus Aelians Sicht gleichwohl als durchaus re-präsentativ für das Verhalten anderer Vertreter derselben Tierart gelten kann.

Wie schon bei Plinius haben in Aelians Darstellung Elefanten bemerkenswerte Eigen-schaften, die sie in die Nähe des Menschen rücken. So verfügen sie neben ihrer Gelehrigkeitund ihrem Gehorsam über Musikalität, einen Sinn für Rhythmus und Melodie sowie Tanz-begabung, obwohl sie zu den �9�� Ν���/�� gehörten; Aelian hat zudem selbst gesehen,61

wie ein Elefant mit seinem Rüssel Buchstaben auf eine Tafel niederschrieb, wenngleich,wie er einschränken muß, mit der Hilfe seines Trainers (De nat. anim. 2.11). Eine aktiveSprachbegabung fehlt ihnen zwar, doch haben sie ihre eigenen Möglichkeiten, sich ver-ständlich zu machen, vor allem dann, wenn es ihnen darum geht, ihr ethisches Bewußtsein

60 Zu Elefanten bei Aelian siehe Scullard (1974: 222–230).61 Die Versicherung der �.���"� tritt wiederholt auf, so z. B. in De nat. anim. 2.11, 5.26, 5.47, 11.40. Anson-

sten wird eine Fülle von Gewährsleuten angeführt, zu denen Prosaautoren ebenso wie Dichter zählen. Ge-legentlich werden bestimmte Völker oder Volksgruppen als Zeugen genannt, so z. B. in De nat. anim. 7.20(Ägypter), 7.27 (Araber), 9.21 (Ägypter), 11.11 (Ägypter), 12.32 (Inder), ferner 14.6 und 16.5 (indischeBrahmanen). Bisweilen erwähnt Aelian seine Gewährsleute nicht namentlich, apostrophiert sie aber trotzihrer Anonymität als Experten für das jeweils diskutierte Thema, so z. B. in De nat. anim. 6.59, 8.9,9.14, 9.21, 10.33, 10.44, 13.13, 13.23 fin., 14.5 und 14.20. Zum Teil bleiben jedoch die Vorlagen ganz unbe-stimmt, so z. B. in De nat. anim. 3.5 init., 3.7 fin. (—« ��#��), 3.30 (—« ��#��), 4.41 (³« $����), 6.20(�-#��� … ���"���� �� Ν�� ���9� … ��#" ����«), 6.45 (�-#���), 7.11 (… ,« �σ« ,�μ� ��λ,��)�� V���), 10.1 ($���� �# �σ� … [ �� �-#���, ,��)�� ,#���), 10.35 (… Ν���� ����-#��) und14.15 (-�/�����" … ����-#� �� �.�μ� �ρ��� /�������� C���).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 59

zu artikulieren: Ein Elefant, der jede Art von Übel haßte (��#������«), habe die neueFrau seines Trainers nonverbal darauf aufmerksam gemacht, daß dieser seine wohlhabendefrühere Frau umgebracht habe, um an deren Geld heranzukommen. Mit seinem Rüsselhabe er die neue Gemahlin gleich bei ihrer Ankunft zu der Stelle geführt, an der die Ermor-dete begraben lag, und mit seinen Stoßzähnen das Grab ausgehoben. Pointiert wird ab-schließend bemerkt, daß in diesem Fall die Tat das Wort ersetzte: ψ �4�)� �.�  ������,��2�� ,���"��-� ��# �.��� ��� ����� (De nat. anim. 8.17).

Daß bei Aelian der Mensch in vielerlei Hinsicht den Eigenschaften und Fähigkeiten vonTieren gegenübergestellt wird, zeigt sich an zahlreichen Passagen von De natura animalium.Dies schließt den lautlich-sprachlichen Aspekt ein: Sowohl Menschen als auch Tiereverfügten dank der Gabe der Natur über eine bunte Palette verschiedener Laute undstimmlicher Äußerungen. Bei den Menschen sei dies an der Vielzahl der Einzelsprachenerkennbar; Tiere hätten je nach Gattung die ihnen eigenen Laute, die hier mit einer Fülleunterschiedlicher Verben und Substantive umschrieben werden.62 Mit dem Besitz vonSprache geht die Entwicklung rhetorisch-persuasiver Mittel einher, die Aelian jedoch imGegensatz zu zahlreichen Zeugnissen, die die kulturstiftende und gesellschaftsbildendeFunktion der Sprache unterstreichen (siehe Anm. 3), nicht unbedingt als einen Vorteil an-sieht: Während der Mensch sich und andere zu gutem Handeln und mutigem Verhaltenerst verbal anspornen müsse, komme das Tier ganz ohne solche Aufforderungen aus.63 Esfällt im übrigen auf, daß bei Aelian im Gegensatz zu anderen antiken Autoren das Phäno-men innereinzelsprachlicher Variation (z. B. in Form von Dialekten) überhaupt nicht the-matisiert wird. Dies mag dadurch bedingt sein, daß der Verfasser die Kürze und Prägnanzdes betreffenden Abschnitts nicht durch präzisierende Zusatzbemerkungen durchbrechenwollte, wie überhaupt seine Einzeldarstellungen nicht auf Vollständigkeit angelegt sind.An solchen Partien wird deutlich, daß ein Leser, der vertiefende Information anstelle vonanekdotischer Unterhaltung sucht, zu einem anderen Werk greifen muß. Bei all dem mußjedoch eingeräumt werden, daß Aelian sich zumindest an einer Stelle explizit von Erzäh-lungen über tatsächlich (d. h. im menschlichen Sinne) sprechende Tiere distanziert: PferdenSprache zu verleihen, könne man Homer zugestehen, weil er ein Dichter sei, ebenso Alk-man, der ihm darin gefolgt sei. Außerhalb der Poesie ließen sich jedoch Berichte, deren Un-glaubwürdigkeit ganz offenkundig sei, schwerlich rechtfertigen.64

62 De nat. anim. 5.51: P��-�������� �� �� �9�� ��λ ����/���� ³« ω� �5��« π ��#�« $������,—#�� �σ� ��λ ��\« $�/�3�-«. ² ��2� ]��/�« Ν���« �/������� ��λ ² #I��μ« Ν���«, ��λ ²A4/"�� �!�� ���κ� #-��-» ��λ �¹ ]����α ���κ �� NE���« Ν���, ��λ N^���"� Ν���. �D�� ��� ��λ�� �9�� Ν��� Ν���« ��_���� �μ� #-����� ��« ��3���« J!�� �� ��λ �����α �μ ��� ��� :�-!»���,�-�»��� �� Ν���, ��λ !������#�� Ν���- ��λ C���#�« !Ν���-", Ν���- :��!�/��« �� ��λ����#��«, ��" ��#� ��� &�-���«, ��#λ �� G����μ« �"���, ��λ Ν��9� $�������α ������λ �� ��λ T�)-��� ��λ ������λ ��λ 9&��λ ��λ ���9��"�� ��λ ���-��#��λ ��λ �-�"� `���� ���� ��« ��#��« 5������ �93�� Ν��� Ν����.

63 De nat. anim. 6.1: ������� ��� Ν�/���� ����- ��2 ����������« ��λ $���"#����« $��/�\«�ρ��� ��λ �κ� ��� ����"�� ��37����«, �μ �� �./��#�« ���#��-�#����«, $/����λ ��� ,« ��#�����, #��������� �� ,« �� Ρ��α �� �� �9�� �. ��)��� ��« �7�/�� ,���3#��«, <�-��)« �� �-��7���� �κ� $����, ��λ <�-�� $�"#��#� ��λ ,��"���.

64 De nat. anim. 12.3: NO���9� ��� �σ� ���κ� a��/9� �9� b9� ����� #-���3��� ������ Ν7���,����κ« ���α ��λ #A����� �� ���������« ,� ��)« ��������« Nc����� �.� ω� ������� �4�"��, �!����� $7��!���� ,« �4�� �κ� ���"#��� ������.

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60 Thorsten Fögen

In der Erzählhaltung Aelians hat Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff «[d]en Gipfel derAbgeschmacktheit» sehen wollen,65 den Autor mit diesem Urteil jedoch reichlich verkannt.Aelian ging es keineswegs um eine wissenschaftliche Zoologie oder um eine sachlich-prä-zise Darstellung, sondern in erster Linie um die mit unaufwendiger Wissensvermittlungverbundene Unterhaltung des Lesers, wie es für die Buntschriftstellerei typisch ist.66 Sofolgt auch die Anordnung der einzelnen (zumeist recht kurzen) Erzählungen keinem strin-genten Prinzip, sondern ist gleichsam aleatorisch (Bouffartigue 2002: 142). Eine zumindestlose Verbindung zwischen einzelnen Kapiteln entsteht allerdings dadurch, daß eine zuvorbereits behandelte Thematik an anderer Stelle wiederaufgegriffen wird.67 Diese Erzählstra-tegie ist ein Indiz dafür, daß es Aelian nicht um eine logisch aufeinander aufbauende Dar-stellung ging; das Gliederungsprinzip ist vielmehr das der variatio, mit dem er der Mono-tonie vorbeugen will, wie er im übrigen auch selbst im Epilog zu De natura animaliumbetont.68 Der Stil seiner Schrift ist durch seine Einfachheit gekennzeichnet, in syntaktischerHinsicht vor allem durch kurze, sehr überschaubare Sätze und eine ausgeprägte Tendenzzur Parataxe.

Mit der Unterhaltung ist eine ethische Komponente verbunden: Das Verhältnis vonTieren und Menschen wird in einer Weise beleuchtet, die manchen Tieren gewisse morali-sche Qualitäten zuschreibt und sie überhaupt an vielen Stellen stark anthropomorphisiert.Das Besondere liegt für Aelian darin, daß Tiere trotz ihres Status als vernunftlose Wesen(Ν����) erstaunliche Leistungen vollbringen, und zwar in technischer, aber auch in ethischerHinsicht.69 Dabei setzt die Natur als Verleiherin besonderer Gaben manche Tiere sogardeutlich vom Menschen ab: Weder Elefanten noch Hunde bedienten sich zur Heilungvon Verwundungen einer elaborierten Technik (De nat. anim. 2.18, 7.45). In manchen Fäl-len sei es sogar so, daß sich Menschen bestimmte Behandlungsmethoden von Tieren zu-nutze gemacht hätten, so im Falle von Ziegen, die ihre Sehstörung dadurch heilen, daß siedas kranke Auge in den Dorn eines Busches stoßen, ohne dabei die Pupille zu verletzen; inähnlicher Weise behöben Ärzte eine sogenannte G�!-#�« durch «Starstich» (De nat.anim. 7.14). Auch die Erinnerungsgabe (�����) von Tieren basiere nicht auf einer ausge-

65 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: Ders. & al., Die grie-chische und lateinische Literatur und Sprache, Leipzig & Berlin 31912, 226.

66 Daher trifft es die Sache nicht ganz, wenn Lonsdale (1979: 158 Anm. 1) Aelian als einen «arm-chair zoolo-gist» bezeichnet.

67 Als ein Beispiel diene der Nachtrag zu 13.18 in De nat. anim. 16.2: ,� #I���)« ���/��� #������\« C����«�"��#/��, U��� �σ� ��λ $������ ������ ,���#����α ψ �� ������� G�� �.��� �.� �ρ��,��2�� ��� ��!/���� �2� ����) �����#����.

68 De nat. anim. ep.: �ρ�� �� Ρ�� ��λ ,��)�� �.� ,����#����" ����«, �4 �κ ��/# `��#��� ��� �93��$������ ��- �μ� �����, ���� 4�"9� �� <��#��- �ρ�� $/���, $������ � �λ � ������������«, ��λ G�� ����� ���7��/��, ��λ 9� ��� $����� �μ� ��λ ����� ����� ��� �93��, 9��� G�#����� G�� ��« �.��� ��#��« `���� �5���. (…) ��8 ������8 ��« $��������« �μ ����-μ� ����� �λ �κ� � ��� ²����� ����!����� $������"���, �¹���λ ������� ���� ν #�������³��)�� ,� ��« ��-!��"�«, ³« $�/�#����� ��� �93�� ��� �����, 9&�/�� ��)� ����� G�»��" ����λ �����7�� �κ� #-�������.

69 Siehe z. B. De nat. anim. 2.11 (Elefant), 2.25 fin. (Ameise), 2.32 (Schwan), 3.10 (Igel), 3.23 (Storch), 5.22(Maus), 6.23 (Skorpion: O0� �� Ν�� #��"#���� ��λ ��)« #���"��« π ��#�« ����� ��2��� ��λ��)#�� 5���), 6.47 (Hase: #��"9� ���λ �-#��9� �μ /��"�� ��\« $�/�3�-« �¹�-�3���� $���#��),6.59 (Hund: ����#����� ��� Ρ��� �κ� ��#�� Ν��!��), 7.10 (Hund). Zum folgenden siehe auch Hüb-ner (1984: 161 f.).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 61

klügelten Systematik (De nat. anim. 7.48: !��λ« ��« ,« �.�κ� ��!��« �� ��λ #��"�«).70

Der nicht selten vermerkte moralische Vorbildcharakter mancher tierischer Verhaltensfor-men (z. B. De nat. anim. 1.4, 7.11, 7.17, 11.31) läuft in einem Kapitel auf die Feststellung hin-aus, daß der Mensch sich trotz seiner Sprach- und Vernunftbegabung häufig zu einer irra-tionalen Lebensweise hinreißen lasse.71

An den hier diskutierten Sachverhalten zeigt sich für den Verfasser die wohlgestalteteOrdnung der Welt, und eben dieses Faszinosum ist es, das Aelian seinen Lesern im Detailvor Augen führen möchte, wie er im Vorwort zu den «Tiergeschichten» sagt;72 auch sonstverweist er darauf, daß manche Geschichten über die Gaben oder das Verhalten von TierenErstaunen hervorrufen.73 Aelians Weltsicht ist vor allem stoisch geprägt, doch für die beiihm auftretende Funktionalisierung von Tieren als moralische Vorbilder finden sich auchBelege im Kynismus (cf. Sorabji 1993: 160 f.; Dierauer 1998: 59 f.). Seine Position faßt erselbst am besten im Epilog zu De natura animalium zusammen: Tiere mögen im Gegensatzzum Menschen weder über Vernunft noch über Sprache verfügen; doch bedeutet dies kei-neswegs, daß sie einen unwürdigen Gegenstand darstellen, auf dessen gründliche Beleuch-tung man leichthin verzichten könnte.74

3.6 Ktesias’ Indika, Ovids Amores 2.6und Statius’ Silvae 2.4 über Papageien

3.6.1 Die Sprachbegabung von Tieren wird, wie bereits im letzten Abschnitt deutlich wurde,auch in Texten thematisiert, die nicht der naturwissenschaftlich-zoologischen Literatur zuzu-rechnen sind. Dazu gehören u. a. Reiseberichte über fremde Länder, deren Bewohner undderen Fauna. Ein frühes Beispiel sind die nur fragmentarisch überlieferten Indika des Ktesias

70 Über den Unterschied zu Plinius siehe Beagon (1992: 138): «In comparison with (…) Aelian’s De NaturaAnimalium, the HN has few of these superficial moralizing passages. Difference of purpose may be one rea-son for this. Aelian lays more stress on the artistic than on the didactic aspect of his work. That the mora-lizing tendency should appear in Pliny’s work at all is to be explained not only by the Stoic precedents butalso by the desire to introduce variety of tone into his narrative.»

71 De nat. anim. 7.17: �.� �4��2���� �¹ ������� ��� $����� �93�� :��2���« $���3�����.72 De nat. anim. praef.: 5A�/���� ��� �ρ��� #��μ� ��λ �"����� ��λ ��� �4��"�� �"��� ����/�-

#�����, ��λ ��� ���������� ���)#/�� �κ� ��#���-#�� �����"��, ��λ ����κ� <�-�9� ��-#������ ��λ ,�:�-��« �-�����#/�� ��λ �� ���� Ρ#� �.�9� #���#�� ���� ��#��«, �����7��5#�« �.���α ��λ ��� ����- ����"��!�� Ν�/���« ��2 ����� ���������-, ��λ ����#��2  7"����,Ρ#�� �σ� ,#�� ��-����#����« �� ��λ ��-�����#����«α $��� ��λ /��\« �4��)#/�� �ρ�� ��λ#�:���. �μ � �λ ��#« $�%���« ����#��� ����« $����« �� �&���, �λ ���� ��� $������������������"��� �λ ��!���� '(��� �!����������, ��)�� *�� ����. ��λ �4����� �� �κT9�/���« �� ��#���� �.��� 4�"9� <��#�9�, ��λ Ρ�« ,#�-��#/� �. ��)�� ��� $�/�3�� ��λ!��" ��� Ν���� �93��, �5� Ν� ����« �����-����« ����μ« ��λ ��/��#�« ����. Auch bei Pliniuskommt allerdings wiederholt eine Faszination über die Wunder der Natur, wie sie sich konkret an Tierenmanifestierten, zum Ausdruck (Bodson 1997: 341).

73 So z. B. De nat. anim. 2.11 über Elefanten (����2�� ��« 4�������« ����� ��� �93�� #��� ��λ,��������), 7.8 über Tiere als Wetterpropheten (,���7�� ¹����) und 10.1 ($���� �# �σ� ,���������/�« ,�������, ��λ Ν7��� /�-��#�� �.��); vergleichbar ist 10.13 in bezug auf die Fauna Arabiens.

74 De nat. anim. ep.: (…) ��λ �κ �������" ���, ³« �0�� �� J� �4�)�, �κ �����"���� Ϊ�� ��������� :���������, ³« $����- �� ��λ $�3��- $����« G�������� ��λ $����#����, $��� �$���2/����« �� #��"�« ² #������« �� ��λ ² #-��-κ« ,7���-#��.

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62 Thorsten Fögen

(5./4. Jh. v. Chr.),75 in denen er auch von sprechenden Papageien berichtet (FGrHist688F45.8).76 In der betreffenden Passage, die durch Photios (Bibl. 72 45a34–40) überliefertist, heißt es, die von Ktesias in Indien angetroffene Papageienart, laut Bigwood (1993: 324 f.)wahrscheinlich ein Pflaumenkopfsittich (Psittacula cyanocephala), sei so groß wie ein Habicht(����/�« ��� Ρ#�� ¹���7), verfüge über eine menschliche Zunge und Stimme (���##��$�/��"��� �!�� ��λ ����) und eigne sich jede Sprache an, die man ihr vermittle, sei esIndisch oder Griechisch (�������#/�� �� �.�μ —#�� Ν�/���� #I���#�", ω� �� NE���-��#�λ ��/9�, ��λ NE�����#�"). Photios ergänzt, daß Ktesias derartige Dinge mit eigenen Au-gen beobachtet hatte oder sich zumindest auf Augenzeugenberichte verließ. Der betonte An-spruch auf direkte oder indirekte �.���"� findet sich jedoch in der griechischenHistoriographie recht häufig und ist noch kein Beweis für die Glaubwürdigkeit der Ge-schichte.77 In jedem Fall scheint die Formulierung �������#/�� —#�� Ν�/���� eineÜbertreibung zu sein, da sie eine aktive Sprachproduktion aus eigenem Antrieb nahelegt, dieso bei Vögeln nicht gegeben ist. Andererseits wird in der antiken Literatur gerade die Näheder Artikulation von Papageien zu menschlicher Sprache immer wieder hervorgehoben.78

3.6.2 Eines der bekanntesten Beispiele für die Thematisierung sprechender Papageien ausder römischen Dichtung ist Ovids Amores 2.6, ein Epikedion auf den verstorbenen PapageiCorinnas, der Geliebten des elegischen amator. Gleich im ersten Vers des Gedichts wird dieimitative Fähigkeit dieses Vogels hervorgehoben (Am. 2.6.1: imitatrix ales), die sich nur aufdie Nachahmung von Stimmen beziehen kann, wie aus dem weiteren Verlauf des Textesdeutlich wird: Der Papagei wird als derart sprechfreudig apostrophiert, daß er kaum Zeitzum Fressen gefunden habe.79 Er war nicht nur in der Lage, eine ganze Skala von Tönen er-klingen zu lassen (Am. 2.6.18: vox mutandis ingeniosa sonis), sondern konnte darüber hin-aus auch menschliche Worte wiedergeben (Am. 2.6.23 f.):

Non fuit in terris vocum simulantior ales:Reddebas blaeso tam bene verba sono.

Beachtenswert ist dabei in Vers 24 das Attribut blaeso, das das Fehlen einer wirklich sauberen,einwandfreien Aussprache anzeigt. Das Wort blaesus (gr. :���#�«: gekrümmt, gewunden)wird ansonsten zumeist auf das Sprechen von Betrunkenen oder von Kleinkindern bezogen.80

75 Zu Ktesias siehe u. a. Klaus Karttunen, India in Early Greek Literature, Helsinki 1989 (mit weiterer Litera-tur). Zum Einfluß seiner Indika auf spätere Autoren siehe Klaus Karttunen, India and the Hellenistic World,Helsinki 1997, passim.

76 Ausführlichere Diskussion bei Bigwood (1993) und Levine Gera (2003: 208–210).77 In einem anderen Fall, nämlich in bezug auf den Bericht des Ktesias über das angeblich existierende indi-

sche Wildtier Martichoras, das dieser persönlich gesehen haben will, meldet selbst der sonst wenig kritischeAelian gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Verfassers der Indika an (De nat. anim. 4.21 fin.). Sieheaber bereits Aristoteles, Hist. anim. II 1 501a25-b1.

78 So noch bei Isidor, Orig. 12.7.24: Psittacus Indiae litoribus gignitur, colore viridi, torque puniceo, grandi linguaet ceteris avibus latiore. Unde et articulata verba exprimit, ita ut si eam non videris, hominem loqui putes. Exnatura autem salutat dicens ‹have›, vel !�)��. Cetera nomina institutione discit.

79 Am. 2.6.29: plenus eras minimo nec prae sermonis amore / in multos poteras ora vacare cibos. Zuvor schon Am.2.6.26: garrulus.

80 blaesus bezogen auf das Sprechen von Betrunkenen z. B. bei Ovid, Ars amat. 1.597–600 (Vortäuschung desamator von Trunkenheit), Juvenal, Sat. 15.47 f. und Martial 9.87.2, von Kleinkindern z. B. bei Martial 5.34.8(Epigramm für die verstorbene Erotion). Außerdem Carm. Priapea 7 (cum loquor, una mihi peccatur littera;nam T / P dico semper blaesaque lingua mihi est.) und Ovid, Ars amat. 3.293 f.

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 63

Gleichwohl wird er einige Verse darauf als «sprechendes Abbild menschlicher Stimme» be-zeichnet und auf seine dadurch bedingte Besonderheit verwiesen (Am. 2.6.37–40). Die beson-dere Pointe des Gedichts liegt darin, daß der schon ersterbende Papagei letzte Worte des Ab-schieds hervorbringt, die an seine Besitzerin Corinna gerichtet sind.81 Die verbleibendenvierzehn Verse (Am. 2.6.49–62) handeln von der Bestattung des psittacus auf einer Ruhestätte,die den frommen Vögeln vorbehalten ist. Das Gedicht schließt mit einem zweizeiligen Epi-gramm, das auf dem Grabstein des Papageis stehen soll und seine auch für Vögel ungewöhn-liche Redegabe akzentuiert.82 Damit endet der Text mit demselben Aspekt, der schon zu Be-ginn angeklungen war.

Daß Ovid mit Amores 2.6, das in mancher Hinsicht an Catulls Carmen 3 über den Todvon Lesbias passer (siehe Herrlinger 1930: 75–81) erinnert, eine herkömmliche Totenklagemit den zugehörigen Topoi parodiert, ist in der Forschung eingehend demonstriert wor-den.83 Der Humor des Gedichts wird bereits zu Beginn deutlich, als der Sprecher die Vogel-welt zur Totenklage um den Papagei Corinnas auffordert und ihnen dabei ein Verhaltennahelegt, das den bei einem Bestattungsritual für einen Menschen üblichen Trauergestenähnelt, soweit dies Vögeln anatomisch überhaupt möglich ist (Am. 2.6.2–16). Es erhebtsich die Frage, ob zu den parodistischen Elementen auch die wiederholt unterstricheneSprechfreudigkeit des Papageis gehört. Daß ihm mit dem Verweis auf seine letzten Wortegarrulitas bis in den Tod zugeschrieben wird, hat ohne jeden Zweifel eine komische Wir-kung. Dies verwundert schon deshalb nicht weiter, weil in den Amores sehr häufig an sichernsthafte Szenen und Motive parodiert werden.84 Doch entbehrt das gesamte Gedichttrotzdem nicht einer gewissen rührenden Note und setzt sich somit nicht vollständig vonherkömmlichen Tierepikedien ab. Echte Trauer um Tiere zeigt sich insbesondere anInschriften auf Tiergrabmälern (Bodson 2000: bes. 32 f.; ferner Herrlinger 1930: bes.106–120; Sauvage 1975: 275–277), auf denen oft die besonderen Eigenschaften und Fähig-keiten der verstorbenen Tiere hervorgehoben wurden, so z. B. ihre Sangeskunst und«Sprachbegabung», ihre Schnelligkeit, Gelehrigkeit und Intelligenz, ebenso ihre Treue.

81 Am. 2.6.47 f.: nec tamen ignavo stupuerunt verba palato; / clamavit moriens lingua: Corinna, vale!82 Am. 2.6.61 f.: colligor ex ipso dominae placuisse sepulchro; / ora fuere mihi plus ave docta loqui.83 Zu wenigen Gedichten der Amores wurde mehr geschrieben als zu 2.6. Grundlegendes bei Herrlinger

(1930: 81–86), vor allem zu den parodistischen Elementen. Ferner (in Auswahl): Barbara Weiden Boyd,The death of Corinna’s parrot reconsidered: Poetry and Ovid’s Amores, in: Classical Journal 83 (1987),199–207. – Leslie Cahoon, The parrot and the poet. The function of Ovid’s funeral elegies, in: ClassicalJournal 80 (1984), 27–35. – Jessica S. Dietrich, Dead parrots society, in: American Journal of Philology 123(2002), 95–110. – L. B. T. Houghton, Ovid’s dead parrot sketch: Amores II.6, in: Mnemosyne 53 (2000),718–720. – Megan I. Kim, A parrot and piety: Alcuin’s nightingale and Ovid’s Amores 2.6, in: Latomus 51(1992), 881–891. – K. Sara Myers, Ovid’s tecta ars: Amores 2.6, «Programmatics and the Parrot», in: Echosdu Monde Classique 34 (1990) 367–374. – Viktor Schmidt, Corinnas psittacus im Elysium (Ovid, Amores2,6), in: Lampas 18 (1985), 214–228. – Ulrich Schmitzer, Gallus im Elysium. Ein Versuch über OvidsTrauerelegie auf den toten Papagei Corinnas (am. 2,6), in: Gymnasium 104 (1997), 245–270. – ElizabethThomas, A comparative analysis of Ovid, Amores II.6 and III.9, in: Latomus 24 (1965), 599–609. Cf. auchYvan Nadeau, Catullus’ sparrow, Martial, Juvenal and Ovid, in: Latomus 43 (1984), 861–868, und EckardLefèvre, Die Metamorphose des catullischen Sperlings in einen Papagei bei Ovid (Amores 2,6) und dessenApotheose bei Statius, Strozzi, Lotichius, Beza und Passerat, in: Werner Schubert (Hrsg.), Ovid: Werk undWirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1999, 111–135.

84 Am Beispiel des Tränen-Motivs zeigt dies der Beitrag von Thorsten Fögen, Tränen in der römischen Lie-beselegie, in: Zeitschrift für Semiotik 28 (2006), 239–269, in dem auch weiterführende Literatur zum Aspektdes Humors bei Ovid aufgeführt ist.

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64 Thorsten Fögen

Diesen Aspekt hat Ovid in seinem Gedicht eingehend berücksichtigt, wenngleich bei ihmdie Sprechfreudigkeit von Corinnas Papagei zu einem Bestandteil des parodistischen Zugesvon Amores 2.6 umfunktioniert wird. Durchaus vereinbar sind damit poetologische Deu-tungen des Gedichts, die den Papagei bald als Symbol für einen alexandrinischen poeta doc-tus einschließlich Ovid selbst (Boyd 1987, Myers 1990 [wie Anm. 83]), bald als Anspielungan den verstorbenen Cornelius Gallus und seine im Vergleich zu dem Werk späterer Au-gusteer noch nicht vollends ausgereifte Dichtung (Schmitzer 1997 [wie Anm. 83]) aufge-faßt haben.

3.6.3 Ovids Gedicht war die Vorlage für Statius’ Silvae 2.4,85 ein Epikedion auf den ver-storbenen Papagei seines Förderers Atedius Melior,86 auf das hier nur kurz eingegangenwerden soll. Die Parallelen zu Ovid sind offensichtlich und haben zu dem freilich wenigaussagekräftigen Urteil geführt, daß Statius’ Silve im Vergleich zu Ovid «turgid and pre-tentious» sei.87 Allerdings handelt es sich keineswegs um eine einfallslose Imitation, dieUnterschiede zur Inspirationsquelle sind augenfällig:

(1) Zwar hebt auch Statius immer wieder die Sprechbegabung des Papageis hervor, dochgeht er bei der Anthropomorphisierung des Vogels noch einen Schritt weiter alsOvid. Das Tier ist hier als ein vollwertiger Hausbewohner gezeichnet, der an den so-zialen Ereignissen des Tages wie dem Mahl mit Selbstverständlichkeit teilnimmt. Fürdie Anwesenden ist er Gesprächspartner, der selbst das Wort ergreift, auch wenn essich dabei nur um zuvor gelernte Sprachbrocken handelt (Silv. 2.4.4–10). DieseAspekte sind im dritten Teil des Gedichts aufgegriffen, wo der Papagei sogar alsamicus bezeichnet wird, in dessen Gegenwart sein Besitzer sich gerade aufgrund derRedebegabung des Tiers niemals allein fühlte (Silv. 2.4.29–33). Außerdem wohnter nicht in einem gewöhnlichen Käfig, sondern in einer prachtvollen domus, einembeatus carcer (Silv. 2.4.11–15).

(2) Die Sprachbegabung des Papageis wird noch deutlicher akzentuiert durch den Ver-weis auf die durch den Tod entstandene Stille im Hause (Silv. 2.4.15).

(3) Ähnlich wie bei Ovid werden Vögel zur Teilnahme am Leichenbegängnis des Papa-geis aufgerufen. Bei Statius sind sie jedoch auffälligerweise eigens als sprachbegabtbezeichnet und damit gewissermaßen dem Verstorbenen kongenial (Silv. 2.4.16–23):

85 Neben Herrlinger (1930: 87–90) siehe folgende Arbeiten: Robert E. Colton, «Parrot Poems» in Ovid andStatius, in: Classical Bulletin 43 (1967), 71 und 74–78, ferner Helmut Krasser, Poeten, Papageien und Pa-trone. Statius Silve 2,4 als Beispiel einer kulturwissenschaftlichen Textinterpretation, in: Jürgen PaulSchwindt (Hrsg.), Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenwart und Methode einesGrundlagenfaches, Heidelberg 2002, 151–168, und Carole Newlands, Animal claquers: Statius Silv. 2.4 and2.5, in: William W. Batstone & Garth Tissol (Hrsg.), Defining Genre and Gender in Latin Literature. EssaysPresented to William S. Anderson on His Seventy-Fifth Birthday, New York 2005, 151–173, sowie die Bemer-kungen im Kommentar von Harm-Jan van Dam, P. Papinius Statius: Silvae Book II. A Commentary, Leiden1984, 336–367.

86 Zu Atedius Melior, dem das gesamte zweite Buch der Silvae gewidmet ist, siehe Alex Hardie, Statius andthe Silvae. Poets, Patrons and Epideixis in the Graeco-Roman World, Liverpool 1983, 66 f.

87 Joan Booth, Ovid: The Second Book of Amores. Edited with translation and commentary, Warminster 1991,45.

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Huc doctae stipentur aves quis nobile fandiius natura dedit: plangat Phoebeius ales,auditasque memor penitus dimittere vocessturnus et Aonio versae certamine picae,quique refert iungens iterata vocabula perdix,et quae Bistonio queritur soror orba cubili:ferte simul gemitus cognataque ducite flammisfunera, et hoc cunctae miserandum addiscite carmen.

Detailfreude bei der Schilderung der Methoden einzelner Vögel, sich Sprachelementeanzueignen, ist hier verbunden mit der Einflechtung mythischer Elemente. Daß dieSprachbegabung der Tiere ihre Grenzen hat, wird deutlich an der Aufforderung, einenneuen Gesang einzustudieren. Gleichwohl sind auch die Vögel, die an der Totenfeierdes Papageis teilnehmen sollen, in hohem Maße vermenschlicht, was im übrigen so-wohl im Falle der picae als auch bei der Nachtigall eine Verankerung in deren mythi-schen Metamorphosen von Menschen in Vögel hat.88

Sicherlich fehlt auch bei Statius der parodistische Zug nicht.89 In seinem Vorwort zumzweiten Buch der Silvae, das einen kurzen thematischen Überblick über die darin enthal-tenen Einzelgedichte bietet, bezeichnet er Silv. 2.4 zusammen mit dem vorausgehendenund nachfolgenden Gedicht als leves libelli und betont deren Nähe zum Epigramm.90 Dochdarf dabei nicht übersehen werden, daß die Darstellung des Papageis so angelegt ist, daßzugleich auch ein Bild seines Besitzers Atedius Melior entsteht. Der reich ausgestattete Kä-fig des Vogels deutet ebenso auf den aufwendig-kultivierten Lebensstil eines wohlhabendenMannes hin wie die am Schluß evozierte luxuriöse Einäscherung, für die assyrischer Kar-damom, arabische Myrrhe und sizilischer Safran verwendet werden (Silv. 2.4.33–37). DasTierepikedion ist also zugleich eine implizite Hommage an den Gönner des Statius. Auchwenn das Gedicht zweifellos eine ideale Patronagebeziehung veranschaulicht und der affek-tiven Freundschaftsbekundung durch den Dichter dient, muß man deshalb nicht unbedingtvon einem «Modellfall kaiserzeitlicher Klientelpoesie» sprechen (Krasser 2002: 168). Fürdie hier verfolgte Fragestellung ist entscheidend, daß die Beschreibung eines sprachbegab-ten Tieres mit dem Portrait seines Besitzers eng verbunden ist, ja maßgeblich zu dessen an-schaulicher Charakterisierung beiträgt. Der Vogel mit seiner außergewöhnlichen Redebe-gabung, den sich sicher nur wohlhabende Haushalte leisten konnten, rundet den Eindruckvon der Exklusivität der Lebenswelt des Atedius Melior ab; der Papagei ist aufgrund seinerverbalen Fähigkeiten etwas derart Besonderes, daß er kein Tier mehr zu sein scheint, son-dern ein geradezu menschlicher «Freund des Hauses».

88 Zu den in picae verwandelten Pieriden siehe Ovid, Met. 5.294–331, und zu Philomela Ovid, Met. 6.412–674.89 Laut Herrlinger (1930: 70) ist Silv. 2.4 «offensichtlich unter die parodistischen Gedichte einzureihen»,

wenngleich «der Stil (…) ernster gehalten als bei Ovid» sei (1930: 90). Siehe auch van Dam (1984: 339): «itsuse of topics from the consolatio is parodistic, though not as burlesque as in Ovid; for that would have beentactless to Melior.»

90 Statius, Silv. 2 praef.: In arborem certe tuam, Melior, et psittacum scis a me leves libellos quasi epigrammatisloco scriptos.

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3.7 «Tier»-Tier-Kommunikation in Homers Odyssee: Das Beispiel Polyphem

Zu den Abenteuern, von denen Odysseus den Phaiaken erzählt, gehört auch die Ge-schichte über den Kyklopen Polyphem (Od. 9.105–566).91 Nach seiner Blendung bindensich Odysseus und seine Gefährten unter den Bauch der Schafe, um am Morgen unbe-merkt aus der Höhle des Kyklopen zu entkommen. Der blinde Polyphem betastet dieTiere, als sie zum Weiden hinausgehen, und wundert sich darüber, daß sein Lieblingswid-der, unter den sich Odysseus selbst gebunden hat, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigenGewohnheit der letzte in der Reihe der Schafe ist (Od. 9.447–460, ed. Helmut van Thiel):

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Die Anrede an das Tier mit ���� ��� (Od. 9.447) zeigt, daß es Polyphem besonders ansHerz gewachsen ist. Er unterstellt dem Widder, daß er mit ihm über seine Verletzung trau-ert und, falls er Denk- und Sprachvermögen besäße, ihm bei der Rache an Odysseus helfenwürde (Od. 9.456 f.). Der stark affektive Zug dieser Worte wird jedoch in den sich anschlie-ßenden Versen unterlaufen, in denen Polyphem sich in grausamster Weise die Vergeltungausmalt. Überhaupt kann angesichts seines sonstigen Verhaltens kaum Mitleid für den Ky-klopen aufkommen, der im ganzen als ein Musterbeispiel der Unzivilisiertheit gezeichnetist: Schon am Anfang der Szene wird unterstrichen, daß die Kyklopen gesetzlos sind undkeinerlei soziale Institutionen haben, die ein Zusammenleben regeln. Diese erübrigen sichohnehin, da sie asozial sind: Jede Familie lebt für sich und hat ihre eigenen Regeln. Diesemprimitiven Entwicklungsstand entspricht ihre Art, in Höhlen und nicht in Häusern zuwohnen, sowie das Fehlen jeglichen Bemühens um eine Kultivierung des Landes zu dessenagrarischer Nutzung und um die Ausbildung handwerklicher Kenntnisse (Od. 9.106–115und ff.). Polyphem selbst verwehrt Odysseus und seinen Gefährten in schändlicher Weisedas Gastrecht, um seine kannibalischen Gelüste zu stillen. Das Primitive des Kyklopenkommt letztlich auch in seiner Wendung an den Widder zum Ausdruck, der zu dem Tier inhumanerer Weise spricht als zu seinen menschlichen Gästen. Neben dem Aspekt der Pri-mitivität wird in der Kyklopen-Szene jedoch zugleich eine Stimmung evoziert, die an dasgoldene Zeitalter erinnern mag; von einem bukolischen Paradies ist Polyphems Insel aber

91 Gute Bemerkungen zur Kyklopen-Episode bei Levine Gera (2003: 11–17), jedoch mit einer gewissenÜberakzentuierung des in diese Szene hineinspielenden Bildes eines goldenen Zeitalters. Siehe außerdemHeath (2005: 79–84).

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gerade wegen der Unzivilisiertheit ihres Bewohners letztlich weit entfernt. Von daher hatdie Bemerkung des Homer-Scholiasten Eustathios, mit seiner Wendung an den Widderspreche Polyphem von gleich zu gleich (Schol. in Od. 9.447), etwas für sich: Hier sprichtjemand, der die vollgültigen Qualitäten eines Menschen kaum für sich beanspruchen kannund trotz seiner Sprachbegabung ein Barbar – oder anders gesagt: «the ultimate Other»(Heath 2005: 79) – bleibt. Insofern ist es nur konsequent, daß er sich in einer Weise an denWidder wendet, die suggeriert, daß hier jemand mit einem Tier kommuniziert, der selbstnicht sehr weit, wenn überhaupt, über dem Status eines Tiers rangiert.92

4. Zusammenfassung

Der hier vorgestellte Überblick mußte sich auf die Diskussion einiger ausgewählter Zeug-nisse beschränken. Ergänzen ließen sich dabei z. B. folgende Aspekte, die im folgenden nurgestreift werden können:

a) Sprechende Tiere in der Komödie, wie sie beispielsweise in Krates’ Theria und Aristopha-nes’ Vögeln auftreten, und die mit ihnen bisweilen verbundene Vorstellung vom goldenenZeitalter und einem friedlichen Zusammenleben von Mensch und Tier (Levine Gera 2003:61–67, Heath 2005: 12–16; cf. Guthrie 1955: 63–79, Blundell 1986: 135–164).In diese Rubrik ließen sich auch Zeugnisse von Menschen einordnen, die mit Tierenzu kommunizieren imstande sind wie z. B. Pythagoras. Diese besondere – an Orpheuserinnernde – Gabe des Pythagoras, mit der dieser Tiere zu besänftigen verstand, wirdausführlicher in der Vita Jamblichs hervorgehoben (Vita Pyth. 60–62), die allerdingsmehrfach dessen Gottesnähe und damit sein übermenschliches Wesen betont (bes. VitaPyth. 31 und 255).

b) Sprechende Tiere in Fabel und Tierepos, wie z.B. der späthellenistischen Batrachomyoma-chie, einer ca. 300 Verse umfassenden Epenparodie, die aus einer äsopischen Fabel (384Perry [= 302 Hausrath]) entwickelt ist (Dumont 2001: 118–122). Für diese Literaturfor-men läßt sich in Analogie zu Röhrichs Bemerkungen über Tiersprache im Märchen([1953] 1973: 227–230) allgemein festhalten, daß dieses Phänomen außerhalb von Einlei-tungen mit entsprechenden reflexiven Passagen häufig nicht weiter problematisiert wird:Kommunikation von und mit Tieren erscheint als eine Selbstverständlichkeit, die zumeistkeiner umfassenden Erklärung bedarf.93 Allerdings wird in Vorworten zu Fabelbücherndas Sprechen von Tieren durchaus als etwas Außergewöhnliches akzentuiert: Phaedrusrechtfertigt es im Prolog zu seinem ersten Buch mit dem fiktionalen Charakter seinesWerks und dem Streben nach Unterhaltung des Lesers.94 Babrios bergündet in seiner Ein-leitung die Sprachbefähigung der Tiere in der Fabel kurz mit dem Verweis auf deren Situ-

92 Das Tierische des Kyklopen Polyphem hat viel später auch Philostrat in seinen «Bildern» akzentuiert:Ν����� �� ²�9» ��λ G���/������ ��� ��/��� �� /��"� �� $�����« π��3���� (Eikones 2.18.3).

93 Allerdings unterscheidet Röhrich ([1953] 1973: 229) für das Märchen verschiedene Phasen: «Erst in einerspäteren rationalistischeren Zeit scheint dann das sprechende Tier oder der tiersprachenkundige Mann alsetwas Außergewöhnliches neue Motive geprägt zu haben. Das Bewußtsein aber dafür, daß es einst einmaleine gemeinsame Verständigungsmöglichkeit gegeben haben muß, ist in vielen Märchen erhalten.»

94 Phaedrus, Fab. 1 pr. 5–7: calumniari siquis autem voluerit, / quod arbores loquantur, non tantum ferae, / fictisiocari nos meminerit fabulis.

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ierung im goldenen Zeitalter, in dem Mensch und Tier, aber auch Bäume und Blätter pro-blemlos kommunizieren konnten; dies sei in seiner eigenen Epoche, dem sogenanntenehernen Zeitalter (π #�����"�), nicht mehr möglich (pr. 1–13). Das Bild des goldenenZeitalters fehlt bei Phaedrus wie auch in Avians Widmungsschreiben an Theodosius.95

c) Formen tierischer Kommunikation im Kontext von Sprachursprungshypothesen, wiesie insbesondere in Epikurs Brief an Herodot (Epist. ad Her. 75 f., p. 26.7–27.16 Usener)und im fünften Buch von Lukrez’ De rerum natura (5.1028–1090) behandelt werden.96

Hierbei ist aufschlußreich, daß Tierlaute oft an die Seite von Kleinkindersprache gestelltwerden, also einer Artikulationsform, die – wie schon an dem lateinischen Wort infansdeutlich wird – noch nicht richtig entwickelt ist und damit nicht den Status eines voll-ständig ausgebildeten menschlichen ����« hat, wie u. a. Aristoteles (Hist. anim. IV 9536a33-b7, s. o.), der Stoiker Diogenes von Babylon (Diogenes Laertios 7.55, sieheAnm. 35) und auch Plinius der Ältere (Nat. hist. 7.4, 11.174, 11.270, siehe Anm. 50) her-vorheben. Auch in intellektueller, physischer und moralischer Hinsicht befinden sichKinder nach antikem Denken nicht auf derselben Ebene und sind darin Tieren vergleich-bar (Heath 2005: 206–209). Dabei handelt es sich freilich um eine vorübergehendePhase, die durch entsprechendes Training überwunden werden kann.

d) Zeugnisse zu konkreten Tierlauten (im Sinne von kikeriki oder wauwau), die als charak-teristisch für bestimmte Tierarten eingestuft und graphematisch erfaßt werden. Als Bei-spiele ließen sich eine Passage über den Laut der Nachteule in Plautus’ Menaechmi (Men.654: vin adferri noctuam, / quae ‹tu tu› usque dicat tibi?) anführen oder auch eine Stellezum Krähen von Hähnen in Petrons Satyrica (Sat. 59.2: et tu, cum esses capo, coco coco).Die Laute sind es auch, die zur Prägung bestimmter Tierbezeichnungen – vor allem fürVögel – führen, wie z. B. �-�3, von Hesychios gleichgesetzt mit ���27 (Eule), oderulula für den Kauz.97 Varro führt im fünften Buch von De lingua Latina einige vergleich-bare Beispiele an, und zwar nicht allein für Vögel, sondern auch für den Namen desHundes (canis) und des Bären (ursus).98

95 Am Schluß von Avians Epist. ad Theod. heißt es lediglich: loqui vero arbores, feras cum hominibus gemere,verbis certare volucres, animalia ridere fecimus.

96 Dazu u. a. Glidden (1994: 140–142) und Fögen (2001: 206 f.), mit weiterer Literatur. Zu ergänzen sind jetztAlexander Verlinsky, Epicurus and his predecessors on the origin of language, in: Dorothea Frede & BradInwood (Hrsg.), Language and Learning. Philosophy of Language in the Hellenistic Age, Cambridge 2005,56–100, sowie Catherine Atherton, Lucretius on what language is not, in: ibid., 101–138. Siehe auchBrooke Holmes, Daedala lingua: crafted speech in De rerum natura, in: American Journal of Philology 126(2005), 527–585, bes. 554–560.

97 Zu lateinischen Vogelnamen siehe André (1966, 1967). Bei André (1966: 146) heißt es: «Les formationsonomatopéiques constituent en latin près de 20 % des noms d’oiseaux. (…) près d’un oiseau sur trois doitson nom – ou ses noms – à son cri. Cette proportion n’a d’équivalent dans aucun domaine lexical etle monde des oiseaux est privilégié par rapport au reste de la faune.» Zu griechischen Vogelnamen sieheThompson (21936); bei Robert (1911) sind diejenigen Namen, die auf den Lauten von Vögeln basieren, sogut wie gar nicht behandelt.

98 Varro, De ling. Lat. 5.75: Deinde generatim: de his pleraque ab suis vocibus ut haec: upupa, cuculus, corvus,hirundo, ulula, bubo. Ferner 5.99: Catulus a sagaci sensu et acuto, !ut Cato" Catulus; hinc canis: nisi quod uttuba ac cornu, a!li"quod signum cum dent, canere dicuntur, quod hic item et noctuculus in custodia et in ven-ando signum voce dat, canis dictus. Außerdem 5.100: Ursi Lucana origo vel, unde illi, nostri ab ipsius voce.Aufschlußreich ist auch Isidor, Orig. 12.7.9: Avium nomina multa a sono vocis constat esse composita: ut grus,corvus, cygnus, pavo, milvus, ulula, cuculus, graculus et cetera. Varietas enim vocis eorum docuit homines quodnominarentur. Genauer ausgeführt in Orig. 12.7.14–18, 38 f., 42 f., 45, 48, 60, 63 f. und 66 f.

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 69

e) In Verbindung damit stehen Umschreibungen für tierische Äußerungen, die je nachTierart differieren. So enthält Suetons fragmentarisch erhaltenes antiquarisches WerkPratum einen Abschnitt, in dem zahlreiche Verben aufgelistet sind, mit denen die jewei-ligen Lautformen von Tieren bezeichnet werden (fr. 161 Reifferscheid, p. 247–254; cf.auch fr. 161 c, p. 312; vergleichbar Aelian, De nat. anim. 5.51, siehe Anm. 62).99 Bei-spielsweise wird für Schlangen sibilare genannt, für Rinder mugire, für Schweine grun-nire, für Frösche coaxare. Für einige Tierarten werden sogar Varianten angegeben, soz. B. für Löwen fremere und rugire, für Esel rudere und oncare sowie für Hunde latrareund baubari. Von den hier aufgeführten Tieren nehmen Vögel mehr als die Hälfte desRaumes ein, angefangen vom Raben (corvorum crocitare) bis hin zum Spatz (passerum ti-tiare). In Varros De lingua Latina findet sich bereits ein Passus, in dem solche Verben zurBezeichnung tierischer Laute zusammengetragen sind, die zugleich für die Umschrei-bung menschlicher Lautäußerungen, also im übertragenen Sinne verwendet werdenkönnen.100 Vergleichbares Material versammelt dann später der Grammatiker und Lexi-kograph Nonius Marcellus.101

Aus dem hier behandelten Material ergeben sich verschiedene Schlußfolgerungen: AntikeBeschreibungen von Formen tierischer Kommunikation sind in inhaltlicher und darstelle-rischer Hinsicht in hohem Maße, wenn auch nicht ausschließlich, von den Konventionender literarischen Gattung geprägt, in deren Rahmen sie auftreten. Ohne allzu schematischverfahren zu wollen, läßt sich die These vertreten, daß diejenigen Informationen am sach-lichsten präsentiert werden, die Bestandteile eines stark sachorientierten Textes sind. Zudiesem Typus gehören Einzelheiten über tierische Kommunikation, wie sie Aristoteles inseiner Historia animalium behandelt. Die Darstellung ist durch ein ausgeprägtes Bemühenum Systematizität in der Abgrenzung tierischer Verständigungsformen von denen desMenschen gekennzeichnet, und zwar auch in terminologischer Hinsicht. Das Streben nachEmpirie ist verknüpft mit dem Bemühen um physiologisch-anatomische Begründungenbestimmter Sachverhalte. Je weiter ein Text zu tierischer Kommunikation von dieser Sach-orientiertheit entfernt ist, desto mehr gesellen sich sekundäre Aspekte zu der Darstellungvon Fakten hinzu. Der Grad des Anekdotischen und die Tendenz zur Anthropomorphisie-rung von Tieren nimmt zu, je mehr ein Text auf Unterhaltung des Lesers abzielt; diesschließt die Einbindung moralischer Betrachtungen im Zusammenhang mit den Eigen-schaften von Tieren nicht aus, wie das Beispiel Aelians zeigt. Im Gegenzug nimmt dieSuche nach rationalen Erklärungen bestimmter Phänomene der Sprachbegabung von Tie-ren ab. Im Extremfall wird berichtet, ohne zu hinterfragen und zu begründen. Informationtritt zurück hinter Sensation, nicht selten auch hinter Humor und Parodie. Dafür jedochdie betreffenden Autoren zu kritisieren, heißt, ihr jeweiliges darstellerisches Anliegen zuverkennen. Die Verschiedenartigkeit der literarischen Thematisierung von Formen tieri-scher Kommunikation ist primär bedingt durch die Unterschiede gattungsspezifischer

99 Zu Abhängigkeitsfragen in Verbindung mit dem «Tierstimmenkatalog» siehe Peter L. Schmidt, Suetons‹Pratum› seit Wessner (1917), in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 33.5 (1991), 3812 f.

100 Varro, De ling. Lat. 7.103 f.: In Aulularia: ‹Pipulo te differam ante aedis›, id est convicio, declinatum api!p"atu pullorum. Multa ab animalium vocibus tralata in homines, partim quae sunt aperta, partim obscura.(…)

101 Siehe dazu Giuseppina Barabino, Le voces animalium in Nonio Marcello, in: Studi Noniani III, Genova1975, 7–56.

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Konventionen und Wirkabsichten. In manchen Fällen wird das Thema «Tiersprache» nichtum seiner selbst willen behandelt, sondern in unterschiedlicher Weise funktionalisiert undzur Akzentuierung anderer Aspekte herangezogen, so in den hier analysierten Partien ausOvid, Statius und Homer, aber ebenso bei Aelian.

Was das Spektrum der aus antiker Sicht sprachbegabten Tierarten anbelangt, so läßt sichfeststellen, daß in sämtlichen Texten, unabhängig davon, zu welchem literarischem Genresie gehören, eine Vielzahl von Beispielen für alle möglichen Spezies genannt wird. Meeres-tiere sind dabei nicht ausgenommen: So meint beispielsweise Plinius, Delphine reagiertenaufgrund ihres Hörvermögens auf menschliches Rufen und ihre Stimme gleiche dem Stöh-nen des Menschen (Nat. hist. 9.23). Das Seekalb äußere sich durch Blöken (mugitus), wasihm auch seinen Namen (vitulus) eingebracht habe; es lasse sich aber so weit dressieren,daß es sich eine Art Stimme aneigne und auf Befehl sogar grüße (Nat. hist. 9.41: accipiunttamen disciplinam vocemque pariter et iussu populum salutant). Über eine Fischart, denexocoetus, berichtet Plinius, daß dieser in bestimmten Regionen angeblich keine Kiemenhat und über eine Stimme verfügt (Nat. hist. 9.70: circa Clitorium vocalis hic traditur et sinebranchiis).102 In einem Punkt sind sich allerdings sämtliche Texte, in denen Formen tieri-scher Kommunikation thematisiert werden, einig: Mögen auch Fische, Elefanten, Hyänenund andere Tiere zu stimmlicher Artikulation in der Lage sein, so sind die bei weitemsprachbegabtesten Tiere stets Vögel. Doch auch sie weisen lediglich eine besondere mime-tische Gabe auf und produzieren nicht selbst etwas, das der menschlichen Sprache wirklichvergleichbar wäre.

Die hier betrachteten Beispiele liefern zugleich Ansatzpunkte für die Rekonstruktion desSprachbewußtseins der Griechen und Römer sowie ihres anthropologischen Selbstver-ständnisses. Im Rahmen der ausgeprägten Tendenz zum Denken in Oppositionspaaren las-sen sich verschiedene Typen von Alteritätskonzepten ausmachen: Von dem «Normalzu-stand» weichen nicht nur Fremde («Barbaren»), Sklaven, Frauen und Kinder ab, sondernauch Tiere.103 Menschliche Gruppen, die als andersartig wahrgenommen werden und dahermarginalisiert sind, werden in ähnlicher Weise wie Tiere vielfach assoziiert mit physischenUnterschieden, politischer Bedeutungslosigkeit, fehlender Bildung und Unwissen, einemhohen Maß an Emotionalität und fehlender Zurückhaltung, nicht selten auch mit Amora-lität. Angesichts solcher Divergenzen von der «Norm» ergibt sich eine fehlende Autoritätim öffentlichen Kontext. Daß die genannten Gruppen «keine Stimme» haben, ist wörtlichzu nehmen und hat Auswirkungen auf die Art und Weise, in der ihre Kommunikations-fähigkeit wahrgenommen wird. Voll artikuliert und redebegabt ist nach griechischer wierömischer Auffassung in erster Linie der prototypische erwachsene männliche Sprecher.Mit Tieren haben es Kinder und Barbaren gemeinsam, daß sie nicht «sprechen» können;

102 Siehe auch Oppian, Hal. 1.134 f. über den sogenannten Seepapagei: ��λ #�����, [« �κ ��2��« ,�4!/�#� »#�� $������« / �/������� 4������� �����κ� (…). In dem langen Abschnitt über #�����im vierten Buch (Hal. 4.40–126) wird diese Gabe der Fische jedoch nicht noch einmal angesprochen – essei denn, man faßt das Vogelgleichnis am Ende der Partie (Hal. 4.120–126) als eine Anspielung auf dieLaute von Seepapageien auf.

103 Eine dreigliedrige Antithese von Mensch vs. Tier, Mann vs. Frau und Grieche vs. Fremder («Barbar») istlaut Diogenes Laertios bereits für Thales von Milet belegt: Ng����« �# ,� ��)« B"��« �4« ��2���$������� �μ ��������� G� ����� ��λ ]������-«. ���#�� ���, ��#", ����� ������ `����!���� �!��� �9� ��!9�α ����� ��� Ρ�� Ν�/���« ,������� ��λ �. /��"��, �ρ�� Ρ�� $�κ� �� �.�-��, ��"��� Ρ�� Ng���� ��λ �. :��:���« (Diogenes Laertios 1.33).

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Antike Zeugnisse zu Kommunikationsformen von Tieren 71

auch die Kommunikationsformen von Frauen werden als different aufgefaßt und gehörensomit in eine ähnliche, wenn nicht dieselbe Kategorie (Fögen 2004).

Die Grenzen zwischen der Norm und den davon abweichenden Bereichen sind jedochnicht durchweg klar gezogen. Sobald emotionale Aspekte hinzutreten, verliert das Tier biszu einem gewissen Grad seine Animalität, wenn auch fast nie vollständig (cf. Goguey 2003:53–71). Ein höherer affektiver Bezug des Menschen zum Tier führt in der Regel zu einerstärkeren Anthropomorphisierung und zugleich zu der Zuschreibung einer «Sprach»bega-bung. Eine sympathisierende Sichtweise bringt es mit sich, manche Tiere als relativ kom-plexe Wesen mit gewissen Fähigkeiten aufzufassen, die denen des Menschen ähneln; diessagt freilich mehr über subjektive menschliche Einstellungen als über die tatsächlichen Be-gabungen und Eigenschaften des Tiers aus. Daß sich also ein «Abstand zwischen Menschund Tier (…) fortschreitend mit dem Wachsen der Kultur» ergibt, wie Radermacher (1918:30) behauptet hat, ist für die griechisch-römische Welt so nicht haltbar. Der Gesichtspunktder Emotionalität in Mensch-Tier-Beziehungen zeigt vielmehr, daß das Gesamtbild weitauskomplexer ist, als man zunächst vermuten mag. Die Kategorie der Alterität in bezug aufTiere wie auf menschliche Randgruppen ist zwar in der Antike sehr ausgeprägt, aber nichtabsolut. Hinzu kommt, daß nach antiker Vorstellung Sprachbegabung per se den Menschennoch nicht zu einem ethisch verantwortungsbewußten Wesen machen; es kommt vielmehrauf den richtigen Einsatz von Sprache an, wie vor allem Aristoteles und Cicero in ihren rhe-torischen Werken betont haben.104

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104 Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich an der Uni-versität Rostock (April 2005) und an der Humboldt-Universität zu Berlin (Juni 2005) gehalten habe;einzelne Partien (vor allem zu Plinius d. Ä., Ovid und Statius) habe ich an der University of Illinois atUrbana-Champaign (Januar 2006) zur Diskussion stellen können. Die vorliegende Ausarbeitung wurdewährend meines Aufenthaltes am Washingtoner «Center for Hellenic Studies» der Harvard University er-stellt. Douglas Frame (Harvard) und Annetta Alexandridis (Cornell) sei herzlich für eine kritische Lektüredes Textes gedankt.

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76 Giampiero Scafoglio

Giampiero Scafoglio

Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone

È stato Heyne a evidenziare, per primo, il carattere eminentemente drammatico dell’epi-sodio di Sinone (Aen. II, 57–198), sostenendo che il suo discorso ingannevole Graecarumtragoediarum eloquentiam et acumen redolet1. Un giudizio confermato in modo implicitodall’esame critico di Heinze2 e condiviso dai commentatori moderni a partire da Austin3.Del resto da tempo è concordemente riconosciuto e cospicuamente studiato l’influsso tra-gico in generale sul poema virgiliano, in particolare sul libro II4.

Nel secolo scorso l’episodio di Sinone è stato oggetto di svariati contributi, che ne hannosviscerato diversi aspetti stilistici e contenutistici: l’interesse si è appuntato soprattutto sullungo e articolato discorso del personaggio (un vero capolavoro, tanto coinvolgente e per-suasivo quanto falso e inconsistente), di cui sono stati segnalati gli espedienti retorici e iprocedimenti ‹psicagogici›5. Non è sfuggita neppure la presenza di incongruenze e contrad-dizioni, che tuttavia passano inosservate e non infirmano la riuscita della finzione, grazieall’eccellente costruzione complessiva6.

In questo studio intendo quindi soffermarmi nuovamente sugli elementi tragici presentinell’episodio (sia nella tecnica narrativa sia nell’intertestualità e nella forma dell’espres-sione), alcuni dei quali ad oggi non sono stati adeguatamente approfonditi, nemmeno neivolumi di Stabryla7 e Wigodsky8.

1 Cf. l’excursus dedicato proprio a Sinone nel commento di Heyne 18324, p. 305–306.2

Heinze 19153, p. 8–12 = trad. italiana di Martina 1996, p. 38–41, 100–101, analizza l’apparato retoricodel discorso così come l’ethos dell’intero episodio.

3 A buon diritto Austin 1964, p. 57, afferma che «the whole manner of the speech shows the influence of theGreek tragedy», al punto che «Euripides would have approved it».

4 Tra i contributi di più ampio respiro: Fenik 1960; König 1970. Un discorso di tipo programmatico èsvolto da Quinn 1968, p. 323–349; Pöschl; Hardie 1997. Utili le voci dell’Enciclopedia Virgiliana:Eschilo, di Melandri , vol. II; Euripide, di Martina , ibid; Sofocle, dello stesso autore, vol. IV; Tragicilatini, di Zorzetti , vol. V. Cf. Conte 1999, p. 17–42; La Penna 2005. Sul libro II: Knox 1950,p. 379–400; Mazzocchini 1992, p. 31–46; Fernandelli 1996; Idem 1997; Scafoglio 2001a; Idem

2001b.5

Paoletta 1968 si sofferma in particolare sul linguaggio ingannevole di Sinone. Lynch 1980, sviluppa unconfronto di carattere stilistico, psicologico e sociologico tra il discorso del finto disertore e l’ammoni-mento di Laocoonte, assimilando il primo a un modello di eloquio e costume corrotto di tipo greco-orien-tale, il secondo all’ideale romano arcaico, concreto e virtuoso. Manuwald 1985 concentra la propriaattenzione sull’architettura e sulla strategia di questa parte dell’Eneide, confrontandola con le linee generalidella tradizione mitografica. Un utile resoconto d’insieme è delineato da C. Deroux , Sinone, in Enciclo-pedia Virgiliana, vol. IV.

6Molyneux 1986 conduce un attento esame del discorso e ne segnala i punti incoerenti, riconoscendo peròche non bastano a indebolirne il potere persuasivo.

7Stabryla 1970 affronta la presenza della tragedia romana nell’Eneide in una trattazione sistematica,cospicua e puntuale, ma non sempre rigorosa e non ancora esaustiva; il limite più grave del libro consistenel non tener conto dell’uso diretto dei modelli drammatici greci nel poema.

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Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone 77

La tradizione mitografica

Il personaggio di Sinone è ignorato del tutto da Omero, che sembra attribuire a Odisseoil compito di aprire il ventre del cavallo di legno, accettato dai Troiani come un pegno votivodopo un controverso dibattito9. Sinone esiste però fin dal più antico sostrato mitico, secompariva in alcuni poemi del ciclo epico, segnatamente nell’Ilias parua di Lesche e nell’Iliu-persis di Arctino, i cui contenuti sono noti per sommi capi dai riassunti compilati da Proclonella Crestomazia10. Omero si rifà a un filone mitico alternativo oppure compie lui stessoun intervento innovativo per così dire ex silentio, eliminando Sinone o sostituendolo conOdisseo11. È possibile che il poeta emargini il personaggio ed escluda volutamente il suoruolo per non insistere sull’inganno attuato dagli Achei (un espediente indegno, che nonavrebbe esaltato il loro valore bellico) o per attribuire a Odisseo il merito di aver favoritol’approccio dei Troiani col cavallo o di averne dischiuso il ventre al momento opportuno12.

Per quanto riguarda il poema di Lesche, Sinone non è menzionato da Proclo, il quale for-nisce un resoconto incompleto del ciclo13. Il suo ruolo è testimoniato però da Aristotele,che lo include tra i contenuti di drammi veri o potenziali, pur non entrando nel meritoe non spiegando quale fosse concretamente il suo compito nel contesto del racconto (Poet.1459a37-b7)14. La sua presenza nell’Ilias parua trova conferma nella Tabula Iliaca Capitolina(un bassorilievo del periodo augusteo o giulio-claudio, che raffigura episodi del mito

8Wigodsky 1972, p. 76–97, ha un approccio prudente, perfino scettico, in forza della frequente impossibi-lità di distinguere l’imitazione della tragedia romana da quella greca. Sul problema degli ‹strati›, cioè deimodelli sovrapposti, cf. l’esame dal valore esemplare svolto da Traina 1970 (19742), p. 181–186.

9 Cf. il canto dell’aedo Demodoco, dedicato al cavallo di legno, al banchetto dei Feaci (Od. VIII, 499–520)e soprattutto lo spunto retrospettivo immediatamente precedente, pronunciato dal medesimo Odisseo,il quale si arroga segretamente (senza cioè rivelare la propria identità) il merito di aver propiziato il fataleinganno (vv.492–495).

10 Per i riassunti tracciati da Proclo cf. Severyns 1963, p. 89–93. Per i frammenti dei poemi del ciclo: Ber-

nabé 1987, p. 71–92; Davies 1988, p. 49–66; da ultimo West 2003, p. 118–152.11 Questa non sarebbe l’unica variazione apportata dall’epica omerica alla tradizione mitologica precedente,

in funzione dell’impostazione ideologica o dell’economia narrativa. Basti pensare che, per presentare Odisseocome un personaggio positivo, Omero tace i suoi misfatti, come l’omicidio di Palamede (cf. Pausania,X, 31, 2; molto meno esplicito Proclo, 166 Severyns) e il tradimento nei confronti dell’amico Diomede(Pausania, Att. � 14; Esichio, � 1881).

12 Si veda Jones jr. 1965, secondo cui il ruolo di Sinone, così come il suo carattere, apparteneva allo stessoOdisseo in un antico filone del mito, riecheggiato nell’epos omerico.

13 I tagli nei riassunti sono stati operati da Proclo stesso per evitare gli elementi ripetitivi o, come vuoleSeveryns 1928, p. 356–358, «par le grammairien qui détacha les résumés de la Chrestomathie pour lesmettre en tête d’un édition de l’Iliade»; oppure da un grammatico anteriore, attivo nel periodo ellenistico,«concerned to produce a continuous, nonrepetitive narrative», come pensa West 2003, p. 12. Non si puòescludere però che Proclo leggesse questi poemi in uno stato redazionale tardo, frutto di un precedentelavoro editoriale teso a snellire i testi, a selezionare e organizzare i contenuti, allo scopo di integrarli inunum corpus, per tramandarli più agevolmente: cf. Scafoglio 2004b.

14 Ecco il testo aristotelico, curato da R. Kassel, Oxonii 1965: �¹ �# Ν���� (scil. i poemi del ciclo, messi a con-fronto con quelli omerici, dal profilo più compatto e coerente) ��λ �� ������� � λ ��λ �� ������ λ �� � �»��� �������, ���� ² �� K��� ����� « � λ �κ� ����� #I���� . ���� ��� !� �"�#I�����« � λ #O������ « �� � �9$�� ����%� � &� �' « ν ��� ��� �, !� �" K���$� ���� λ� λ ��« ���»« #I�����« [��'�� )��*, ���� Ρ��$� ����«, ,�������-«, N���������«,E.�����«, ��$��� , /�� �� �, #I���� �'��« � λ $������« � λ 1��$� � λ T9$���«]. Questoelenco è considerato interpolato da Kassel, persuaso da Else 19632, p. 580–593. Contra, Gallavotti

1974, p. 90–91, 191–193.

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78 Giampiero Scafoglio

troiano tratti da Omero, dal ciclo epico e da Stesicoro)15: in un riquadro del settore infe-riore, basato appunto sul poema di Lesche, è rappresentato il cavallo di legno trascinato daun gruppo di Troiani, guidato da Priamo e preceduto da Sinone, spinto avanti da un soldatoa mo’ di prigioniero, con le mani legate dietro la schiena, in prossimità della porta Scea16.Più chiaro il ruolo di Sinone nel poema di Arctino: secondo Proclo (252 Severyns), eglisi introduceva con l’inganno nel borgo fortificato e da qui inviava segnali luminosi agliAchei, nascosti in mare17. In un altro ramo del mito (attestato dallo Pseudo-Apollodoronell’Epitome Vaticana e richiamato da Plauto nelle Bacchides)18 il medesimo compito èassolto da Sinone dal monumento funebre di Achille, fuori dalle mura della città: unavariante risalente forse anch’essa all’epica ciclica, la cui formazione stratificata (conse-guente all’evoluzione diacronica della materia poetica, tramandata prima oralmente e pas-sata successivamente per una fase intermedia di ‹auralità›) contemplava diverse versionidelle stesse vicende19. Non sappiamo se Sinone comparisse nell’Iliupersis di Stesicoro o inaltri carmi riguardanti il mito troiano, composti ad esempio da Ibico e Simonide, nel pe-riodo arcaico20.

La sua presenza è sospettata ragionevolmente nella tragedia attica, che riprende in largamisura la panoramica mitologica dell’epica ciclica, pur interpretata in chiave innovativa. Inparticolare, un Sinone è attribuito a Sofocle dal lessicografo Esichio, il quale ne riferisce trebrevissimi frammenti (ciascuno consistente in un unico lemma), avulsi dai rispettivi conte-sti e privi di senso21. L’esistenza di questa tragedia, che non è menzionata in nessun’altrafonte, è messa in discussione, se non nettamente negata, da molta parte della critica: Sinonesarebbe piuttosto un secondo titolo attribuito a un altro dramma di Sofocle, comprendenteovviamente questo personaggio. Si è pensato quindi al Laocoonte, che trattava fatti avvenutinello stesso torno di tempo; purtroppo però nel sintetico resoconto di Dionisio di Alicar-nasso (Ant. Rom. I, 48, 2), così come nei frammenti superstiti, non compare nessun

15 È una delle venti Tabulae Iliacae, conservate in diverse città, da Varsavia a New York. Si trova nel MuseoCapitolino a Roma, da cui prende nome. È descritta puntualmente, con ricchezza d’informazione biblio-grafica, da Sadurska 1964, p. 24–37, con riproduzione fotografica, pl. I. La corrispondenza di tale raffi-gurazione con le fonti letterarie greche è stata revocata in discussione (soprattutto per quanto riguarda Ste-sicoro), anche in ragione di una presunta influenza dell’Eneide: Perret 1942, p. 84–89, 109–115;Galinsky 1969, p. 106–113; specialmente Horsfall 1979. Il valore documentario del bassorilievo èdifeso però con validi argomenti da Debiasi 2004, p. 167–177; analogamente Scafoglio 2005.

16 La scena è accompagnata da una didascalia, che ne propizia la leggibilità: T$����« � λ ,���«$������� �μ� 2���� (scil. nelle mura della città); seguono i nomi di Priamo, Sinone e Cassandra (G. Kai-bel, IG 14, 1284).

17 È possibile che il medesimo fine fosse perseguito da Sinone, lasciatosi appositamente catturare, nel poemadi Lesche. Ma non è da escludere neppure una uariatio: una strategia documentata pure per altre figure evicende compresenti, ma delineate in maniera studiatamente diversa, in queste due opere (ad esempio,penso agli omicidi di Priamo e Astianatte).

18 Cf. Pseudo-Apollodoro, Epit. 5, 18; Plauto, Bacch. 938 (il servo Crisalo si paragona ai principali personaggidel mito troiano, compreso Sinone, che avrebbe espletato il proprio scopo in busto Achilli). Il modellodiretto del commediografo romano può essere stato l’Equos Troianus di Livio Andronico o di Nevio: è pos-sibile che i poeti tragici latini trovassero questo dato nel dramma ellenistico, che si rifaceva a un filonemitico marginale, se non del tutto nuovo.

19 Sulla genesi peculiare dell’epica ciclica, cf. Burgess 2001, ch. 1 e 3, passim; Scafoglio 2004a.20 Il poemetto di Stesicoro è ricostruito per quanto possibile da Bowra 19612, p. 101–106; i frammenti super-

stiti sono editi da: Davies 1991, p. 183–205; Campbell 1991, p. 100–121. Sui frammenti di Ibico e Simo-nide riguardanti il tema troiano cf. quest’ultimo volume, p. 262–263 e 448–449.

21 Cf. Esichio, I, p. 77, 99, 289 Latte; Pearson 1963, p. 181–183; Radt 19992, p. 413–415.

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accenno a Sinone22. Il personaggio non è nominato nemmeno da Euripide, nella rievoca-zione retrospettiva della conquista di Troia, nelle lamentazioni corali intonate dalle prigio-niere iliache nell’Ecuba (vv.905–913) e nelle Troiane (vv.511–576), dove gli avvenimentisono semplificati e ridotti al minimo, per lasciare spazio ai sentimenti e agli slanci di pathos.

Non sappiamo se Sinone comparisse ed eventualmente che ruolo svolgesse nel drammapostclassico ed ellenistico. Servio testimonia che, in un imprecisato carme di Euforione,Odisseo assolveva il medesimo compito attribuito da Virgilio a Sinone (ad Aen. II, 79)23.Torna in mente l’evocazione retrospettiva dell’Odissea appena discussa (VIII, 494–495), siache fosse una versione ancora più antica, risalente alla gestazione preletteraria dell’epicagreca, sia che fosse invece un’invenzione omerica, riscoperta in epoca ellenistica per la ten-denza tipicamente alessandrina alla valorizzazione delle leggende peregrine e delle variantisecondarie. Non è chiaro, peraltro, se l’Odisseo di Euforione (a prescindere dal fatto chefosse o meno lo stesso di Omero) convincesse i Troiani ad accogliere il cavallo di legnocome un dono votivo, al modo del Sinone di Virgilio; o si limitasse a inviare segnali lumi-nosi ai compagni, dopo essersi introdotto con l’inganno in mezzo ai nemici (secondo ilfilone arcaico, tramandato per primo da Arctino). Non saprei nel caso specifico quanto cre-dito meriti Servio, il quale è spesso impreciso nell’attribuire componimenti e argomenti agliautori più antichi24.

Il personaggio di Sinone si trova poi nel dramma romano arcaico, in cui il mito troianosembra essere un tema privilegiato25. A dire il vero, non è documentato e non è dimostra-bile, per quanto sia logicamente plausibile, che lui comparisse nei due Equi Troiani, com-posti rispettivamente da Livio Andronico e Nevio26. Egli era presente di certo nel Deipho-bus di Accio, di cui rimangono sei brevi frammenti, alcuni dei quali riguardanti appuntoquesto personaggio27. Infatti, in un brano di due settenari trocaici (vv.253–254 Dangel) unTroiano anonimo racconta di essere uscito in mare a pescare e di essersi spinto «alquantopiù a largo del solito», oppure «più avanti» lungo il lido (aliquanto solito … longius): sem-brano le premesse, le coordinate spaziali e temporali di un’esperienza notevole e peculiare.In un altro settenario (v.255 Dangel), lo stesso Troiano riferisce di aver catturato, conl’aiuto dei compagni o di alcuni soldati venuti in aiuto, un misterioso personaggio, senz’al-tro un Acheo, rimasto isolato e incontrato accidentalmente (nascosto in un canneto o neibassifondi fangosi, nei pressi del mare, a giudicare dal frammento precedente). I due passi

22 Sul Laocoonte di Sofocle cf. Nauck 18892 (rist. 1964), p. 211–213; Pearson 1963, p. 38–47; Radt 19992,p. 330–334; Cadoni 1978; Scafoglio 2006a.

23 Dopo aver ricordato il rapporto genealogico e il legame di sangue tra Odisseo e Sinone, i quali consobriniergo sunt, Servio aggiunge: nec inmerito Vergilius Sinoni dat et fallaciam et proditionis officium ne multum dis-cedat a fabula quia secundum Euphorionem Vlixes haec fecit. Cf. Thilo – Hagen 1881 (rist. 1961),p. 253–254. Per il commento di Servio e per il Seruius auctus occorre tenere presente altresì l’editio Haru-ardiana, curata da Rand-Savage 1946.

24 Cf. Goold 1970, che fornisce un cospicuo dossier degli errori commessi da Servio come dal Seruius auctus(notizie incerte, citazioni imprecise, esagerazioni nelle segnalazioni della dipendenza virgiliana dalle fonti,etc.). D’altro canto, se è opportuno riconoscere i limiti dei commentatori antichi, non si deve nemmenodimenticare il loro contributo documentario ed esegetico, spesso prezioso.

25 A riguardo cf. il mio studio: Scafoglio 2006c (con una revisione critica e una puntuale discussione delleparti superstiti di varie opere).

26 Cf. Ribbeck 18973, p. 3, 9; Warmington 1936, p. 10–11, 116–117; Klotz 1953, p. 26, 34.27 Edizioni: Ribbeck 18973, p. 176–177; Warmington 1936, p. 410–413; Klotz 1953, p. 211–212; con

commento: Franchella 1968, p. 77–84; D’Antò 1980, p. 84–85, 245–248; Dangel 1995, p. 158–159,317–318.

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sembrano appartenere al resoconto del ritrovamento di un nemico, catturato e condottopoi al cospetto di un personaggio autorevole, che deve essere Priamo. Dal discorso dellostrano prigioniero provengono probabilmente altri due frammenti (vv.256–257 e 258–259Dangel), su cui avrò modo di tornare più avanti: per adesso è sufficiente dire che l’io par-lante fa riferimento a un personaggio sleale e infido, di cui lamenta l’atteggiamento perse-cutorio; nel secondo segmento si scopre che si tratta di Ulisse, stigmatizzato violentemente(ma non senza ostentazione) per il suo cinismo. Immediato e palesemente plausibile il con-fronto col Sinone di Virgilio. Nel Deiphobus però il profugo greco, pur avanzando un di-scorso mistificante sul proprio conto e presentando lo stesso Ulisse come un nemico torvoe insidioso (come nel poema virgiliano), non serviva a favorire l’approccio dei Troiani colcavallo di legno e nemmeno a rivelarne il carattere di pegno votivo. Tale funzione era esple-tata da un’apposita iscrizione: Mineruae donum armipotenti abeuntes Danai dicant (v.260Dangel). D’altronde, se è probabile che l’episodio di Sinone occupasse un posto di rilievo,nondimeno al centro del dramma si doveva trovare il personaggio di Deifobo, protagonistadi fatti violenti e patetici durante l’attacco notturno28.

Al Deiphobus di Accio, se non a un modello comune, si collega probabilmente Igino nellaFabula 108, che racconta la conquista di Troia, concedendo ampio spazio al cavallo dilegno29. A ben guardare, non pochi punti trovano riscontro nel racconto retrospettivo diEnea, nel libro II del poema virgiliano: nell’ottica di una relazione di dipendenza è signifi-cativa la corrispondenza linguistica ancor più che la somiglianza contenutistica, imputabilealla condivisione di una determinata versione mitologica o di una precisa fonte letteraria30.Il racconto di Igino però non procede direttamente ed esclusivamente da quello virgiliano,rispetto a cui fa registrare uno scarto quantitativo e qualitativo notevole: elimina gli episodidi Laocoonte e di Sinone; modifica qualche particolare (ad esempio, nominando Diomedeal posto di Epeo tra i guerrieri nascosti dentro il cavallo di legno); aggiunge un elemento asé stante, che sostituisce (in modo però nettamente riduttivo) il compito attribuito da Vir-gilio al falso disertore: si tratta dell’iscrizione Danai Mineruae dono dant, che riproduce informa ametrica e appena più sintetica quella citata or ora della tragedia romana, da anno-verare di conseguenza tra le fonti della Fabula.

28 Il ‹duello› di Deifobo con Menelao (attestato fin da Omero e dal ciclo epico) non poteva essere ignorato daAccio, che doveva relegarlo nel resoconto di un messaggero, trattandosi di un fatto cruento. È plausibileche egli fosse sorpreso nel sonno e aggredito da Menelao con l’aiuto di Ulisse, come nel rapido e incisivoracconto retrospettivo delineato nell’Ade virgiliano (Aen. VI, 511–530), che probabilmente per il contenutoe per il color tragicus è ispirato proprio al dramma di Accio. Cf. Scafoglio2004c.

29 Cf. il testo di Igino recensito e sinteticamente commentato da Rose 19672, p. 98; torna utile anche il di-scorso introduttivo sui fontes (p. VIII–XII), pur lontano dall’esaurire il problema.

30 Nel racconto tracciato da Igino, Epeo costruisce monitu Mineruae un cavallo di legno mirae magnitudinis(cf. Aen. II, 15, instar montis equum diuina Palladis arte); i Troiani si addormentano lusu atque uino lassi(cf. Aen. II, 265: la città è definita somno uinoque sepultam); i soldati greci escono ex equo aperto a Sinone(cf. Aen. II, 259, laxat clasutra Sinon) e uccidono i guardiani, mentre i compagni tornano dal mare (come adAen. II, 265–267). Gli Achei chiusi nel simulacro equino sono gli stessi tranne Diomede, sostituito da Iginoa Epeo, l’ultimo a uscire nel racconto virgiliano (vv.261–264). Anche la profezia inascoltata di Cassandra(id uates Cassandra cum uociferaretur, inesse hostes, fides ei habita non est) è comune all’Eneide, vv.246–247:tunc etiam fatis aperit Cassandra futuris / ora dei iussu non umquam credita Teucris.

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L’interpretazione virgiliana

Nel racconto di Virgilio, l’episodio di Sinone si inserisce nello iato tra il primo e il secondosegmento riguardante Laocoonte31, tra il suo avvertimento (vv.40–56) e il suo conseguentesupplizio (vv.199–233)32. I fatti del finto disertore e dello sventurato principe troiano diven-tano quindi interdipendenti sul piano funzionale e semantico, in quanto si integrano in uncomune sistema di significati, si completano e si illuminano reciprocamente, con risultatinotevoli e risvolti delicati. Infatti, il giavellotto scagliato da Laocoonte nel corso del suoperentorio e accorato avvertimento si è appena infisso nel ventre del cavallo con un cuporimbombo rivelatore, fatalmente non compreso dai Troiani, quando entra in gioco il prigio-niero greco, trascinato da un gruppo di pastori al cospetto di Priamo (vv.57 ss.). Al terminedel discorso di Sinone, mentre tutti sono ancora concentrati su di lui e su quanto ha ingan-nevolmente rivelato, gli sguardi sono improvvisamente attratti da un tremendo prodigio,che travolge Laocoonte e i figli in un atroce supplizio (vv.199 ss.). A propiziare il passaggioda un episodio all’altro (in termini tecnici, a suturare l’incastro dei blocchi narrativi), duesegmenti di commento lirico, che esprimono i sentimenti dell’io narrante, sussumono ilsenso del racconto e nel contempo ne accentuano il pathos (vv.54–56, 195–198).

Virgilio presenta Sinone sinteticamente, ma emblematicamente, anticipando lo scopo delsuo intervento (v.60, hoc ipsum ut strueret Troiamque aperiret Achiuis) e il suo stato d’animorisoluto e pronto a tutto (vv.61–62, fidens animi atque in utrumque paratus / seu uersare dolosseu certae occumbere morti ). Il significato paradigmatico dell’episodio, ovvero il suo mes-saggio ideologico, è espresso anch’esso fin dall’inizio dal narratore consapevole (vv.65–66)33.Il discorso di Sinone si divide in quattro parti, la prima delle quali, assai breve (vv.69–72),assolve un ruolo meramente introduttivo, tesa com’è a suscitare l’interesse dei Troiani,il loro coinvolgimento emotivo: si tratta infatti di una sequenza concitata di domande reto-riche, che racchiudono in nuce tutta la sua storia e ne preannunciano la profonda sofferenza(non senza una sottolineatura di enfatica ostentazione). Il prigioniero si presenta come unesule apolide, estromesso e perseguitato dal proprio popolo. Ottenuto l’esito sperato, ilmutamento d’animo dei Troiani, che adesso si mostrano commossi e incuriositi, Sinoneintraprende il proprio racconto: rievoca il conflitto tra Ulisse e Palamede, quem falsa subproditione Pelasgi / insontem infando iudicio, quia bella uetabat, / demisere neci (vv.83–85).E inserisce abilmente se stesso in questo contesto, dicendo di essere stato affidato a Pala-mede dal padre indigente a mo’ di comes e consanguinitate propincus (quasi spinto dal biso-gno a mettersi al servizio del famoso parente e a unirsi all’esercito, suo malgrado); quindiracconta di aver condiviso gli onori di quello e di essere caduto poi nell’oblio, dopo il suotracollo; da ultimo ricorda di aver giurato di vendicare l’amico, suscitando l’odio di Ulisse,il quale lo ha perseguitato e rovinato (vv.77–104). Il racconto si interrompe ex abrupto sul

31 È possibile che il poeta abbia tratto spunto dall’espediente ellenistico dell’incastro, quanto meno per l’in-serimento di un episodio dentro l’altro. Tuttavia la realizzazione virgiliana è incommensurabile, per con-catenazione e drammaticità, con la tecnica alessandrina, come dimostra Heinze 19153, p. 12–20 = trad.ital. p. 42–49.

32 Sullo sviluppo e sul significato dell’episodio di Laocoonte, rielaborato da Virgilio in modo innovativorispetto ai dati mitici tradizionali, cf. Zintzen 1979.

33 Avrei voluto definire Enea narratore onnisciente, dal momento che conosce l’esito degli eventi, per averlogià vissuto; ma si riscontra un dislivello di coscienza tra il lettore e l’io narrante, che non comprende pie-namente il significato della propria esperienza.

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nome di Calcante (v.100, donec Calchante ministro … con un costrutto dal valore logicosubordinato, che presuppone un prosieguo deliberatamente omesso): un nome dal suonosinistro, gravido di presentimenti funesti (promananti dai trascorsi del personaggio, pre-sentato fin dal mito arcaico come un � ��� ���«), che gioca qui un ruolo decisivo,lasciato studiatamente in sospeso, per suscitare l’accanimento degli ascoltatori, desiderosiormai di conoscere il seguito. Sinone conclude questa sezione del discorso col provocatorioinvito rivolto ai Troiani a ucciderlo, compiacendo in tal modo Ulisse e gli Atridi (vv.101–104):un’affermazione iperbolica e paradossale, che comunica un’impressione invertita e stra-volta della realtà. Va da sé che i Troiani non accennano minimamente a fargli del male, aquesto punto.

Tra una parte e l’altra del discorso, lo sguardo si allarga sul popolo circostante, di cui sirende dal di dentro (dal punto di vista di Enea, che fa parte di loro) il comune sentire, checonsiste in un interesse crescente, partecipe fino a diventare gradualmente solidale, nei con-fronti dello sventurato prigioniero (vv.105–106 e, più avanti, v.145). Poi Sinone riprende ilracconto, rivelando un susseguirsi di truci eventi, che muovono da alcuni prodigi nefasti eda un macabro oracolo per arrivare a un sacrificio umano, all’ombra di una sanguinaria reli-gione ancestrale, in cui la vendetta divina (scatenata dall’empietà e dalla profanazione)è chiamata in causa strumentalmente e subordinata alla vendetta umana (vv.108–144). GliAchei, estenuati ormai dal lungo protrarsi del conflitto e determinati a rimpatriare, eranotrattenuti dai venti contrari, suscitati dagli dei ostili, da placare con l’olocausto di un sol-dato greco, come prescritto dall’oracolo consultato da Euripilo. Chiamato da Ulisse a desi-gnare l’uomo da immolare, Calcante aveva tentato di esimersi ed era rimasto per diecigiorni in silenzio; poi aveva ceduto e si era accordato col perfido personaggio, il quale si eraservito di lui, dell’oracolo e del volere divino per vendicarsi di Sinone, il cui destino era pre-sagito e vociferato da tutti, acconsenzienti per stornare da sé il pericolo. Quando il giornodel sacrificio era prossimo ed erano stati già espletati i preparativi, Sinone era fuggito e siera nascosto in un lago melmoso, dove era rimasto finché gli Achei non erano salpati. Il rac-conto culmina e si conclude con un intenso sfogo di dolore: la consapevolezza di non potermai più tornare in patria né rivedere la famiglia (destinata forse a subire ritorsioni) è scatu-rigine di ostentata sofferenza e funge da premessa per una richiesta di pietà e di grazia,avanzata infine non senza invocare la divinità e le più nobili idealità, la verità e la fede. Inter-pretando il sentimento comune dei Troiani, Priamo ordina di liberare il prigioniero, lo ras-sicura e lo accoglie nel proprio popolo (vv.145–147).

Proprio il re gli dà l’agio di adempiere il suo compito fatale, interrogandolo sul cavallo dilegno (vv.150–152). Questo l’oggetto della quarta parte del discorso tenuto da Sinone, ilpunto di arrivo di tutto il suo piano, che sta per andare in porto (vv.154–194). Un’invoca-zione altisonante, che richiama nuovamente la mancata immolazione a guisa di formulasacrale, introduce ancora una storia di empietà e di vendetta divina (indipendente da quellaprecedente e, per singole circostanze, finanche incongruente con essa, ma partecipe dellamedesima temperie di religiosità tenebrosa). Il furto del Palladio, perpetrato da Ulisse eDiomede, aveva scatenato orrendi prodigi nel campo acheo: Atena, già patrona e alleatadell’Ellade, si era adirata per la profanazione della propria immagine, toccata con maniinsanguinate. Gli Achei erano tornati in territorio greco per espletare riti catartici, comeprescritto da Calcante, che aveva ordinato pure di costruire il cavallo di legno come donovotivo: se i Troiani lo avessero distrutto, in seguito sarebbero stati sconfitti e conquistatidagli Achei, che sarebbero tornati da un momento all’altro; se invece lo avessero accolto

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con religioso rispetto, sarebbero stati loro in futuro a prevalere e ad asservire tutto il mondogreco. L’episodio è suggellato dal commento lirico, pronunciato dall’io narrante, che sot-tolinea il peso dell’inganno ordito dal falso disertore, decisivo per l’esito del conflitto(vv.195–198).

L’intervento di Sinone è racchiuso in uno schema circolare dal doppio episodio di Lao-coonte, che ne potenzia l’effetto sul versante tecnico-narrativo e ne completa il significato alivello ideologico. Il discorso del sedicente disertore in merito al cavallo di legno sembra tro-vare un riscontro nel terribile supplizio, consumato all’improvviso sotto gli sguardi attoniti eagghiacciati dei Troiani, i quali pensano che Laocoonte sia stato punito per aver profanato ildono votivo e, spaventati piuttosto che entusiasti, si convincono ad accoglierlo. Si creaquindi un circolo virtuoso tra gli episodi di Sinone e Laocoonte, che cooperano di fatto alconseguimento del medesimo scopo (malgrado l’intento del principe iliaco sia diametral-mente opposto). Questo aiuta a spiegare e, in una prospettiva valutativa, a giustificare ilcomportamento autodistruttivo dei Troiani, che di per sé potrebbe sembrare eccessivamenteingenuo e sprovveduto, se non che si sottrae a un tale giudizio, condizionato com’è dal dia-bolico stratagemma degli Achei e perfino dall’intervento divino. Tutta la vicenda ispira anziuna simpatia commossa e ammirata per la popolazione troiana, vittima in ugual misura dellapropria generosità, della subdola falsità achea e dell’immotivata ostilità divina34.

Introspezione psicologica e strategia della finzione

Il discorso di Sinone contempla svariati espedienti concettuali e stilistici, tesi a simularel’ethos e a fomentare il pathos. La strategia di persuasione è tutta incentrata sulla capacità disuscitare simpatia (concepita etimologicamente come partecipazione emotiva), ad onta dieventuali incongruenze e contraddizioni. Un esempio lampante: Sinone racconta di esserestato affidato dal padre al consanguineo Palamede a mo’ di comes, «assistente» più che«compagno», quasi fosse un giovinetto uscito da poco dal nucleo familiare (vv.86–87); piùtardi però lui rimpiange di non poter rivedere i propri figli e paventa che il furore vendicativodegli Achei si ritorca su di loro (vv.137–140). È stata notata l’incongruenza di queste e altreaffermazioni, considerate la spia di una debolezza della simulazione, che risulterebbe per-fetta solamente in apparenza, mentre si rivelerebbe superficiale e approssimativa a un’analisiattenta. Ma la verità è che la consequenzialità della narrazione è sacrificata alle esigenze con-tingenti e all’efficacia della persuasione. Sinone si presenta come un giovinetto per spiegareil proprio ruolo al fianco di Palamede e per deresponsabilizzarsi dal coinvolgimento nel con-flitto con i Troiani; diventa poi un padre preoccupato per i figli, per far apparire più penosoagli occhi dei nemici il suo stato di esule. Il coinvolgimento degli ascoltatori è perseguito conogni mezzo e ad ogni costo, perfino a danno del rigore interno del racconto.

La persuasione dunque si esplica tutta nella sfera emotiva, a cui appartengono le strategiedella miseratio sui e della captatio beneuolentiae. L’intera vicenda non è descritta esclusiva-mente nella sua evoluzione concreta, esteriore, ma è esplorata pure nella dimensione inte-

34 L’innocenza della popolazione troiana è fissata definitivamente, a guisa di epigrafe tombale, nell’immaginedella città distrutta, nell’incipit del libro III: postquam res Asiae Priamique euertere gentem / immeritam uisumsuperis, ceciditque superbum / Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia (vv.1–3); dove spicca l’aggettivoimmeritam (v.2).

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riore mediante l’introspezione psicologica, condotta con tecnica raffinata sia nella rappre-sentazione della condizione individuale di paura (simulata)35, sia nell’esternazione dellamentalità della massa36. Ma il rilievo più sottile riguarda lo stato d’animo di Sinone rispettoal sacrificio, a cui egli finge di essersi sottratto quasi a malincuore, con un sentimento con-troverso, combattuto tra il disperato desiderio di vivere e il rimorso: eripui, fateor, leto me etuincula rupi (v.134), con l’inciso fateor dal significato pregnante, a rendere il forte disagiolegato al proprio comportamento, considerato evidentemente un nefas sul piano morale.

È ancora l’introspezione psicologica a compensare la contraddizione emergente tra lanecessità di propiziare la divinità anima Argolica («col sacrificio di un Acheo», come dice ilresponso riferito da Euripilo, vv.116–119) e la successiva partenza della flotta per la Gre-cia, avvenuta ugualmente, anche se la vittima designata è fuggita e la cruenta pratica ritualenon è stata adempiuta (v.180, nunc quod patrias uento petiere Mycenas). La contraddizionenon è dissimulata, ma viene riassorbita con disinvoltura in una fine notazione introspet-tiva: nascosto nei bassifondi fangosi, rimasto all’oscuro dei fatti, Sinone esprime uno statod’animo sospeso e incerto, nell’attesa e anzi nella speranza della partenza della flotta,non ritenuta sicura, ma auspicata con trepidazione (v.136, delitui, dum uela darent, si fortededissent).

La contraddizione più forte ed evidente riguarda ancora la partenza della flotta: in unprimo momento Sinone dice che gli Achei sono salpati definitivamente, stanchi e rassegnatiad abbandonare il conflitto (vv.108–144); poi però racconta che essi sono ritornati in terri-torio greco ad auspicium repetendum, decisi a riprendere al più presto il cimento bellico(vv.154–194). Le due versioni sono funzionali rispettivamente alle esigenze dell’unae dell’altra parte della simulazione, che si dipana in due fasi distinte sia ‹geneticamente›(in base cioè alle fonti) sia strategicamente: la prima, soggettiva e biografica, appare subor-dinata a sua volta alla seconda, che contempla la meta di tutta la vicenda.

Architettura e tecnica narrativa

Il carattere ‹tragico› dell’episodio di Sinone trova un primo, evidente riscontro nell’im-pianto dialogico (quasi un discorso continuo, inframmezzato e scandito dagli interventi di uninterlocutore-ascoltatore): un personaggio conduce un racconto denso di pathos davanti aun destinatario privilegiato, che lo interroga di tanto in tanto, con un gruppo di spettatoripartecipi e intensamente coinvolti, il popolo troiano, che non si limita ad assistere passiva-mente, ma assume atteggiamenti ed esprime sentimenti a mo’ di un coro. Quest’ultimo nelgenere tragico rappresenta spesso un popolo, di cui impersona gli esponenti eminenti (adesempio, gli anziani consiglieri nei Persiani di Eschilo). Nell’episodio virgiliano però ilpopolo non parla direttamente, come il coro in un dramma: è Enea a descrivere il sentiredei propri concittadini, il loro incuriosirsi e commuoversi al racconto di Sinone (vv.63–64,

35 Cf. vv.67–68, conspectu in medio turbatus inermis / constitit, il cui soggetto è Sinone; v.107, prosequitur paui-tans et ficto pectore fatur, con le due allitterazioni in funzione intensivo-patetica e con la connotazione agget-tivale ‹rivelatrice›.

36 Si pensi al cambiamento dei sentimenti nei confronti del nemico, divenuto poi supplice (vv.105–106, 145);si pensi al consenso accordato da tutti al responso di Calcante, per stornare il timore comune unius in miseriexitium (vv.130–131).

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73–75, 105–106, 145, 195–198). Enea stesso, tra un segmento e l’altro del discorso del falsodisertore, svolge un commento lirico, che incornicia e attraversa l’intero episodio, ne seguelo sviluppo e ne anticipa l’esito, ne accresce il pathos e ne evince il significato ideologico: uninsieme di scopi senz’altro riconducibile a un coro tragico.

Vi è di più. Enea costituisce l’io narrante di tutto il libro (come del successivo): è stato para-gonato a buon diritto a un Ν�����« proprio del dramma, rispetto al quale si riscontra però uncoinvolgimento molto più profondo nel racconto, dal momento che egli non è stato un sem-plice testimone, bensì un protagonista dei fatti37. Proprio per il suo doppio ruolo di narratoree protagonista, messo in risalto fin dall’incipit del libro, egli non si lascia assimilare tout courta un Ν�����« tragico38. D’altro canto, egli non coopera attivamente all’episodio di Sinone, acui assiste e partecipa nell’insieme del popolo troiano. Egli rimane nondimeno l’io narrante,l’interprete dello stato d’animo collettivo: diventa perciò, in questo tratto del libro, unmodello di messaggero tragico, che per di più congloba in sé anche l’investimento funzionaledel coro, se si vuole, il suo contenuto semantico: il commento lirico.

Oltre che Enea, lo stesso Sinone adempie il compito di Ν�����« per mezzo del proprioracconto nel racconto, non tanto nelle prime tre parti del discorso, bensì nella quarta,in cui egli ripercorre i trascorsi degli Achei, di cui è stato spettatore e non più protagonista.A una 3���« $������� rimanda anche la struttura della narrazione, che si sviluppa rapidae incisiva, con la gradazione crescente della tensione patetica nella descrizione dell’iradivina (vv.172–175) e con esclamazioni incidentali passim (v.174, mirabile dictu, riguardoai prodigi seguenti al furto del Palladio; vv.190–191, quod di prius omen in ipsum / conuer-tant, a proposito di Calcante, che ha previsto il magnum exitium del regno di Priamo).L’atroce supplizio di Laocoonte, consumato al termine dell’episodio di Sinone, costituisceanch’esso un degno oggetto per il resoconto di un messaggero tragico (di nuovo Enea, nar-ratore in questo brano come nell’intero libro), per l’intervento dei draghi e in generale peressere un fatto di sangue, che non sarebbe potuto avvenire sotto gli occhi degli spettatori inun dramma.

Il carattere tragico dell’episodio di Sinone si rispecchia poi sul piano stilistico, in parti-colare in un procedimento tipico del genere drammatico: l’anfibologia, vale a dire la comu-nicazione ambigua e irrisolta, che dissimula ad arte la rivelazione di una verità nascosta ol’anticipazione di una vicenda futura, inattesa oppure paventata. Un espediente, questo,consistente in un discorso dal doppio significato: uno superficiale, rivolto a un interlocu-tore inconsapevole o sprovveduto; uno profondo, adombrato con strumenti specifici (ri-svolti semantici impliciti; diversivi; sottintesi) e opacizzato con appositi segnali allusivi,indirizzato a un differente destinatario (presente o meno nel testo) e condiviso almeno i-dealmente col fruitore del dramma (spettatore o lettore)39. Dall’anfibologia scaturisce l’iro-nia tragica, appannata da un’impressione di ambiguità e da una venatura di amarezza,

37 Non a torto Austin 1964, p. 29, osserva che «the whole Book is a personal narrative, an eyewitnessaccount of the fall of Troy, told by a survivor. Virgil has adapted to Epic the technique of the Messenger’sspeech in Greek Tragedy». Un appropriato termine di paragone per il coinvolgimento diretto nei fatti nar-rati sembra essere il superstite-messaggero nei Persiani di Eschilo: cf. Ussani jr. 1950.

38 Cf. il passo iniziale del racconto di Enea: Infandum, regina, iubes renouare dolorem / Troianas ut opes etlamentabile regnum / eruerint Danai, quaeque ipse miserrima uidi / et quorum pars magna fui (vv.3–6).

39 Per una definizione dell’ironia legata all’anfibologia e connotata equivocamente, con esemplificazione trattada opere drammatiche, cf. Paduano 1983.

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denominata così perché appartenente alla tragedia per antonomasia, ma probabilmente pre-sente in questa parte della narrazione virgiliana40.

Doppi sensi e sottintesi nel discorso di Sinone sono rinvenuti occasionalmente fin dalcommento di Servio, il quale però non coglie pienamente il significato di tale procedi-mento. Quest’ultimo non è sfuggito ad alcuni critici moderni (primo tra tutti, non per caso,il grande poeta Giovanni Pascoli)41; non è stato però sviscerato in modo sistematico edesaustivo. D’altro canto, il fenomeno è stato ignorato e perfino negato da uno dei più pene-tranti interpreti virgiliani, quale Richard Heinze42.

Sinone introduce così il racconto: cuncta equidem tibi, rex, fuerit quodcumque, fatebor /uera, inquit, neque me Argolica de gente negabo (vv.77–78). Uno scolio del Seruius auctusindividua un paralogisma: uera inquit ut et falsa, quae postea dicturus est, uera credantur: ideoprimo a ueris coepit (ad Aen. II, 77). La capziosità verbale rispecchia tuttavia una strategia dipiù ampia portata, messa in luce già in una chiosa precedente: de Palamede autem et de Iphi-genia ad Troianos nihil pertinet, de quibus uera incipit et in falsa desinit; facile enim quaesequuntur credibilia sunt, quae prima recognoscuntur (ad Aen. II, 69). È stata notata anche lapossibilità (ammissibile per la metrica, benché non immediatamente evidente) che la con-notazione uera si riferisca ad Argolica gente invece che a cuncta, anzi, che si possa accostareambiguamente ad entrambe le parole, con conseguenze assai diverse (il rilievo è del Pa-scoli). Neppure è sfuggita l’enigmaticità dell’espressione fuerit quodcumque, «qualunquecosa accada» (scil. al medesimo Sinone, ma eventualmente anche a Priamo e al suo popolo);tanto più che il pronome personale tibi, riferito al verbo fatebor, potrebbe essere retto $�μ������ dal costrutto relativo-condizionale fuerit quodcumque. Se tutta l’espressione èpregna d’ironia, spicca la frase culminante neque me Argolica de gente negabo: comeavrebbe potuto Sinone (già riconosciuto come un nemico dai Troiani e incatenato per que-sto motivo) negare di appartenere al popolo acheo? La sua prima confessione, che in realtànon rivela niente e non dimostra alcuna sincerità, suona come una derisione, una beffa, dis-simulata e simultaneamente accentuata (a seconda della visuale assunta) dalle premessepompose e patetiche (vv.69–72). Tanto più che Sinone, appoggiandosi a quanto ha appenadetto, si presenta come un personaggio sventurato, ostinatamente e orgogliosamente sin-cero e integro: hoc primum; nec, si miserum Fortuna Sinonem / finxit, uanum etiam menda-cemque improba finget (vv.79–80). Il Pascoli ha osservato che l’iniziale nec non si riferiscenecessariamente al verbo finget, come pare di primo acchito e come Priamo stesso intende:si potrebbe collegare nondimeno al precedente finxit, con un paradossale capovolgimentodel significato. È interessante soffermarsi poi sul verbo fingo, che non è soltanto un sino-nimo di compono o formo (come vuole Servio ad loc.): vi è anche un’accezione riguardantela simulazione, richiamata forse allusivamente (specialmente nella prima delle due occor-renze), quasi a far intravedere la natura ingannevole della situazione, con un’implicita e sar-donica provocazione.

Ma l’anfibologia si fa più consistente e tagliente nelle formule sacrali, deputate a sancirela verità delle rivelazioni. Così il giuramento ai vv.141–144:

40 Lo hanno notato rapsodicamente numerosi studiosi, che non hanno condotto però un esame sistematicodel fenomeno. Cf. ad esempio Jackson Knight 1944, passim.

41 Cf. Pascoli 1958, p. 62 ss. passim. Il fenomeno è messo in giusto risalto da Paoletta 1968, che lo ricon-duce al genere tragico e in particolare all’influsso di Sofocle.

42Heinze 19153, p. 11, specialmente n. 1 = trad. ital. p. 40–41 e 101, n. 11, afferma infatti categoricamente dinon dare credito ai rilievi dei commentatori antichi e moderni su questo tipo di espedienti.

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quod te per superos et conscia numina ueri,per si qua est quae restet adhuc mortalibus usquamintemerata fides, oro, miserere laborumtantorum, miserere animi non digna ferentis.

Sinone invoca i numi consapevoli del uerum, che secondo i Troiani consiste appunto nelsuo racconto, per Virgilio e per il lettore accorto si tratta piuttosto dell’inganno in atto, dicui gli dei sono al corrente: ne sono perfino ispiratori, complici43. La chiamata in causadell’intemerata fides, accompagnata dalla condizionale si qua est quae restet adhuc mortalibususquam, ad onta di una venatura di incertezza, sembra presupporre comunque una rispostapositiva, ossia che esiste ancora la «lealtà incontaminata». Ma la realtà è ben diversa: vi èragione di dubitare dell’esistenza della fides e, se pure non fosse revocata in discussione i-dealmente, essa è profanata e calpestata sicuramente in questa circostanza. Di conseguenzala formula stessa risulta inficiata, fondata com’è su una premessa surrettizia, sostanzial-mente falsa. Ambigua pure l’espressione animi non digna ferentis, con la negazione abbinataalla parola contigua digna; salvo che si potrebbe legare al participio ferentis, capovolgen-done il significato. Il discorso si può estendere anche all’altro, più solenne giuramento(vv.154–156):

‹uos aeterni ignes, et non uiolabile uestrumtestor numen› ait, ‹uos arae ensesque nefandi,quos fugi, uittaeque deum, quas hostia gessi›.

Sinone si rivolge in primo luogo ai «fuochi eterni» (aut ararum quas fugit … aut certe Solemet Lunam significat, precisa in margine Servio), poi all’apparato consacrato per il sacrificio(gli altari, i coltelli e i paramenti rituali), personificato e quasi divinizzato per il suo valoresacrale. Tiberio Claudio Donato ad loc. commenta a buon diritto che l’impostore richiama icorpi celesti sine periculo periurii, dal momento che non sono stati testimoni di alcun sacri-ficio; mentre le arae e le uittae non sono mai esistite, già inventate in funzione della simu-lazione e ora invocate ad arte, a garanzia di verità per altre menzogne. La formula è vana,perché basata su premesse immaginarie44.

Il tratto più efficace di questo procedimento si trova però nel punto culminante del rac-conto, quando Sinone paventa il ritorno degli Achei, lo annuncia perfino come imminente,per indurre i Troiani a stornarlo nell’unico modo possibile, accogliendo il cavallo e consa-crandolo come un dono votivo (vv.180–182):

et nunc quod patrias uento petiere Mycenas,arma deosque parant comites pelagoque remensoimprouisi aderunt. ita digerit omina Calchas.

43 Atena sostiene gli Achei, per empi e spergiuri che siano, nel corso di tutto il libro: Epeo costruisce il cavallodi legno diuina Palladis arte (v.15); dopo aver trucidato Laocoonte e i suoi figli, i mostri marini spariscononel tempio della dea, ai piedi della sua statua (vv.225–227) – di qui l’interpretazione fuorviante dei Troiani(vv.228–233). Non mente Sinone, quando afferma: omnis spes Danaum … Palladis auxiliis semper stetit(vv.162–163).

44 È ambiguo inoltre il proposito espresso da Sinone poco dopo, nel costrutto condizionale si magna repen-dam (v.161), il cui verbo significa «portare allo scoperto» in senso traslato, in riferimento ai segreti deiGreci; potrebbe essere inteso però letteralmente, a indicare il gesto di liberare i guerrieri dal cavallo dilegno, come il finto disertore progetta e come poi farà (vv.258–259). Così leggono alcuni, secondo il Seruiusauctus ad loc. (uobis feram Graecis rependam).

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Colpisce il sintagma improuisi aderunt, che annuncia il ritorno dei Greci in un futuro impre-cisato, ma non lontano; nel contempo sembra anticipare a livello allusivo il loro attacconotturno (questo, sì, veramente imminente): infatti essi giungeranno dal mare all’improv-viso, poco tempo dopo, proprio come dice Sinone.

Sui brani qui addotti, non tutti ugualmente significativi, si potrebbe discutere a lungo.Del resto, è normale e perfino ovvio che un fenomeno studiatamente sfumato e ambiguonon si lasci verificare e descrivere in modo perspicuo e indubbio: è in gioco il suo stessoesito, che in caso contrario sarebbe da considerare fallito. L’anfibologia è una performancesottile e cerebrale per definizione, la cui riuscita dipende dalla sua stessa discrezione, cioèdalla capacità di comunicare segretamente, selettivamente, in maniera percettibile esclusi-vamente a una lettura scaltrita. È tuttavia difficile negare, nelle circostanze e nelle parolecitate, un’inquietante impressione di ambiguità, fonte di ironia tragica, degna della lezioneimpartita dalla drammaturgia greca.

I rapporti con i modelli

Assai complessa e non ancora adeguatamente sviscerata la questione delle fonti e dell’in-tertestualità. È singolare che l’episodio di Sinone (come quello concatenato e complemen-tare di Laocoonte) non trovi riscontro nell’epos omerico, su cui è fondato complessiva-mente il poema virgiliano45. Se la vicenda è stata volutamente emarginata dalle rievocazioniretrospettive dell’Odissea, sorprende tuttavia che in quest’ultima e nell’Iliade non vi sia nep-pure una singola scena, una situazione simile per la struttura complessiva o per una partelimitata (pur nella diversità della materia), come accade invece quasi per la totalità dell’E-neide, legata all’epica omerica ora per analogia, ora per antitesi, ora per continuità ed evo-luzione di figure, immagini, idee46.

Un altro evidentemente è l’ipotesto di questo episodio; diverso il suo percorso genetico,che muove dal ciclo epico e passa per il dramma greco e romano, così caro a Virgilio. Unareminiscenza circoscritta, eppure significativa, si riconosce nella frase incipitaria cunctaequidem tibi, rex, fuerit quodcumque, fatebor / uera (vv.77–78), che ricalca la formula ome-rica ����� !�* ��� � �� ���# $���'$« $�����$ (Od. XIV, 192 e passim) e la suavariante ����� !�* ��� ���� ���# $���'$« � � �'�$ (Od. XXIV, 303 e passim): inquesto modo Odisseo introduce i discorsi ingannevoli rivolti rispettivamente al porcaioEumeo e al padre Laerte. Un’allusione, questa, basata non casualmente sulla menzogna(anzi sulla promessa di verità, puntualmente smentita) e finalizzata a segnalare un’analogiapiù profonda, strutturale e funzionale, che affonda le radici nella tradizione letteraria.Sinone è il cugino di Odisseo, secondo Servio (ad Aen. II, 79): di certo è un suo alter ego,che riprende alcuni elementi del suo carattere (quale appariva però nel ciclo epico e poi nel

45 Sterminata la bibliografia sulle relazioni genetiche e intertestuali tra l’Eneide e l’epica omerica, talvolta indi-viduate e variamente valutate già dalla critica antica. Il testo di riferimento rimane Knauer 19792, il qualerinuncia a trovare un corrispettivo omerico per l’episodio virgiliano di Sinone.

46 Si pensi per esempio all’incontro di Enea con Didone nell’Ade (Aen. VI), modellato sull’episodio omericodi Odisseo e Aiace (Il. X), differente nel contenuto ma simile nello schema di fondo e nello svolgimento.Sull’approccio di Virgilio col suo auctor princeps, tra gli altri, cf. Barchiesi 1984; Rossi 2004. Un quadrocomplessivo in Hardie 1998, p. 54–57; Suerbaum 1999, p. 141–149.

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Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone 89

dramma)47 e svolge il ruolo attribuito a lui in un altro ramo del mito (documentato dallostesso Omero)48.

Alla tragedia rimanda un’altra, emblematica reminiscenza. L’invito iperbolico rivolto daSinone ai Troiani affinché lo uccidano subito, facendo paradossalmente un favore graditoagli Atridi e a Ulisse, che rappresentano ovviamente tutti gli Achei con procedimento me-tonimico (vv.102–104, in particolare 104, hoc Ithacus uelit et magno mercentur Atridae),ricorda un brano intonato dal coro nel vedere il tracollo dell’eroe impazzito nell’Aiace diSofocle (vv.955–960):

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L’intertesto si innerva sul richiamo agli Atridi (complici di Odisseo e corresponsabili perciòdel torto inflitto ad Aiace), formulato appropriatamente da Sofocle e introdotto da Virgilioin modo non strettamente pertinente, a mo’ di segnale allusivo. Anche tale reminiscenzariveste una funzione comparativa, che delinea tuttavia un’antitesi, quasi un’opposizionespeculare. Sinone riprende un concetto rivolto dal coro ad Aiace e lo usa come espedientepersuasivo, che però pone maggiormente in risalto il suo volgare cinismo, a confronto colnobile e integro eroe di Sofocle.

Un altro possibile trait d’union col genere tragico è il personaggio di Palamede, il cui tri-ste destino (narrato da Sinone ai vv.81–85, per essere inserito in un surrettizio intreccio coni suoi immaginari trascorsi, nei versi successivi) era oggetto dei perduti drammi omonimi diEschilo, Sofocle, Euripide49. Essi sono però troppo poco noti per dire se ed eventualmentecome il racconto virgiliano, il quale peraltro procede molto rapidamente e si risolve in solicinque versi, possa averne subito l’influsso50.

A un altro dramma perduto pare piuttosto che Virgilio abbia gettato lo sguardo nel flash-back su Palamede e nel suo particolare riuso, messo in atto da Sinone ai fini dell’inganno: ilFilottete di Euripide51. Di questo interessa in particolare un segmento iniziale, parafrasato (dif-ficile dire quanto fedelmente) nell’orazione 52, 6–10 di Dione Crisostomo52. Si tratta di uncontroverso dialogo tra Filottete e Odisseo, il quale finge di essere appunto un amico di Pala-mede per placare e persuadere l’interlocutore, che nutre un violento rancore nei confronti di

47 Sul profilo negativo, direi perfino demoniaco, rivestito da Odisseo nel ciclo epico e passato di qui neldramma attico, a dispetto del processo idealizzante messo in atto nell’epos omerico, cf. Stanford 1954(19682), p. 90–117.

48 Cf. il discorso condotto supra, riguardo all’accenno retrospettivo di Odisseo, che si arroga il merito di averrealizzato l’inganno del cavallo (Od. VIII, 492–495); su cui anche Jones Jr. 1965.

49 A riguardo: Stoessl 1966; Scodel 1980, p. 43–63; Jouan – Van Looy 2002, p. 487–513 (sul Palamededi Euripide, a partire dal mito).

50 D’altro canto il motivo dell’indignus exitus Palamedis era un tema topico, su cui si esercitavano i retori e iloro allievi greci e romani, a partire da Gorgia, come testimoniano Platone (Apol. 41 b) e l’autore del trat-tato ad Herennium (II, 28).

51 Su questo dramma cf. Webster 1967, p. 57–61; Müller 1997; Idem 2000.52 Il primo a proporre un confronto tra il discorso di Dione e il testo virgiliano è stato Heinze 19153, p. 8–9

= trad. ital. p. 39 e 100, n. 6 e 7, che non ha mancato di individuare il modello comune nel Filottete di Euri-pide. Cf. Luzzatto 1983.

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tutti gli Achei e minaccia di ucciderlo. Così l’Odisseo di Dione, che è poi quello di Euripide,chiama in gioco il tragico destino di Palamede, al fianco del quale coinvolge ipocritamenteanche se stesso, per mostrarsi ingiustamente contrariato dagli Achei e per conquistare ilfavore di Filottete, in nome del comune risentimento. Al culmine del cinismo, l’ospite grecocritica duramente il responsabile dei mali di Palamede e dei suoi – vale a dire: Odisseo denigrase stesso! Un comportamento simile al Sinone di Virgilio, al quale manca soltanto il sur-rettizio ‹sdoppiamento› tra personaggio parlante e autore del delitto, salvo che tale feno-meno si potrebbe considerare implicito nel carattere stesso del finto disertore, che è unalter ego di Odisseo, come si è visto. Sta di fatto che tra il dialogo parafrasato da Dione eil discorso di Sinone nel poema virgiliano si riscontrano punti di contatto concettuali everbali, che non sembrano dovuti al caso – difficilmente però risalgono a un rapportodiretto tra l’oratore greco e il poeta53. Si deduce perciò che Dione ha ripreso alquantofedelmente (almeno nei luoghi in esame) il dramma di Euripide, imitato liberamente daVirgilio. D’altro canto, non si può escludere che vi sia stato un modello intermedio tra iltragediografo ateniese e il poeta augusteo, magari nel periodo ellenistico (come ha tentatodi dimostrare Friedrich, partendo dall’esame comparativo tra il discorso di Dione e l’epi-sodio virgiliano di Sinone)54.

A uno sguardo d’insieme, da un lato è difficile negare un collegamento (diretto oppuremediato) tra il Filottete e il discorso di Sinone; dall’altro lato è arduo definire i termini delrapporto intertestuale, che si sottrae a un approccio analitico, mancando il riscontro deldramma di Euripide. Di conseguenza, se può essere data per scontata l’imitazione virgi-liana della scena tragica parafrasata nell’orazione greca, non risulta chiara la consistenzaquantitativa e qualitativa della rielaborazione.

Più forte sembra il legame dell’episodio virgiliano col dramma romano arcaico, in parti-colare col Deiphobus di Accio, in cui compariva certamente il personaggio di Sinone, che siintravede nei frammenti55. Al ritrovamento del finto disertore, nascosto nei bassifondicostieri e catturato da un gruppo di Troiani, che lo portano al cospetto di Priamo, si rife-risce il v.255 Dangel:

nos continuo ferrum eripimus, manibus manicas neximus.

53 Cf. l’ammissione di appartenenza al popolo greco da parte di Sinone (vv.77–80) e di Odisseo travestito,nell’orazione di Dione Crisostomo (§ 7: $��’ �;�λ #A��%�« �<� !�λ T�� � ��������$� […] �.����=�� ������� $�����«α �<� !�’ 5I���� �� �������$� #A� �<� �ρ� � 5-��); il racconto su Palamedesvolto dal personaggio virgiliano (vv.81–85) e dal suo corrispettivo (§ 8: �ρ� � �� ����*����� �μ�N ������ � %� P � ���-�α �. �� �κ �<� !��������$� �.�" )����� Ν���« ���'���� �Κ�� �9<�� �9< �Κ�� ��%« π������. �μ� �κ �������� Ν�� ² �����« �<� DE����$� ����Ω� ��'54���).Per qualche altro parallelo, più sfumato, cf. il commento di Austin 1964, p. 58–59.

54Friedrich 1939 estende eccessivamente, ben oltre i limiti del paragone testuale consentito da Dione, ilpresunto rapporto imitativo tra Virgilio ed Euripide: dal Filottete, o meglio, da un dramma ellenistico rical-cato su di esso, deriverebbe un ampio tratto dell’episodio di Sinone, fino al v.144 (compreso il racconto delsacrificio, che non poteva mancare nel discorso dell’Odisseo delineato da Euripide e ripreso in seguito daun suo epigono): un ragionamento puramente deduttivo, privo di un solido fondamento, apprezzabile inquanto coglie il carattere geneticamente composito del passo virgiliano, che «verknüpft eine Reihe vonMotiven, die in den griechischen Iliupersis-Dramen wirkliche Begebenheiten darstellen und dort, auchwenn sie von den Tragikern nicht eigens erfunden, sondern aus älterer Dichtung (z. B. der kleinen Ilias)entnommen waren, ihre bedeutendste Gestaltung erfahren hatten».

55 Cf. le edizioni e la bibliografia già citate (nota 27), nonché la ricostruzione della materia della tragedia avan-zata da Ribbeck 1875, p. 410–411.

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Il possibile contesto del frammento, che è il resoconto riguardante Sinone, è suggerito pro-prio dal confronto con l’episodio virgiliano, del quale è opportuno citare un punto speci-fico, quando Priamo ordina di liberare il misterioso prigioniero (vv.146–147):

ipse uiro primus manicas atque arta leuariuincla iubet Priamus dictisque ita fatur amicis.

Ribbeck per primo ha notato l’uso del lemma arcaico manicas, comune ad Accio e a Vir-gilio, il quale non lo impiega altrove ed evidentemente se ne serve qui a scopo di segnaleallusivo, per richiamare il contesto corrispondente del Deiphobus56. In questo brano Priamoordina di slegare Sinone, che è il medesimo personaggio incatenato nel resoconto delineatonel frammento di Accio. Era lui a tracciare un ritratto fortemente negativo di Ulisse, defi-nito malvagio e sleale, privo di sentimenti e di valori, proteso soltanto al proprio vantaggio,ipocrita con gli amici e pronto a mettersi d’accordo con i nemici, in un altro frammento(vv.258–259 Dangel)57. Un tale ritratto non era fine a se stesso: esso si inseriva piuttosto neldisegno di un inganno, pressappoco analogo a quello dell’episodio virgiliano. Nel drammaSinone non si limitava a denigrare Ulisse per compiacere i Troiani: lo presentava come ilproprio persecutore, per far sembrare credibile e motivato un così forte rancore, ma soprat-tutto per spiegare come e perché si fosse separato dall’esercito e fosse rimasto in territorioiliaco, disposto a tradire gli Achei e a rivolgersi da supplice a Priamo.

Virgilio quindi deve aver mutuato da Accio lo schema di fondo dell’episodio di Sinone,che muove dal ritrovamento apparentemente casuale e prosegue col discorso ingannevoledel finto disertore, con riferimento a Ulisse. Il poeta augusteo deve aver contaminato que-sto schema col Filottete di Euripide, per quanto riguarda il destino di Palamede, a meno chenon sia stato Accio a imitare il dramma greco e a inserire, per primo, il racconto del criminedi Ulisse nello stratagemma di Sinone. Ciò troverebbe un riscontro in un altro frammentodel Deiphobus, nel quale un personaggio lamenta di essere stato violentemente osteggiatoda qualcuno, con ingiurie e minacce (vv.256–257 Dangel):

uel hic qui me aperte effrenata impudentiapraesentem praesens dictis mertare institit.

Immediato il paragone col Sinone di Virgilio, che racconta di essere stato tormentato daUlisse in modo simile: hinc mihi prima mali labes, hinc semper Vlixes / criminibus terrerenouis etc. (vv.97–99). Fin qui il parallelo col Deiphobus, in cui Sinone d’altro canto nondoveva svolgere un ruolo diverso da quello attestato nel mito fin dall’epos ciclico, consi-stente nell’inviare segnali luminosi per richiamare gli Achei nascosti per mare; tutt’al più luipoteva assolvere il compito di aprire il ventre del cavallo di legno per far uscire i compagni(come ad Aen. II, 257–259). Nessun elemento documentario dimostra che, nel Deiphobusdi Accio o in qualunque altro testo anteriore a Virgilio, Sinone tenesse un discorso per in-

56 Cf. Ribbeck 1875, p. 410–411, da cui prende spunto Stabryla 1970, p. 92–96, per elaborare un profiloipotetico del dramma, basato proprio sull’episodio virgiliano di Sinone. Scettico Wigodsky 1972,p. 83.

57 Ecco il testo, di icastico vigore: aut !ab" infando homine, gnato Laerta, Ithacensi exsule, / qui neque amicoamicus umquam grauis neque hosti hostis fuit (col doppio poliptoto amico amicus … hosti hostis e col termineexsule, sostituito in modo volutamente improprio, a scopo denigratorio, a un appellativo indicante il titoloregale).

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gannare i Troiani segnatamente in merito al cavallo, per convincerli cioè ad accettarlo comeun pegno votivo58.

Al Deiphobus sembra risalire quindi il racconto avanzato da Sinone sul proprio conto(Aen. II, 69–104), in cui convergono nondimeno spunti provenienti da qualche altromodello. Lo stesso ritrovamento del profugo non è dovuto a un pescatore, come un fram-mento fa pensare plausibilmente che avvenisse nel dramma di Accio (vv.253–254 Dangel),bensì a un gruppo di pastori (vv.58–59), i quali peraltro si trovano fuori posto in un ter-ritorio sgombrato da così poco tempo dall’esercito nemico: si è pensato perciò che questoelemento, incoerente col successivo racconto di Sinone, che dice di essersi nascostolimoso … lacu … obscurus in ulua (v.135), funga da segnale allusivo, indicante il provvisoriodistacco dall’ipotesto principale e il simultaneo approccio con un modello secondario, chepotrebbe essere l’Alessandro di Euripide o l’Alexander di Ennio59. In questi due drammi ilpersonaggio omonimo, destinato a rivelarsi fatale per il popolo iliaco, era trascinato alcospetto di Priamo proprio da un gruppo di pastori60.

Un altro modello tragico seguito da Virgilio in questo episodio è richiamato da Macrobio(Sat. VI, 1, 57), in margine al sonante preambolo di Sinone (vv.79–80):

hoc primum; nec, si miserum Fortuna Sinonemfinxit, uanum etiam mendacemque improba finget.

Macrobio cita un frammento del Telephus di Accio (a meno che non si tratti del testo diEnnio con uguale titolo, come vuole Jocelyn, che pensa a un errore dell’erudito)61, in cuiparla il personaggio eponimo, rivolgendosi probabilmente agli Achei quando si accinge achiedere il loro aiuto (vv.88–89 Dangel):

… nam si a me regnum Fortuna atque opeseripere quiuit, at uirtutem nec quiit.

Qualunque ramo del mito seguisse l’autore del dramma (Accio o Ennio, poco importa aifini dell’esame del segmento virgiliano), Telefo era un traditore: sia che ingannasse gliAchei, travestito da mendicante o da re decaduto, per ottenere il loro aiuto; sia che si mo-strasse sinceramente ad essi da sovrano spodestato e tradisse piuttosto i Troiani, alleandosicon i loro nemici62. Va da sé che il paragone, delineato implicitamente dal rapporto inter-testuale tra Sinone e un famoso traditore, appartenente anch’egli al mito iliaco, non è ca-suale né privo di significato.

D’altro canto, se questi modelli si sovrappongono al Deiphobus nel flash-back del Sinonevirgiliano sul conflitto con Ulisse (vv.77–100), complessivamente diverso è il seguito delsuo discorso, riguardante l’oracolo di Apollo, il responso di Calcante e il sacrificio umano,

58 In questo dramma il cavallo annunciava da se stesso il proprio scopo (fittizio, funzionale all’inganno), comedimostra un frammento tramandato dal Seruius auctus ad Aen. II, 17, cioè un’iscrizione con una dedica adAtena (v.260 Dangel): … Mineruae donum armipotenti abeuntes Danai dicant. Cf. anche Igino, Fab. 108.

59 Su questi drammi: Jocelyn 19692, p. 75–81, 202–234; Scodel 1980, p. 20–42. L’influsso dell’Alexanderdi Ennio sul poema virgiliano è documentato da Stabryla 1970, p. 74–79.

60 L’intertesto è stato segnalato da Albis 1993, che tende a subordinare l’archetipo greco al modello interme-dio, l’Alexander di Ennio.

61 Cf. Jocelyn 1965, in particolare p. 128–129, secondo cui Macrobio cade in errore perché cita il frammentoinsieme con altri versi di Ennio.

62 Sulle diverse versioni della leggenda e sulle opzioni della tragedia romana cf. Barabino 1965, p. 405–407;Dangel 1995, p. 285–289.

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da ricondurre evidentemente a un altro ipotesto (vv.108–144). Si tratta probabilmentedell’Astyanax di Accio, che raccontava il triste destino del figlio di Ettore, trucidato dagliAchei vincitori col pretesto di un macabro rito propiziatorio, prescritto da Calcante perplacare gli dei e per ottenere venti favorevoli per il viaggio di ritorno (secondo il sinteticoresoconto del Seruius auctus ad Aen. III, 489, riferito a mio avviso proprio a questodramma)63. Qui però il sacrificio non era che un motivo esteriore, addotto strumental-mente per legittimare col crisma del timore religioso un delitto politico, deciso da Ulisseper stornare il rischio incarnato da Astianatte per gli Achei, da adulto: eo quod si adoleuissetfortior patre futurus, uindicaturus esset eius interitus (come attesta il Seruius auctus ad loc.).A ritrovare il bambino, occultatum a matre, è proprio Ulisse, presentato come il responsa-bile dell’infanticidio fin dal ciclo epico greco, come si è visto: perciò è probabile che fosselui nell’Astyanax l’ideatore del sacrificio, propugnato poi da Calcante, deputato istituzio-nalmente ai riti religiosi. Un frammento testimonia infatti l’intervento coercitivo di un per-sonaggio imprecisato sull’indovino, che prende tempo e rifiuta di rivelare un responsotanto atteso, decisivo per il rimpatrio dell’esercito (vv.281–282 Dangel: un segmento cor-rotto e tormentato dai filologi, citato qui secondo il mio restauro testuale)64:

nunc, Calcas, finem religionum fac, desiste exercitummorari nec me ab domuitione arce tuo obsceno omine.

Intuitivo il confronto col racconto del Sinone virgiliano in merito al «braccio di ferro» traUlisse e Calcante, trascinato in mezzo ai soldati e indotto insistentemente a parlare(vv.122–129):

hic Ithacus uatem magno Calchanta tumultuprotrahit in medios; quae sint ea numina diuumflagitat. et mihi iam multi crudele canebantartificis scelus, et taciti uentura uidebant.bis quinos silet ille dies tectusque recusatprodere uoce sua quemquam aut opponere morti.uix tandem, magnis Ithaci clamoribus actus,composito rumpit uocem et me destinat arae.

Se il personaggio-antagonista di Calcante nel frammento drammatico è Ulisse, come mipare pressoché sicuro e come ho tentato di dimostrare nel libro citato, il contrasto riguar-dante il sacrificio umano, usato come pretesto per giustificare un atto di sangue di fattodiversamente motivato, è un interessante trait d’union tra l’Astyanax di Accio e l’episodiovirgiliano, dove però il bambino innocente è sostituito da Sinone, un vile impostore, il cuiracconto retrospettivo costituisce un micidiale inganno. L’intertesto quindi non opera sol-tanto a livello architettonico e contenutistico, nel senso che aiuta a costruire l’impianto nar-rativo, ne fornisce i cardini (il conflitto tra Ulisse e Calcante in merito al sacrificio; il tem-poreggiamento e poi il cedimento dell’indovino; il delitto dissimulato e legittimato dal ritoreligioso), ma dischiude un più profondo significato, in quanto istituisce un collegamentotra il piccolo Astianatte e Sinone, che per questo risulta connotato ancor più sinistramente.

63 Ho tentato di ricostruire lo sviluppo del dramma, per quanto possibile, nel mio libro: Scafoglio 2006b,p. 63–75 e passim.

64 Per un ampio apparato critico e per un commento puntuale, che rende conto del testo qui proposto,rimando di nuovo al mio volume, p. 85–88.

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Inoltre l’allusione vale pure come implicita anticipazione, a rievocare una vicenda tragica,che è tra le più tristi conseguenze della conquista di Troia. Sinone stesso ne è in qualchemodo il responsabile indiretto, come Ulisse ne sarà il fautore. Del resto, come ho ricordatoripetutamente, il finto disertore è un alter ego dello spregiudicato condottiero acheo.

L’Astyanax funge quindi da ipotesto per un segmento dell’episodio virgiliano, ispiratoal Deiphobus del medesimo Accio nel disegno d’insieme e in particolare nel punto iniziale,il ritrovamento di Sinone e il suo approccio con Priamo. Ma alle spalle della tragediaromana arcaica si intravede anche l’influenza di quella greca, in base a una tecnica specificadell’Eneide, ma presente già nelle Georgiche, consistente nella contaminazione di opere aloro volta legate l’una all’altra da relazioni di dipendenza e imitazione. Un indizio in questosenso si riscontra nell’oracolo di Apollo riferito da Euripilo (vv.116–119):

sanguine placastis uentos et uirgine caesa,cum primum Iliacas, Danai, uenistis ad oras:sanguine quaerendi reditus animaque litandumArgolica.

Una struttura analoga, basata sulla corrispondenza tra la vittima già immolata e quellaora nuovamente richiesta, si rinviene nelle parole di Calcante nelle Troades di Seneca(vv.360–361):

dant fata Danais quo solent pretio uiam:mactanda uirgo est Thessali busto ducis.

Facile pensare che Seneca abbia imitato Virgilio: non sarebbe un caso isolato. Se non che,a uno sguardo attento, il concetto è più equilibrato e proporzionato nel brano del Cordo-vese, con le due vittime opposte e speculari: due principesse vergini, una greca e l’altratroiana. Nel passo virgiliano, il collegamento tra il sacrificio passato e quello futuro risultaalquanto forzato: alla figlia di Agamennone fa da pendant una generica anima Argolica, unafigura indefinita e sbiadita, di qualsiasi età, famiglia, estrazione sociale, ma necessariamenteun uomo, non essendovi donne greche in terra iliaca. Un soldato, quindi, che in seguitoprende corpo in Sinone. Non è strano tanto il fatto che gli dei chiedano il sacrificio di unlegionario (unum pro multis … caput, dirà il poeta a proposito di Palinuro), quanto piuttostoil richiamo al precedente olocausto, ovvero il parallelismo squilibrato tra il sangue versatoa quel tempo e il pegno preteso adesso. Friedrich, che per primo ha proposto l’esame com-parativo tra l’oracolo virgiliano e il responso di Calcante in Seneca, ha pensato a unmodello greco comune, diversamente elaborato dai due autori (liberamente dal Manto-vano, più fedelmente dal Cordovese): secondo lo studioso tedesco, questo modello sarebbeil Filottete di Euripide, o meglio un dramma ellenistico da esso derivante65. Per quanto miriguarda, preferisco pensare al componimento di Sofocle quasi sicuramente seguito daAccio nell’Astyanax, vale a dire la Polissena66. In questa tragedia la similitudine tra le duegiovani vittime regali, Polissena e Ifigenia, sarebbe stata perfettamente congruente: la for-zatura riconosciuta nella formulazione virgiliana nasce dall’esigenza di piegare l’idea origi-

65 Il discorso è avviato da Friedrich 1933, p. 101; ma è più ampiamente sviluppato dallo stesso studioso inun successivo contributo, 1939, p. 152–154.

66 Per un profilo di questo dramma cf. Calder III 1966; Radt 19992, p. 403–407; Scafoglio 2006b,p. 29–36.

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Elementi tragici nell’episodio virgiliano di Sinone 95

naria a finalità diverse. D’altronde, Virgilio non ha mutuato il paragone direttamentedall’Astyanax: infatti Accio ha sostituito il sacrificio di Polissena (costituente il fulcro deldramma di Sofocle preso a modello) con l’uccisione del figlio di Ettore.

* * *

È il momento di tracciare un bilancio, non soltanto sul significato dell’episodio di Sinonenel contesto del libro II e nel quadro complessivo del poema. In particolare si deve consi-derare il ruolo e il peso degli elementi tragici, nel loro ricco e complicato intreccio, ai fini delcontenuto, del messaggio veicolato dal testo.

L’influenza della tragedia greca e romana è operante in larga misura in questa sezionedell’Eneide. Non si tratta esclusivamente dell’intertestualità (scene, immagini ed espres-sioni di provenienza drammatica), ma anche dell’architettura (caratterizzata dalla strutturadialogica e dalla mediazione di una voce superiore, in funzione corale) e della tecnica nar-rativa (improntata a movenze e strategie tipicamente tragiche). Non passa inosservata nep-pure l’anfibologia, scaturigine di ironia sottile e amara.

D’altro canto, se diversi aspetti dell’episodio rivelano indubbiamente l’influsso del generetragico, è ben più difficile risalire ai modelli usati da Virgilio e soprattutto individuare e cir-coscrivere gli intertesti, che dipendono per lo più da drammi perduti, quali il Filottete di Euri-pide, il Deiphobus e l’Astyanax di Accio, forse la Polissena di Sofocle. All’una o all’altra di que-ste opere sembrano rimandare le singole parti della narrazione virgiliana, la cui compagine diconseguenza risulta fortemente composita e dinamica, eppure non priva di coesione, creatadalla tessitura stilistica, dalla temperie psicologica e dalla significazione ideologica, che pro-mana dall’intera vicenda e a sua volta la illumina, la riconduce a una visione unitaria.

L’inganno di Sinone costituisce un nucleo compatto per lo svolgimento e per il percorso‹genetico›, che muove da un dato mitico presente nel ciclo epico; non è però un episodioautonomo o marginale, a mo’ di un excursus. Esso funziona, al contrario, come un ingra-naggio formidabile nel meccanismo del racconto costruito da Virgilio: consente infatti disuperare uno snodo estremamente delicato e fa progredire il flusso degli eventi verso ilpunto di arrivo, ovvero il crollo del regno di Priamo. Il diabolico espediente, insieme conl’episodio correlato di Laocoonte, condiziona e nel contempo giustifica il comportamentodei Troiani (di per sé non facile da concepire e spiegare). In questo modo il consenso da loroaccordato al cavallo di legno appare più realistico e plausibile, meno folle e paradossale.L’assurdità della loro scelta è posta anzi in una luce positiva e, pur con qualche riserva, sioffre a una valutazione benevola in chiave morale, come una prova di generosità e inge-nuità. Di contro, gli Achei sono connotati negativamente per il loro atteggiamento spregiu-dicato, per il loro approccio spergiuro e sprezzante verso gli uomini e gli dei. Sinoneincarna, nello sviluppo dell’episodio e nel giudizio dell’io narrante, un paradigma di tutti iGreci, un esempio del loro modo di pensare e di agire. Significante a riguardo il commentopreliminare di Enea: accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno / disce omnis (vv.65–66).La loro vittoria ne risulta svilita e privata della gloria, sicuramente non meritata daun’azione riuscita, sì, ma indegna e subdola, basata sull’astuzia e sulla viltà invece chesull’abilità militare e sulla forza. Così i Troiani sono rovinati dall’inganno di Sinone, cheperò li riscatta (almeno fino a un certo punto, se non del tutto) dal disonore solitamenteriservato agli sconfitti. Gli Achei vincono mediante un espediente tanto efficace quantomeschino, che infirma il loro trionfo e smentisce il loro valore.

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96 Giampiero Scafoglio

L’episodio non deve essere considerato però isolatamente: occorre inquadrarlo piuttostonel racconto di Enea, più specificamente nel contesto dello schema ad anello formato conl’intervento di Laocoonte e col suo successivo supplizio. Le due vicende, non semplice-mente giustapposte, ma intimamente concatenate nella trama narrativa e nella significa-zione ideologica, rappresentano con forza emblematica le due concause della conquista diTroia, l’astuzia umana e l’ostilità divina, che costituiscono in realtà le due facce della mede-sima medaglia. I due episodi rimandano infatti a due ordini di eventi (quello terreno equello superno) paralleli e corrispondenti, correlati e operanti congiuntamente per il com-pimento del destino. Questo il senso del commento di Enea al vacillare del cavallo sotto ilcolpo di Laocoonte, quando il suono rivelatore emesso dal ventre gravido di guerrieri èfatalmente ignorato dai Troiani (vv.54–56):

et, si fata deum, si mens non laeua fuisset,impulerat ferro Argolicas foedare latebras,Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.

Lo stesso Sinone non esita a chiamare ripetutamente in gioco gli dei nel suo racconto ingan-nevole (l’oracolo di Apollo, vv.114–119; l’ira vendicativa di Atena, vv.162–175; i responsi diCalcante, vv.128–129 e 176–194) come nel solenne giuramento (vv.154–156), dove l’anfibo-logia non basta a sminuire l’empietà della menzogna, che profana pur sempre la sferasacrale. Nondimeno gli dei sono suoi complici: agiscono a monte, come ispiratori delcavallo di legno, che poi richiede il lavoro di Sinone. I fata deum, che emergono aperta-mente e orribilmente nel supplizio di Laocoonte, sono presenti in un modo più sottile esfumato, ma non meno efficace e significativo (come un ausilio costante e latente, per cosìdire) nell’episodio di Sinone.

Il senso di questo segmento narrativo, così complesso e pregnante, viene messo in risaltodagli elementi tragici fin qui considerati, che ne arricchiscono il contenuto e ne potenziano lostile. La struttura di questa parte dell’Eneide si accosta notevolmente alla tragedia, esasperandouna tendenza riscontrabile in maggior o in minor misura in quasi tutta l’opera. Si è infatti inuno snodo cruciale del racconto (le premesse dirette della conquista di Troia), un momentotanto importante quanto delicato, fatto rivivere in tutto il suo pathos con gli strumenti attintidal genere drammatico, il quale fornisce per di più alcuni spunti interpretativi ed elementidistintivi per il personaggio centrale di Sinone, il cui profilo risulta perciò esaltato e incupito.

In definitiva, in questa sezione trova conferma, sia pur in una forma accentuata e comun-que peculiare, un’impostazione già riconosciuta frequentemente in altre parti e nell’interaEneide: la rielaborazione della norma epica in direzione della tragedia. Il linguaggio rispec-chia il carattere drammatico del contenuto: un cinico e vile inganno, che rovina un popolo ene infanga un altro con un indegno trionfo.

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100 Andreas Heil

Andreas Heil

Christliche Deutung der Eklogen Vergils

Die Tityre-Initiale im Codex Klosterneuburg CCl 742*

Daß die ersten beiden Verse, ja mehr noch: daß bereits das erste Wort der ersten EklogeVergils eine Reihe von poetologischen Implikationen enthält, ist in den letzten Jahren vonF. Cairns und J. B. Van Sickle gezeigt worden.1 Schon seit langem hat man gesehen, daß dasAnfangswort Tityre auf Theokrit, den aus Syrakus stammenden ‹Erfinder› der bukolischenDichtung, verweist: Ein Hirte namens ‹Tityrus› spielt in zwei seiner Eidyllia (3,2–4 und7,72–82) eine gewisse, wenn auch nicht zentrale Rolle. Dieser Verweischarakter wird bestä-tigt und spezifiziert durch die etymologische Deutung des Eigennamens: Das für die Bu-kolik charakteristische Instrument, die bereits am Ende des zweiten Verses erwähnte Flöteaus Schilfrohr (avena, eigentl. «Halm»), wird im dorischen Dialekt der Griechen Unterita-liens als ���μ« ������« bezeichnet.2 Vergil kontrastiert die im Namen ‹Tityrus› enthal-tene dorische Bezeichnung des Instruments, die an die im dorischen Dialekt verfaßte Bu-kolik Theokrits erinnert, mit einer von ihm neu geprägten lateinischen: Tityrus spielt aufeiner avena, und er tut dies sub tegmine fagi, im Schatten eines gerade in Oberitalien weitverbreiteten, aber in der griechischen Bukolik nicht heimischen Baumes.3 Das Nebenein-ander von ���μ« ������« und avena unterstreicht den Anspruch Vergils, der dorisch/griechisch geprägten Gattung ein lateinisches Äquivalent entgegenzustellen. Die metony-mische Bezeichnung der römischen Hirtenflöte als «Halm» – die Flöte des Tityrus besteht,wie weiter unten deutlich wird, tatsächlich aus dem weit weniger zerbrechlichen Schilfrohr(calamo: 10) – betont dabei zugleich die Schwierigkeit des Unternehmens und die ‹Kühn-heit› des Dichters (vgl. audaxque iuventa: georg. 4,565).4 Je fragiler das Instrument, desto

1 Für Hinweise und Kritik danke ich besonders Dr. Thomas Haffner, SLUB Dresden.1 Cairns 1999. An Cairns knüpft mit Richtigstellungen und eigenen Vorschlägen Van Sickle 2004 an.2 Athen. Deipn. 182d: ² �� �����« ���μ« ������« ������� ���� ��« � #I����9� �������� …

Van Sickle 2004, 349 weist darauf hin, daß das etymologische Spiel bereits von Pier Vettori erkannt wordenist (Petri Victorii Variarum Lectionum Libri XXV, Florenz 1553, 257). Schmidt 1987, 33 betont, daß mitavena hier der «einfache Monaulos» gemeint sei, dessen Klang der Gedichtanfang nachahme: «Der musi-zierende Hirt hieße Tityrus, weil er den ������« spielt. Das Gedicht beginnt ‹Tityre, tu› = ti – ty – re –tu, weil es Tityrusmusik darstellt.» Allerdings bezeichnet der Singular calamus in Verg. ecl. 2,34 eindeutigdie aus mehreren Schilfrohren bestehende Syrinx (vgl. ecl. 2,32). Vgl. zu dieser Frage auch die ausführ-lichen Bemerkungen von Henry (1873), Bd. 1, 66–89.

3 Vgl. Clausen 1994, 35.4 Vgl. Van Sickle 2004, 352–353. Van Sickle sieht – neben dieser poetologischen Deutung – im dramatischen

Kontext ironische Untertöne in der Anrede des Meliboeus, die Tityrus in seiner Antwort zurückweise(S. 348): «The dramatic point can be paraphrased as follows, with Tityrus imagined as objecting to Meli-boeus’ initial slight, ‹No, I don’t practice with squeaky straw, as you put it, I play whatever I wish on sturdyreed.› The contrast between materials and their metonymic range has been too often and lightly over-looked.» Diese Interpretation kann so nicht richtig sein. Meliboeus betont ausdrücklich, daß er über die Si-tuation des Tityrus staunt (Non equidem invideo, miror magis: 11). Das Wunder der Sicherheit, die Tityrusgenießt, wird für Meliboeus noch gesteigert durch die Zerbrechlichkeit des Instrumentes, auf dem dieser

*

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Christliche Deutung der Eklogen Vergils 101

größer das Wagnis. So gedeutet, enthalten bereits die beiden ersten Verse der ersten Eklogein nuce das poetische Programm der Eklogendichtung Vergils.

Daß sich dieser Minimalismus noch weiter treiben läßt, zeigt eine in der zweiten Hälfte des12. Jahrhunderts entstandene Vergil-Handschrift, die sich heute in der Stiftsbibliothek vonKlosterneuburg (CCl 742) befindet.5 Die T-Initiale des Anfangswortes Tityre ist hier beson-ders kunstvoll ausgestaltet (1r, Abb. 1). Unter der Illustration, die mehr als zwei Drittel derSeite füllt, ist nur noch Raum für die ersten fünf Verse der Ekloge, wobei der erste, in Aus-zeichnungsschrift geschriebene Vers zwei Zeilen füllt.6 Rechts und links neben dem senkrech-ten Balken (Schaft) des T sind auf teils grünem, teils blauem Grund zwei Figuren dargestellt.Die Figur auf der rechten Seite (vom Kreuz aus gesehen7) erfaßt oder stützt mit ihrer rechtenHand den waagerechten Balken des T, mit der linken hält sie ein Buch, die Figur links erfaßtoder stützt mit ihrer linken Hand den Querbalken, mit ihrer rechten greift sie nach dem dar-gebotenen Buch. Die rechte Figur trägt eine bis zu den Füßen reichende Tunica; darüber istein Mantel geworfen. Die linke trägt eine kurze Tunica sowie eine hohe, zylindrische, obenabgerundete Kopfbedeckung.8 An einem Gürtel um die Hüfte ist ein Schwert befestigt. BeideFiguren stehen jeweils auf einem Tier: die rechte mit beiden Füßen auf Rücken und Hals desTieres, die linke nur mit dem linken Fuß auf dem Rücken. Bei den Tieren – sie haben die Vor-derfüße von Raubtieren, lange, vielleicht mit einem Stachel versehene Schwänze und repti-lienartige Körper – handelt es sich offenbar um Drachen.9

Initialen verhalten sich in unterschiedlicher Weise zu dem Text, dem sie angehören.Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Initialen ohne Bezug zum Text (Ornament-Initialen, Rankenkletterer-Initialen usw.) sowie solchen mit Bezug zum Text («historisierteInitialen», zu mlat. historiare «mit Illustrationen versehen»), wobei natürlich fließendeÜbergänge zwischen diesen beiden Typen nicht ausgeschlossen sind.10 Illustriert werden

spielt. Deshalb und nicht weil er die musikalische Begabung des Tityrus in Frage stellt, spricht er hyper-bolisch von einer tenuis avena.

5 Die Handschrift (Pergament, 165 Bl., 320 × 175mm) enthält die Bucolica, Georgica und die Aeneis Vergils.Vgl. Haidinger 1998, 17, Kat. Nr. 10 und Abb. 13. Die Initialen dieser Handschrift haben nach Haidingerzwei verschiedene Künstler geschaffen (ebd.): «Die regelmäßig verlaufenden Ranken mit ihren großen ein-fachen Blättern im Widmungsbild auf 1r begegnen in derselben Form auf 2v, 12r, 49v und 59v, währendjene auf 40r und 100r kleinteiliger gebildet sind und andere Endmotive zeigen. Diesem zweiten Zeichnersind auch die figürlichen Darstellungen auf 40r (Berittener), 77v (Aeneas und Steuermann in einem Boot),88v (Rankenkletterer), 100r (männliche Figur und Adler in Rankengeflecht) zuzuschreiben.» Vgl. Henry(1873), XLIX: «A very beautiful MS. in the library of the Convent at Kloster-Neuburg near Vienna; thehandsomest, I think, of all the Virgilian MSS. I have ever seen …» Eine kurze, im Internet zugängliche In-terpretation hat Ratkowitsch 1998 vorgelegt. Ratkowitsch deutet die Initiale als Fortführung der traditio-nellen allegorischen Interpretation der 1. Ekloge. Zugleich verweist sie auf christliche Elemente.

6 Man könnte fast von einer «Initialzierseite» sprechen. Vgl. Jakobi-Mirwald 1997, 34–35.7 Die Angaben ‹rechts› und ‹links› werden hier und im folgenden nicht aus der Blickrichtung des Betrachters

verwendet. Nur so lassen sich die mit den Seiten verbundenen allegorischen Bedeutungen entschlüsseln.8 Hierbei handelt es sich vielleicht um einen Helm. Die linke Figur scheint vom T-Schaft überschnitten zu

werden. Allerdings führt sie ihren rechten Arm vor dem Schaft vorbei. Vielleicht wollte der Künstler nichtzum Ausdruck bringen, daß die Figuren hintereinander stehen (so Ratkowitsch 1998), sondern daß dielinke Figur sich ganz eng an den Schaft anschmiegt.

9 Vgl. Engemann/Binding 1986 und Lucchesi Palli/Haussherr 1990. Zahlreiche Abbildungen von Drachenfinden sich auf der Internetseite «Dragons in Art and on the Web» (http://www.isidore-of-seville.com/dra-gons/).

10 Jakobi-Mirwald 1997, 60–70 (Kap. 4.5). Vgl. Jakobi-Mirwald 1998, 75–79. Zu den Initialen in mittelalterli-chen Handschriften siehe außerdem Schardt 1938, Gutbrod 1965 und Mazal 1985.

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kann der Wortsinn ebenso wie allegorische Deutungen des Textes. Die Illustration kannsich auf den gesamten Text, auf einzelne Elemente des Textes (z. B. Protagonistenbilder)oder eine Auswahl von Elementen beziehen, die in ein Bild zusammengezogen werden. Zuden Elementen des Textes gehören natürlich auch die Überschriften, die Angaben etwazum Verfasser (Autorenbild), zur Entstehung des Textes bzw. zu seiner Funktion in be-stimmten Rezeptionszusammenhängen enthalten können.11

Zentraler Bestandteil der Tityre-Initiale ist eine Dedikationsszene12: Durch den Gestusder Buchübergabe und die Attribute wird die Bestimmung der Figuren erleichtert. Die Per-son, die das Buch weitergibt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach Vergil. Der Empfänger wirddurch das Schwert und die hohe Kopfbedeckung als weltlicher Würdenträger (Feldherrund/oder Herrscher) ausgewiesen. Hier dürfte es sich um Caesar Octavianus, den späterenAugustus, handeln. Illustriert wird möglicherweise ein Passus aus der achten Ekloge(11–12): accipe iussis / carmina coepta tuis … Der hier angesprochene Auftraggeber und zu-gleich Empfänger des Eklogenbuches bleibt zwar anonym, wurde aber bereits in der Antikeu. a. (wie heute wieder) als Octavian identifiziert.13 Freilich kann es sich auch um die Illu-stration einer weitverbreiteten allegorischen Deutung handeln. Die «zehn Äpfel», die Men-alcas in der dritten Ekloge seinem Amyntas verspricht (71), wurden auf die zehn EklogenVergils bezogen (Isid. etym. 1,37,22): aurea mala decem misi, id est ad Augustum decem eglo-gas pastorum.14 Weitere Details der Illustration könnten durch eine Vergilstelle angeregtsein, die sich zwar nicht in den Bucolica findet, aber durch ein Selbstzitat Vergils ausdrück-lich mit dem Anfang des Eklogenbuches verknüpft ist. In der Sphragis, mit der die Geor-gica schließen, stellt Vergil den Kriegstaten, die Caesar (Octavianus) an den Enden der Weltvollbringt, selbstbewußt sein friedliches literarisches otium gegenüber (4,559–565):

Haec super arvorum cultu pecorumque canebamet super arboribus, Caesar dum magnus ad altumfulminat Euphraten bello victorque volentisper populos dat iura viamque adfectat Olympo.illo Vergilium me tempore dulcis alebatParthenope studiis florentem ignobilis oti,carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa,Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi.

11 Beispiele nennt Jakobi-Mirwald 1998, 76.12 Dedikationsbilder dieser Art sind in der mittelalterlichen Buchmalerei weit verbreitet. Vgl. Prochno 1929,

XXII: «Dedikation ist … im einfachsten Fall auf zwei Personen beschränkt. Der Empfänger sitzt frontaloder seitlich dem Donator zugewendet. Dieser naht sich ihm auf demselben Niveau, ein Buch in der Hand.Es finden sich aber auch von Anfang an nicht zur Handlung nötige Zeugen …; der Vorgang wird auchschon in der Richtung kompliziert, daß der Donator von einer ihm übergeordneten Persönlichkeit emp-fehlend begleitet wird … Die Zeit des 10. und 11. Jahrhunderts wandelt den Typus ab. Einerseits wird derAbstand zwischen dem heiligen Empfänger und dem Stifter vergrößert. Mittel dazu ist Differenzierung derGröße der beiden oder Zerlegung des Niveaus, so daß der Stifter das Buch zu dem Empfänger hinaufreicht.Ferner tritt in der Richtung eine Abwandlung ein, daß auch der Empfänger stehend dargestellt wird.» DieTityre-Initiale zeigt den einfachen Typus: zwei Personen, auf demselben Niveau, beide stehend. Kompli-ziert im wahrsten Sinne des Wortes wird die Buchübergabe in diesem Fall aber durch die wohl singuläreArmhaltung der beiden Personen. Weiter unten soll der Versuch unternommen werden, den ‹Knoten› die-ser rätselhaften Verschränkung der Arme mit dem Schaft des T zu lösen.

13 Vgl. Serv. ecl. 8,6 und Clausen 1994, 233–237.14 Vgl. Serv. ecl. 3,71: et volunt quidam hoc loco allegoriam esse ad Augustum de decem eclogis: quod superfluum

est: quae enim necessitas hoc loco allegoriae?

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Christliche Deutung der Eklogen Vergils 103

Ebenso begegnen sich in der Illustration Dichter und Herrscher (fast) auf Augenhöhe. EinRangunterschied wird nur dadurch sichtbar, daß Vergil den Kopf leicht nach unten neigt.Das lange Gewand, das Vergil trägt, steht für die vita contemplativa, während kurzes Ge-wand und Schwert Augustus als Vertreter der vita activa kennzeichnen.15

Wichtige Bestandteile der Ausstattung der Tityre-Initiale lassen sich problemlos auf Text-passagen in den Eklogen bzw. in den Werken Vergils beziehen, ohne daß natürlich zwin-gend angenommen werden muß, daß der Illustrator gerade diese Textstellen vor Augenhatte. Andere Elemente – die Drachen, die auffällige Armhaltung von Vergil und Augu-stus – scheinen auf den ersten Blick keine Entsprechung im Text zu haben. Initialenbestimmter Werke oder Werkteile wurden immer wieder und immer in ähnlicher Weiseausgestaltet. Die ikonographischen Muster, die sich so herausbildeten, dürften Ausgestal-tungen desselben Buchstabens in anderen Werken beeinflußt haben. Anzunehmen istweiterhin, daß mit den Formen und Motiven auch die mit ihnen verbundenen Sinnbezügeweitergegeben wurden. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die T-Initiale der Vergil-Handschrift sich in ihrer Bedeutung erst dann ganz erschließt, wenn man sie mit der Te-igi-tur-Initiale in den Sakramentaren und Meßbüchern zusammenstellt (Abb. 2).16 Mit denWorten Te igitur, clementissime pater beginnt das Hochgebet (Eucharistiegebet; canon missae),das den Höhepunkt der Messe, die Konsekration von Brot und Wein, einleitet. Die T-In-itiale des Hochgebetes, die ja bereits durch die Buchstabenform Ähnlichkeit mit einemKreuz hat, wurde von den Illustratoren sukzessive immer nachdrücklicher zum KreuzChristi ausgestaltet.17 Schließlich wurden an der entsprechenden Stelle im Text ganzseitigeKreuzigungsbilder, die sogenannten Kanonbilder, eingefügt:

«In langer Entwicklung wandelt sich das T vom Symbol des Kreuzes zum Kruzifix, daszur Kreuzigungsszene mit Sol und Luna sowie Maria und Johannes unter dem Kreuz ver-vollständigt wird. Dabei ist der Schriftzug Te igitur häufig noch dem Kreuzigungsbild bei-gefügt … Allmählich wird die ornamentale Gestaltung des Kanonbeginns von der figür-lichen Darstellung Christi am Kreuz geschieden. Das Bild des Gekreuzigten wird nebenden Kanon gesetzt und außerdem noch das T des Kanonanfangs ausgemalt … Das Kreu-zigungsbild emanzipiert sich seit dem 12. Jahrhundert zunehmend vom Text, ehe in derGotik das unabhängige Kanonbild zur Regel wird …»18

Die Te-igitur-Initiale steht in einem doppelten Bezug zum Text des Hochgebets: Die Messewurde im Mittelalter in erster Linie verstanden als «Gedächtnisfeier des Opfers Christi»19

(memoria passionis). Alle Teile der Liturgie wurden allegorisch auf Christi Leben, Tod undAuferstehung bezogen.20 Besonders gilt dies für das Hochgebet: Notandum autem pertotum Canonem Dominicae passionis commemorationem potissimum actitari.21 Indem derIllustrator die Initiale des Hochgebetes zum Kreuz ausgestaltet, verweist er auf diese Deu-tung des Textes. Zugleich illustriert die Initiale in Kreuzform die allegorisch-typologischeBedeutung des ihr zugrunde liegenden Buchstabens. Der Buchstabe T oder genauer gesagt:

15 Darauf weist bereits Ratkowitsch 1998 hin.16 Zur Te-igitur-Initiale siehe besonders Gutbrod 1965, 17–73 und Suntrup 1980.17 Zum Einfluß der Form des jeweiligen Buchstabens auf die Ausgestaltung von Initialen vgl. Jakobi-Mirwald

1998, 85–89.18 Suntrup 1980, 281–282.19 Dazu Suntrup 1980, 284.20 Dazu Suntrup 1980, 284–289.21 Bernold von Konstanz, Micrologus 16, PL 151. Dazu Suntrup 1980, 288.

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sein hebräisches bzw. griechisches Äquivalent, der Buchstabe Taw/Tau, kommt bereits imAlten Testament als Zeichen mit besonderer Funktion vor: Der Prophet Ezechiel sieht in ei-ner Vision das Strafgericht Gottes über Jerusalem. Ein in Linnen gekleideter Mann wirdvorausgeschickt, der die Gerechten, die verschont werden sollen, mit dem BuchstabenTaw/Tau markiert (Ez 9,4): et dixit Dominus ad eum / transi per mediam civitatem in medioHierusalem / et signa thau super frontes virorum gementium et dolentium / super cunctis abo-minationibus quae fiunt in medio eius.22 Nach jüdischer Deutung verweist das Taw auf dieThora: Alle, die dieses Zeichen tragen, haben die in der Thora niedergelegten Gebote er-füllt.23 Von den christlichen Bibelkommentatoren wurde das Tau-Zeichen (sowohl in seinerälteren hebräischen wie in seiner griechischen Schreibung) typologisch24 auf das KreuzChristi bezogen (figura crucis).25 Vor dem Hintergrund der Ezechiel-Stelle interpretierteman auch die apotropäischen Markierungen, die die Israeliten mit dem Blut des Passah-Lammes an ihren Türen anbringen sollten (Ex 12), als Tau-Kreuze, obwohl hier expressisverbis von einem bestimmten Zeichen keine Rede ist. Die Zusammenschau der beidenTexte erklärt sich aus der identischen Funktion der Markierungen: Sie sollen die von GottErwählten vor der Vernichtung schützen. Eine weitere wichtige Rolle spielt der BuchstabeTau bei der zahlensymbolischen Deutung der 318 Knechte Abrahams (Gen 14,14). Die Zahl318 setzt sich in griechischer Schreibung aus den zugleich als Zahlzeichen fungierendenBuchstaben Tau (300), Iota (10) und Eta (8) zusammen. Das Tau verweist auf das Kreuz,mit den Buchstaben Iota und Eta beginnt der Name ‹Iesus›.26

Für einen christlichen Rezipienten konnte es kein Zufall sein, daß gerade das Hochgebetmit den Worten Te igitur beginnt: Noch bevor der Priester zu lesen beginnt, fällt sein Blickauf das durch den Anfangsbuchstaben des ersten Wortes gebildete Taukreuz (crux com-

22 Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem (ed. R. Weber, R. Gryson et al., 4.,verb. Aufl. 1994).23 Hieronymus faßt die verschiedenen Bedeutungen des Taw/Tau-Zeichens in jüdischer und christlicher In-

terpretation zusammen (Commentarii in Ezechielem 3,9, CCSL 75, ed. F. Glorie, 1964): praecipitur ei …,ut ponat signum super frontes virorum … pro ‹signo› quod septuaginta, Aquila et Symmachus transtulerunt,Theodotio ipsum hebraicum posuit ‹tau› quae extrema est apud Hebraeos viginti et duarum litterarum, ut per-fectam in viris gementibus et dolentibus scientiam demonstraret; sive ut Hebraei autumant, quia ‹lex› apud eosappellatur ‹thora› quae hac in principio nominis sui littera scribitur, illi hoc accepere signaculum, qui legis prae-cepta compleverant. et ut ad nostra veniamus, antiquis Hebraeorum litteris … extrema ‹tau› littera crucis habetsimilitudinem, quae Christianorum frontibus pingitur …

24 Zur Bedeutung der Typologie (Figuraldeutung) in der Bibelexegese vgl. Ohly 1976, 363 «Die Grundur-kunde … liegt in der Bergpredigt: Nolite putare quoniam veni solvere legem et prophetas: non veni solvere sedadimplere (Mt. 5, 17). Dies Wort setzt Altes und Neues Testament in ein schöpferisches Spannungsverhält-nis der Steigerung des Alten in das Neue durch seine Erfüllung, nicht so freilich, wie eine Wortprophetiedurch Wahrwerden des Vorausgesagten ‹sich erfüllt›, sondern im Wortsinne von adimpletio, nach demnicht das leere, sondern das halbvolle Gefäß durch eine Hinzugabe adimpletur.»

25 Dazu ausführlich Suntrup 1980, bes. 289–303. Vgl. Rahner 1954.26 So heißt es etwa bei Beda Venerabilis (In principium Genesis 3,14, CCSL 118A, ed. C. W. Jones, 1967):

Erant quippe trecenti decem et octo, quo nimirum numero signum victoriosissimae crucis et nomen salvatoris no-stri Iesu Christi, per quem hoc in munimentum nostrae salutis consecratum est, designatur, siquidem apud Grecostrecenti per tau litteram notantur, quae in crucis figuram aptatur. Nam si apicem in medio recepisset, non figuracrucis sed ipsum iam signum crucis manifeste cerneretur expressum. Decem vero et octo apud eos per I et H, quaein nomine Iesu primae sunt litterae, notantur; et ideo cum trecenti decem et octo grece notantur, non multum di-stat ab eo ut crux Iesu legi possit. Vgl. bereits Barnabae epistula 9,8b-c: T�« σ π ������ ���9� ����«; …Tμ «�� � �Ω», I (�! �) H (" �$)α &'��« #IH(��). ()�� �� ² ���*�μ« � �9� T +����� &'�� �κ'���, �!��� �λ �.« «���� ��*«». �/�� σ �μ �� #I/�� � ��« �*�λ ��������, �λ ��9� 0λ �μ ���*�1.

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Christliche Deutung der Eklogen Vergils 105

missa). Durch göttliche Vorsehung war so die Kreuzigung, die im Zentrum der Liturgiesteht, von Anfang an zeichenhaft präsent. Durandus von Mende (Guillaume Durand, gest.1296) entwickelt diesen Zusammenhang, anknüpfend an ältere Deutungen (Honorius vonAutun, Innozenz III.)27, in aller Ausführlichkeit (Rationale divinorum officiorum 4,35,CCCM 140, ed. A. Davril / T.M. Thibodeau, 1995–1998):

Recolitur enim ibi memoria eorum que gesta sunt per ebdomadam ante paschalem …propter quod in plerisque sacramentariis, inter prefationem et canonem, ymago crucifixidepingitur, ut, non solum intellectus littere, verum etiam aspectus picture, memoriam do-minice passionis inspiret. Et forte divina factum est providentia, licet humana non sit indu-stria procuratum, ut ab ea littera canon inciperet, scilicet a T, que hebraice thau dicitur, que suiforma signum et misterium crucis ostendit et exprimit, dicente Domino per Ezechielem: Si-gna thau in frontibus virorum dolentium et gementium super abominationibus Ierusalem,quoniam per Christi passionem hec omnia in cruce impleta sunt et efficaciam habent.

Die Illustratoren der Meßbücher entfalten nur die im Text und mehr noch: die bereits imersten Buchstaben selbst enthaltene Botschaft: Die zum Kreuz ausgestaltete T-Initiale illu-striert einerseits den Text des Meßbuches, die Messe verstanden als memoria passionis, sieillustriert aber zugleich die allegorisch-typologische Interpretation des ihr zugrunde liegen-den Buchstabens. Der Buchstabe T ist ein eigenständiger Bedeutungsträger, der für sichgenommen bereits auf das Kreuz verweist.28

Nicht jeder Text, der mit einem T beginnt, läßt sich auf das Kreuz beziehen. Besondersbei Texten von heidnischen Autoren scheint sich eine Übertragung ikonographischer Mu-ster der Te-igitur-Initiale von selbst zu verbieten. Nun hat aber das Eklogenbuch Vergilseinen besonderen Status. Seit der christlichen Deutung der vierten Ekloge durch Konstan-tin wurde auf die göttliche Inspiriertheit des Dichters bzw. des Gedichtbuches mit verschie-denen Akzentsetzungen immer wieder hingewiesen.29 Die Entdeckung, daß gerade amAnfang dieses Textes ein Tau-Kreuz steht, dürfte auf einen christlichen Vergilleser wie einekleine Offenbarung gewirkt haben: Dieselbe göttliche Vorsehung, die dafür gesorgt hat,daß das Hochgebet mit dem Kreuzzeichen beginnt, hat, so konnte er vermuten, auch dasEklogenbuch Vergils mit der christlichen Signatur versehen. So interpretiert, ist die Initialeeine zusätzliche Bestätigung für die Inspiriertheit des Dichters bzw. des Gedichtbuches.

27 Vgl. Suntrup 1980, 290. Das «Rationale» war der Standardkommentar zur Liturgie in dieser Zeit. Siehedazu Thibodeau 1992.

28 Suntrup 1980, 289: Die Te-igitur-Initiale «gibt ein sprechendes und reich belegtes Beispiel für den an einenKontext gebundenen Buchstaben als eigene Sinnträgergatttung.» Vgl. Gutbrod 1965, 73: «Eine tiefere Be-deutung als das T an dieser Stelle kann wohl kein Buchstabe jemals erreichen. Seine Macht, die auf derÄhnlichkeit mit dem Kreuze beruht, war so groß, daß es angebetet wurde. Das T war nicht nur Buchstabeoder Zeichen, sondern lebendiges Symbol, das im Mittelalter Macht und magische Kraft des Kreuzes be-saß. Als Kruzifixus wurde es Sinnbild oder bildhafte Vertretung der Herrlichkeit, des Leidens und des Op-fertodes Christi. Größere Tatsächlichkeit konnte ein figurierter Buchstabe nicht erhalten: das Wort, derBuchstabe war wirklich ‹Leib› geworden.»

29 Zur christlichen Deutung der vierten Ekloge vgl. Courcelle 1957, Chaffin 1975, Benko 1980 und Nazzaro1983. Lactanz (inst. 7,24) und Augustin (civ. 10,27) interpretieren die vierte Ekloge christlich. Doch fürbeide gibt Vergil ohne eigenes Verständnis nur das wieder, was die Sibylle prophezeit hat. Konstantin ist da-gegen der Ansicht, daß Vergil selbst die Wahrheit erkannt, aber aus Angst nur in allegorischer Verhüllungverkündet hat (Oratio ad sanctorum coetum 19,8–9, in: Eusebius’ Werke, Bd. 1, ed. I. A. Heikel, GCS 7,1902). Hieronymus (epist. 53,7) weist jegliche christliche Interpretation Vergils entschieden zurück. ZurRede Konstantins vgl. Radke 1978, Wlosok 1983 und Bleckmann 1997. Zu Lactanz siehe Buchheit 1990.

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Wenn man die Tityre-Initiale auf die Te-igitur-Initiale bezieht und als Kreuz Christi deu-tet, lassen sich verschiedene Details der Darstellung besser verstehen:

1. In der Te-igitur-Initiale und auf den Kanonbildern erscheinen immer wieder Maria,die Mutter Jesu, und der Lieblingsjünger Johannes unter dem Kreuz (vgl. Joh 19, 26–28).Maria steht auf der rechten, Johannes auf der linken Seite des vertikalen Kreuzbalkens. Derseit Irenaeus von Lyon mit dem Evangelisten Johannes identifizierte Jünger hält nicht seltenein Buch (Abb. 3).30 An die Stelle dieser Figuren treten in der Tityre-Initiale Vergil und Au-gustus, wobei der «jungfräuliche»31 Vergil als Überbringer des Buches die Position derJungfrau Maria einnimmt.

2. Aus dem Querbalken des T sprießen in der Tityre-Initiale zur linken und zur rechtenSeite Ranken hervor, die in dreilappige Blätter auslaufen. Interpretiert man die Initiale alsKreuz Christi, dann bekommen diese Ranken eine spezifische, über das Ornamentale hin-ausgehende Bedeutung: Sie verweisen auf die Auffassung des Kreuzes als «Baum des Le-bens» (arbor vitae).32 Diese Auffassung resultiert aus der typologischen Beziehung, die manzwischen dem Kreuz und den Bäumen in der Mitte des Paradieses hergestellt hat (Gen 2,9;3,22–24). Durch den Baum der Erkenntnis kam Sünde und Tod in die Welt, durch denBaum des Kreuzes das Leben (Ps.Ambrosius, Sermones 45,2–3, PL 17): Eva nos damnarifecit per arboris pomum, Maria absolvit per arboris donum; quia et Christus in ligno pependit,ut fructus. Igitur sicut per arborem mortui, ita per arborem vivificati. Was der Baum des Le-bens im Paradies nicht gewähren konnte, schenkte den Menschen das Kreuz Christi (Chro-matius Aquileiensis, Sermones 38,29, SL 9A, ed. J. Lemarié, 1974): Denique quod praestarehomini tunc non potuit arbor uitae in paradiso, praestitit Christi passio; et recepit amissamgratiam per arborem crucis, quam tunc per arborem uitae recuperare non potuit.33 Über diesetypologische Beziehung hinaus wurde auch eine materielle behauptet. Verschiedene Legen-den berichten, daß das Holz des Kreuzes auf den Baum der Erkenntnis bzw. auf den Baumdes Lebens zurückgehen soll.34 Das weitverbreitete Motiv des lebendigen und lebensstif-tenden Kreuzes findet sich auch in den Te-igitur-Initialen (Abb. 4).35

3. Drachen gehören zum üblichen dekorativen Apparat von Initialen. Vor dem Hinter-grund der Te-igitur-Initiale läßt sich den Tieren in der Tityre-Initiale aber darüber hinauseine präzise Bedeutung zuweisen. Die Drachen sind mit ihren Schwänzen36 im gespaltenenSchaft des T eingeschlossen.37 Bildlich dargestellt wird hier die Bindung des Teufels, dieChristus durch sein Leben und seinen Tod am Kreuz vollzogen hat.38 Auf diesen Sieg überden Teufel wurde das Gleichnis von der Bindung des starken Mannes bezogen (Mt 12,29):

30 Vgl. Suntrup 1980, 371–377, Abb. 9–13 und 16–19.31 Vgl. Serv. Aen. 1 pr. 7: adeo autem verecundissimus fuit, ut ex moribus cognomen acceperit; nam dictus est Par-

thenias.32 Vgl. Bauerreiss 1938 und Mazal 1988, bes. 17 und 33–43.33 Vgl. Hagemeyer 1954.34 Bauerreiss 1938.35 Suntrup 1980, 371, Abb. 9 und 378, Abb. 20/21.36 Nach der Lehre der mittelalterlichen Bestiarien ist gerade der Schwanz der gefährlichste Körperteil des

Drachen (Aberdeen Bestiarium 66r; http://www.abdn.ac.uk/bestiary/translat/66r.hti): Huic draconi assi mi-latur diabolus qui est immanissimus serpens, … vim non in dentibus sed in cauda habet, quia suis viribus perditismendacio decipit quos ad se trahit.

37 Der Form nach handelt es sich um eine «Spaltleisteninitiale», vgl. Jakobi-Mirwald 1997, 69. Der ebenfallsgespaltene Querbalken ist in den Schaft des T eingeflochten.

38 Vgl. Lauretus 1681, s. v. draco, 365: «Dracones significare solent satanam, eiusque socios, ac membra.»

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aut quomodo potest quisquam intrare in domum fortis / et vasa eius diripere / nisi prius alliga-verit fortem / et tunc domum illius diripiat. Auch der Engel, der in der Offenbarung «denDrachen, die alte Schlange» bindet, wurde mit Christus gleichgesetzt (Offb 20,2): et adpre-hendit draconem serpentem antiquum qui est diabolus et Satanas / et ligavit eum per annosmille.39 Ein besiegter Drache erscheint deshalb nicht selten auf Kreuzigungsdarstellungen.40

Ein besonders eindrucksvolles Exemplar, dessen Maul vom Kreuzesstamm durchbohrtwird, findet sich in einem zwischen 1215 und 1225 im Kloster Scheyern entstandenen Ma-tutinalbuch (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm. 17401, fol. 14v, Abb. 5).41 Aufeinem um 1100 in Belgien entstandenen Buchdeckel ist das Kreuz mit Kruzifixus auf demRücken eines Drachen aufgerichtet, während Maria auf dem Kopf und Johannes auf demSchwanz des Tieres steht.42 In einer Te-igitur-Initiale aus einem Breviarium aus Benevent(12. Jh.) ist eine reich mit Ranken verzierte crux commissa dargestellt, die von einem knien-den Mönch verehrt wird. Am Fuß- und Kopfende des Längsbalkens fesseln Ranken je einhundegestaltiges Tier.43 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Drachen derTityre-Initiale trotz ihrer Bindung noch einen gewissen Aktionsradius haben. Der besteKommentar dazu ist eine Predigt, die vielleicht von Caesarius von Arles stammt (SermonesCaesarii uel ex aliis fontibus hausti, sermo 121, cap. 5, CCSL 103–104, ed. G. Morin, 1953):

Ante adventum enim Christi, fratres carissimi, solutus erat diabolus: veniens Christus fe-cit de eo, quod in evangelio dictum est: nemo potest intrare in domum fortis, et vasa eiusdiripere, nisi prius alligaverit fortem. Venit ergo Christus, et alligavit diabolum. Sed dicitaliquis: si alligatus est, quare adhuc tantum praevalet? verum est, fratres carissimi, quiamultum praevalet; sed tepidis et neglegentibus et deum in veritate non timentibus domi-natur: alligatus est enim tamquam innexus canis catenis, et neminem potest mordere, nisi eumqui se ad illum ultro mortifera securitate coniunxerit.

Der Teufel ist angebunden wie ein Hund an einer Hundeleine. Er kann nur noch den Men-schen gefährlich werden, die keinen festen Glauben haben und sich freiwillig mit ihm ver-binden.

4. Erst die Bindung der Drachen macht es möglich, daß Vergil und Augustus auf demRücken der Tiere Halt finden können. In Psalm 90(91),13 wird die Fähigkeit, gefahrlos überwilde Bestien hinwegzuschreiten, demjenigen versprochen, der auf Gott vertraut: superaspidem et basiliscum ambulabis et conculcabis leonem et draconem. Ebenso sagt Jesus zu den72 Jüngern, die er in die Städte und Orte vorausschickt, die er besuchen will (Lk 10,19):ecce dedi vobis potestatem calcandi supra serpentes et scorpiones / et supra omnem virtutem ini-

39 Primasius, Commentarius in Apocalypsin 5,20, CCSL 92, ed. A. W. Adams, 1985): Et tenuit draconemillum serpentem antiquum, qui cognominatus est diabolus et satanas, et alligauit eum mille annis. Angelum decaelo descendentem dominum nostrum Iesum Christum accipimus, qui magni consilii angelus nuncupatur, quique mortalium visitans regionem fortior alligare voluit fortem, ut eius vasa quae dudum irae fuerant vasa mi-sericordiae perfecisset, hoc peragens opere quod ante promiserat praedicatione: Nemo inquiens potest domumfortis intrare et vasa eius diripere nisi prius alligaverit fortem, id est diabolum.

40 Stauch 1959, 353–356.41 Vgl. Kroos 1980: «Unter Mariae Füßen rollt sich der Schwanz des Höllendrachens … mit scharfer, von

ferne an den Stachel eines Skorpions erinnernder Spitze drohend, doch machtlos zusammen, wie sonst beiMarienfiguren, die auf Drache oder Schlange treten.»

42 Goldschmidt 1972, Bd. 4, 13 und Abb. 21. Vgl. ebd., Bd. 3, 14 und Abb. 23 (Kreuzigung auf einem Buch-deckel, Mitte 12. Jh., mit einem Drachen unter dem Fußbrett des Kreuzes) sowie Goldschmidt 1969, Bd. 2,30–33 und Abb. 59.60.67.

43 Abbildung und Beschreibung in Gutbrod 1965, 70.

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mici / et nihil vobis nocebit.44 Mit der Darstellung der Tityre-Initiale vergleichbar ist eine Il-lustration in der Handschrift Einsiedeln 176 (10. Jh.), die u. a. Bedas Kommentar zur Of-fenbarung des Johannes enthält. Auf dem letzten Blatt des Kommentars (51v) erscheintChristus übergroß zwischen zwei Personen (Abb. 6).45 Mit den Füßen tritt er auf die Köpfevon Schlange und Löwe. Darunter erscheint als Beischrift der Text von Psalm 90(91),13.Die beiden Personen stehen sicher auf den bezwungenen Tieren oder zumindest in der un-mittelbaren Nähe der Tiere. Das gilt auch für Maria und Johannes auf dem bereits erwähn-ten Buchdeckel mit der Kreuzigungsdarstellung (s. o. bei Anm. 42). Anders Vergil und Au-gustus. Die Figuren in der Tityre-Initiale zeigen, wie wir bereits gesehen haben, signifikanteUnterschiede in ihrer Standsicherheit: Vergil steht mit beiden Füßen auf Rücken und Halsdes Ungeheuers. Zusätzliche Sicherheit verleiht ihm der obere Balken des Kreuzes, den ermit dem stärkeren rechten Arm festhält. Augustus steht dagegen nur mit einem Fuß aufdem Rücken des Tieres. Der Hals des Drachen reckt sich bedrohlich nach oben. Hinzukommt, daß er den Oberbalken nur mit dem linken, schwächeren Arm festhält. Offenbarsoll dadurch angedeutet werden, daß Vergil in seinem Vertrauen auf Gott gefestigter ist alsAugustus. Sein Status als Verfasser des göttlich inspirierten Eklogenbuches verleiht demDichter eine Standsicherheit, die der Herrscher nicht oder noch nicht besitzt.

5. Der horizontale Balken gewährt Vergil und Augustus zusätzlichen Halt. Man könnteaber auch sagen, daß sich beide nicht nur am oberen Balken festhalten, sondern diesenzugleich stützen. Das Stützen des Kreuzes würde auf die Rolle verweisen, die Vergil undAugustus bei der Erlösungstat Christi gespielt haben. Vergil hat die Geburt des göttlichenKindes in der vierten Ekloge angekündigt (so Konstantin).46 Augustus hat durch die Befrie-dung der Welt die Voraussetzungen für die Verbreitung des christlichen Glaubens geschaf-fen. Er hat darüber hinaus den Census im gesamten Imperium Romanum durchführen las-sen. So konnte der menschgewordene Sohn Gottes auch von Amts wegen als Menschgezählt und eingeschrieben werden (Orosius, Historia aduersum paganos 6,22,5–6, ed.H.-P. Arnaud-Lindet, 1990–1991):

Igitur eo tempore, id est eo anno quo firmissimam verissimamque pacem ordinatione DeiCaesar conposuit, natus est Christus cuius adventui pax ista famulata est … Eodem quo-que anno tunc primum idem Caesar quem his tantis mysteriis praedestinaverat Deus cen-sum agi singularum ubique provinciarum et censeri omnes homines iussit, quando etDeus homo videri et esse dignatus est. Tunc igitur natus est Christus, Romano censui sta-tim adscriptus ut natus est.

Während Vergil Heilswahrheiten verkündet, ist Augustus für die politischen und verwal-tungstechnischen Rahmenbedingungen zuständig. Diese unterschiedliche Funktion wird

44 Ebenso Röm 16,20: Deus autem pacis conteret Satanan sub pedibus vestris velociter. Im Hintergrund stehthier Gen 3,15, eine Stelle, die auch auf Christus bezogen wurde (Isidor, Quaestiones in Vetus Testamen-tum 5,7–8, PL 83, 221): Quidam autem, quod dictum est, Inimicitias ponam inter te et mulierem, de Virgine dequa Dominus natus est, intellexerunt, eo quod illo tempore ex ea Dominus nasciturus, ad inimicum devincen-dum, et mortem, cujus ille auctor erat, destruendam, promittebatur. Nam et illud quod subjunctum est: Ipsa con-teret caput tuum, et tu insidiaberis calcaneo ejus, hoc de fructu ventris Mariae, qui est Christus, intelligunt; idest; Tu eum supplantabis, ut moriatur. Ille autem, te victo, resurget, et caput tuum conteret, quod est mors. Sicutet David dixerat ex persona Patris ad Filium: Super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem etdraconem. Aspidem dixit mortem, basiliscum peccatum, leonem Antichristum, draconem diabolum.

45 Vgl. Prochno 1929, 23 und Abb. 23*.46 Vgl. oben Anm. 29.

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möglicherweise dadurch veranschaulicht, daß Vergil den rechten, Augustus aber den linkenArm zum Stützen des Kreuzes verwendet: Dextera manus, significare potest dignitatem, autvitam contemplativam, quae nobilior est, quam activa: ut dextera manus Jacob, & Joseph …47

6. Die Arme, die nicht den Querbalken des Kreuzes stützen, sind wie Einschlagfäden inden gespaltenen Stamm des Kreuzes eingeflochten. Vergil führt seinen linken Arm nur ein-mal durch den Stamm.48 Der Arm des Augustus ist in überaus künstlicher Weise zweimaldurch den zweigeteilten Stamm geflochten. Die Fixierung der Arme im Stamm des Kreuzeserinnert an die Bindung der Drachen. Es besteht allerdings ein entscheidender Unter-schied: Durch die Bindung an das Kreuz ist die Macht des Teufels gebrochen oder zumin-dest entscheidend geschwächt. Die Bindung der Heiden an das Kreuz ist dagegen die Vor-aussetzung für ihre Erlösung. Auch diese Metaphorik ist bereits in der patristischenBibelexegese vorgeprägt, und zwar in den Auslegungen zu Gen 49,11. Dort heißt es in demSegen Jakobs über seinen Sohn Juda von dem, «der geschickt werden wird»: «Er bindet amWeinstock sein Fohlen fest, / seine Eselin an der Rebe» (ligans ad vineam pullum suum et advitem o fili mi asinam suam). Diese Stelle verlangt geradezu nach einer allegorischen Inter-pretation. Die Prophezeiung wurde auf Christus bezogen. Dieser wird Eselin und Esels-fohlen, d. h. Juden und Heiden, zu einer Kirche vereinigen. Im Hintergrund steht hier dieallegorische Deutung der Tiere, mit denen Jesus in Jerusalem (Mt 21,2) einzog (Hierony-mus, Commentarii in euangelium Matthaei 3,1201, CCSL 77, ed. D. Hurst, M. Adriaen,1969): ergo cum historia vel inpossibilitatem habeat vel turpitudinem, ad altiora transmittimurut asina ista, quae subiugalis fuit et edomita et iugum legis traxerit, synagoga intellegatur, pul-lus asinae lascivus et liber gentium populus … Das Eselsfohlen verweist auf die Heiden, weiles anders als seine Mutter – die Synagoge – die Last des Gesetzes niemals getragen hat.Rebe (vitis) und Weinstock (vinea) werden ausgehend von Joh 15,5 (ego sum vitis vos pal-mites) auf Christus und die Apostel bezogen (Petrus Abaelardus, Sermones ad virgines pa-raclitenses in oratorio ejus constitutas. Sermo VII: In ramis palmarum, PL 178, 432A): Ipsequippe Dominus discipulis ait: Ego sum vitis, et vos palmites. Ad vitem itaque, hoc est ad teip-sum, Domine Jesus, asina est ligata, et ad vineam pullus, hoc est ad palmites ipsius vitis: quiatu, Domine, propria praedicatione primos ex Judaeis fideles tibi copulasti, per quos et postmo-dum gentiles convertisti, et eis aggregasti, qui tuam minime viderunt in carne praesentiam.49

Zunächst hat Christus durch die eigene Predigt die Apostel «an sich gebunden», durch

47 Lauretus 1681, s. v. dextera, dexter, 334.48 Vergleichbar ist eine P-Initiale in einem Kommentar des Petrus Lombardus zu den Paulusbriefen (Kloster-

neuburg CCl 17, 3r, um 1200). Der im Binnenfeld des P dargestellte Paulus reicht einen Codex durch den ge-spaltenen Schaft des Buchstabens. Vgl. Haidinger 1998, 19, Kat. Nr. 14 und Abb. 19. Die weitaus kompli-ziertere Armhaltung von Vergil und Augustus in der Tityre-Initiale scheint mir aber einer besonderenErklärung zu bedürfen.

49 Daß gerade die Rebe (vitis) besonders zum Binden geeignet ist, betont mit Rückgriff auf eine etymologi-sche Deutung Petrus Iohannis Olivi (Expositio in Canticum Canticorum, Collectio Oliviana 2, ed. J. Schla-geter, 1999, 94): … consimiliter vitis habet vim ligativam, unde dicta est a vinciendo, acsi quaedam vitta seubenda. Propter quod Genesis ultimo de Christo dicitur: ‹Ligans ad vineam pullum suum et ad vitem, o fili mi,asinam suam›. Ad caritatem enim Dei et proximi ligavit Christus ecclesiam suam. Der Weinstock ist auch aufdas Kreuz gedeutet worden (Iohannes de Forda, Sermo in dominica palmarum 273, CM 18, ed. E. Mikkers /H. Costello, 1970): Vinea haec non incongrue dici potest crux Christi, cuius uino tunc potatus est Christus,cum doloris absinthio inebriatus est. Et uere fertilis uinea, in qua botrus ille pependit de terra promissionis alla-tus, de quo expressum est uinum nouum gaudium salutis aeternae. Ad hanc uineam ligauit Christus pullumsuum et asinam suam, quia in ea exuit mortalitatem suam et corruptibilitatem suam.

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110 Andreas Heil

diese sind dann die Heiden bekehrt und mit den gläubigen Juden zu einer Kirche vereinigtworden.50 Allerdings, so können wir hinzufügen, hat es auch unter den Heiden nach ver-breiteter christlicher Auffassung zumindest einen Vermittler dieser Art gegeben, der dasEvangelium wenn auch in verhüllter Form verkündet hat: Vergil.51 Diese Rolle des römi-schen Dichters im Heilsgeschehen hat der Illustrator der Tityre-Initiale bildlich umgesetzt.Vergil und Augustus können mehr oder weniger ungefährdet auf den Drachen stehen, nichtnur weil diese gefesselt sind, sondern weil sie selbst eine enge Verbindung mit dem Kreuzund d. h. mit Christus eingegangen sind. Die Übergabe des Buches ist Voraussetzung dieserBindung an das Kreuz: Vergil reicht das Eklogenbuch durch das aufgespaltene Kreuz zu undAugustus nimmt es gewissermaßen als Vertreter des Heidentums auf der Gegenseite inEmpfang, indem er zweimal durch das Kreuz greift. Das göttlich inspirierte Gedichtbuchstiftet so den ‹Knoten›, der das Heidentum mit Christus vereint.

Die Tityre-Initiale im Codex Klosterneuburg CCl 742 läßt sich vor dem Hintergrund derTe-igitur-Initiale sinnvoll deuten. Elemente, die ohne Rückbezug auf dieses Vorbild auch alsrein ornamental beschrieben werden könnten (Ranken, Drachen, Verknotung der Arme),bekommen eine präzise Aussagekraft. Der Illustrator gestaltet die Initiale nicht oder nichtnur deshalb zum Kreuz aus, weil Vergil in der vierten Ekloge nach christlicher Auffassungdie Geburt Christi vorhergesagt hat. Für ihn ist vielmehr bereits der erste Buchstabe desTextes ein eigenständiger Bedeutungsträger: Das Tau-Kreuz fordert als christliche Signaturden Rezipienten von Anfang an auf, die verborgenen Mysterien des Eklogenbuches zu ent-schlüsseln. Die «göttliche Vorsehung» hat das Hochgebet mit dem Buchstaben T beginnenlassen, weil im Zentrum der Liturgie die Passion Christi steht. Ebenso dürfte, wenn wir dieHinweise des Illustrators richtig deuten, auch das Eklogenbuch nicht nur die Geburt desErlösers thematisieren.52 Ist vielleicht auch die Passion Christi unter der Hülle des Buch-stabens verborgen? Tatsächlich könnte man das Schicksal des Hirten Daphnis, dessen Todund Apotheose in der fünften Ekloge besungen wird, auf Tod und Himmelfahrt Christi be-ziehen. Dann würde für das Eklogenbuch genau das gelten, was Innozenz III. für die Messeausführt (De sacro altaris mysterio, Prologus, PL 217, 773D): Hoc enim officium tam pro-

50 Ecclesia und Synagoge erscheinen an der Stelle von oder neben Maria und Johannes nicht selten auf Kreu-zigungsdarstellungen. Dieser Bildtypus findet sich auch in den Te-igitur-Initialen. Vgl. Seiferth 1964 undJochum 1993.

51 Dante läßt dies seinen Stazio aussprechen, der durch die Erkenntnis der Übereinstimmungen zwischen dervierten Ekloge und dem Evangelium zum Christen geworden ist (Purg. 22,64–80).

52 Nicht nur die vierte Ekloge wurde christlich gedeutet. Petrus Abaelard bezieht die Dreizahl, die bei den inder achten Ekloge beschriebenen magischen Praktiken eine besondere Rolle spielt, auf die Trinität (Theo-logia ‹Scholarium› 1,193, CM 13, ed. E.M. Buytaert / C.J. Mews, 1987): Qui etiam postmodum in aliaEgloga, divinam trinitatem non mediocriter innuens, ex cuiusdam ad alium persona dicit: ‹Trina tibi haec pri-mum triplici diversa colore | Licia circumdo ter que haec altaria circum | Effigiem duco. Numero deus imparegaudet›. Vota quippe hic quidam sortilegi ritus ostendens, qui maximam vim habeat ad constringendum rebel-lem, minatur dicens: tria fila eiusdem substantiae, id est de lana, sed diversa triplici colore tibi, in effigie vide-licet tua, circumdo, ad te videlicet constringendum et capiendum, quasi illud Salomonis attendens: Funiculustriplex difficile rumpitur. Et tunc, inquit, ipsam effigiem tui sic ligatam duco ter circum altaria. Denique cur velterna licia dixerit vel triplicem colorem sive trinum circuitum altaris, quasi in omnibus ternarii numeri magnamvim attenderet ad celebrationem divinorum sacrorum, adiecit quia ‹deus gaudet impare numero›, ac si diceretquia hoc numero secundum personarum trinitatem describi vult sui perfectionem. Quae quidem personae cumsint eiusdem substantiae sed proprietatibus diversae, bene tribus laneis filis diversorum colorum expressae uiden-tur.

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Christliche Deutung der Eklogen Vergils 111

vida reperitur ordinatione esse dispositum, ut quae per Christum gesta sunt et in Christum, exmagna parte contineat, ex quo Christus de coelo descendit, usque dum ascendit in coelum; et eatam verbis, quam signis admirabili quadam specie repraesentat.53

Wer nicht nur die Initiale, sondern die gesamte Textgestaltung auf der ersten Seite be-rücksichtigt, findet eine weitere Bestätigung für die hier vorgetragene Interpretation. DerAnfangsvers der ersten Ekloge ist durch die Schreibung in farblich alternierenden Majus-keln hervorgehoben. Der Text ist scheinbar zufällig auf zwei Zeilen verteilt:

Durch die Trennung des Wortes re-cubans erscheinen am Zeilenanfang unmittelbar unterder T-Initiale die Buchstaben I und C: die Abkürzung (Kontraktion) von Iesus.54 Es ist, alsob der Illustrator bzw. Schreiber die Botschaft des Bildes durch diese Buchstabenkombina-tion – diesmal sicher nicht divina providentia, sondern humana industria procuratum – nocheinmal bekräftigen wollte.

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53 Ein sehr interessanter Gegenstand stellt Vergils Eklogen in den Kontext der Liturgie: das flabellum vonTournus (9. Jh.), heute im Museo Nazionale del Bargello in Florenz (Inv. 31/C). Hierbei handelt es sich umeinen rituellen Fächer, der während der Messe verwendet wurde, um Fliegen von den Hostien und vomPriester fernzuhalten. Auf dem Elfenbein-Behälter sind Szenen aus verschiedenen Eklogen dargestellt, diewohl nach dem Vorbild von Buchillustrationen angefertigt worden sind. Vgl. Gaborit-Chopin 1988, bes.18–26 (mit Abbildungen und weiterer Literatur).

54 Diese Verbindung erinnert an die zahlensymbolische Deutung der 318 Knechte Abrahams: T (als Kreuz-zeichen) und IH (als Anfangsbuchstaben des Namens Iesus). Bei den durch Kontraktion (Aussparung vonBuchstaben in der Wortmitte) abgekürzten nomina sacra wurde die griechische Schreibung beibehalten:I (Iota) C (lunares Sigma). Buchstaben, die ein Akrostichon bilden, werden allerdings in der Regel vergrö-ßert oder farblich hervorgehoben.

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Page 120: Antike und Abendland

114 Andreas Heil

Abb. 1 Klosterneuburg CCl 742, fol. 1r

Abbildung online zugänglich: http://www.ksbm.oeaw.ac.at/kln/images/07/0742/001r.jpg

Page 121: Antike und Abendland

Christliche Deutung der Eklogen Vergils 115

Abb. 2 Sakramentar aus Metz (2. H. 9. Jh.), Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. Lat. 1141, fol. 6vF. Mütherich (Hg.), Sakramentar von Metz: Fragment, Ms. Lat. 1141, Bibliothèque Nationale, Paris,

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Abbildung online zugänglich:http://www.library.nd.edu/medieval_library/facsimiles/litfacs/me tz/6v-1H.html

Page 122: Antike und Abendland

116 Andreas Heil

Abb. 3 Rituale Romanum (1. H. 14. Jh.), Universitätsbibliothek Salzburg,M II 161, fol. 13v (Kanonbild)

Beschreibung und Abbildung online zugänglich:http://www.ubs.sbg.ac.at/sosa/handschriften/MII161.htm

Page 123: Antike und Abendland

Christliche Deutung der Eklogen Vergils 117

Abb. 4 Missale aus Südböhmen (1391), Wien, Österreichische Nationalbibliothek,Cod. S. N. 3516, fol. 225r

Abbildung online zugänglich: http://aeiou.iicm.tugraz.at/aeiou.history.docs/007358.htm

Page 124: Antike und Abendland

118 Andreas Heil

Abb. 5 Matutinal aus Scheyern, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 17401, fol. 14vH. Hauke, R. Kroos, Das Matutinalbuch aus Scheyern: Die Bildseiten aus dem CLM 17401 der

Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden, ohne Seiten

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Christliche Deutung der Eklogen Vergils 119

Abb. 6 Einsiedeln, Stiftsbibliothek 176, fol. 51v (10. Jh.)J. Prochno, Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei, Leipzig 1929, 23–24

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120 Robert Porod

Robert Porod

Von der historischen Wahrheit und dem Endehistoriographischer Fiktionalität:

Überlegungen zu Lukians Schrift ��« ��� ¹���� ��������

Gedanken zu den Prinzipien historischer Forschung und historiographischer Darstellungwurden von antiken Geschichtsschreibern traditionellerweise innerhalb von Proömien sowiebei zu derlei Überlegungen Anlaß gebenden Gelegenheiten unterschiedlicher Art geäußert.Insbesondere boten kritische und häufig zu polemischem Ton sich steigernde Auseinander-setzungen mit Kollegen vom Fach und deren Werken die Ansatzpunkte, um die bei Recher-che, Auswahl und Gestaltung befolgten Methoden zu begründen und so den eigenenStandort und Stellenwert innerhalb etablierter Traditionen zu definieren1. Besondere literar-historische Bedeutung kommt Lukians in die Form einer kynischen Diatribe gekleidetenSchrift ��« ��� ¹���� �������� 2 zu, handelt es sich bei dieser doch um die einzigeaus der Antike erhaltene3 Monographie mit zusammenhängend dargebotener geschichtsme-thodologischer Aussage. Darin sind umfassend die aus Lukians Sicht zentralen gattungsspe-zifischen Prinzipien inhaltlicher und darstellerischer Gestaltung dargelegt. Das Schweben derAussage zwischen den Polen von Tradition und Innovation läßt sich durch einen Vergleichmit historiographischen, rhetorischen und anderen literarischen Traditionen vielfältiger Art

1 Maßgebliche Literatur zum Themenkomplex: Avenarius (1956), Marincola (1997), Fornara (1983), Geor-giadou / Larmour (1994), Scheller (1911), Meister (1975), Sacks (1981), Luce (1989), Strasburger (1966),Woodman (1988) und Wiseman (1979).

2 Textgrundlage: Macleod (1980). Kommentare: Hermann (1828), Homeyer (1965) und Macleod (1991),Notes von Mestre / Gómez (2007). Lukian-Bibliographie bis 1994: Macleod (1994). Literatur zur Metho-denschrift bzw. mit Relevanz dazu: Strobel (1994), Jones (1986), von Möllendorf (2000) und (2001),Schmitt (1984), Hall (1981), Anderson (1976 a), ders. (1976 b) und (1980), Delz (1950), Walz (1921), Passow(1854), Candau Morón (1976), Zecchini (1985), Bowie (1970) und Korus (1986).

3 Zu der mit den Peripatetikern Theophrast und dessen Schüler Praxiphanes beginnenden Schriftenreihe��λ ������« Homeyer (1965) bes. 46–49. Über den Inhalt dieser Monographien können nur Vermutun-gen angestellt werden, da außer den Titeln (zu Theophrast Diog. Laert. V § 47, zu Praxiphanes Marcell.vit. Thuc. § 29) nichts bekannt ist. Es ist aber wahrscheinlich, daß, sofern überhaupt das Thema dieGeschichtsschreibung war (so wohl zu skeptisch Schmid [1974] 68), der formal-stilistische Aspekt ebensowie in Theophrasts Schrift ��λ �����« im Vordergrund gestanden haben dürfte. Durch Cicero (or. 12,§ 39) kennen wir Theophrasts Urteil über den Stil des Herodot und Thukydides, doch leider gibt diesernicht an, welcher Schrift Theophrasts er dieses Stilurteil entnommen hat. Andernorts läßt Cicero (de or. II§ 62–64, bes. § 62) Antonius sagen, er kenne vonseiten der Rhetoren keine separate theoretische Behand-lung der Geschichtsschreibung (historia). Dies muß nicht das Fehlen einer einschlägigen Monographie be-deuten, sondern meint wohl eher den Umstand, daß die Geschichtsschreibung von den Rhetoren nichtüber allgemeine rhetorische Normen hinaus in ihrer gattungsspezifischen Besonderheit wahrgenommenwurde. Eine kritische Diskussion des Forschungsstandes bei Walbank (1972) bes. 34–39. Etwas zu zuver-sichtlich hinsichtlich einer Rekonstruktionsmöglichkeit des Inhalts von Theophrasts Schrift ��λ ������«ist Wehrli (1947) 54–71, bes. 70–71.

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 121

erschließen4. Die vorliegende Untersuchung greift aus diesem methodologischen Instrumen-tarium einen für die Arbeit des Historikers wesentlichen Aspekt heraus und diskutiert dennach Lukians Ansicht idealen Produktionsvorgang eines sachlich unanfechtbaren Geschichts-werkes vor dem Hintergrund einschlägiger historiographischer und rhetorischer Traditio-nen5. Dabei geht es um die Frage, unter welchen arbeitstechnischen Voraussetzungen und biszu welchem Grad von Evidenz ein Historiker in den sicheren Besitz zutreffender historischerDaten gelangen könne. Nur eine einzige Stelle in vorliegender Schrift gibt Aufschluß darüber,wie Lukian sich das kritische Verfahren der Wahrheitsermittlung sowie die auf diesem Wegeerzielbaren Resultate konkret vorstellt. Es handelt sich um den § 47, welcher den Passus überden von sachlicher Recherche bis hin zum fertigen, stilistisch ausgefeilten Werk reichendenhistoriographischen Produktionsvorgang (§ 47–48) einleitet:

T� �� ������� ���� �� ³« ����� �� ���� , $��� ����! �« ��λ ������"�«������« ��λ �� ���� $ ��� ��6, ��λ ������� �� ��! �� ��λ #�� ��,�% �� �&, ��« $������!�� #�'���� �« ���� �� ��λ &�« �%������ Ν ��«*����� �μ« ��� ν $���,��� $���&��� ν ��,&��� ��« �� !�� .�$ ��-,� .�' ��λ ��������!« ��« ��λ �� ,����μ« �- ��,� ���� ����.

Diese präzise ausformulierte Theorie7 ist ihrem sachlichen Gehalt nach8 zunächst vor demHintergrund entsprechender Erklärungen, wie sie sich innerhalb von Historiographie undLiteraturkritik reichlich finden, zu betrachten. Zu diesem Zweck sind die einzelnen Teil-aussagen gesondert mit den jeweils relevanten Äußerungen griechischer Historiker undRhetoren zu vergleichen9. Die Gegenüberstellung erfolgt aus diachroner Perspektive, soll

4 Eine umfangreiche Darstellung des gesamten Themenkomplexes werde ich in einem die vorlukianischenliterarischen Traditionen systematisch erfassenden Kommentar zu Lukians Methodenschrift, dessen Er-scheinen für das Jahr 2009 geplant ist, geben. Darin wird zu zeigen sein, daß Lukian bei aller Traditions-gebundenheit doch auch sich ihm bietende respektive von ihm erst erschlossene Freiräume für individuelle,innovative Gestaltung nutzt.

5 Marincola (1997) 2, zur Zeit einer der besten Kenner der gesamten Thematik, erläutert seine darstellerischeMethode so: «I have avoided the tendency, sometimes seen, to begin with Lucian and then seek confirma-tion in the historians before and after him. My own procedure has been to include him either at the end of asection after the historians themselves have been examined, or in his proper chronological place». Die vor-liegende Studie geht demgegenüber zunächst von den lukianischen Postulaten aus. Die Erklärungen vonHistorikern und Rhetoren werden sodann nachgereicht, um die literarhistorischen Voraussetzungen fürLukians Gestaltung auszuleuchten. Schließlich werden vor diesem Hintergrund diejenigen Momente her-vorgehoben, welche Lukians Schrift ihr unverwechselbares Profil verleihen.

6 Die Überlieferung bietet als Alternativen die Formen $ ��� � �� (Vat. 87 und 90, Harl. 5694) und$ ��� �� (Marc. 434, Palat. 73). Ich folge entgegen der überwiegenden Mehrheit der modernen Her-ausgeber dem Oxford-Text von Macleod (1980) 314, zum einen um den durch ������« verstärkten dura-tiven Charakter von $ ��� �� zu belassen, zum anderen um die Korrespondenz der Präsenspartizi-pien ($ ��� ��, ��! ��, #�� ��, ���� ��) aufrechtzuerhalten.

7 Über den tatsächlichen Produktionsvorgang verraten antike Historiker in der Regel nichts. Cassius Dio (LXXII= LXXIII 23, § 5) gibt wenigstens die Grundzüge seiner Arbeitsweise bekannt, dazu Millar (1964) 30–33.

8 In formaler Hinsicht verleihen besonders Verbaladjektive und Imperative (hier �� ���� und ����) demdidaktischen Teil der Schrift charakteristisches Gepräge.

9 Es wird häufig zu wenig bedacht, daß lateinische literarische Traditionen von relativ geringer Relevanz füreinen direkten Vergleich mit Lukian sind. In diesem Sinne stellt Macleod (1991) 283 im Prinzip richtig,wenn auch wohl etwas zu überzeichnet, fest: «… Lucian was (or at least gave the impression of being)completely ignorant of Latin literature and indeed only once admits to knowing any Latin at all». Macleodzieht jedoch zu wenig in Rechnung, daß manchmal lateinische Traditionen in methodischer Hinsichtdurchaus von Wert sein können, um übergreifende literarische Phänomene zu illustrieren, nämlich dann,wenn entsprechende griechische Quellen fehlen.

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122 Robert Porod

doch die Entwicklungsgeschichte der einschlägigen Erklärungen sowie deren spezifischersprachlicher Gestaltung ausgehend von Herodot und Thukydides bis in die Zeit Lukianshinein dokumentiert werden. Dabei wird es primär darum gehen, eher großflächig erkenn-bare Traditionslinien nachzuzeichnen, als in jedem Einzelfall auf der Basis subjektiver Mut-maßungen direkte Abhängigkeitsverhältnisse zu konstruieren. Über das engere Thema Lu-kian hinaus wird zudem auch eine Einschätzung des auf sachliche Forschungsarbeitbezogenen Selbstverständnisses antiker Historiker sowie der an diese jeweils von außenherangetragenen Erwartungshaltungen erstrebt. Zu diesem Zweck wird das Quellenmate-rial in größerer Fülle dargeboten, als dies für den unmittelbaren Vergleich mit Lukian al-leine unbedingt nötig wäre.

I.

Das Verbum �� ���� 10, um mit dem ersten Kolon zu beginnen, gehört zumindest seitPolybios zum sprachlichen Standard in auf das Objekt Geschichtsschreibung bezogenenliterarkritischen Zusammenhängen. Bei Lukian bezeichnet es den im Arbeitsprozeß desHistorikers noch der Erstellung eines Rohentwurfs (/�!� '��)11 vorangehenden Vorgangdes Zusammentragens von relevantem historischem Faktenmaterial (�� �������) sowiedessen kritischer Prüfung. Aus diesem Verfahren der Sichtung, Auswahl und Bewertungder zur Verfügung stehenden Informationen müsse, so Lukians Postulat, das mit ober-flächlicher Recherche verbundene Zufallsmoment herausgehalten werden (�� ³« �����12

�� ���� ). Dieses zentrale Prinzip verantwortungsvoller historischer Forschungsarbeitgeht auf das bekannte methodische Verfahren zurück, wie es von Thukydides, auf den sichLukian in vorliegender Schrift wiederholt als maßgebliche Autorität beruft13, erstmals mitparadigmatischer Prägnanz formuliert wurde. Thukydides14 hatte erklärt, daß er sich beider Darstellung der Ereignisgeschichte – im Unterschied zu der andersartige methodi-sche Prinzipien erfordernden Gestaltung der Reden15 – weder an den erstbesten Informan-

10 Lukian verwendet die Verba �� ���� und $,�0�� (§ 48) in bedeutungsidenter Weise, wie dies bereitsPolybios (XII 28 a: �� �,�0�� / �� ���� ) vor ihm getan hatte. Belege zu weiteren synonymen Begrif-fen bei Avenarius (1956) 71–72. Dionysios von Halikarnass gebraucht das Verbum �� ���� bevorzugt imZusammenhang mit literarkritischen Äußerungen über andere Historiker (ant. Rom. I 11, § 1 Thuk. § 16,ep. ad Pomp. § 6).

11 Auf den Rohentwurf (/�!� '��) folgen im Arbeitsprozeß die Anordnung sowie die stilistisch-rhythmi-sche Ausgestaltung (§ 48). Im satirischen Teil der Schrift (§ 16) wird dies anhand der Unterscheidung von/�!� '�� und ¹���� erläutert.

12 Diese Formulierung verwendet auch Polybios (II 56, § 3) in seiner Kritik an der Methode des Phylarchos: …���� ��# 6�' �κ ��������� �%�93 ��λ ³« ����� �4'��.

13 Hinsichtlich der idealen Arbeitsweise des Historikers wird die Vorbildhaftigkeit des Thukydides aner-kannt. Der § 42 beruft sich auf das thukydideische Methodenkapitel, und in § 39 wird von Thukydidesebenso wie von Xenophon ausgesagt, beide hätten sie in ihrem Werk die subjektiven Motive von Haß undSympathie zugunsten der Wahrheit zurückgestellt. Der normative Rang des Thukydides gründet somitnicht nur auf seinen einschlägigen programmatischen Äußerungen, sondern auch auf dem Geschichtswerkals ganzem, aus dem Lukian wiederholt und aus unterschiedlichen Perspektiven Anschauungsmaterial be-zieht.

14 Thuk. I 22, § 2.15 Zu den Prinzipien, nach denen Reden in griechischer Historiographie gestaltet sind, Walbank (1985). Zu

der speziellen Frage der Zuordnung der Urkunden zum Bereich von �!�� oder ��� Müller (1997).

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 123

ten16 gehalten habe, noch auch nach dem subjektiven Prinzip mutmaßender Imagination17

verfahren wäre: �� #� �- ������! �« �� ,� !�� «  ����� ����� , ��# ³«#�λ #�!���. Diese programmatische Erklärung läßt sich in ihrer Rezeption durch den At-tizismus verfolgen, kraft dessen Normen setzender und durchsetzender Autorität Thuky-dides erst als Klassiker von kanonischem Rang anerkannt wurde18. So liegt eine Paraphraseetwa vier Jahrhunderte später beim Rhetor und Historiker Dionysios von Halikarnaß vor,der in seiner Doppeleigenschaft als attizistischer Theoretiker und Praktiker zugleich19, wiekein anderer vor und nach ihm, das fugenlose Ineinandergreifen von historiographischerund rhetorischer Terminologie bezeugt20. In seiner hinsichtlich der Wahl des Gegenstandesebenso wie vor dem Hintergrund konventioneller Bewertungen innovativen Thukydides-Monographie21, welche mit in der Antike nie übertroffener Schärfe in der Kritik am großenVorgänger22 all die Verstöße des Thukydides gegen die von ihm, Dionysios, erhobenenNormen mit pingeliger Akribie aufrechnet, konzidiert Dionysios23, denn er weiß durchaus

16 So Gomme (19502) 141: «not from the first person I chanced to meet». Es ist nötig, nachdrücklich auf diesesnatürliche Textverständnis hinzuweisen, da es in Frage gestellt wurde durch die polemische Untersuchungvon Egermann (1972) 575–602, bes. 586–89, der für ein adverbiales Verständnis von #� �- ������! �«im Sinne von ���! ��«, ³« ����� plädiert, denn (587): «² ������" kommt nicht gleichbedeutendmit ² ���" vor». Doch läßt sich diese apodiktische Behauptung kaum aufrechterhalten, da bereits eineflüchtige Durchsicht der im Handwörterbuch von Passow verzeichneten Belege eine hinsichtlich des Text-sinns unzweifelhafte Stelle bei Polybios (X 15, § 4) zutage fördert. Scipio, so heißt es hier, habe seine Män-ner mit dem Auftrag ausgesandt, jeden, der ihnen über den Weg laufe, zu töten (���� �� �μ ���-���! ��). Das Verbum �������� �� kann hier nicht die Bedeutung von «eben, gerade dabeisein»haben, wie sie von Egermann (587) als für die gesamte Gräzität verbindlich vorausgesetzt wird.

17 Zur Funktion derartiger Formeln (���� bzw. ����� �� bei Herodot, ³« #�λ ���� bei Thukydides)die diluzide Studie von Marincola (1989) 216–23. Darüberhinaus läßt sich thukydideischer Einfluß beiPolybios (XXIX 5, § 1–3) feststellen, der sich dafür rechtfertigen zu müssen glaubt, daß er seine Mutma-ßung (�μ ��- ) über die antirömischen Geheimverhandlungen des Perseus und Eumenes niederschreibe(der gesamte Passus reicht bis XXIX 9, § 13). Der rigoros formulierende Lukian (§ 8) gar bringt den Begriff�μ �!�� in expliziten Zusammenhang mit der nur in der Dichtung (��'���&), nicht aber in der ganz an-deren Normen verpflichteten Geschichtsschreibung (¹����) legitimen Freiheit phantasievoller Gestal-tung.

18 Das einschlägige Material ist gesammelt von Strebel (1935).19 Dazu Heath (1989) und Halbfas (1910).20 Dionysios sucht mit seinen Erklärungen dem Erwartungshorizont eines ebenso rhetorisch wie historisch

interessierten Publikums nachzukommen. Der Attizismus, als dessen maßgeblicher Vertreter in Theorieund Praxis Dionysios gelten kann, entdeckte die Geschichtsschreibung, welche bereits bald nach Thukydi-des zu einer bevorzugten Domäne der rhetorischen Bildungstradition geworden war, nicht nur als Gegen-stand praktischer Betätigung, sondern auch als Objekt theoretischer Betrachtung und literarkritischer Be-wertung. Dionysios selbst belegt das neu erwachte Interesse an der Geschichtsschreibung als einem derRhetorik nahestehenden Sujet – abgesehen von seinem eigenen Geschichtswerk – u. a. dadurch, daß er sei-nen Monographien über die attischen Redner eine solche über Thukydides an die Seite stellte. Ps. Longinoswiederum zog in seiner rhetorisch-ästhetischen Schrift ��λ 8:�« ausgewählte Passagen aus den Histo-rikern heran, und zwar als Beleg für auch in anderen literarischen Gattungen gleichermaßen gültige litera-rische Wertmaßstäbe. Schließlich berücksichtigte auch Ps. Demetrios’ ��λ ;�� ���« immerhin noch dieWerke der Historiker. Einschlägige Bewertungen von Geschichtswerken nach Inhalt und Form finden sichzudem im Corpus der Rhetores Graeci. Generell wurde ja die Geschichtsschreibung implizit oder explizitdem �� « #���������! der Rhetorik zugerechnet.

21 Zu dieser Schrift vgl. den gründlichen Kommentar (mit Übersetzung) von Pritchett (1975).22 Dionysios zeigt sich in § 2 seiner Thukydides-Monographie der Ungewöhnlichkeit des Unterfangens be-

wußt, Thukydides im Widerspruch zur übereinstimmenden Meinung von Allgemeinheit und Fachleuten(Philosophen und Rhetoren) zu bewerten, für welch letztere er kanonischen Rang habe.

23 Dion. Hal. Thuk. § 6.

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124 Robert Porod

auch manche Vorzüge der thukydideischen Methode und Darstellungskunst zu schätzen,Thukydides, daß er im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht aufgrund von beliebi-gen mündlichen Informationen sein Werk konzipiert habe (�� #� �� #�����! �� $������� ��« �����« �� ��,��«), sondern aus eigener Anschauung ebenso wie inAnlehnung an die bestinformierten Gewährsmänner. In seinem eigenen Geschichtswerkgibt Dionysios24, wohl unter bewußter Bezugnahme auf eben diese Aussage des Thukydi-des, wenn dies von ihm auch nicht explizit ausgesprochen ist, nun seinerseits die vorerstallgemein gehaltene Erklärung ab, all diejenigen Geschichtsschreiber würden kein Lob ern-ten, welche, mögen sie sich auch ganz im Einklang mit den elementaren Erfordernissenvon Geschichtsschreibung die vorzüglichsten Gegenstände als Objekte für ihre Werkeauswählen, bei der Durchführung im einzelnen mit planloser Willkür und sorglos (�%�93�� ��λ <9�,=��«) verführen, indem sie ihre Darstellungen auf nach dem Zufallsprinzipeingeholten Informationen (#� �� #�����! �� $������� ) basieren ließen. Einerderart unselektiven Methode hätten sich, nun nimmt die Kritik des Dionysios25 konkretereGestalt an, bereits all diejenigen griechischen Historiker bedient, welche vor ihm die römi-sche Frühgeschichte in flüchtiger, ungenauer Weise behandelt hätten (>����« … #� �� #�����! �� $������� �� ,�λ« $ ���:� ), wie denn überhaupt fast alle Grie-chen in Irrtümern über die Frühgeschichte Roms befangen seien26: �!��� �� �« … #� �� #�����! �� $������� �κ $�κ ��?-��� �@« ���@« #�'���&���� .Ähnliche Kritik an unseriösen Forschungsmethoden wird von Josephos ausgesprochen,dessen Formulierung eine Variation der bei Dionysios in Nachfolge des Thukydides vor-liegenden darstellt27.

Ebenfalls auf Thukydides geht der Gedanke der Mühewaltung (����! �« bei Lukian)als einer konstituierenden Bedingung ernsthafter historischer Forschungsarbeit zurück.Trotz Anwendung der Methode von kritischer Auswertung eingegangener Informationenals Alternative zum (nicht immer verfügbaren) Verfahren der Autopsie ließen sich, soerklärt Thukydides28, die historischen Fakten nur mit Mühe aus sachlich unrichtigen Be-hauptungen der Gewährsmänner herausfiltern: #���! �« �� '/�����. Auch dieserDokumentation einer angestrengt um Erkenntnis ringenden intellektuellen Bemühung warinsofern kräftige Nachwirkung beschieden, als in der Nachfolge des Thukydides die Begriffevon harter Arbeit (�! «) sowie der Bereitschaft zu selbiger (���� ��) wiederholt einezentrale Rolle in Erklärungen von Historikern mit an sich sehr unterschiedlichen Zielset-zungen spielen, bei Polybios29 und Josephos30 ebenso wie bei Dionysios31 und Diodor32.Der elementare Unterschied derartiger Selbstbekenntnisse zum wesentlich intellektuell ak-

24 Dion. Hal. ant. Rom. I 1, § 4.25 Dion. Hal. ant. Rom. I 6, § 1.26 Dion. Hal. ant. Rom. I 4, § 2.27 Josephos (bell. Iud. I 1, § 1) beklagt sich über die Sorglosigkeit all derer, die – an den Ereignissen persönlich

unbeteiligt – von bloßem Hörensagen willkürliche und widersprüchliche Berichte über den römisch-jüdi-schen Krieg gesammelt hätten ($�93 ������ ��« �%���� ��λ $�=��� � ��'�&����).

28 Thuk. I 22, § 3.29 Polyb. XII 26 e § 3–4 (Kritik an Timaios).30 Joseph. bell. Iud. I praef. 5 § 15–16.31 Dion. Hal. ant. Rom. I 1 § 2 (die Begriffe #�������� und ���� �� beziehen sich wohl, wie § 4 zeigt, auf

die Forschungsmethode), ep. ad Pomp. § 6 (anerkennendes Urteil über die Methode des Theopomp).32 Diod. I 4, § 1 (illustrativ), vgl. auch I 1, § 1 und I 3, § 6.

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 125

zentuierten Ansatz des Thukydides ist allerdings klar durch den Umstand markiert, daßbei späteren Historikern explizite Hinweise auf das Ertragen von Drangsal (���������)33,Gefahr (�� �� «) und Strapazen (�����,���) häufig anzutreffen sind, sogar bei Auto-ren von weit in die Vergangenheit zurückgreifender Universalgeschichte34. Verfasser vonZeitgeschichte heben in derartigen Zusammenhängen zudem mit Vorliebe ihren um derWahrheitsfindung willen getriebenen finanziellen Aufwand (���� ', $ ��"����) her-vor35. In dieser Hinsicht konnten sie sich nicht auf Thukydides berufen, der solches vonsich nicht behauptet hatte, wenn ihm auch eine derartige Arbeitsweise von der Markelli-nos-Vita, wohl als Ergebnis sachlich anfechtbarer späterer Projektionen, singulär zuge-schrieben wurde36. Auch Lukian spricht über die Notwendigkeit materieller Aufwendun-gen nirgendwo, doch zeigen immerhin die von ihm verwendeten Begriffe ����! �«37

und ������"�« seine Vertrautheit mit nachthukydideischen Traditionen unzweifelhafthistoriographisch-rhetorischer Provenienz.

Das Verbum $ ��� �� bzw. das Substantiv $ �����«, welche nicht dem methodo-logischen Begriffsrepertoir des Thukydides angehören, bezeichnen im an literarkritischenAuseinandersetzungen reichen 12. Buch des Polybios38 wiederholt die Forschungsarbeitdes Historikers (�μ ��λ ��« $ ������« ��«), welche als vorzüglichstes Element derGeschichtsschreibung (���"��� �3« ¹����«) hervorgehoben wird. Dieser sei Timaios,so die Ansicht des Polybios, überhaupt nicht gerecht geworden39: �μ ��λ ��« $ ������«��« #��������� ��# ���9� �����«. Eine direkte Benutzung oder auch nur Kenntnis

33 Der Begriff ��������� ist bereits bei Thukydides angelegt (I 20, § 3: 8��« $������"�« ��«����« π 0&�'��« �3« $�',���« …), der ihn allerdings im Sinne einer intellektuellen Denkanstrengungverstanden wissen will.

34 Polyb. XII 27, § 4–6, III 59, § 7 (geographische Erkundung), repräsentativ für den UniversalhistorikerDiod. I 4, § 1 (das Thema zieht sich durch das gesamte Proömium hindurch). Im allgemeinen Sprach-gebrauch bezeichnen die Begriffe �����,���, �� �� « und ���� ' die mit militärischer Rüstung ver-bundenen Belastungen jeglicher Art (so Polyb. XII 5, § 3).

35 Polyb. XII 27, § 6, Joseph. bell. Iud. I 5, § 16. Dionysios (ep. ad Pomp. § 6) berichtet solches über Theo-pomp, und Athenaios (III 85 a) läßt es einen Sprecher (Demokritos: III 85 c) über Theopomp sagen.

36 Marcell. vit. Thuc. § 19–21: Thukydides habe, so wird hier berichtet, den Reichtum seiner thrakischen Fraudazu aufgewendet, um athenische und spartanische Informanten sowie solche aus anderen Regionen fürihre Informationen zu bezahlen. Zur Markellinos-Vita umfassend Maitland (1996).

37 Beim �! « handelt es sich um einen zentralen Wert der Kyniker, zu Diogenes SSR II F 292 (= Stob. III 7,§ 17) und SSR II F 486 (= Stob. IV 36, § 10), zu letzterer Stelle vgl. SSR II F 91 = Krates, ep. 4. Die kynischeMetaebene in Lukians Lehrschrift werde ich in meinem Kommentar (Anm. 4) darstellen.

38 Polyb. XII 4c § 3, weitere Belege in Anm. 39. XII 27, § 6 bezeichnet Polybios die Forschungsaktivität mitdem Terminus ��������= ', XII 25 e § 1 bestimmt er als die drei Teile der ��������κ ¹���� 1)die Auswertung schriftlicher Quellen (/�� &����) 2) die topographische Anschauung (,��) und 3) diepolitischen Handlungsakte (�����« ��������). Voraussetzung für sachgerechte Forschung seien diedurch Alexanders Herrschaft und die römische Suprematie stark verbesserten Reisemöglichkeiten in allenTeilen der Welt (dazu der Exkurs III 58–59). Zu den Reisen des Polybios Walbank (1957) 1–6.

39 Polyb. XII 4 c § 3, dasselbe mit anderen Worten XII 4 d § 2: $����� �- … $��?�« �κ $�&,��� #����0�� , mit Bezugnahme darauf XII 27, § 3, vgl. auch XII 28a § 8–10. Timaios gilt Polybios als Vertreterdes Typus des Büchergelehrten, er bescheinigt ihm u. a. XII 25 h § 3 eine auf Bücher fixierte Mentalität(?�?����κ >��«). Timaios habe geglaubt, es genüge bei seßhafter Lebensweise (fast 50 Jahre lang in Athen,vgl. XII 25 h § 1) ein bloßes Bücherstudium (XII 25 d § 1). Das sei freilich, so erklärt Polybios, eine reichlichbequeme Arbeitsweise, bei der es ��λ« �� �= � ��λ �����,���« abgehe (XII 27, § 4–5). Zur poly-bianischen Kritik an Timaios Weiler (2001) 317–33, bes. 323–33.

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126 Robert Porod

des vom Attizismus40 in stilistischer Hinsicht geächteten Polybios, den Lukian in seinemumfangreichen Oeuvre nicht zitiert41, ist freilich eher unwahrscheinlich42. Es kann jedochnicht ausgeschlossen werden, daß Lukian sich hier auf eine von Polybios initiierte und vonspäteren Historikern aufgegriffene Debatte bezieht, deren Existenz sich allenfalls hypothe-tisch annehmen läßt. Es darf auch nicht übersehen werden, daß noch einige Jahrhundertenach Polybios die Seriosität von Forschung innerhalb der Gattung der Geschichtsschrei-bung thematisiert wurde. Dabei wurden freilich andere Formulierungen verwendet als dasdurch Polybios und Lukian repräsentierte Begriffsfeld $ ��� �� – $ �����«. In diesemSinne äußert Herodian43 mit an das thukydideische Methodenkapitel erinnernden Worten44

gestrenge Kritik an der überwiegenden Zahl derjenigen Historiker, welche auf darstelle-rische Augenblickswirkung abzielten, sich des mythischen Elementes bedienten und beialledem doch mit ungebrochener Zuversicht hofften, der sachliche Gehalt ihrer Recherche(�μ $��?�« �3« #�������«) würde schon nicht auf den Prüfstand kommen und wider-legt werden. Er selbst, so fährt Herodian mit selbstbewußter Bestimmtheit fort, habe dem-gegenüber ausschließlich geprüfte Sekundärinformationen mit aller Umsicht (���� ���'«$��?���«) gesammelt und aufgenommen.

II.

Als bevorzugte Quelle (�������) für historische Informationsgewinnung nennt Lukiandie persönliche Teilhabe bei den zu berichtenden Ereignissen, die Autopsie (��! �� ��λ#�� ��). Als zweitbeste Ressource habe sich dieser die Auswertung von Berichten derUnparteiischeren unter den Informanten zur Seite zu stellen. Auf letztere Weise sei jedochlediglich ein Näherungswert an die Wahrheit erreichbar, weil die jeweils verfügbaren Infor-manten mehr oder weniger stark bestimmte Tendenzen (�μ« ��� ν $���,��� )45 ver-

40 Dion. Hal. de comp. verb. § 4 nennt Polybios unmittelbar nach Phylarchos und Duris als Vertreter all der-jenigen hellenistischen Historiker, welche die erstrangig wichtige �= ,���« als nicht notwendig vernach-lässigt hätten, weshalb es auch niemand fertigbringe, deren Werke zu Ende zu lesen.

41 Mit Ausnahme von makrob. § 22 (die Echtheit wird jedoch weitgehend angezweifelt): Polybios sei im Altervon 82 Jahren nach einem Sturz vom Pferd gestorben.

42 Zuversichtlicher hinsichtlich einer direkten Benutzung des Polybios durch Lukian äußern sich Georgiadou/ Larmour (1994) 1449, welche auch die bisher in dieser Frage vertretenen Standpunkte auflisten (1449–53).In jedem Fall können die häufigen Kongruenzen zwischen Lukian und Polybios nicht bestritten werden,welche erstmals hier (1450–78) umfassend dargestellt wurden.

43 Herod. I 1, § 1 und § 3.44 Zur Gestaltung des Proömiums Sidebottom (1998) bes. 2776–80, zu Herodians historischer Methode und

seinem tatsächlichen Verhältnis zur Wahrheit ebd. 2813–22, eine Einschätzung der sachlichen Forschungs-leistung aus moderner Sicht auch bei Zimmermann (1999).

45 Diese Formulierung ist das Scharnier, welches Forschungsarbeit und Ethos des Historikers miteinanderverknüpft: 1) Die Forschungsleistung (§ 47) besteht im richtigen Umgang mit den Tendenzen der Gewährs-männer 2) Das historiographische Ethos (§ 38–41) ist dann gegeben, wenn der Historiker sich selbst frei-hält von tendenziöser Berichterstattung. Zwischen (1) und (2) bestehen Anklänge in Motivik und Termi-nologie. So fordert Lukian im Passus über das Ethos (§ 38) vom Historiker, er solle sich von Furcht undHoffnung freihalten, da er sonst bestechlichen Richtern (��=��« ��������« �μ« ��� ν $���,��� #�λ ���,9� ����0��� ) gliche. Der ideale Historiker sei unbestechlich ($������«), ein gerechter Rich-ter, welcher dem Prinzip ausgewogener Gewichtungen folge (§ 41), wie dies der Fall sei bei Xenophon undThukydides (§ 39). Das Verbum #�» (überschauen) in § 47 ist in diesem Sinne gewählt, um den erhöh-ten Standpunkt objektiver, gleich gewichtender Betrachtung zu bezeichnen, wie § 49 mit der Anspielung

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 127

folgten, aus welchen über das einzig mögliche Verfahren der Mutmaßung (�%������ )46

bloß unterschiedliche Grade an Wahrscheinlichkeit (�- ��,� ����) zu erzielen seien.Das hier angesprochene Verfahren der Wahrheitsermittlung geht auf ein bekanntes zwei-

teiliges historiographisches Gliederungsschema47 zurück. Als erster Historiker unterschiedHerodot mit konsequent durchgehaltener Methode zwischen Autopsie und Sekundärin-formationen und verfeinerte damit am Objekt der Geschichtsschreibung ein an sich bereitsseit Homer bekanntes Differenzierungsinstrumentarium48. Für die als erstrangig erachteteAutopsie49 stehen bei ihm regelmäßig die Begriffe des Sehens (²» ), der visuellen Wahr-nehmung (B:�«) und der Teilhabe als Augenzeuge (���!��'«). Die Sekundärquellen be-zeichnet er ebenso regelmäßig mit den Termini des Hörens ($�=�� , �� ,� ��,��), derKunde ($�&) und der Berichte (�!��, ���!�� �), unter denen diejenigen von Augen-zeugen an Bedeutung voranstünden. Mit diesem selektiven Verfahren der rangmäßigen Be-stimmung seiner Quellen50 hatte Herodot ebenso wie mit seiner Beurteilung sekundärer

auf den homerischen Zeus (Il. 13, bes. 3–5) zeigt. Die Formulierung �μ« ��� ν $���,��� $���&��� ν ��,&��� ��« ��� !�� verrät rhetorische Provenienz. Zu vergleichen ist, wasDionysios von Halikarnass (Thuk. § 8) nach dem übereinstimmenden Zeugnis fast aller Fachleute fürThukydides bezeugt: … Ρ�� �3« $�',���« … ������' #��&��� �! �� , Κ�� ����,�λ«��« ������� ��� E �κ ����� Κ�� $���� . Mit leicht verändertem Wortlaut sagt Josephos(bell. Iud. I 10, § 26) über seine Methode: ��� Κ�� $�����!�� « Κ�� ����,�λ« ��«������� �«.

46 Das Verbum �%��0�� diente bereits den Sophisten als einschlägige Bezeichnung für das Verfahren desWahrscheinlichkeitsschlusses. Als erster Historiker gebrauchte Herodot wiederholt den Begriff �μ %�!«zur Bezeichnung des Kriteriums der Wahrscheinlichkeit (Belege bei Müller [1981] 307–8). Von großer Be-deutung für die Etablierung des Begriffes �%��0�� innerhalb späterer historiographischer Terminologiewar der Umstand, daß er von Thukydides als häufig wiederholter und die Argumentation wesentlich be-stimmender Kernbegriff verwendet wurde, sowohl da, wo er aus auktorialer Perspektive spricht (I 9, § 4, I10, § 2, VIII 46, § 5), als auch da, wo er einem Redner seine Worte in den Mund legt (IV 126, § 3, V 9, § 3,VI 92, § 5). Als Stützen für das Verfahren des �%��0�� galten Thukydides ����&�� (erstmals program-matisch I 1, § 1–3) und �'���� (I 21, § 1 werden beide Begriffe genannt). Polybios (XII 7, § 4) billigt Ti-maios und Aristoteles zu, sie hätten beide ���� �μ �%�!�� �!� ihre Untersuchung über die Grün-dungsgeschichte von Lokroi geführt, doch lägen mehr Wahrscheinlichkeiten (�����« ��,� !�'��«) inder aristotelischen Version. Eine besondere Vorliebe für den Begriff �%��0�� zeigt Dionysios von Halikar-nass, besonders da, wo der Quellenwert unterschiedlicher Autoritäten zur Debatte steht (ant. Rom. II 38,§ 3). Lukian schließlich verwendet das Verbum �%��0�� ein weiteres Mal in vorliegender Schrift, nämlichda, wo er die Anweisung erteilt, der Historiker dürfe für einen von ihm allenfalls berichteten �-,« keineGewähr übernehmen, sondern müsse die Entscheidung darüber dem Wahrscheinlichkeitsschluß des Rezi-pienten überlassen (§ 60). Arrian (anab. I prooem. § 1) erklärt – mit leichter Variation im Ausdruck – er be-richte da, wo seine maßgeblichen Quellen Aristobulos und Ptolemaios nicht übereinstimmten, das, wasihm in höherem Grade glaubwürdig zu sein scheine (�� ����!��� #�λ ��� !�� �).

47 Nicht berücksichtigt ist hier das von Herodot seltener angewandte Verfahren des Ableitens von Unbekann-tem mittels Erfahrung und Wahrscheinlichkeitsschluß, weil es innerhalb der nachherodoteischen Theoriekeine prominente Rolle spielt. Die einschlägige Terminologie für diese Methode und primäre Belege beiMüller (1981) bes. 310–13.

48 Telemachos fragt Nestor nach Odysseus (Od. III 93–95): … �4 �� B����« / F�,������ ����� , νΝ��� �-, $�=��« / ���0�� �. Ähnlich klingt das Lob des Odysseus an Demodokos, er singe:—« �� �� ν ���μ« ���Ω ν Ν��� $�=��« (Od. VIII 491). Hier wird vom Spender des Lobes als In-spirationsquelle die Muse oder Apollon namhaft gemacht (488), womit die Einleitung zum Schiffskatalogzu vergleichen ist (Il. II 484–92), dazu Marincola (1997) bes. 63–64.

49 Zur Thematik der Autopsie Nenci (1955), Pretzler (2007, im Druck: chapter 4).50 Eine Auswahl signifikanter Stellen: Her. I 183, § 2–3, II 29, § 1, II 99, § 1, II 123, § 1, II 147, § 1, II 148, § 5–6,

IV 16, § 1–2.

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128 Robert Porod

Informationen nach dem Kriterium des Wahrscheinlichen (�μ %�!«)51 der kritischen Hi-storiographie wichtige Impulse gegeben. Die von Herodot auf einen weite Zeiträume um-greifenden Stoff angewandte Methode wurde innerhalb der Antike zum anerkannten Stan-dard für die in ihrer Zahl überwiegenden Verfasser von Zeitgeschichte in griechischer undlateinischer Sprache52. Nachwirkung der herodoteischen Methode zeigt sich im gleicher-maßen knappen wie inhaltlich dichten Programm des Thukydides53, der seine Methode derInformationsgewinnung bestimmte durch die bekannte Erklärung, er beschreibe: … H« �����μ« ��3 ��λ ��� �� Ν��� Ρ� �� ��μ $��?��9� ��λ ;����� #����-�," . #���! �« �� '/�����, ��!�� ¹ ��! ��« ��« ���« ;�����« � �������λ �� ���� ���� , $��# ³« ;����� ��« �� ��« ν � &�'« ���. Dieser pro-grammatische Satz, dessen erster Teil zumal aufgrund seiner sogar autoptischer Wahrneh-mung, welcher Herodot den unbedingten Vorzug zuerkannt hatte, gegenüber eingehalte-nen Distanz54 kaum adäquat durch eine Übersetzung wiedergegeben werden kann55,vermittelt eine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit und Würde, ja von dem verhaltenenStolz, der aus diesen schlichten Worten spricht. Mit anderen Worten ist hier die aus Hero-dot bekannte zweiteilige Methode von Autopsie und kritischer Verwertung von Sekundär-informationen in einer auf den Gegenstand von Zeitgeschichte applizierten Form als histo-risches Grundsatzprogramm formuliert, als Manifest gewissermaßen einer deklariertvorgetragenen Einstellung, welche unter äußerster Anspannung aller Kräfte dem konkre-ten Objekt gültige Aussagen abzuringen sucht56. Die Parteilichkeit der Gewährsmänner,

51 Belege bei Müller (1981) 307–8.52 Einen Überblick gibt Marincola (1997) 63–95, zu den weniger klar bestimmbaren Methoden der Vergan-

genheitsgeschichte ders. 95–117.53 Thuk. I 22, § 2–3.54 In dieser Hinsicht stimme ich mit Egermann (1972) 592 überein, der übersetzt: «nachdem ich sowohl das,

wo ich selbst dabei war, wie auch das von den anderen Berichtete … bezüglich jeder Einzelheit durch-forscht hatte». Bezeichnend für dieses Verfahren ist der Kommentar des Thukydides (VII 44, § 1) zurnächtlichen Schlacht bei Epipolai. Selbst bei Tag, so die Aussage der Stelle, könne der einzelne nur Aus-schnitte aus dem Kampfgeschehen wahrnehmen, und auch das nur in unvollkommener Weise. Sehr ähnlichklingen die Worte des Theseus in den Hiketiden des Euripides (855–56). Derartige Relativierungen desprinzipiellen Erkenntniswertes autoptischer Erfahrung finden sich ansonsten innerhalb antiker Historio-graphie nicht. Auch Polybios (XII 28 a § 10) ist keine Ausnahme, da er nicht den Erkenntniswert der Aut-opsie an sich in Frage stellt, sondern lediglich voraussetzt, daß nur praktische Erfahrung das von einem Be-obachter vor Ort Wahrgenommene adäquat zu erkennen in der Lage sei. Anzumerken ist, daß Thukydidesan dafür geeigneter Stelle einen Hinweis auf selbst gemachte Erfahrung und Autopsie gibt. So beruft er sichin der Einleitung zur Pestschilderung (II 48, § 3) auf seine eigenen Beobachtungen: ���!« �� �&��« ��λ���μ« %�Ω Ν���« ���� ��«. Zu sieben möglichen Hinweisen auf Autopsie im Werk des Thukydidesübersichtlich Sonnabend (2004) 55–58.

55 Zur stilistischen Gestaltung des Methodensatzes Wille (1965) 53–77 = (Nachdruck 1968) 683–716. Willebezieht den Methodensatz in seine die antiken Stilurteile umfassend berücksichtigende Untersuchung desthukydideischen Stils ein und spricht allgemein von «einer gelegentlich absichtlich verhüllenden Darstel-lungsweise», sowie – mit speziellem Bezug zum Methodensatz – von «Weite und Elastizität seiner Formu-lierungen» (Zitate nach dem Nachdruck [1968] 689 und 716 = Schlußsatz).

56 In den letzten Jahrzehnten hat sich die bedenkliche Tendenz geltend gemacht, für antike Historiographiegenerell den Anteil von Forschung zugunsten legitimer rhetorischer und fiktionaler Elemente zu minima-lisieren. Hier können nur zwei Vertreter mit jeweils einem wirkungskräftigen Buch genannt werden, näm-lich Wiseman (1979) und Woodman (1988). Woodman 23 bestimmt die literarische Strategie des Thukydi-des so: «Thucydides has eliminated almost all traces of the difficulties he encountered and in doing so hascreated an impression of complete accuracy … he has thereby misled the majority of modern scholars, whohave mistaken an essentially rhetorical procedure for scientific historiography at its most successful».

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 129

deren Sympathie (�Κ ��)57 für die eine oder andere Seite, wird von Thukydides als einprinzipiell die Wahrheitsfindung erschwerender Faktor namhaft gemacht. Ein weiteresManko bestehe in deren unterschiedlich stark ausgeprägter Erinnerungsfähigkeit (� &�'),ein Faktor, welcher von Lukian zugunsten seiner einseitigen Konzentration auf das ethischeMoment völlig unberücksichtigt bleibt58. Unter solchen Voraussetzungen könne selbst dergründlich recherchierende Historiker, als welchen Thukydides sich selbst bezeichnet wis-sen will59, lediglich einen Näherungswert60 an die Wahrheit (Ρ� �� ��μ ) erbringen, zuderen Bezeichnung er im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit seiner Nachfolger denwohl als allzu verpflichtend bewerteten Begriff der Wahrheit ($�&,���) vermeidet61. Damitsetzt er sich, wie Herodot62 vor ihm, mit Entschiedenheit von der Tendenz der Masse ab,mündlich zugegangene Informationen über Ereignisse der Vergangenheit ($��« �� ����� '�� � ) ungeprüft ($?��� ����«) voneinander zu übernehmen, sei dochdie Mehrheit sogar über nicht durch die Zeit der Erinnerung Entzogenes in irrigen Meinun-gen befangen63. Damit markiert Thukydides die dem Verständnishorizont der Allgemein-heit scharf gezogene Grenze. Zugleich aber, und auch dies läßt sich zwischen den Zeilenherauslesen, verschafft sich für einen kurzen Moment das gehobene Selbstgefühl des Ge-schichtsdenkers Thukydides unübersehbare Geltung. Dieses gründet wesentlich in der un-bedingten Bereitschaft, dem an sich in geringerem Grade problematischen Objekt derZeitgeschichte mehr methodische Sorgfalt zuzuwenden, als dies der Fall sei bei denjenigen,welche es selbst bei der ungleich weniger Evidenz versprechenden Vergangenheitsge-schichte an der nötigen Kritikfähigkeit fehlen ließen.

Bei Xenophon ist kein auch nur annähernd vergleichbarer Versuch einer Begründung dervon ihm verfolgten Methode feststellbar64. Demgegenüber liefert das Problem der Wahr-

57 Lukian stellt die �Κ �� in enge Beziehung zur ������� (§ 11 und § 40), vom Historiker fordert er, diesersolle ein unparteiischer Richter sein, ein �Κ �« Ϊ���� Ν�� �- �κ ,���9� �� $� ����� ���� �-�� �« (§ 41). Demgegenüber bescheinigt Dionysios von Halikarnass (ep. ad Pomp. § 3) Thukydideseinen Mangel an athenfreundlicher �Κ ��.

58 Der hier zur Debatte stehende § 47 spricht einzig über ���« und $���,��� als Ursachen für vorsätzlicheVerzerrung der Tatsachen. Zur Bedeutung dieses Umstandes für Lukians individuelle Gestaltung vgl.Anm. 45.

59 Im zweiten Proömium (V 26 § 5) gibt Thukydides an, daß er nach seiner Verbannung die Möglichkeit zuRecherchen bei beiden kriegsführenden Parteien hatte.

60 Bei Lukian erfüllt der Komparativ �- ��,� ���� die vergleichbare Funktion, den approximativen Cha-rakter der durch kritisches Nachforschen erreichbaren Wahrheit zu bezeichnen.

61 In V 74, § 3 betont Thukydides bezeichnenderweise die Schwierigkeit, die Wahrheit (�κ $�&,��� ) in Er-fahrung zu bringen, vgl. Anm. 63.

62 Her. II 45, § 1 (������ �� ���� ��λ Ν��� $ ���������« ¹ 6E��' �«). Der Zusammenhang: Es wirdim Passus über Herakles (II 43–45) die Unwissenheit der Griechen illustriert.

63 Thuk. I 20, § 1 und § 3. Vgl. auch das Resümee zu Ende des § 3: 8��« $������"�« ��« ����«π 0&�'��« �3« $�',���« ��λ #�λ �� ;���� �»�� ��� ���. Dies ist eine der seltenen Stellen(vgl. V 74, § 3, Anm. 61), an denen Thukydides den hochangesetzten Begriff der $�&,��� gebraucht,spricht er hier doch lediglich von der Suche (0&�'��«) nach der Wahrheit, und auch dies bloß mit Be-zug auf die sorglose Forschungsleistung der Masse. Für sein eigenes Werk freilich nimmt er die bescheide-neren Parameter des ����« (I 9, § 2, I 22, § 4) und des $��?�« (I 10, § 1, I 22, § 1–2: $��?���) inAnspruch.

64 Xenophons spärliche Erklärungen zu der von ihm verfolgten Methode sind verzeichnet bei Breitenbach(1950) 17–28. Von besonderem Interesse sind die 23–26 aufgelisteten Belege über Xenophons Umgang mitwidersprüchlichen Aussagen unterschiedlicher Gewährsmänner.

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heitsfindung dem im Vergleich zum bedeutend zurückhaltenderen Thukydides65 überausmitteilsamen Polybios hinreichend Stoff zu Reflexionen über die historiographischer For-schung zugrunde liegenden Prinzipien. Als Anlaß zu derartigen sich mitunter zu kleinerenExkursen ausweitenden Betrachtungen benutzt Polybios häufig die bei Kollegen, aus seinerSicht zumindest, feststellbaren methodischen Mängel66. In Auseinandersetzung mit denlängst schon von gelehrten Kritikern67 diagnostizierten allseitigen methodischen Defektendes auf seine Forschungsleistung erklärtermaßen stolzen Timaios68 präzisiert Polybios dieWertigkeit beider Methoden der Wahrheitsermittlung. In der explizit ausgesprochenenNachfolge des Heraklit69, der die Augen zu exakteren Zeugen als die Ohren erklärt hatte,bestimmt Polybios70 in erkenntnistheoretischer Hinsicht den Primat der unmittelbaren An-schauung (Ρ���«) vor der mittelbaren Kunde ($�&), eine Unterscheidung, wie sie beiihm andernorts71 ohne die Notwendigkeit einer theoretischen Begründung als selbstver-ständlich vorausgesetzt ist. Die mit dem dritten Buch einsetzende Darstellung der griechi-schen Geschichte von 220 v. weg72 begründet er, abgesehen von dem Umstand, daß hier dieHypomnemata des Aratos von Sikyon73 endeten, damit, daß er von nun an über Ereignisseschreibe, welche er teils als Augenzeuge miterlebt (������ � ��), teils von Augenzeu-

65 Marincola (1997) 9 formuliert dies etwas überspitzt, aber im Prinzip durchaus zutreffend: «he (sc. Thucy-dides) does not, like Herodotus, want the emphasis to be on his tracking down to sources, but on the fi-nished product: the reader is to be concerned not with the process of research, but rather with the result».

66 Eine systematische Untersuchung der polybianischen Polemiken bei Meister (1975) und Walbank (1962)1–12 = deutsche Fassung (1982) 377–404.

67 Unter den zahlreichen antiquarischen Schriften des Kallimacheers Istros (FGH III B 334) aus der Mitte des3. Jh.s v. findet sich auch eine Gegenschrift ($ �������) gegen Timaios nach dem Zeugnis des Athenaios(VI 272 b), der auch zu berichten weiß, daß Timaios, wohl wegen seiner scharfen Polemiken, von Istros als² #E�������« bezeichnet wurde (Polyb. XII 11, § 4 klassifiziert ihn als einen ���!« und $�����'�«#�����'�κ« �� ����«). Unter den Streitschriften des vielseitigen Periegeten Polemon von Ilion, einemwahrscheinlich etwas älteren Zeitgenossen des Polybios, ist auch eine gegen Timaios gerichtete (�μ«T���� ) bekannt, welche mindestens 12 Bücher umfaßt haben muß, denn Athenaios (XV 698 b) zitiertaus dem 12. Buch.

68 Dabei habe Timaios doch, so vermerkt Polybios (XII 10 = 11, § 4), �κ # ��« �! �« ��λ ���« $ �-�����« #������ �3« $��?���« ��λ �κ ��λ �-� �μ ��« #�������� mit Bezug auf sein eige-nes Geschichtswerk hervorgehoben.

69 Polyb. XII 27, § 1 = DK I 22 B 101 a: F�,���λ �� �� K�� $��?����� �����«. Die differen-zierte Position Heraklits in der Frage der Bewertung des erkenntnistheoretischen Ranges sinnlicher Erfah-rung kann durch den Vergleich von DK I 22 B 55 = Hippol. IX 9 (Ρ�� B:�« $�κ ��,'��«, ��-�� #�Ω������) mit DK I 22 B 107 = Sext. Emp. VII 126 (���λ �����« $ ,"���� F�,���λ ��λτ�� ?�?��« :���« #�! �� ) illustriert werden. Zur vorsokratischen Position in dieser Frage Ma-rincola (1997) 64–66 und Müller (1981) 299–302. Polybios ist unter den griechischen Historikern eine derseltenen Ausnahmen, insofern er wenigstens vereinzelt auf die Philosophie Bezug nimmt. Timaios nennt ereinen unphilosophischen, ungebildeten Schriftsteller (XII 25, § 6: $���!��!« #��� ��λ ����&?�' $ ����« �������=«), den bithynischen König Prusias II. kritisiert er wegen dessen Unerfahrenheit inBildung und Philosophie (XXXVI 15, § 5), und auch sonst nennt er eine Reihe von Philosophen namentlich,so Platon, Aristoteles, Demetrios von Phaleron und Straton von Lampsakos (Belege bei Walbank [1972]32–33).

70 Polyb. XII 27, § 1, vgl. XX 12, § 8.71 Polyb. XV 36, § 3.72 Als Ausgangspunkt der aus dem Mittelteil des zweiten Buches aufgegriffenen griechischen Geschichte

nennt Polybios (IV 1, § 3) die 140. Olympiade (= 220–216 v.).73 Die Memoiren des Aratos finden bei Polybios (II 40 § 4) hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes anerkennende

Bewertung (��� $�',� @« ��λ �����« … /�� '������=«).

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Von der historischen Wahrheit und dem Ende historiographischer Fiktionalität 131

gen vernommen habe (��� �� ;���!�� $�'�� ��)74. Weiter, so fährt er fort,zeitlich zurückzugreifen, sei ihm als ein zu unsicheres Unterfangen erschienen, denn dakönne man bloß mündliche Mitteilung aufgrund von mündlicher Mitteilung niederschrei-ben ($�κ #� $�3« ����� ). Ephoros und Timaios wirft er dementsprechend einenMangel an unmittelbarer Anschauung ($����) und Erfahrung vor75. Gleichwohl ist sichPolybios durchaus bewußt, daß ein einzelnes Individuum unmöglich von allen für den Hi-storiker relevanten Schauplätzen aus eigener Anschauung Kenntnis haben könne. Unterdiesen Umständen bleibe zumeist notwendigerweise lediglich die Methode der Befragungmöglichst vieler Gewährsmänner als zweitbeste Alternative übrig. Doch bedürfe diesesVerfahren einer kritischen Selektion und Überprüfung der jeweils zugegangenen Informa-tionen76: #����κ �� �¹ �� �����« Ϊ�� �����93 �� ���- ���, ���� �� �� �μ ���μ # ������ �!��« ���� �μ ���μ ���μ $�= �� , ²���« �� �κ ��#���!��' �� ��,�� �� �� �� ���� �κ %���� ' �!�� ��λ �� # ��«�!��« %������� �μ > � �� ��! , ������������ �� ,� ��,�� �� ³« ���������� , �����=�� �� ��« $���« ������«, ���κ �# �ρ �� �� ������! �� �κ���! . Zum Erweis seiner methodischen Exaktheit gibt Polybios bei besonderen Gelegen-heiten mit explizitem Vermerk an, wenn er über autoptisches Wissen oder sekundäre In-siderinformationen verfügt77.

Einen zentralen Stellenwert spielen Autopsievermerke bei Josephos. Aufgabe des Histo-rikers sei es, so erklärt dieser in der apologetischen Schrift contra Apionem78, die von ihmdargestellten Handlungen genau zu kennen, entweder durch Teilhabe daran oder durch Er-fragen vonseiten derer, die darüber Bescheid wüßten (… ��� �μ Ν���« ������ ����� $�',� � /���� =�� ���μ #������,�� ��=��« �!�� $��?�«,ν ��'���,'�!�� ��« ��� !�� ν ��� �� �%�!�� �� ,� !�� ). Er selbsthabe sich in beiden Schriften, der Jüdischen Archäologie und dem Jüdischen Krieg, an die-ses Prinzip gehalten. Zu Beginn der Jüdischen Geschichte79 hatte Josephos seine historio-graphische Kompetenz damit begründet, daß er anfänglich gegen die Römer gekämpft und

74 Polyb. IV 2, § 2.75 Polyb. XII 25 g § 4 (die $���� des Timaios), XII 25 f § 3 (Ephoros sei in Landschlachten �� ����«

Ν���« ��λ $!��« �� ��=�� ). Dasselbe treffe neben Timaios auch für Theopomp zu (XII 25 f§ 6–7).

76 Polyb. XII 4c § 4–5. Genau an dieser Kritikfähigkeit fehlte es Josephos (bell. Iud. I 1, § 1) zufolge all denen,welche von bloßem Hörensagen willkürliche und widersprüchliche Berichte unselektiv sammelten ($�93������ ��« �%���� ��λ $�=��� � ��'�&����).

77 Polyb. XXII 19 = 14, § 2 (��! ��: Autopsie), XXIX 8, § 10 (��,��,��: sekundäre Insiderinformation).78 Joseph. c. Ap. I 10 § 53–54.79 Joseph. bell. Iud. I 1 § 3. Innerhalb des ausgedehnten Proömiums (I 1, § 1–12 § 30) findet sich ein weiterer

Autopsievermerk (I 8, § 22: … ���� $��?���«, ³« �ρ� ν ���, , ������). Sachkundigen Augenzeu-gen (��« #������� �« �� ������� ��λ ������-�� �9� ����9�) habe er jedenfalls mit seiner Dar-stellung keinen Ansatzpunkt für Tadel oder Anklage geliefert (I 12, § 30). Andere Historiker dieses Kriegeshingegen wären entweder bei den Ereignissen gar nicht zugegen gewesen und hätten daher auf der Basismündlicher Informationen ($�93) beliebige und widersprüchliche Berichte verfaßt, oder sie hätten, sofernsie dabeigewesen wären, in prorömischem Sinne tendenzlastige Berichte vorgelegt (I 1 § 1–2). Andernorts(c. Ap. I 8 § 46) spricht Josephos manchen Historikern des Jüdischen Krieges topographische Kenntnisseebenso ab, wie er ihnen vorwirft, nicht nahe genug an die Ereignisse herangekommen zu sein. Lediglichaufgrund von beliebigen mündlichen Informationen (#� ���������� ) hätten sie ihre das Ansehender Geschichtsschreibung schamlos diskreditierenden Berichte verfaßt. Seinem Kritiker Iustos aus Tiberiasbescheinigt Josephos u. a. einen Mangel an Autopsie und Sekundärinformationen (vit. 65 § 357–58).

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sodann an den weiteren Ereignissen notgedrungen teilgenommen habe (���!« �� �N�-����« ����&��« �� ���� ��λ ��« 8��� ������Ω #� $ ���'«). Dem-entsprechend läßt er denjenigen Ereignissen die eingehendste Behandlung zuteil wer-den, an denen er selbst als aktiv Handelnder beteiligt gewesen war. Die Militärakten(/�� &����) der Kaiser Vespasian und Titus nennt er erst in den Schriften späteren Da-tums80. Im Jüdischen Krieg hingegen hatte er weder darüber noch über sonstige schriftlicheQuellen etwas verlauten lassen81, wohl deshalb, um nicht die Autorität der von ihm pro-grammatisch verkündeten Autopsie zu mindern82.

Polybios und Josephos sind nicht die einzigen Historiker von Militärgeschichte, bei de-nen das durch Thukydides entscheidend angeregte Methodenbewußtsein in seiner Nach-wirkung nachgewiesen werden kann. Noch Prokopios begründet in der Persergeschichte83

seine Kompetenz als Historiker damit, daß er in der Eigenschaft eines Beraters Belisars beifast allen Ereignissen zugegen gewesen sei. Selbst bei Verfassern von Universalgeschichtespielen die beiden als verpflichtend empfundenen Parameter von Autopsie und kritischerQuellenauswertung eine nicht unwesentliche Rolle, in methodologischen Selbstbekennt-nissen ebenso wie in kritischen Stellungnahmen zu den Leistungen früherer Historiker84.Dasselbe trifft für Verfasser römischer Kaisergeschichte zu, für Herodian und CassiusDio85.

Im übrigen wird von keinem griechischen Historiker dermaßen starke Skepsis an denprinzipiellen Möglichkeiten historischer Wahrheitsermittlung geäußert wie von CassiusDio, und zwar da, wo er in seiner Darstellung die Prinzipatszeit betritt. Die von oben herdekretierte Blockierung des Informationsflusses, so erklärt er, lasse ihm keine andere Mög-lichkeit, als alles so zu berichten, wie es nun eben mal veröffentlicht worden sei, unabhän-gig vom Wahrheitsgehalt (�4�# B ��« 8��« �4�� ��λ ;���« ����). Nur soweit es ihmmöglich sei, werde er ein gewisses Maß an Mutmaßung (������) hinzufügen86. DieseAussage ist zu verstehen als die spezifische Reaktion des Autors auf die für wahrheitsge-

80 Joseph. vit. 65 § 342 und § 358, c. Ap. I 10 § 56.81 Zu den Quellen des Josephos für das bellum Iudaicum Thackeray (1927, repr. 1989) XIX–XXVII.82 Es ist wahrscheinlich, aber nicht sicher zu beweisen, daß Josephos die kaiserlichen commentarii

( ���� &����) bereits bei der Abfassung des Jüdischen Krieges zur Verfügung hatte. Zum Problem Feld-man (1984) bes. 840 mit Literatur.

83 Prokop. /�� �� ����� I 1, § 3.84 Diodor gibt im Proömium zum Gesamtwerk (I 4, § 1) an, er habe unter viel Not und Gefahren einen

großen Teil Asiens und Europas bereist: O � �� $ ��������� ��λ ������� ��� ���!������ ',��� . Als sein erklärtes Ziel bestimmt er, topographische Unkenntnis auszuschalten, welche selbstbei erstrangigen Historikern schon viele Irrtümer verursacht habe. Ansonsten tritt er nur gelegentlich undfür Details mit explizit markiertem Wissen aus erster Hand hervor, besonders mit Bezug auf Ägypten, daser, wie er selbst erklärt (I 44, § 1) in der 180. Olympiade (= 60–56 v.) besucht hat. Beispiele dafür sind I 83,§ 8–9 (ein Römer, der unvorsätzlich eine Katze getötet hat, wird von der aufgebrachten ägyptischen Mengegelyncht) und I 38, § 7–8 (Kritik an Ephoros’ als unzureichend bewerteter Erklärung der Nilschwelle). Inbeiden Fällen wird präzise zwischen Autopsie und Information aus zweiter Hand unterschieden.

85 Herodian (I 2, § 5 und II 15, § 7) erklärt, er habe die Handlungen der in seine Lebenszeit fallenden Kaiseraufgrund von Autopsie und Sekundärinformationen beschrieben. Seine Qualifikation begründet er mitkaiserlichen und öffentlichen Diensten. Dazu ausführlich Whittaker (1969) XIX–XXIV und Zimmermann(1999) 302–19. Cassius Dio (LXXIII 4, § 2 und LXXIII 18, § 3–4) begründet seine genauen KenntnisseCommodus betreffend nach dem bekannten Verfahren, welches er auch anwendet, um seinem ethnogra-phischen Wissen über die Pannonier Glaubwürdigkeit zu verleihen (XLIX 36, § 4: er war dort Statthaltergewesen).

86 Cass. Dio LIII 19, § 6.

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treue Darstellung von Innenpolitik wenig Raum lassende geschlossene Gesellschaft derrömischen Kaiserzeit87. Dieses besondere Phänomen ist für die Zwecke der vorliegendenUntersuchung aber weniger von Bedeutung, da, wie die im satirischen Teil der Schrift vor-gebrachten Beispiele zeigen, Lukians Anweisungen auf die Behandlung aktueller Kriegs-geschichte zielen88, welche wohl weithin als das vorzüglichste Objekt historiographischerBetätigung erachtet wurde89.

III.

Das aus der Historiographie bekannte und von der Literaturkritik aufgegriffene90 metho-dische Instrumentarium von Autopsie und Sekundärinformationen kann als selbstver-ständlicher Besitz des literarisch Gebildeten91 vorausgesetzt werden, und zwar für LukiansRezipienten ebenso wie für den Autor Lukian selbst. Vor diesem Hintergrund ist es zu ver-stehen, wenn Lukian in mehreren anderen Schriften die traditionelle Zweiteilung in Aut-opsie und sekundäre Zeugenbefragung um der jeweils intendierten Pointe willen in neue,unerwartete Zusammenhänge stellt. Dieses auf Überraschungseffekt und Verfremdungberechnete literarische Spiel setzt als Rezipienten einen Literaturkenner voraus, welcheraufgrund seines Vorwissens in der Lage ist, die dabei sich auftuenden Paradoxa in einer denIntentionen des Verfassers kongenialen Weise wahrzunehmen und adäquat zu würdigen92.Unter diesen Voraussetzungen kann Lukian im Proömium zu den in engen motivischenBeziehungen zur Methodenschrift stehenden Verae historiae93 den phantastischen Schilde-rungen seines als Parodie94 zu verstehenden utopischen Reiseromans den explizit ausge-sprochenen Auftrag an den Leser voranstellen, dieser möge bei allem, was er nun zu hörenbekommen werde, seinen Worten keinen Glauben schenken, denn: «ich schreibe also überDinge, die ich nicht gesehen und erfahren habe, und die ich auch nicht von anderen inErfahrung gebracht habe»95:���� �� � ��P� Q �&�� �ρ� �&�� ���, � 2'�� ��#Ν��� #��,!�' . «Ferner (schreibe ich) über Dinge, die es überhaupt nicht gibt und die

87 Die Reaktion griechischer und römischer Historiker auf die veränderten Rahmenbedingungen unter demPrinzipat ist dargestellt von Marincola (1997) 86–95.

88 Luk. ��« ��� § 5 nennt in der Zukunft mögliche Kriege zwischen Kelten und Geten oder Indern gegenBaktrier, nicht ohne schalkhaft hinzuzufügen, daß die Unterwerfung aller einen Krieg gegen die Römernicht erwarten lasse.

89 Dies gilt auch für die römische Geschichtsschreibung. Tac. ann. IV 32 sieht die Notwendigkeit, den gering-fügig scheinenden Dingen, welche er über die Verhältnisse unter dem unkriegerischen Tiberius zu berich-ten habe, Bedeutung zu verleihen. Mit der neuen Zeit seien jedoch die großen Stoffe republikanischer Ge-schichtsschreibung ausgegangen.

90 Dazu die positiven Kritiken des Dionysios von Halikarnass (ant. Rom. VII 71, § 1, ep. ad Pomp. § 6 undThuk. § 6).

91 Der literarisch Gebildete ist der ���������� « (§ 44, ironisch § 2), der Ungebildete heißt %��"�'« (§ 16)und die Ungebildetheit %������� bzw. $�������� (§ 27). Ein ähnliches Unterscheidungskriterium fin-det sich de dom. § 2, wo die %������ den ���������� � gegenübergestellt sind.

92 Zu einem differenzierteren Lukianverständnis, welches zugleich auch eine Aufwertung des Autors Lukianmit sich brachte, gab Nesselrath (1985) den Anstoß.

93 Zu den engen Beziehungen zwischen den beiden Schriften Georgiadou / Larmour (1994) passim, zur Ge-staltung der Einleitungskapitel von Möllendorf (2000) 30–61.

94 Dazu ausführlich Georgiadou / Larmour (1998) 22–44.95 Luk. ver. hist. I § 4.

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sich von vornherein gar nicht ereignen können»: ��� �� �&�� Ρ��« B �� �&�� �κ $�κ �� ��,�� �� ��� � 96. «Deshalb dürfen die Leser alledem keineswegs Glaubenschenken». Und diesen pointierten Aussagen ist die Erklärung vorangestellt: «… da ichnichts Wahres (�'�� $�',�«) zu berichten (¹���� ) hatte, denn schließlich habe ichgar nichts Nennenswertes erlebt, wandte ich mich der Lüge (:�-�«) zu …». In diesemZusammenhang wird die ganze Gattung der paradoxographischen Wunderliteratur, mitder man sogar Herodot in Verbindung bringen konnte97, pauschal auf die Berichte des ho-merischen Odysseus vor den Phäaken zurückgeführt. Bei Odysseus als Archegeten undLehrmeister der Gattung wären in Folge andere Schriftsteller gelehrig in die Schule gegangen.So hätte sich denn in diesem Genos neben Iambulos98 namentlich auch der – von der anti-ken Literaturkritik ohnedies nicht gerade wegen besonderer Wahrhaftigkeit geschätzte99 –Ktesias von Knidos betätigt. Letzterer habe über Indien geschrieben, was er weder selbstgesehen noch von einem objektiv berichtenden Informanten gehört habe: ψ �&�� ���μ«�ρ�� �&�� Ν��� $�',�= �« .���� 100. Die beabsichtigte Pointe wird in ihrem vol-len Ausmaß verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welch stolzem Selbst-bewußtsein Ktesias selbst die von ihm in den Indika verfolgte Methode bewertet hatte101.Der eine ausführliche Inhaltsparaphrase gebende byzantinische Gelehrte Photios weißnämlich zu berichten, Ktesias habe den deklarierten Wahrheitsgehalt seines Berichtes einzigaus Autopsie und aus über Autopsie verfügende Informanten abgeleitet. Tatsächlich jedochhabe er, besonders in den Indika, unter reichlichem Einsatz von Pathos (�μ ��,'���! )und unerwarteter Wendung ($���!�'� ) seine Darstellung bunt verziert und damit

96 Das erinnert an eine Stelle in einer anderen Schrift Lukians (Hermot. § 72), wo von sich über die Kate-gorien von Realität und Möglichkeit hinwegsetzenden Phantasieprodukten die Rede ist, wie sie Träumeeingeben sowie Dichter und Maler frei imaginieren (… �� �I���� ��=� ��λ X����� ��λV�! � … ��λ Ρ�� Ν��� B ��� ��λ ��'��λ ��λ �����« #��=,�� B ��« $ ��������� Κ�� �� !�� � �"��� Κ�� �� ��,�� �� ��� �). Lukian kommt mehrfach auf das Thema der un-eingeschränkt gültigen Freiheit poetischen Schaffens zu sprechen (��« ��� § 8, pro imag. § 18, Hes. § 5),wofür die lateinische Rhetorik den Begriff der poetarum licentia kennt (Belege bei Lausberg § 983).

97 Diodor (I 69, § 7) wirft Herodot ein ��������� vor, welches die $�&,��� zugunsten des �=,�«������� vernachlässige.

98 Wie bei Euhemeros finden sich auch bei Iambulos (Quelle ist Diodor II § 55–60) Reminiszenzen aus demhomerischen Phäakenland (Diod. II § 56 zitiert die in der Odyssee VII 120–21 vorliegende Beschreibungdes Phäakenlandes), dazu Ferguson (1975) 124–29, bes. 126. Repräsentativ für die Einschätzung des Iam-bulos im aktuellen Forschungstrend Holzberg (1996) bes. 621–28. Eine Horizonterweiterung bringt eindurch die Kenntnis der indischen Primärquellen wertvoller Beitrag von Schwarz (1982).

99 Bezeichnend ist das Urteil Plutarchs (Artax. 1, § 2): … �=,� $��,� � ��λ ����!� #�?�?�'�� �%« �� ?�?��� �� ����κ ������ , vgl. ebda 6, § 6: ������« ² �!�« ���- �μ« �μ ��,���«��λ �������μ #����!�� « �3« $�',���«. Aristoteles (hist. an. VIII 28, 606 a 8 = Didot III 169 Z. 7= FGH III C 688 F 45 k) nennt ihn nicht glaubwürdig (K�'���« �� %� $��!����«). Weitere expliziteBelege aus Aristoteles sowie kritische Bezugnahmen auf Ktesias bei Arrian sind verzeichnet von Bigwood(1989) 303. Anerkennend werden lediglich die stilistischen Qualitäten des Schriftstellers Ktestias hervor-gehoben, so von Ps. Demetr. ��λ ;�' ���« IV § 215, der ihn mit Fug und Recht als ��'�&« klassifi-ziert wissen will, da er lebensechte Anschaulichkeit zu schaffen verstehe (# �����« �'����!«).

100 Luk. ver. hist. I § 3.101 FGH III C 688 F 45 § 51: ��-�� ���� ��λ ��,��� K�'���« ����� �$�',������ ����� ,

#���� ³« �� �� ���μ« %�Ω ����� , �� �� ��# ���� ��,Ω �� %�! �� . Vgl. T 8 = Phot.bibl. 72 p. 35 b 35 zur Methode der Persika. Eine Charakteristik der Indika geben Bigwood (1989) undLendle (1992) 121–24.

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nahe an das rein geschichtenerzählerische Element (#��@« �- ��,"��«102) herange-führt103. Das schreiende Mißverhältnis zwischen solch aufreizend unbescheidenem An-spruch und der tatsächlichen Leistung104 des Ktesias, wie man sie in der Antike bewertete,liefert Lukian einen willkommenen Ansatzpunkt für seinen an die Adresse von literari-schen Kennern gerichteten Spott. In den thematisch verwandten Philopseudeis105 scheut ernicht einmal davor zurück, ähnlich wie dies bereits Strabon106 in allem Ernst getan hatte,Ktesias Herodot an die Seite zu stellen, und zwar als Beispiel für einen Geschichtsschreiber,dessen Lügenberichte sich nicht unterschieden von den abstrusen mythischen FiktionenHomers. Nur kindliche Gemüter, so erklärt Lukian weiter, wären in der Lage, all dieseabsonderlichen Wundergeschichten (�� � $��!��� ��λ ������� ��,����) für bareMünze zu nehmen. Es liegt auf der Hand, daß hier, wie häufig bei Lukian, die Pointe inihrem Selbstzweckcharakter verstanden und gewürdigt sein will. Im satirischen Teil dervorliegenden Schrift107 verspottet Lukian einen Autor, der, obgleich er niemals auch nureinen Fuß aus seiner Heimatstadt Korinth gesetzt hätte, seine inkompetente Schilderungder Ereignisse in Syrien und Armenien mit der unfaßbar großspurigen – und innerhalb an-tiker Historiographie ohne Parallele dastehenden – Ankündigung eingeleitet hätte: «DieOhren sind weniger glaubwürdig als die Augen; so schreibe ich denn, was ich gesehen,nicht, was ich gehört habe»: 7[�� F�,���� $����!���. ���� �� � ψ �ρ� ,�� ψ .����108. Mag sich ein derart zugespitzter Beglaubigungstopos auch für Berichts-formen innerhalb der das Element pathetischer Überhöhung gezielt als Kunstmittel einset-zenden Tragödie109 eignen oder allenfalls als Einleitung zu einer zwischen den Polen von

102 Bereits Thukydides (I 22, § 4) hatte das Element des ��,���« für sein eigenes Werk abgelehnt (mit Bezugdarauf Lukian, ��« ��� § 42).

103 FGH III C 688 T 13 = Phot. bibl. 72 p. 45a 10–15.104 Der Versuch einer gerechten Würdigung aus heutiger Sicht wurde von Bigwood (1989) mit Erfolg unter-

nommen. Dieser untersucht die Inhaltsparaphrase des Photios und stellt abschließend fest (316): «this wasa work very similar in structure and content to earlier Greek descriptions of far-off lands. It was notentirely the confused jumble of paradoxes which critics have claimed». Für eine angemessene Beurteilungdes Werkes ist zu beherzigen, was sich über den unhistorischen Inhalt der sich auf indische Lebensweiseund Geographie konzentrierenden Indika aussagen läßt (313): «There is no trace of history in any of thefragments of Ctesias’ Indica and most probably the original description contained none».

105 Luk. Philops. § 2. Dazu \I]O_EYaEIb H APIbT[N (2001). Das Verhältnis dieser Schrift zu denverae historiae ist erklärt von Anderson (1976 b) bes. 23–33.

106 Strab. XI 6 § 3 = C 507: Ktesias, Herodot (durch die kopulativen Partikeln �� … ��λ verbunden), Hella-nikos und andere von dieser Art hätten, nach dem Vorbild erklärter ��,���� einzig auf darstelleri-sche Wirkung bedacht, # ¹����« ��&���� gesagt, ψ �'����� �ρ� �'�� %'���� , . � ��� ���%�!�� . Strabo gebraucht die beiden Parameter von Autopsie und Sekundärinformation auch in seinerKritik an sachlich unzureichenden Berichten über das Land Indien (XV 1 § 2 = C 685).

107 Luk. ��« ��� § 29.108 Gar nicht zu reden davon, daß es sich beim ersten Kolon unverkennbar um ein in Rhetorenkreisen wohl-

bekanntes Herodotzitat handelt (Her. I 8, § 2: τ�� �� ����� �� $ ,"���� #! �� $����!��� F�,-���� . Bezugnahme auf diese Worte des Kandaules an Gyges bei Dionys. Hal. ars rhet. XI § 4 = Us. /Rad. VI 2, 378, Z. 7–8 und bei Lukian, de dom. § 20.

109 Euripides und Sophokles bedienen sich derartiger sprachlich frei variierbarer Topoi. Bei Eur. Suppl. 684sagt der Bote: ��=��� �� ��-�� �� ��=� , vgl. Iph. Taur. 901 und Soph. Tro. 746–47, Hinweis beiRussell (1992) 109. In § 25 verspottet Lukian einen Autor, der die angebliche Kunde vom tragisch insze-nierten Selbstmord Severians mit einem Schwur bekräftigen zu müssen glaubte (#������ «, g �κ $�-��� �� « …).

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Faktizität und Fiktionalität110 schillernden Erzählung (��&�'��«) vom Typus des dioni-schen Euboikos111. Innerhalb der Geschichtsschreibung, so ist Lukians Kritik zu verstehen,nimmt sich eine derartige Beteuerung ganz unpassend aus, zumal wenn ein Historiker evi-dentermaßen gerade das Gegenteil von dem mit großtuerischer Attitüde Angekündigtenleistet.

IV.

Es ist an der Zeit, die wichtigsten Ergebnisse zusammenzufassen.

I) Zu Lukians Definition der wissenschaftlichen Arbeitsweise des Historikers:

1) Es hat sich ergeben, daß Lukian sich in der Frage nach den Möglichkeiten historischerWahrheitsfindung nicht nur mit dem thukydideischen Methodenkapitel vertraut zeigt, aufwelches er sich andernorts112 als auf eine ideale Vorgabe bezieht, sondern auch mit den spä-teren Entwicklungsstadien der dort angelegten Prinzipien und Formulierungen, wie sie sichim Medium von Historiographie und Rhetorik nachweisen ließen113. Er repräsentiert somitdenjenigen Standard, welcher für die historiographische Debatte und deren Rezeption in-nerhalb rhetorischer Theorie und Praxis zu seiner Zeit vorausgesetzt werden kann. 2) Denbei Thukydides angelegten Gedanken der �Κ �� der Gewährsmänner weitet Lukian ineiner die Problematik des Umgangs mit tendenziöser Berichterstattung kräftig ins Zentrumstellenden Weise aus114. Diese gegenüber Thukydides modifizierte und an die politischenVerhältnisse der eigenen Zeit angepaßte115 Schwerpunktverlagerung steht in inhaltlichemund motivischem Zusammenhang mit Lukians Definition von Intellekt (§ 34) und Ethos(§ 38–41) des Historikers. Letzterer Gesichtspunkt wird an anderer Stelle weiterführendaufzugreifen sein116. 3) Lukians souveräne Beherrschung konventioneller Elemente117 er-laubt es ihm auch, diese in anderen Schriften zu satirisch-parodistischen Zwecken einzu-setzen. Dieses dementsprechend informierte Rezipienten voraussetzende Verfahren läßteinen unverstellten Blick auf die in dieser Frage gültigen antiken Standards zu.

110 Charakteristisch für diese moderne Sichtweise ist die letzte umfassende Untersuchung von Krause (2003)61 und erläuternd dazu 21–24, zu beachten ist auch Anderson (2000) bes. 145–50.

111 Dio Chrys. or. VII. Der Einleitungssatz (§ 1) lautet: T!�� �κ ���μ« %�" , � ��# ;��� $�=��«,��'�&����.

112 Luk. ��« ��� § 42.113 Dieser Umstand wird in der Regel unterschätzt, so von Macleod (1991) 288–89, auch Homeyer (1965)

260–61 bietet keine systematische Erfassung der Traditionsschichten. Generell werden Lukians Quellen-kenntnise häufig zu gering angesetzt, zuletzt Whitmarsh (2001) 33: «… some authors (such as Lucian)seem to have encountered canonical texts primarily in well-known excerpts».

114 Dazu Anm. 45.115 Das Problem des Umgangs mit tendenziöser Berichterstattung unter monarchischen Regierungsformen

war erstmals unter den politischen Bedingungen des 4. Jh.s v. und besonders unter Alexander aktuell ge-worden, für kaiserzeitliche Historiker ist es eine ständig präsente Gegebenheit.

116 Vgl. dazu die Einleitung zu meinem geplanten Kommentar zu Lukians Methodenschrift (Anm. 4).117 Zu den oben genannten Belegen kann die Herodotimitatio in der Schrift de dea Syria hinzugefügt werden,

bes. § 1: … �� $�'����� �� �� ���:�9' ��," , �� �� ��� �� ¹��� #��' , ²�!�� #! ��#��- ���?=��� #�Ω ¹����, dazu Lightfoot (2003) 289–90. Bei der Schrift als ganzer handelt es sichwohl um ein Pasticcio, so Lightfoot 198.

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II) Zu den sich für die antike Sichtweise ergebenden Konsequenzen:

Das zum Vergleich mit Lukians Gestaltung vorgelegte primäre Quellenmaterial zeigt zu-verlässig die Richtung an, wie das auf sachliche Forschungsarbeit bezogene Selbstverständ-nis antiker Historiker sowie die von diesen erwartete Leistung einzuschätzen ist. Es ist not-wendig, auf diesen Sachverhalt mit Nachdruck hinzuweisen, da die durch Wiseman undWoodman vertretenen Positionen in den letzten beiden Jahrzehnten einen die Primärquel-len selektiv heranziehenden und deren Aussagewert verkürzenden Forschungstrend ausge-löst haben118. Es ist an der Zeit, einseitige moderne Einschätzungen der Gattung Ge-schichtsschreibung und der innerhalb dieser anerkannten Forschungsmethoden mit Blickauf den eindeutigen Befund einschlägiger antiker Zeugnisse, welche die Vorstellung einerinnnerhalb der Historiographie als legitim erachteten Fiktionalität119 nicht kennen, zu kor-rigieren. In diesem Sinne versteht sich vorliegende Untersuchung über das engere ThemaLukian hinaus auch als Beitrag zu einem von zeitgenössischen Vorurteilen unbelastetenVerständnis griechischer Historiographie.

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118 Vgl. Anm. 56. Es soll nicht unkritisch eine Identität von jeweiligem Programm und tatsächlicher For-schungsleistung behauptet werden. Hier wird lediglich darauf hingewiesen, daß es einen Konsens darübergab, daß die Gattung der ¹���� eine wahrheitsgetreue Wiedergabe von real Geschehenem zu leistenhabe. Auch Lukian weist in Übereinstimmung mit der gängigen Sichtweise wiederholt darauf hin, daß esdie Aufgabe des Historikers sei, über Tatsachen zu berichten (§ 7 und § 59: ¹���� �� ���� '�� � /������� �), denn (§ 39): �- �κ ��������« �� > – ³« #���,' �%��� , was durch dasanschauliche Spiegelgleichnis (§ 51) erläutert wird. Dies ist auch der Sinn einer bekannten Erklärung desansonsten kaum an Geschichtsschreibung interessierten Aristoteles (poet. 9, 1451 a 36–1451 b 11), welchebesagt, daß die auf das Allgemeine hin orientierte Dichtung nach den Parametern von Wahrscheinlichkeitund Notwendigkeit auf das Mögliche (�� �� ��� bzw. H� ω �� ��) abziele, während der Geschichts-schreiber über das real Geschehene (�� �� !�� �) zu berichten habe, wofür als Beispiel angeführt wird:�� #A���?���'« ����� ν �� ���,� . Woodman (1988) 26–27 läßt demgegenüber die Grenzen zwi-schen Realität und Fiktion verschwimmen, indem er die Historiker von einem hard core of apparentlyreliable knowledge ausgehen läßt, um welchen herum sie a set of rules based on their own and their readers’expectations of what was likely to have happened in a given situation strukturierten. Es ist zwar nicht zu be-zweifeln, daß ein derartiges Verfahren nicht selten in der Praxis tatsächlich angewandt wurde, aber dabeihandelte es sich eben nach allgemeinem Verständnis um unstatthafte Verstöße gegen die gattungsimma-nenten Prinzipien, welche von Kritikern immer auch als solche namhaft gemacht wurden. Von einer legi-timen Vermischung der Ebenen von Realität und Fiktion kann daher innerhalb der Gattung der ¹����nicht ausgegangen werden. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Cornell (1982) in seiner lesenswerten Re-zension zu Wisemans Buch.

119 So Woodman (1988) 26–27, vgl. Anm. 118.

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Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini 141

Angelika Starbatty

Kaiser und Gott in den Panegyrici Latini

Unterschiedliche Aspekte der XII Panegyrici Latini haben das Interesse der althistorischenForschung auf sich gezogen, wobei sich die Wissenschaft insbesondere auf einzelne Redenkonzentriert hat.1 Die Beschäftigung mit dem gesamten Corpus2 hingegen stand häufig inZusammenhang mit Arbeiten über die Spätantike, welchen diese Reden als wertvolle Quel-len dienten.3 Ferner stellten die gattungsspezifischen Merkmale solcher epideiktischen Re-den sowie die Frage nach der Darstellung des Kaisers in den Panegyrici Latini wesentlicheForschungsschwerpunkte dar.4

1 Vgl. etwa die Arbeiten zu Plinius’ Panegyricus auf Trajan: U. Häfele, Historische Interpretationen zum Pa-negyricus des jüngeren Plinius, phil. diss. Freiburg 1958; W. Kühn, Plinius der Jüngere. Panegyricus. Lob-rede auf den Kaiser Trajan, Darmstadt 1985; J. Mesk, Zur Quellenanalyse des Plinianischen Panegyricus,WS 33, 1911, 71–100; K. Strobel, Zu zeitgeschichtlichen Aspekten im Panegyricus des jüngeren Plinius:Trajan – «imperator invictus» und «novum ad principatum iter», in: J. Knape und K. Strobel (Hrsgg.), ZurDeutung von Geschichte in Antike und Mittelalter, Plinius d. J. «Panegyricus», «Historia apocrypha» der«Legenda aurea», Bamberg 1985, 9–112. Mit der Rede aus dem Jahr 307 n. Chr. beschäftigte sich C. E. V.Nixon, Constantinus oriens imperator: Propaganda and Panegyric, On Reading Reading Panegyric 7(307), Historia 42, 1993, 229–246. Panegyricus VI war für B. Müller-Rettig, der Panegyricus des Jahres 310auf Konstantin den Großen, Palingenesia 31, Stuttgart 1990 und R. Turcan, Images solaires dans le Pane-gyrique VI, in: M. Renard et R. Schilling (Hrsgg.), Hommages à J. Bayet (Collection Latomus, Vol. LXX),Brüssel-Berchem 1964, 697–706 Gegenstand der Forschung. R. C. Blockley, The Panegyric of ClaudiusMamertinus on the Emperor Julian, AJPh 93, 1972, 437–450; H. Gutzwiller, Die Neujahrsrede des KonsulsClaudius Mamertinus vor dem Kaiser Julian: Text, Übersetzung und Kommentar, Basel 1942 und C. E. V.Nixon, The «Epiphany» of the Tetrarchs? An Examination of Mamertinus’ Panegyric of 291, TAPA 111,1981, 157–166 befassten sich mit dem Panegyricus von Claudius Mamertinus. Die Lobrede auf Theodosiuserforschten A. Lippold, Herrscherideal und Traditionsverbundenheit im Panegyricus des Pacatus, Histo-ria 17, 1968, 228–250 und C. E. V. Nixon, Pacatus: Panegyric to the Emperor Theodosius, Liverpool 1987.

2 Als die beiden maßgeblichen Textausgaben sind E. Galletier, Panégyriques latins, Bd. 1–3, Paris 1949–55sowie C. E. V. Nixon/B. Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors. The Panegyrici Latini.Introduction, Translation, and Historical Commentary with the Latin Text of R. A. B. Mynors, Berkeleyu. a. 1994 zu nennen.

3 Siehe dazu F. Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001; S. MacCormack., Art and Ceremonyin Late Antiquity, Berkeley 1981; A. Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike, Stuttgart 1939, Reprint.1964.

4 Vgl. etwa L. K. Born, The Perfect Prince according to the Latin Panegyrists, AJPh 55, 1934, 20–35; F. Bur-deau, L’empereur d’ après les Panégyriques Latins, in: F. Burdeau u. a.(Hrsgg.), Aspects de l’empireromain, Paris 1964, 1–60; S. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, in: T. A. Dorey (Hrsg.), Empire andAftermath, Silver Latin II, London/Boston 1975, 143–205; dies., Latin Prose Panegyrics: Tradition andDiscontinuity in the later Roman Empire, REAug 22, 1976, 29–77; M. Mause, Die Darstellung des Kaisersin der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994; G. Sabbah, De la Rhétorique à la communication politique:les Panégyriques latins, BAGB 4, 1984, 363–388; R. Seager, Some Imperial Virtues in the Latin Prose Pa-negyrics, The Demands of Propaganda and the Dynamics of Literary Composition, in: F. Cairns (Hrsg.),Papers of the Liverpool Latin Seminar, Fourth Volume, 1983, Liverpool 1984, 129–165; R. H. Storch, TheXII Panegyrici Latini and the Perfect Prince, Aclass 15, 1972, 71–76.

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142 Angelika Starbatty

Den Aspekt der Religion im Corpus der XII Panegyrici Latini haben in den siebziger undachtziger Jahren des letzen Jahrhunderts Jean Béranger, John H. W. G. Liebeschuetz undBarbara Saylor Rodgers beleuchtet.5 Dabei setzten sie sich in erster Linie mit der außerge-wöhnlichen Beziehung zwischen Herrschern und Gottheiten auseinander. Dieser gilt auchin diesem Aufsatz das Hauptinteresse, jedoch wird hier, in Abgrenzung zu den bisherigenArbeiten, die Auffassung vertreten, dass alle Panegyriker – die Darstellung des Verhältnis-ses von Kaiser und Gott betreffend – ihre Reden in Anlehnung an Diokletians Konzeptioneines theokratischen Herrschaftssystems verfasst haben.6

I.

In der Antike war es seit jeher Brauch den Herrscher mit einer numinosen Ausstrahlung zuversehen.7 Römische Herrscher hatten beispielsweise schon immer die Schirmherrschafteines bestimmten Gottes für sich beansprucht. Dabei spielten Jupiter und Hercules seit Be-ginn des Principats eine hervorragende Rolle.8 Horaz präsentierte Augustus als den irdi-schen Stellvertreter Jupiters und bezeichnete ihn als praesens divus, welcher auf der Erdeherrsche, während jener im Himmel regiere.9 So kam unter Augustus die Vorstellung auf,dass der Princeps von den Göttern erwählt und vorausbestimmt worden sei, um Jupiter aufder Erde zu vertreten.10 Diese Vorstellung steigerte sich im Laufe der Jahre noch, indemdem Kaiser in zunehmendem Maße Attribute der höchsten Gottheit zugeschrieben wurdenund jener sich so immer mehr Jupiter annäherte. Dies hatte zur Folge, dass es in der Lite-

5 Siehe J. Béranger, L’expression de la divinité dans les Panégyriques Latins, MH 27, 1970, 242–254;J. H. W. G. Liebeschuetz, Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979; dies., Religion in thePanegyrici Latini, in: F. Paschke (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, Berlin 1981,389–398 und B. Saylor Rodgers, Divine Insinuation in the Panegyrici Latini, Historia 35, 1986, 69–104.

6 Sowohl Liebeschuetz als auch Saylor Rodgers nehmen eine Zweiteilung der Panegyrici Latini vor. Dabeiunterscheidet Saylor Rodgers in einem ersten Teil zwischen «early» (V–XI) und «late» (II–IV) Panegyriciund stellt Unterschiede in der Terminologie fest: «The orator’s terminology has changed by the end of thefourth century. In the later panegyrics, especially in the last three, the speakers rarely attribute superhumanqualities to the emperor, […].» (74) In einem zweiten Teil erörtert sie für die jeweilige Rede die Gesichts-punkte der Sakralisierung des Herrschers, um diese abschließend miteinander zu vergleichen. Liebeschuetzgrenzt die Panegyrici Latini, die während der Ersten Tetrarchie entstanden sind, von den anderen ab. Fürihn ist eine eindeutige Wende auszumachen: «In the speeches written after 306 and the end of the firsttetrarchy, the religious atmosphere changed. […] There is a return to the tradition of treating governmentas an essentially secular activity.» (396) Béranger untersucht jede Rede des Corpus für sich genommen inchronologischer Reihenfolge – mit dem Panegyricus von Plinius beginnend, wobei er insbesondere auf dieVerwendung von religiöser Sprache eingeht und darlegt, inwiefern sich im Verhältnis von Kaiser und Gott«la pensée religieuese» (242) der Zeit widerspiegelt. Die Frage, ob es in den Werken der Panegyriker hin-sichtlich der Beziehung von Kaiser und Gottheit Aspekte gab, die allen Reden gemeinsam waren, wird vonBéranger nicht thematisiert.

7 Vgl. A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, 186 ff.;F. Burdeau, L’empereur d’après les Panégyriques Latins, 10 ff. bes. 30 f.; J. R. Fears, Princeps a diis electus:The Divine Election of the Emperor as a Political Concept at Rome, Rom 1977.

8 Vgl. F. Kolb, Diocletian und die Erste Tetrarchie. Improvisation oder Experiment in der Organisation mo-narchischer Herrschaft?, Berlin, New York 1987, 89 mit Anm. 263.

9 Hor. carm. 3, 5,1–4: «Caelo tonantem credidimus Iovem / regnare: praesens divus habebitur / Augustusadiectis Britannis / imperio gravibusque Persis.»

10 Vgl. J. R. Fears, RAC XI, 1981, 1103–1159, s. v. Gottesgnadentum (Gottkönigtum), 1121.

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ratur des 3. Jahrhunderts n. Chr. ein locus communis war, die Macht des Herrschers als vonJupiter gegeben darzustellen. Eine letzte Zuspitzung erfuhr diese Ansicht durch Diocleti-ans Konzeption der Herrschaft.

Diese enge Verbindung des römischen Herrschers zu den Göttern, insbesondere Jupiter,kam durch mehrere Faktoren zu Stande. Einen bedeutenden Aspekt nahm die pietas ergodeos ein. Diese pflichtmäßige, respektvolle Gesinnung den Göttern gegenüber zeigte sichdaran, dass der Herrscher ihnen mit Ehrfurcht begegnete, indem er ihnen zum BeispielTempel und Altäre errichtete sowie Weihgeschenke darbrachte. Eine solche Reverenzwurde durch Wohlwollen der Götter gegenüber dem Kaiser gewürdigt, das sich in seinerfelicitas äußerte. Diese wiederum brachte dem Herrscher militärische Erfolge ein undführte in Verbindung mit seiner Tapferkeit zu seiner Unbesiegbarkeit.11 In seinem Werk Prolege Manilia schrieb Cicero Pompeius eine gottgegebene felicitas zu12 und Vergil berichtetein der Aeneis von der göttlichen Gunst, die Augustus in der Schlacht bei Actium zum Siegverholfen habe.13

Die felicitas bedeutet einerseits, dass ihr Träger selbst Glück hat, und andererseits dass erdieses verleihen kann. In diesem Sinne meint felicitas imperii den glücklichen Zustand desReiches, der durch den Herrscher hervorgerufen wird. Aufgrund seiner felicitas ist diesernämlich unbesiegbar (invictus), was wiederum zu Frieden und Eintracht im Imperiumführt. Somit resultiert aus der felicitas das aureum saeculum. Der Herrscher ist Dank seinerfelicitas und seiner virtutes in der Lage, dem römischen Volk salus zu bringen. Er hat dienotwendige Macht und Begabung sowie die erforderliche Gunst der Götter, um seinemVolk zu geben, was es braucht. Demnach übernimmt er die Rolle eines Wohltäters. Nachgriechisch-römischer Vorstellung konnte ein Mensch, der seinen Mitmenschen zum Wohl-ergehen verhalf, göttlich verehrt werden.14

Unter Augustus wurde der Kult seines genius sowie seines numen eingeführt.15 Somitwurden seinem genius, so wie demjenigen jedes pater familias im privaten Rahmen, öffent-lich Opfer dargebracht. Die numina bezeichneten für die Römer die Eigenschaften, genauer

11 Siehe dazu L. K. Born, The Perfect Prince according to the Latin Panegyrists, AJPh 55, 1934, 20–35;F. Burdeau, L’empereur d’ après les Panégyriques Latins, in: F. Burdeau u. a.(Hrsgg.), Aspects de l’empireromain, Paris 1964, 1–60; S. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, in: T. A. Dorey (Hrsg.), Empire andAftermath, Silver Latin II, London/Boston 1975, 143–205; dies., Latin Prose Panegyrics: Tradition andDiscontinuity in the later Roman Empire, REAug 22, 1976, 29–77; M. Mause, Die Darstellung des Kaisersin der lateinischen Panegyrik, Stuttgart 1994; G. Sabbah, De la Rhétorique à la communication politique:les Panégyriques latins, BAGB 4, 1984, 363–388; R. Seager, Some Imperial Virtues in the Latin Prose Pa-negyrics, The Demands of Propaganda and the Dynamics of Literary Composition, in: F. Cairns (Hrsg.),Papers of the Liverpool Latin Seminar, Fourth Volume, 1983, Liverpool 1984, 129–165; R. H. Storch, TheXII Panegyrici Latini and the Perfect Prince, Aclass 15, 1972, 71–76.

12 Cic. Manil. 16,47.13 Verg. Aen. VIII 675–713.14 Vgl. M. P. Charlesworth, Some Observations on Ruler-Cult especially in Rome, HarvTheolRev 28, 1935,

9.; Fears, Gottesgnadentum, 1131. Er fügt hinzu: «Die griech.-röm. Vorstellung vom Gottkönigtum istweitgehend geprägt von dem allgemeineren Phänomen der Vergottung von Wohltätern.»

15 Siehe dazu Béranger, L’expression de la divinité, 245. Er sagt, dass der genius sozusagen das zweite geistigeIch repräsentiere, während das numen eine Wirkungskraft sei, die auf den Lebenden wirke.; P. A Brunt,Divine Elements in the Imperial Office, JRS 69, 1979, 168; Burdeau, L’Empereur d’après les PanégyriquesLatins, 21 f.; Charlesworth, Observations on Ruler-Cult, 22.; J. R. Fears, RAC XIV, 1988, 1047–1094, s. v.Herrscherkult, 1061; ders., Gottesgnadentum, 1152; D. Fishwick, Genius and Numen, HarvTheolRev 62,1969, 356–367.

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gesagt, die Wirkungskräfte der Gottheiten. Demzufolge verehrte man die göttlichen We-senszüge, die sich im Kaiser offenbarten und erkannte seinen charismatischen Charakteroffiziell an. Der Kult des Numen Augusti wurde zu einem offiziösen Teil der römischenStaatsreligion und folglich auch von Priestern zelebriert. Die Untertanen konnten denPrinceps dadurch als Gott verehren, obwohl er zu Lebzeiten nicht unter die Götter desrömischen Staates gezählt wurde. Auch wenn er selber kein Gott war, so konnte er den-noch den göttlichen Willen vermitteln.

Nach Auffassung der Griechen und Römer waren die Götter ein Teil ihrer eigenen Weltund sie standen nicht darüber oder außerhalb davon.16 Folglich bestand zwischen Men-schen und Göttern nach antiker Vorstellung keine unüberwindliche Barriere; die göttlicheSphäre wurde also nicht für unerreichbar gehalten. Man ging davon aus, dass ein Menschzum Gott werden konnte. Überdies war die Erscheinung des Göttlichen für die Römernichts Außergewöhnliches. Dass man sich die Götter als bei jeder Handlung anwesenddachte, war eng an den Glauben daran gebunden, dass Wohlergehen und Erhalt des römi-schen Reiches von der Gunst der Götter abhängig seien. In diesem Zusammenhang stehtdie sakrale Aura, von welcher der römische Kaiser umgeben war. In seinen Taten konntesich der göttliche Wille zeigen, durch ihn manifestierte sich das Wohlwollen der Götter.

II.

Dieser Tradition der Sakralisierung des Herrschers schlossen sich die Verfasser des Corpusder Panegyrici Latini an, wobei sie die Kaiser jedoch in viel stärkerem Maße sakral über-höhten, als es je zuvor geschehen war. Das Corpus der XII Panegyrici Latini enthält elf Lob-reden auf verschiedene Kaiser aus den Jahren 289–389 und den Panegyricus von Plinius demJüngeren, der an der Spitze dieser Auswahl steht. In seiner Funktion als Musterrede wurdeer von den nachfolgenden Lobrednern als Hilfsmittel konsultiert. Durch die Zugehörigkeitdieser Reden zum genus demonstrativum, zur Gattung der Prunk- und Festreden, waren dierhetorischen Vorschriften vorgegeben. So bestand die Hauptaufgabe eines Panegyrikersdarin, seinem Auditorium Vergnügen zu bereiten17 und Anerkennung zu erlangen18. Diesversuchte er, einerseits durch eine kunstvolle sprachliche Ausgestaltung zu erreichen; an-dererseits war er besonders darauf bedacht, sich des Wohlwollens des Adressaten, also desHerrschers, zu versichern. Dieser setzte sozusagen den Maßstab für die rednerische Auf-gabe des delectare.

Seit den Anfängen der epideiktischen Beredsamkeit in Athen im 5. Jh. v. Chr. hatte sicheine Topik entwickelt, die den Verfassern der spätantiken Panegyrici Latini zur Verfügungstand. Dadurch konnte der Aufbau des Werks schon mehr oder weniger festgelegt sein.Einen besonderen Beitrag dazu hatten zum einen Plinius mit der bereits erwähnten gratiarumactio auf den Kaiser Trajan aus dem Jahr 100 n. Chr. und zum anderen Menander Rhetor

16 Zum Folgenden vgl. Burdeau, L’Empereur d’après les Panégyriques Latins, 11; J. Martin, Zum Selbst-verständnis, zur Repräsentation und Macht des Kaisers in der Spätantike, Saeculum 35, 1984, 115. 117.

17 Vgl. Cic. part. 4, 11. Er sagt, dass der Redner einer epideiktischen Rede sich als Ziel die delectatio in exor-natione setzt und 21,72 äußert er, dass in einer solchen Rede «omnis ratio fere ad voluptatem auditoris et addelectationem refertur».

18 Quint. Inst. III 8, 7: «nec mirum, cum etiam in panegyricis petatur audientium favor, ubi emolumentumnon utilitate aliqua, sed in sola laude consistit.»

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geleistet. Diesem ist die Abhandlung P��λ ���������, über die epideiktischen Reden,aus dem 3. Jh. n. Chr. zu verdanken, in der an erster Stelle das Herrscherlob, der �����μ«

����« behandelt wird. Die Panegyrici Latini hatten folglich einen konventionellen und tra-ditionellen Charakter. Dieser zeigte sich auch daran, dass die Individualität der Herrscher-persönlichkeit kaum eine Rolle spielte.19

Betrachtet man die Panegyrik aus rhetorischer Sicht, so dürfen die kommunikativenRahmenbedingungen, das sogenannte Setting,20 nicht unbeachtet bleiben. Im argumentati-ven Kontext geht es dabei um Aspekte wie den Ort, die Persönlichkeit des Redners, denAnlass, die Absicht, das Auditorium oder den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Das rheto-rische Geschick bestand darin, einen Bezug zu jenem Kontext herzustellen und diesen ge-konnt zu verwenden. Ein Panegyricus gehörte stets als fester Bestandteil zu einem Zere-moniell. Dieses konnte aufgrund zahlreicher Anlässe begangen werden, wie etwa wegeneines Jahrestages, Regierungsjubiläums oder eines kriegerischen Erfolges. In diesem Rah-men war es für den Redner angemessen, sich religiöser Sprache zu bedienen sowie denHerrscher mit einer sakralen Aura zu umhüllen.

III.

Dieser Anspruch wurde in den einzelnen spätantiken Panegyrici Latini zwar auf unter-schiedliche Art und Weise umgesetzt, jedoch haben sich in letzter Konsequenz alle Redenauf die tetrarchische Tradition einer Theokratie gestützt. Dies gilt auch für diejenigen, dienach Constantins Hinwendung zum Christentum entstanden sind. Hinsichtlich des Ver-hältnisses zwischen Kaiser und Gottheit scheint sich nämlich die Sichtweise innerhalb derPanegyrici Latini nicht wesentlich verändert zu haben, obwohl der historische Kontext derjeweiligen Reden stark variieren konnte, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird.

Jene Beziehung zwischen Herrschern und Göttern basierte in allen spätantiken Panegy-rici Latini auf drei Komponenten:

1. Die Kaiser wurden von den Göttern bestimmt.2. Die Kaiser wurden mit bestimmten Göttern verglichen oder sogar gleichgesetzt.3. Die Panegyriker wiesen den Herrschern die numina dieser Götter zu, was bedeutete,

dass sie die Kaiser als mit den göttlichen Qualitäten und Wirkungskräften ausgestattet,darstellten.

Erstmals findet sich diese Art der Sakralisierung der Kaiser in den Panegyrici Latini derErsten Tetrarchie. Folglich in den Reden X und XI, die in den Jahren 289 und 291 n. Chr.,also während der Dyarchie der beiden Augusti Diocletian und Maximian, entstanden, so-wie in den Panegyrici Latini VIII und IX, die nach der Ernennung der beiden Caesares Cons-tantius Chlorus und Galerius im Jahr 293 n. Chr., nämlich 297 oder 298, verfasst wurden.

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Kontext die sakralen Cognomina Iouiusund Herculius. Diocletians Konzeption der Herrschaft basierte auf der Schaffung einer gött-lichen Familie (domus divina).21 Mitglieder derselben waren zunächst ab 286 die beiden Au-

19 Vgl. MacCormack, Art and Ceremony, 6.20 Siehe dazu: J. Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 87 ff.21 Zum Folgenden vgl. Kolb, Diocletian, 90 ff.; ders., Herrscherideologie, 22. 27 f. 35 ff.167 ff.

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gusti, also Diocletian selbst und sein Mitregent Maximian. Dieser wurde als Bruder ( frater)Diocletians in dessen Familie adoptiert. Er nahm das Cognomen Herculius an, währendDiocletian zum Iouius wurde. Seit 293 gehörten auch die beiden Caesares, die einerseits inbrüderlichem Verhältnis zueinander standen und andererseits Söhne ( filii ) der Augusti wa-ren, zu dieser göttlichen Familie.

Zu Söhnen der Augusti wurden sie zum einen aufgrund ihres Amtes und zum anderendurch Adoption. So adoptierte Diocletian den Galerius und Maximian den Constantius.Die beiden Caesares erhielten jeweils den Beinamen ihres Adoptivvaters.22 Folglich wurdeConstantius zu einem Herculius und Galerius zu einem Iouius. Dadurch, dass die Caesaresjeweils die Tochter ihres Vaters heirateten, wurde die verwandtschaftliche Beziehung unter-einander noch enger verknüpft. Damit war beispielsweise Maximian gleichzeitig Vater undSchwiegervater von Constantius sowie Onkel des Galerius. Zu dieser domus divina gehörtenlediglich die vier Herrscher, jegliche Blutsverwandte derselben waren ausgeschlossen. Damitversuchte Diocletian den Kampf um die Herrschaft innerhalb der Familie zu vermeiden. DerRivalität der Familienmitglieder sollte so vorgebeugt werden. Im Jahr 291 n. Chr. äußertesich der Panegyriker in seiner Rede zum Geburtstag des Kaisers Maximian folgendermaßen:

Quos quidem, sacratissime imperator, quotiens annis uoluentibus reuertuntur, uestri pariter acuestrorum numinum reuerentia colimus, siquidem uos dis esse genitos et nominibus quidemuestris sed multo magis uirtutibus approbatis. […] cognouimus quae causa faciat ut numquamotio adquiescere uelitis. Profecto enim non patitur hoc caelestis ille uestri generis conditor uelparens. Nam primum omnium, quidquid immortale est stare nescit, sempiternoque motu seseruat aeternitas. Deinde praecipue uestri illi parentes, qui uobis et nomina et imperia tribue-runt, perpetuis maximorum operum actionibus occupantur.23

Die Kaiser beweisen also laut Redner einerseits durch ihre Namen, Iouius und Herculius,andererseits noch viel mehr durch ihre Qualitäten (uirtutes), dass sie von den GötternJupiter und Hercules gezeugt worden sind. Dementsprechend können sie als deren Söhnebezeichnet werden. Aus der Annahme der göttlichen Vaterschaft resultiere, dass sie vonGeburt an die Wirkungskräfte ihrer Väter besäßen und somit eben auch deren Qualitäten,die sich in ihren Handlungen zeigten. So teilt sich der Herrscher mit der Gottheit be-stimmte göttliche Attribute, wie zum Beispiel die Unsterblichkeit beziehungsweise Ewig-keit. Die Kaiser werden hier vom Panegyriker den Göttern angeglichen. Wenn die Götterununterbrochen mit Taten von größter Bedeutung beschäftigt sind, so zeichnen sich folg-lich auch die Herrscher durch unermüdliche Tätigkeit aus.

Die Panegyriker bezeichnen die Herrscher aber auch unabhängig von einem Vergleichmit den Göttern als unsterblich.24 Die aeternitas der tetrarchischen Herrschaft sollte außer-dem durch die Nachfolgeregelung gewährleistet sein. Wenn es nämlich immer zwei Caesa-res gäbe, die im direkten Anschluß an die freiwillige Abdankung des Herrscherpaares derAugusti nachfolgten und dann ihrerseits neue Caesares ernannten, wäre die Unsterblichkeitund Ewigkeit dieses Herrschaftssystems garantiert.

22 Vgl. Pan. Lat. IX 8,1: «Credo igitur, tali Caesar Herculius et aui Herculis et Herculi patris instinctu tantostudium litterarum fauore prosequitur». Mit Caesar Herculius ist hier Constantius gemeint, sein Vater istdemnach Maximian und sein Großvater Hercules. Die Panegyrici Latini werden zitiert nach Nixon/SaylorRodgers, In Praise of Later Roman Emperors.

23 Pan. Lat XI 2,3–4 und 3,1–3.24 Vgl. z. B. ebd. VIII 3,2. 13,3; IX 16,4.

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Aus der Tatsache, dass Jupiter als Begründer beziehungsweise Vater uestri generis be-zeichnet wird, lässt sich entnehmen, dass die Iouii und Herculii ein und demselben Ge-schlecht entstammen. Die Herrschaft wurde Diocletian und Maximian von ihren parentesverliehen, womit Jupiter und Hercules gemeint sind, wie aus der anschließenden Darstel-lung offensichtlich wird.25 Das bedeutet, dass Jupiter einerseits der Vater der Iouii und an-dererseits der Urheber des einen Geschlechts ist, das sich sowohl in die Iouii als auch dieHerculii, die Hercules zum Vater haben, aufteilt. Daher wird im Panegyricus X 4,2 auchvon tuus Hercules hingegen aber von Iouis uester gesprochen. Insofern ist in der Herrschafts-konzeption Diocletians alle Macht auf Jupiter zurückzuführen, er ist der auctor deus undder summus pater.26 Die Mitglieder der domus divina haben ihre Herrschaft also von ihm er-halten und herrschen nicht nur Dank seiner Gnade und Gunst, sondern auch weil sie anseiner Göttlichkeit beziehungsweise derjenigen des Hercules teilhaben.

Im Panegyricus X 11,6–7 wird die Handlungsweise des Iouius Diocletian und HerculiusMaximian und deren Verhältnis zueinander in Entsprechung zu Jupiter und Herculesgesetzt. Dabei bezeichnet der Panegyriker die beiden Götter als summi auctores, wobei erJupiter als rector caeli charakterisiert und Hercules als pacator terrarum darstellt.27 Analogdazu wird gesagt: «[…], sic omnibus pulcherrimis rebus, etiam quae aliorum ductu gerun-tur, Diocletianus †facit, tu tribuis effectum.» Leider ist der Satz gerade an der Stelle zer-stört, die hauptsächlich zu seinem sicheren Verständnis beitragen würde. Dennoch lässtsich auch unter Berücksichtigung des Kontextes und mittels der vorgeschlagenen Ergän-zung eine Interpretation wagen.28

Während Diocletian die Taten hervorbringt, verleiht Maximian ihnen Erfolg. Ergo be-ginnt der eine etwas, was der andere zu Ende bringt. Sogar Dinge, die unter Führung an-derer verrichtet wurden, sind letztlich auf Diocletian und Maximian zurückzuführen, abernicht auf Ersteren allein. Denn sie sind doch beide Sohn und Besitzer der Wirkungsmächtejeweils eines der zwei höchsten Urheber aller himmlischen und irdischen Dinge. Jupiterund Hercules stehen gemeinsam über den anderen göttlichen Wesen (diuersa numina). Siearbeiten zusammen und ergänzen sich in ihren Qualitäten und Handlungen. Dasselbe giltlaut Panegyriker auch für Diocletian und Maximian. Indem der Redner anschließend aufMaximians felicitas verweist, liefert er ein erklärendes Moment für dessen Rolle als pacatorterrarum.

Die Vorstellung von zwei summi auctores des Olymps entspricht zwar nicht der traditio-nellen Auffassung der griechisch-römischen Religion, jedoch macht der Anlass dieser Redeeine solche Anschauung verständlich. Warum sollte nämlich in einer Geburtstagsrede ge-rade die untergeordnete Stellung des ‹Geburtstagskindes› hervorgehoben werden, wo es

25 Ebd. XI 3,4–6: «Ille siquidem Diocletiani […] Maximiane, Herculis !tui uir" tus.»26 auctor deus: ebd.; summus pater: IX 15,3.27 Hercules als pacator: vgl. ebd. XI 3,6: «dum inter homines erat terras omnes et nemora pacauit».28 Es sind in der Forschung unterschiedliche Ansichten hinsichtlich dieser Stelle vertreten worden. So inter-

pretieren die einen sie als Beleg für eine Unterordnung Maximians gegenüber Diocletian. Sie sehen nämlichin deren Beinamen ein Indiz dafür, dass das Verhältnis der Herrscher zueinander entsprechend demjenigender Götter zu verstehen ist. Wie z. B. W. Enßlin, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, München1943, 48–50; Fears, Princeps a diis electus; Liebeschuetz, Religion, 392; W. Seston, Dioclétien et la tétrar-chie, Paris 1946, 232 oder F. Taeger, Charisma, Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes, Band 2,Stuttgart 1957–1960, 460. Hingegen ist Kolb, Diocletian, 96 ff. der Überzeugung, dass nirgendwo in denPanegyrici der Ersten Tetrarchie eine Unterordnung Maximians unter Diocletian auftaucht und dass diehier behandelte Textstelle nicht auf eine Subordination Maximians schließen lässt.

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doch Ziel eines solchen Werkes ist, den Laureaten zu lobpreisen und dadurch zu erfreuen?Überdies wird in diesem Panegyricus vor der hier behandelten Textstelle die Eintracht derbeiden Herrscher intensiv thematisiert. Zunächst werden Diocletian und Maximian als fra-tres bezeichnet, die man eigentlich verdientermaßen conditores Roms nennen könnte, da sienämlich restitutores seien, was Gründern sehr nahe käme (1,5). Der Beginn ihrer gemeinsa-men Herrschaft markiert die Anfänge der salus.

Maximian wird anschließend nicht nur mit Hercules verglichen, sondern auch mit Jupi-ter.29 Folglich hat nicht nur Diocletian Zugriff auf dessen Fähigkeiten, Maximian ist eben-falls im Besitz mancher der Qualitäten Jupiters. Denn schließlich sind sie uirtutibus fratres.Das bedeutet: sie sind nicht nur durch Adoption brüderlich miteinander verbunden, son-dern gleichen sich auch in ihrem Charakter so sehr, dass sie ihre Fähigkeiten betreffendBrüder sind: «ambo nunc estis largissimi, ambo fortissimi atque hac ipsa uestri similitudinemagis magisque concordes et, quod omni consanguinitate certius est, uirtutibus fratres.»30

Auf dieser großen Ähnlichkeit basiert ihre Harmonie und Eintracht (concordia), die wie-derum ein ungeteiltes Reich sicherstellt. Die beiden Augusti garantieren demzufolge durchihre Einmütigkeit den Zusammenhalt des Imperiums sowie das Fortbestehen des tetrarchi-schen Systems.31

Aufgrund ihrer doppelten Göttlichkeit vergrößern sie die herrscherliche maiestas.32 Indemdie Herrschaft von zwei numina ausgeht, die sich in ihren Qualitäten entweder gleichen oderergänzen, wird die kaiserliche Erhabenheit gestärkt. Daher sei Maximian auch von Diocetianangefleht worden, den Staat wiederherzustellen: «te, cum ad restituendam rem publicam acognato tibi Diocletiani numine fueris inuocatus, plus tribuisse beneficii quam acceperis.»33

Diocletian war laut Panegyriker auf dessen Hilfe angewiesen. Dadurch, dass Maximian seinTeil der Macht gegeben wurde,34 empfing er keine Wohltaten, sondern gewährte sie.

[…], sed cum ad restituendam eam post priorum temporum labem diuinum modo ac ne idquidem unicum sufficeret auxilium, praecipitanti Romano nomini iuxta principem subiuistieadem scilicet auxilii opportunitate qua tuus Hercules Iouem uestrum quondam Terrigenarumbello laborantem magna uictoriae parte iuuit probauitque se non magis a dis accepisse caelumquam eisdem reddidisse.35

Die Unterstützung eines einzigen göttlichen Wesens habe nicht ausgereicht, um das Ge-meinwohl zu kurieren und so sei Maximian an der Seite des Princeps Diocletian dem römi-schen Namen zu Hilfe gekommen, als dieser dabei gewesen sei, ins Verderben zu stürzen.Der Panegyriker vergleicht daraufhin Maximians Hilfeleistung mit derjenigen des Herculesgegenüber Jupiter, als dieser sich mit den Giganten im Krieg abgemüht habe. Auf dieseWeise stellt er Maximian mit einem Hercules auf die gleiche Stufe, der zu einem großen Teilzum Sieg beigetragen und damit bewiesen habe, dass er den Himmel nicht eben von denGöttern erhalten, sondern ihnen diesen vielmehr zurückgegeben habe.

29 Vergleiche mit Jupiter: Pan. Lat. X 2,4–5: «An quemadmodum educatus […] uera sunt, imperator.»; 6, 4:«Bona uenia deum […] sumpto thorace mutasti».

30 Ebd. 9,3.31 Ebd. 11,2: «utilitatem imperii singularis consentiendo retinetis.»32 Ebd.: «quamuis maiestatem regiam geminato numine augeatis».33 Ebd. 3,1.34 Ebd. 3,3: «impartito tibi imperio».35 Ebd. 4,2.

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Es ist in diesem Panegyricus wohl nicht die Rede von einem Rangunterschied der beidenAugusti hinsichtlich ihrer staatsrechtlichen Stellung.36 Der Panegyriker differenziert zwarzwischen ihnen, wenn er sagt: «[…], tu fecisti fortiter, ille sapienter» (4,1), dabei urteilt eraber nicht über den Wert, sondern über die Art ihrer jeweiligen Handlungsweise. Es wirdsogar erwähnt, dass Diocletian Maximian imitiere.37 Wollte der Redner jedoch eine quali-tative Unterlegenheit Maximians zum Ausdruck bringen, würde er wohl kaum von einerNachahmung desselben seitens Diocletian sprechen. Überdies wird ausdrücklich hervorge-hoben, dass es keinerlei Unterschied zwischen ihnen gebe und dass sie wie die Dioskuren,ihrem Rang nach völlig gleich, das römische Reich regierten.38

In den Panegyrici Latini der Ersten Tetrarchie lag der Schwerpunkt der Sakralisierung derHerrscher darin, diese und ihre Fähigkeiten in Analogie zu den Göttern darzustellen sowiedie irdische Welt mit der himmlischen zu vergleichen: «[…] etiam illa Iouis et Herculiscognata maiestas in Iouio Herculioque principibus totius mundi caelestiumque rerum simi-litudinem requirebat.»39 Die Herrscher Iouius und Herculius stehen nach Ansicht des Pan-egyrikers als Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern. In ihnen spiegeln sichJupiter und Hercules, sie sind sozusagen ein Abbild dieser beiden Gottheiten. Durch ihreHerrschaft kann die irdische Welt der himmlischen gleichkommen. Iouius und Herculiussetzen als Stellvertreter der Götter auf Erden, die gewissermaßen durch sie regieren, derenFähigkeiten zum Wohl aller ein.

Der Redner von Panegyricus VIII 4,2–4 zieht eine Parallele zwischen den vier Herr-schern und den Dingen, die jeweils vierfach im Universum enthalten sind, wie z. B. denElementen oder Jahreszeiten. Dadurch macht er jene zu einem festen Bestandteil der ewi-gen Ordnung der Natur und lässt sie den gesamten Kosmos beherrschen. Ihr Herrschafts-bereich ist nämlich nicht durch irdische Grenzen eingeschränkt.40

Im Panegyricus IX 18,5 hebt der Redner hervor, dass das goldene Zeitalter nun unter denewigen Auspizien von Jupiter und Hercules wiedergeboren sei: «Adeo, ut res est, aurea illasaecula, […], nunc aeternis auspiciis Iouis et Herculis renascuntur.» Unter der Herrschaftder Iouii und Herculii, in denen sich der göttliche Wille stets manifestiert, ist ein neuesaureum saeculum angebrochen. Die Sicherheit der ganzen Welt ist wiederhergestellt und dieMenschen haben himmlische Wohltaten empfangen.41 Die Macht sakralisiert die Herrscher,die immer wieder beweisen, dass sie die Wirkungskräfte ihrer Götterväter besitzen, also anderen Göttlichkeit teilhaben.

Im Zusammenhang mit der Schilderung des aduentus von Diokletian und Maximianin Mailand im Jahr 290 n. Chr. beschreibt der Panegyriker XI 10, 5 die außerordentliche

36 Vgl. Pan. Lat. XI 14,4: Quid enim mirum si, cum possit hic mundus Iouis esse plenus, possit et Herculis?»Auch diese Stelle legt eine Gleichheit von Iouius und Herculius nahe.

37 Vgl. ebd. 7,7: «sed inuicem uosmet imitamini,» wo von einer gegenseitigen Nachahmung seitens der Herr-scher gesprochen wird.

38 Ebd. X 9,4: «neque ullum inter uos discrimen esse patiamini, sed plane ut gemini illi reges LacedaemonesHeraclidae rem publicam pari sorte teneatis.»

39 Ebd.VIII 4,1; vgl. auch X 10,2: «non inuenire me ex omni antiquitate quod comparem uobis, nisi Herculeaegentis exemplum.»

40 Vgl. ebd. X 10,1: «Vos uero, qui imperium non terrae sed caeli regionibus terminatis».41 Ebd. X 14,4: «cum uos totius orbis securitate composita»; 14,5: «Vides, imperator, quanta uis sit tuorum in

nos caelestium beneficiorum:»

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Reaktion auf die Ankunft der Herrscher. Altäre seien angezündet, Weihrauch aufgestellt,Wein als Trankopfer gespendet, Opfertiere geschlachtet worden und alles sei von Freudeentbrannt gewesen. Jeder habe unter Applaus im Dreischritt getanzt und den unsterblichenGöttern sei Lob und Dank gesungen worden. Im Anschluß wird die Erklärung für solcheine unermeßlicher Freude der Menschen geliefert: «non opinione traditus sed conspicuuset praesens Iuppiter cominus inuocari, non aduena sed imperator Hercules adorari.» Dio-cletian werde nämlich nicht als jemand, von dem aufgrund von Einbildung berichtet wor-den sei, sondern als sichtbarer und persönlich anwesender Jupiter angerufen sowie Maxi-mian nicht als Fremdling, sondern als der Herrscher Hercules verehrt. Folglich werden sieals praesentes dei dargestellt. Als anwesenden Göttern kommt ihnen laut Panegyriker mit-hin eine göttliche Behandlung zu. Daher führen die Untertanen rituelle Handlungen für sieaus. Die Freude der Menschen ist besonders dadurch so groß, dass die Herrscher verfügbarsind. Aufgrund ihrer Präsenz können sie direkt Einfluss auf die menschlichen Geschickenehmen und diesen hilfreich zur Seite stehen.

Dass den unsterblichen Göttern Dank ausgesprochen wird, verdeutlicht jedoch eine gra-duelle Abstufung zwischen diesen und den praesentes dei, es wird eine Unterordnungsuggeriert. Die beiden Herrscher verdanken ihre Position den unsterblichen Göttern. MitJupiters Wahl des Diocletian zum Herrscher und dessen Ernennung des Maximian zumMitregenten wurde deren göttliches Wesen offenkundig, das ihnen schon von Geburt aneigen war. Eine Epiphanie vollzog sich. Die Vergleiche, welche die Panegyriker zwischeneinerseits Iouius und Herculius, andererseits Jupiter und Hercules anstellten, bedeuten in-folgedessen keine Gleichstellung, was auch die Cognomina verdeutlichen. Erst die Wir-kungskräfte und der Beistand ihrer Schutzgötter versetzen die Herrscher in die Lage, ihrenUntertanen zu helfen.

Weitere wichtige Aspekte der Sakralisierung der Herrscher in den Panegyrici Latinider Ersten Tetrarchie sind deren pietas und felicitas. Darüber wird im Panegyricus XI 18,5sehr ausführlich gesprochen. Der Redner formuliert den Zusammenhang der beiden fol-gendermaßen: «felicitatem istam, optimi imperatores, pietate meruistis!» Die felicitas resul-tiere folglich als Verdienst aus der pietas. Er geht davon aus, dass die Herrscher mit diesenbeiden, im Gegensatz zu allen anderen Qualitäten, schon von Geburt an versehen wordenseien.42 Auf ihre piae mentes und imperatoriae fortunae seien der Beginn ihrer sanctitas undjeglicher Erfolg zurückzuführen, weil gute und freundliche Sterne gesehen hätten, dass siezur Unterstützung des Menschengeschlechts geboren würden: «Gemini ergo natales piasuobis mentes et imperatorias tribuere fortunas, atque inde sanctitatis uestrae omniumquesuccessuum manat exordium quod nascentes uos ad opes generis humani bona sidera etamica uiderunt.»43

Somit hängen pietas und felicitas der Herrscher also auch direkt mit dem Wohl der Men-schen zusammen. Die pietas zeigt sich einerseits gegenüber den Göttern, andererseits imUmgang der Herrscher miteinander. Die pietas erga deos besteht laut Panegyriker darin,dass die Götter durch Altäre, Statuen, Tempel sowie Weihgeschenke geehrt werden. Da dieVerehrung von den Herrschern ausgehe, würden die Götter noch verehrungswürdiger, und

42 Ebd. XI 19,2–3: «Etenim ceterae uirtutes et bona cetera processu aetatis eueniunt: […]. Solae cum nascen-tibus pariter oriuntur pietas atque felicitas; naturalia sunt enim animorum bona et praemia fatorum.»

43 Ebd. 19,3.

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die Menschen verstünden erst jetzt wirklich, welche Macht die Götter besäßen, seitdem siein solchem Ausmaß von Diocletian und Maximian verehrt würden.44

Die pietas, mit der sie einander ehren, wird eingehender behandelt. Einleitend fragtder Redner im Panegyricus XI 6,3: «Quae enim umquam uidere saecula talem in summapotestate concordiam?» Damit möchte er die hervorragende Eintracht der Herrscher be-tonen. Aus dieser zeige sich schließlich deutlich, dass die Seelen der übrigen Menschen erd-gebunden und vergänglich, die ihren aber himmlisch und unvergänglich seien.45 Weiterfolgert er: «Ita duplices uobis diuinae potentiae fructus pietas uestra largitur: et suo uterquefruitur et consortis imperio.» (6,7) Deshalb kommen die Herrscher aufgrund ihrer concor-dia, die auf ihrer jeweiligen pietas basiert, in den doppelten Genuss göttlicher Macht.

Die auxilia deorum haben sie folglich ihrer pietas zu verdanken. Die Götter sorgen dafür,dass den Kaisern alles gelingt. In diesem Zusammenhang steht die Sieghaftigkeit der Herr-scher. Die unsterblichen Götter sind sozusagen ihre Garanten des Sieges: «Enimuero, Cae-sar inuicte, tanto deorum immortalium tibi est addicta consensu omnium quidem quosadortus fueris hostium […].»46 Aufgrund ihrer Hilfe sind die Herrscher inuicti, die sichdurch Tapferkeit sowie militärische Leistungen auszeichnen,47 sie siegen allein durch ihrefelicitas.48 Eine weitere Folge der kaiserlichen felicitas ist die felicitas temporum. So wie dieGötter sich um die felicitas der Herrscher kümmern, sorgen diese dann mit Hilfe derselbenfür das aureum saeculum. Aufgrund ihrer pietas erwerben die Herrscher für sich einen An-spruch auf felicitas, welche ihnen verdientermaßen durch die Hilfe ihrer Schutzgötter ga-rantiert wird. Dadurch sind sie in der Lage, für das Wohlergehen der Menschen zu sorgen,indem sie ihr Glück auf alle anderen übertragen.

Auch in den Panegyrici Latini VII, VI und V, die in der Zeit der Zweiten Tetrarchie ent-standen sind, lassen sich die hier festgelegten drei Bestandteile der kaiserlich-göttlichenBeziehung wiederfinden. Die Reden sind alle an Constantin gerichtet, unterscheiden sichjedoch hinsichtlich ihres historischen Kontextes sehr. Das trifft besonders für die DarstellungMaximians zu. Während dieser in dem an ihn und an Constantin gerichteten Panegyri-cus VII aus dem Jahr 307 n. Chr. sehr positiv präsentiert wurde, hatte sich die Situation imJahre 310 n. Chr. deutlich geändert.49 Im Panegyricus VII, der anlässlich der HochzeitConstantins mit Fausta und der Verleihung des Augustus-Titels an ihn gehalten wurde, istdie concordia der vorherrschende Aspekt des Verhältnisses von Constantin und Maximian.

Bei der Konferenz in Carnuntum im Jahre 308 n. Chr. war Maximian ein zweites Mal vonDiocletian dazu gebracht worden, auf die Herrschaft zu verzichten. Dies machte er jedoch310 wieder rückgängig, indem er sich erneut zum Kaiser erheben ließ. Daraufhin begab sichConstantin, in dessen Herrschaftsbereich Maximian sich aufhielt, mit seinem Heer nachArles und zwang diesen zu kapitulieren. Panegyricus VI entstand wohl kurz nach Maximi-

44 Ebd. 6,1–2: «Nam primum omnium, […] simulacris templis donariis, […] ornastis, sanctioresque fecis-tis […] colantur a uobis.»

45 Ebd. 6,3: «Ex quo profecto […] caelestes et sempiternas.»46 Ebd. VIII 17,1.47 Vgl. ebd. X 7,6: «tu autem, imperator inuicte, […] debere quod uindicas.»; 9,3: «Sed neque illum […] bel-

lica uirtute reuocarunt»; VIII 1,4: «cum tot postea […] undique barbarae nationes»; IX 20,2: «et cotidiespectet […] aut terrore deuinciunt.»

48 Ebd. XI 18, 1: «felicitate uincitis sola»49 Zum Folgenden vgl. K. Piepenbrink, Konstantin der Große und seine Zeit, Darmstadt 2002, 31 f.

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ans Tod50 und ist von einem sehr negativen Bild desselben geprägt. Nach seinem ‹Selbst-mord› ließ Constantin ihn zum Staatsfeind erklären und die damnatio memoriae über ihnverhängen.51

In den Panegyrici Latini der Zweiten Tetrachie wird der Aspekt der Erwählung des Herr-schers durch die Götter mit dem dynastischen Prinzip in Verbindung gebracht, denn diesestrat an die Stelle des tetrarchischen Ideals von der Adoption der Besten und Verdientesten.Schon im Panegyricus VII, der hinsichtlich des Vokabulars und der Vorstellungen amehesten mit dem tetrarchischen System übereinstimmt, wird vom Redner eine zukünftigeneue Dynastie angepriesen, die durch Constantins Heirat mit Maximians Tochter Faustabegründet worden sei:

Maximas itaque uobis, aeterni principes, publico nomine gratias agimus, quod suscipiendisliberis optandisque nepotibus seriem uestri generis prorogando omnibus in futurum saeculisprouidetis, ut Romana res olim diuersis regentium moribus fatisque iactata tandem perpetuisdomus uestrae radicibus conualescat, tamque sit immortale illius imperium quam sempiternasuboles imperatorum.52

Im Gegensatz zu früher, als es um die römische Sache noch schlecht gestanden habe, weildie Regenten hinsichtlich ihres Charakters oder Schicksals völlig verschieden gewesenseien, sorgten die beiden Principes jetzt dafür, dass der römische Staat basierend auf derneuen Familie und deren Nachkommen erstarke. Indem sie eine neue Dynastie gegründethätten, sollte der Erhalt des Imperiums so unsterblich sein, wie die Nachkommenschaft derHerrscher immer während sei. Der Panegyriker verspricht sozusagen das Bestehen desRömischen Reiches, indem er sich auf eine erbliche Nachfolge stützt.

Damit scheint er eine konträre Position zu den Panegyrikern der Ersten Tetrarchie einzu-nehmen, welche die natürliche Familie der Herrscher für gewöhnlich außer Acht ließen, sowie es der Herrschaftskonzeption Diocletians entsprach. In Paragraph 5,3 spielt der Rednerzwar ebenfalls auf einen erblichen Herrschaftsanspruch an, indem er erwähnt, dass Cons-tantius seinem Sohn das imperium zurückgelassen habe. Allerdings wird dieser Anspruchdem tetrarchischen System ausdrücklich untergeordnet: «Siquidem ipsum imperium hocfore pulchrius iudicabas, si id non hereditarium ex successione creuisses, sed uirtutibus tuisdebitum a summo imperatore meruisses.» Es sei schöner die Herrschaft aufgrund seiner uir-tutes als Belohnung von dem summus imperator verliehen zu bekommen. Dies verdeutlicht,dass der Panegyricus VII tatsächlich nicht unerheblich mit den Prinzipien der Ersten Tetrar-chie übereinstimmt und somit nur scheinbar eine gegensätzliche Ansicht von dem Rednervertreten wird. Dieser musste schließlich auch dem Anlass der Rede gerecht werden, wes-halb er die Nachkommenschaft aus einer solchen glücklichen Verbindung anpries.

Das religiöse Programm der Tetrarchie zeigt sich sehr deutlich, wenn davon gesprochenwird, dass die Herrscher das Fortbestehen des Staates nicht durch einen plebejischenSprössling, sondern durch kaiserliche Abkunft verlängert hätten, so dass die Zügel des ge-meinsamen Wohlergehens nicht durch neue Familien übergeben worden seien und somit inallen Zeiten fortdauern würden. Dann wird noch angefügt: «imperatores semper Hercu-

50 Siehe dazu Nixon/Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors, 212.51 M. J. Maurice, Les discours des Panegyrici Latini et l’évolution religieuse sous le règne de Constantin,

CRAI, 1909, 168.52 Pan. Lat. VII 2,2.

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lii.»53 Hercules wird hier also als Schutzgott der neuen Dynastie gepriesen.54 Solange dieHerrschaft bei den Herculii bleibt, ist die salus für alle Zeiten gewährleistet.

Ein weiterer Bezug zu Hercules wird in Paragraph 8,2 hergestellt. Der Redner legt Cons-tantin dar, wie sehr ihn die Verwandtschaft mit Maximian schmücke. Denn dieser habe ihmden Namen gegeben, den er von dem Gott, dem Ersten seiner Familie, empfangen habe. Erhabe bewiesen, dass er ein progenies Herculis sei und zwar nicht durch fabelhafte Schmeiche-leien, sondern indem er ihm an uirtutes gleich gekommen sei.55 Implizit scheint hier die Auf-forderung an Constantin mitzuschwingen, sich ebenfalls als würdiger Abkömmling desHercules zu zeigen. Ferner beruft sich der Panegyriker auf tetrarchische Ideale, wenn er for-muliert, dass diese Heirat die salus sicherstelle, indem sie zu der pristina concordia und derperpetua pietas der beiden Herrscher hinzukomme.56 Desweiteren geht der Redner auf dieAufgabenteilung der beiden Herrscher ein (14,1). Dabei wird Maximian als derjenige präsen-tiert, der die Entscheidungen trifft, Constantin dagegen als derjenige, der diese umsetzt.Hier scheint der Panegyriker seinem Vorgänger aus dem Jahre 289 n. Chr. gefolgt zu sein,der das Verhältnis des Iouius Diocletian und des Herculius Maximian beschrieben hatte. DieVerwendung einer solchen Vorlage zeigt erneut, wie sehr dieser Panegyricus noch von te-trarchischen Vorstellungen geprägt war. Eine dieser Vorstellungen bestand darin, die Ab-dankung Maximians mit der pietas fraterna von ihm und Diocletian zu erklären.

Der Redner erwähnt einen einst gefassten Plan und brüderliches Pflichtgefühl als Gründefür einen freiwilligen Rücktritt aus dem Herrscheramt. Aus Loyalität zu seinem lebenslan-gen Partner sei Maximian Diocletian gefolgt.57 Jedoch habe sich herausgestellt, dass derStaat gestützt auf ihn Bestand gehabt habe, ohne ihn und jene continua felicitas der letztenzwanzig Jahre allerdings nicht bestehen könne.58 Daher habe Roma selbst ihm befohlen,die Herrschaft wieder aufzunehmen: «Imperasti pridem rogatus a fratre, rursus impera ius-sus a matre.»59 Der Redner macht anschließend darauf aufmerksam, dass Jupiter Maximiandie Herrschaft nicht geliehen habe, sondern sie ihm für immer übergeben habe und folglichnicht zurücknehme (12,6). Daraufhin wird mittels Lichtmetaphorik die Rettung des Staatesangekündigt, die Maximians Wiederaufnahme der Herrschaft mit sich bringen werde: «Sta-tim igitur ut praecipitantem [ut] rem publicam refrenasti et gubernacula fluitantia recepisti,omnibus spes salutis inluxit» (12,7). Demzufolge wird hier Maximians pietas gegenüberDiocletian derjenigen erga Iouem untergeordnet, weil in diesem Fall laut der implizitenAussage des Panegyrikers zwar die pietas gegenüber Jupiter, aber nicht gegenüber Diocle-tian das Wohlergehen aller garantierte.60 Überdies belegt diese Textstelle Maximians Er-wählung durch Jupiter.

53 Ebd. 2,5: «Qui non plebeio germine sed imperatoria stirpe rem publicam propagatis ut, […], ne mutatoriaper nouas familias communis salutis gubernacula traderentur, id ex omnibus duret aetatibus».

54 Wie bereits erwähnt, war Hercules der Schutzgott Maximians. Constantius, der Vater Constantins, wurdevon dem Herculius Maximian adoptiert und somit selber zu einem Herculius. Folglich wendete sich derRedner von Panegyricus VII ausschließlich an Mitglieder des Zweiges der Herculier.

55 Pan. Lat. VII 8,2: «Hic est qui […] aequatis uirtutibus comprobauit.»56 Ebd. VII 1,4: «Quid rebus humanis […] filiam conlocauerit imperator?»57 Pan. Lat. VII 9,2: «sed consilii olim, […] nouae laudi cederes.»58 Ebd. 10,1: «ut illa uiginti […] stare non posset.»59 Ebd. 11,4.60 Der Redner musste wohl in Kauf nehmen, dass die pietas Maximians seinem ehemaligen Mitregenten ge-

genüber als hinderlich für das Allgemeinwohl erschien, wenn er nicht wollte, dass die Zuhörerschaft beiMaximians Wiederaufnahme der Herrschaft an eine Usurpation dachte.

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In den Panegyrici Latini VI und V wird in Bezug auf Constantins Machtübernahmeebenfalls von einer göttlichen Wahl gesprochen. So schildert der Redner aus dem Jahre310 n. Chr. Constantius’ Aufnahme in die Versammlung der Himmlischen, wo Jupiterselbst ihm die Hand gereicht habe und ihn dann sofort nach seiner Meinung gefragt habe,wem er die Herrschaft zuerkenne. Daraufhin habe dieser seinen Sohn Constantin ausge-wählt. Dieser Meinung seien alle Götter schon seit langer Zeit gewesen, hätten sie aber erstin voller Versammlung bestätigt.61 Demzufolge wurde Constantin also einstimmig von denGöttern zur Herrschaft auserkoren, allerdings setzten sie die Wahl erst dann fest, als dieVersammlung durch den gerade vergöttlichten Constantius vollständig war.62 Jedoch be-stand dieser consensus omnium deorum über die Erwählung Constantins ebenso wie der dy-nastische Aspekt bereits von dessen Geburt an.

In Kapitel 2 des Panegyricus VI geht der Redner ausführlich auf Constantins Abstam-mung ein. So berichtet er zunächst «a primo […] originis tuae numine» (2,1). Die erste Gott-heit in Constantins Familie sei der Divus Claudius gewesen, mit welchem eine Verbindungdurch Blutsverwandtschaft bestanden habe.63 Nachdem dessen Verdienste für das römischeReich gelobt wurden, wird betont, dass er ein deorum comes sei. Dann fügt der Redneran: «[…], iam tamen ab illo generis auctore in te imperii fortuna descendit» (2,3) Schonvon jenem Ahnherrn seines Geschlechtes sei das günstige Los zur Herrschaft auf ihn her-abgekommen und nicht erst am offiziellen Herrschaftsantritt, als ihm erstmals die Insignienangelegt worden seien.

Als zweite Person in der dynastischen Linie wird Constantins Vater Constantius ins Feldgeführt, der ebenfalls vergöttlicht worden war. Demnach war Constantin «post duos fami-liae tuae principes tertius imperator»64. Und er war nicht nur Nachfolger zweier Kaiser,sondern auch zweier Divi. Daraus schließt der Panegyriker Folgendes: «Inter omnes, in-quam, participes maiestatis tuae hoc habes, Constantine, praecipuum, quod imperator es!natus", tantaque est nobilitas originis tuae ut nihil tibi addiderit honoris imperium necpossit Fortuna numini tuo imputare quod tuum est» (2,5). Unter allen Teilhabern an seinerkaiserlichen Würde habe Constantin diesen Vorzug, als Herrscher geboren worden undvon so hoher adeliger Herkunft zu sein, dass ihm die Herrschaftsübernahme nichts an Ehrehinzugefügt habe und Fortuna sich seiner göttlichen Schickung gegenüber nicht das als Ver-dienst anrechnen könne, was sein eigen sei.

Hier wird Constantins Vorrangstellung innerhalb der Tetrarchie betont, die er aufgrundseiner kaiserlichen Geburt habe. Schon in Paragraph 1,4 hatte der Redner zwar das tetrar-chische Ideal von einer einigen und einander verbundenen maiestas aller Herrscher gewür-digt, aber dennoch angekündigt, sich nur Constantins Hoheit zu widmen.65 Laut Panegy-

61 Pan. Lat. VI 7,3–4: «Vere enim profecto […] sit firmata consilio?»62 Vgl. dazu Müller-Rettig, Der Panegyricus des Jahres 310, 126.63 Pan. Lat. VI 2,2: «Ab illo enim diuo Claudio manat in te auita cognatio» dies wird auch in V 2,5 bestätigt:

«diuum Claudium parentem tuum».64 Vgl. ebd. VI 2,4.65 Ebd. 1,4: «cum omnes uos, inuictissimi principes, quorum concors est et socia maiestas, debita ueneratione

suspiciam, hunc tamen quantulumcumque tuo modo, Constantine, numini dicabo sermonem.» Siehe auch8, 2, wo ebenfalls die Einhaltung formaler Aspekte der tetrarchischen Herrschaftsauffassung demonstriertwird, indem Constantin bei den rangälteren Herrschern nach deren Entscheidung hinsichtlich der Leitungdes Staates gefragt hatte: «quamquam tu ad […] fieri placeret rettulisses» und 15,4 ff., wo die tetrarchischeNachfolgeregelung Diocletians angepriesen wird.

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riker ist dessen Herkunft so bedeutend, dass die Übernahme der Herrschaft – und damitdie offizielle Anerkennung verbunden mit der Verleihung des Caesar- bzw. Augustustitels –keinerlei Steigerung hinsichtlich seiner Ehre erfahren hat. Aufgrund von Constantins kai-serlicher Abstammung ist ihm gegenüber seinen Mitregenten eine erhöhte Position sicher,denn das Recht der Geburt ist dem einer willkürlichen Wahl überlegen, die auf einer fortuitahominum consensio basiert.66 «Quod quidem mihi deorum immortalium munus et primumuidetur et maximum, in lucem statim uenire felicem et ea quae alii uix totius uitae laboribusconsequuntur iam domi parta suscipere» (3,2). Die Herrschaft schon in die Wiege gelegt zubekommen, ohne sich erst ein Leben lang darum bemühen zu müssen, wird als erstes undgrößtes Geschenk der Götter bezeichnet. An dieser Stelle bescheinigt der Redner Constan-tin sozusagen von Geburt an felicitas, indem er die Götter für seinen glücklichen Zustandverantwortlich macht und somit beweist, dass sie ihm gewogen sein müssen.

Weil die Götter wussten, dass er in der Lage sein würde, den Staat zu heilen67 und fürfelicitas und salus der Menschen zu sorgen, haben sie ihn zur Herrschaft erwählt und vomHimmel als Imperator auf die Erde gesendet.68 Daher ist die recusatio imperii für Constan-tin auch keine Möglichkeit. Seine maiestas ist «Iouis sublata nutu», kann also nicht abge-lehnt werden. Zudem wurde sie den Schwingen der Göttin Victoria anvertraut, was Cons-tantin Sieghaftigkeit für die Zukunft garantierte.69

Nach den Ereignissen des Jahres 310 n. Chr. konnte Constantin seine Herrschaft nichtmehr von Hercules herleiten, weil er die Verbindung zum Familienzweig der Herculiiaufgrund der Auseinandersetzungen mit Maximian auflösen musste.70 Daraufhin wurde imPanegyricus VI von einer Vision Constantins berichtet, die sehr deutlich machte, dassApollon sein neuer Schutzgott war. Der Redner legte nämlich dar, dass Constantin, umseine Gelübde einzulösen, einen Tempel des Apollon aufgesucht habe. Dort habe er Apol-lon gesehen, der ihm in Begleitung der Victoria Lorbeerkränze dargereicht habe: «Vidistienim, credo, Constantine, Apollinem tuum comitante Victoria coronas tibi laureas offeren-tem» (21,3–4). Constantin sind folglich zwei Götter erschienen, die ihm mittels der Lor-beerkränze Sieghaftigkeit und Erfolg auf Dauer in Aussicht stellten. Die Verwendung desPossessivpronomens «tuus» lässt auf eine besondere Verbindung zwischen Constantin undApollon schließen und sagt aus, dass Constantin diesen als seinen persönlichen Schutzgotterachtet haben muss. Auf diese besondere Verbindung wird im Anschluss noch genauereingegangen:

uidisti teque in illius specie recognouisti, cui totius mundi regna deberi uatum carmina diuinacecinerunt. Quod ego nunc demum arbitror contigisse, cum tu sis, ut ille, iuuenis et laetus etsalutifer et pulcherrimus, imperator. […] Di immortales, quando illum dabitis diem, quopraesentissimus hic deus omni pace composita illos quoque Apollinis lucos et sacras aedes et an-hela fontium ora circumeat? […] Miraberis profecto illam quoque numinis tui sedem […].71

66 Ebd. 3,1: «Non fortuita hominum […] imperium nascendo meruisti.»67 Vgl. ebd. V 11,5: «O diuinam, imperator, tuam in sananda ciuitate medicinam!»68 Ebd. VI 9,5: «Sacratiora sunt profecto […] ubi terra fintur.»69 Ebd. 8,5: «illa, inquam, illa […] caelo missa perueniunt?»70 Vgl. Turcan, Images solaires dans le Panégyrique VI, 698. Er spricht von Constantin als dem «vainqueur de

la subversion herculienne».71 Pan. Lat. VI 21,5–22,1.

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Sie bestehe hauptsächlich in einer äußeren Gleichartigkeit, weshalb sich Constantin in des-sen Gestalt wiedererkannt habe, denn er sei ebenso wie Apollon ein junger Mann, froh undsehr schön.72 Eine weitere Übereinstimmung zwischen den beiden sei in ihrem Wesen alsHeilbringer vorhanden, worauf in der Rede Bezug genommen wird, wenn der Panegyrikerseine Erwartungen hinsichtlich der liberalitas und pietas Constantins gegenüber seiner Hei-matstadt Augustodunum formuliert (22,3–7). Nach den göttlich inspirierten Gesängen derDichter zu urteilen, sei Apollon derjenige, dem die Herrschaft über die ganze Welt zustehe.Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen Constantin und dem Gott geht der Panegyriker davonaus, dass sich diese Prophezeiung der Weltherrschaft erst jetzt bewahrheitet habe. Mit demVerweis auf Vergils vierte Ekloge,73 in der ein junger Apollon angekündigt wird, der alsKosmokrator ein neues Goldenes Zeitalter herbeiführen soll, spielt er auf Constantin an.Demnach ist nicht Augustus, sondern erst Constantin derjenige, der die Erfüllung dieserWeissagung realisierte. Bereits Augustus hatte nämlich Apollon als seinen persönlichenSchutzgott propagiert, der ihm in der Schlacht bei Actium zum Sieg über Antonius verhol-fen habe und dessen besonderer Fürsorge er sich sicher sein durfte.74 Constantin repräsen-tierte Apollon, er war sozusagen die Verkörperung dieses Gottes und besaß dessen Wir-kungskraft. Diese Vorstellung entsprach der panegyrischen Tradition und lehnte sich an dietheokratische Herrschaftsauffassung der Tetrarchie an. So konnte der Redner Constantinauch als «praesentissimus hic deus» bezeichnen, weil das Auditorium unmittelbar die An-wesenheit eines Gottes zu spüren bekam, dadurch, dass Apollons numen in der PersonConstantins enthalten war. Man sah den Kaiser als sichtbaren Garanten für das neue au-reum saeculum an, was seine bisherigen Wohltaten für den Ort der Rede bewiesen.

Selbst in den vier Panegyrici Latini, die nach Constantins Sieg über Maxentius an der Mil-vischen Brücke im Jahr 312 n. Chr. verfasst wurden, fand noch eine Sakralisierung derHerrscher statt, die sich von der tetrarchischen Tradition herleitete. Panegyricus XII ent-stand im Jahr 313, also kurz nach diesem bedeutenden Ereignis, das Constantin den Chris-tengott als seinen Helfer anerkennen ließ und somit eine Entwicklung einleitete, welche dierömische Staatsreligion allmählich durch das Christentum ersetzte.75 Allerdings war sichConstantin bewusst, dass er über ein großes heidnisches Reich herrschte und folglich einenKompromiss finden musste. Das Versprechen der Religionsfreiheit, welches er bei derKonferenz in Mailand gegeben hatte, löste er ein76 und die traditionellen öffentlichen Ritenin Rom wurden beibehalten. Erst nach seinem Sieg über Licinius im Jahr 324 sprach Cons-tantin offen über seine Hinwendung zum Christentum.77

72 Vgl. ebd. 17, 2 f.: Hier kommt das griechische Bildungsideal der Kalokagathie Constantins zur Sprache, wo-bei er mit Alexander dem Großen und Achilleus verglichen wird. Aus der Vorstellung der körperlichen undgeistigen Vollkommenheit resultierte für den Panegyriker, dass sich anhand von Constantins Schönheit aufseinen himmlischen Geist schließen lasse.

73 Verg. Ecl. IV 4 ff.74 Siehe dazu auch J. Bleicken, Augustus. Eine Biographie, Berlin 19982, 297 f.; Kolb, Herrscherideologie, 64

erwähnt, dass Constantin «mit seinem Selbstverständnis als Epiphanie des jugendlich schönen Apollon aufdas Vorbild Augustus’» zurückgriff, «dessen Porträt er in jenen Jahren imitierte.»

75 Siehe dazu J. Straub, Konstantins christliches Sendungsbewusstsein, in: H. Berve (Hrsg.), Das neue Bildder Antike, Bd. II: Rom, Leipzig 1942, 393. Er vertritt die Ansicht, dass «das Christentum nicht nur dieendgültige Gleichstellung mit den heidnischen Kulten, sondern die bevorzugte Förderung und damit denAufstieg zur ausschließlichen Geltung» Constantin zu verdanken habe.

76 Vgl. ders. 390; Maurice, Les discours des Panegyrici Latini, 174.77 Siehe Kolb, Herrscherideologie, 67.

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Nazarius schrieb seinen Panegyricus IV im Jahr 321 zur Quinquennalienfeier von Cons-tantins Söhnen Crispus und Constantius, die im Jahr 317 zu Caesares ernannt worden wa-ren. Allerdings steht Constantin trotz des Anlasses im Mittelpunkt der Rede, und was dieDarstellung seiner Unternehmungen angeht, unterscheidet sich dieser Panegyricus kaumvon dem vorangegangenen Panegyricus XII.78 Die gratiarum actio des Claudius Mamerti-nus für das Konsulat aus dem Jahr 362 war an den heidnischen Kaiser Julian Apostata ge-richtet. Wie der Name schon sagt, zeigte sich dieser im Bezug auf den christlichen Glaubenals ein Abtrünniger. Er erließ das Restitutionsedikt, in welchem befohlen wurde, dass mandie Tempel wiedereröffnete, den heidnischen Kult wiederbelebte und das seit Constantineingezogene Tempelgut rückerstattete.79

Der im Jahr 389 von Pacatus anlässlich Theodosius’ Sieg über den Usurpator Maximusim Jahr 388 gehaltene Panegyricus II entstand dagegen in einer Zeit, als der GlaubenszwangStaatsgesetz geworden war. Im Jahr 380 hatte nämlich Theodosius den Katholizismus füralle Untertanen zum obligatorischen Glauben erhoben und diese Vorschrift vom zweitenökumenischen Konzil 381 in Konstantinopel bestätigen lassen. Damit begann auch dieUnterdrückung des Heidentums, die unter anderem beinhaltete, dass die Kulte Roms ab-geschafft wurden.80

Diese Entwicklung führte dazu, dass die in jenen Panegyrici verwendete Terminologiehinsichtlich der religiösen Aspekte eher ungenau und abstrakt war. Die Redner bemühtensich um eine möglichst neutrale religionspolitische Stellungnahme. Zwar wurde der Herr-scher noch als diuinus princeps bezeichnet und mit Qualitäten ausgestattet, die mit Attri-buten wie diuinus oder caelestis geschmückt wurden, jedoch handelte es sich dabei wohleher um die übliche Redensart, die zu festen Formeln erstarrt in dem traditionellen Sprach-gebrauch der epideiktischen Beredsamkeit Fuß gefasst hatte.81 So fanden beispielsweiseHercules oder Mars meist nur Erwähnung als mythologische Metaphern.82 Indem sich diePanegyriker zweideutig ausdrückten und nicht auf konkrete religiöse Vorstellungen fest-legten, versuchten sie einen möglichst großen Teil des Auditoriums zufriedenzustellen, daauf diese Weise weder heidnische noch christliche Zuhörer in ihrer Einstellung brüskiertwurden.

Demzufolge sind die Bezeichnungen für die oberste Gottheit in den Panegyrici Latini XII,IV, III und II mannigfaltig und spiegeln eine gewisse Unsicherheit der Redner wieder. Dieswird in dem Panegyricus aus dem Jahr 313 besonders deutlich:

Quamobrem te, summe rerum sator, cuius tot nomina sunt quot gentium linguas esse uoluisti(quem enim te ipse dici uelis, scire non possumus), siue tute quaedam uis mensque diuina es,quae toto infusa mundo omnibus miscearis elementis, et sine ullo extrinsecus accedente uigorisimpulsu per te ipse mouearis, siue aliqua supra omne caelum potestas es quae hoc opus tuum exaltiore Naturae arce despicias: […]. 83

78 Siehe. Nixon/Saylor Rodgers, In Praise of Later Roman Emperors, 338.79 Vgl. H. Gutzwiller, Die Neujahrsrede des Konsuls Claudius Mamertinus, 19.80 Siehe dazu Liebeschuetz, Religion, 398.81 Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 66 und Taeger, Charisma, 654.82 Siehe Béranger, L’expression de la divinité, 251 und. Pan. Lat. IV 16,6. 36,2 (Hercules) sowie ebd. 7,1. 30,4

(Mars).83 Pan. Lat XII 26,1.

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Hier stellt der Redner Überlegungen hinsichtlich der Beschaffenheit und Qualitäten deshöchsten Schöpfers aller Dinge an, wobei es für ihn zwei Möglichkeiten zu geben scheint.Es könnte sich nämlich entweder um eine gewisse Kraft und göttliche Einsicht handeln, dieauf der ganzen Welt verbreitet und mit allen Elementen vereinigt sei und sich ohne jedenEinfluss von außen aus eigenem Antrieb heraus bewege, oder um eine Macht, die über demganzen Himmel throne und ihr Werk von oben herab betrachte. Das bedeutet, dass derPanegyriker einerseits eine immanente Göttlichkeit in Betracht zieht, die allen Dingen in-newohnt und somit allgegenwärtig ist oder andererseits eine transzendente Gottheit vorAugen hat, die sich außer- und oberhalb der menschlichen Welt befindet und aus dieserübernatürlichen Position die Geschicke auf Erden lenkt.84

Hinsichtlich der Namensgebung dieses summus rerum sator ist die Verlegenheit des Red-ners am offensichtlichsten. Diese kommt besonders dadurch zum Ausdruck, dass er sagt,nicht wissen zu können, wie Constantin selbst diesen bezeichnet haben wolle. Nachdem ernämlich unter dem Zeichen des Christengottes, dem Christusmonogramm, gesiegt hatte,kurze Zeit vorher jedoch noch Apollon als seinen persönlichen Schutzgott hatte propagie-ren lassen, war es für die Panegyriker vorerst unmöglich, Constantins religiöse Vorstellun-gen klar zu erkennen.

An anderer Stelle wird gefragt, wer den Kaiser beraten habe, wenn nicht ein diuinum nu-men.85 Als mögliche Antwort gibt der Panegyriker Folgendes vor: «An illa te ratio ducebat(sua enim cuique prudentia deus est)». Hier wird die göttliche Führung mit der eigenenEinsicht des Kaisers gleichgesetzt und angemerkt, dass die eigene Klugheit eines jedenMenschen die Gottheit sei. Auf ähnliche Art und Weise drückt sich der Redner in Para-graph 4,5 aus: «In tam diuersa causarum ratione diuino consilio, imperator, (hoc est,tuo) […] numerasti.» Das diuinum consilium ist folglich ein Constantin eigener Antrieb,aufgrund dessen er seine Entscheidungen trifft. Diesen Antrieb, der an anderer Stelle auchals diuinus instinctus bezeichnet wird,86 besitzt Constantin wegen seines diuinum numen,also weil er über die göttliche Wirkungskraft verfügt. Hier stellt sich erneut heraus, dassConstantin noch der tetrarchische Tradition der Theokratie verhaftet war.

Trotz einiger Ungewissheit werden allerdings auch konkrete Aussagen über die Bezie-hung jener mens diuina zu Constantin gemacht. So wird davon berichtet, dass sie die Sorgeum alle anderen Menschen den niedrigeren Göttern zugeschrieben habe und allein würdigsei, dem Constantin zu erscheinen, mit dem sie irgendein Geheimnis teile.87 Es zeigt sichfolglich eine hierarchische Anordnung des Göttlichen. Überdies stellt der Redner desPanegyricus XII den «deus ille mundi creator et dominus» mit einem Blitzbündel dar undvergleicht ihn mit Constantins numen.88 Ferner wird zwar erwähnt, dass Constantin gegen

84 Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 65 mit Anm. 135. Er äußert, dass an dieser Stelle «die Alternative einesGottesbildes im neuplatonischen und im eher traditionellen Sinne» geboten werde. Straub, Konstantinschristliches Sendungsbewusstsein, 386. Er sagt auch, dass dieser Redner der Neuplatonischen Philosophiesehr nahe gestanden sei, «welche die Existenz der vielen Götter nicht leugnete, sie jedoch in der himm-lischen Hierarchie in aufsteigender Reihe auf den obersten Gott hinordnete, der aller Sinnenwelt entrücktder wirkliche Herr des gesamten Universums war.»

85 Pan. Lat. XII 4,1–2: «dic, quaeso, quid in consilio nisi diuinum numen habuisti?»86 Ebd. 11,4.; IV 17,1.87 Ebd. XII 2,5: «Habes profecto aliquod […] tibi dignatur ostendere.»88 Ebd. 13,2.

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die Warnung der Haruspices gehandelt habe (2,4), implizit wird damit aber auch ausgesagt,dass er diese überhaupt konsultierte.

Zusammen mit der Tatsache, dass die oberste Gottheit mit einem Attribut Jupiters aus-gestattet wurde und neben dieser noch kleinere Gottheiten Erwähnung fanden, zeigt sich,dass im Jahr 313 durchaus noch polytheistische Merkmale im kaiserlichen Zeremoniell vor-handen waren. Da die Redner ihre Werke sicherlich nicht unabhängig vom Kaiserhof for-muliert haben werden, lässt sich somit auf Constantins Glauben schließen, der demnachnoch nicht monotheistisch gewesen sein kann.89

Im Panegyricus IV aus dem Jahr 321 dagegen scheint eher eine monotheistische Ansichtvertreten worden zu sein. Hier wird von einem «rerum arbiter deus» gesprochen, einemGebieter über die Dinge, der aus der Höhe beobachte, dem keine der menschlichen Ange-legenheiten entgehe und der niemals aufhöre für die Menschen Sorge zu tragen.90 Es ist alsonur von einem allmächtigen Gott die Rede, der allerdings nicht benannt wurde, so dass fürdas Auditorium offen blieb, ob es sich um eine heidnische oder christliche Gottheit han-delte. Auch Claudius Mamertinus legt sich in seiner Rede nicht auf eine bestimmte Gottheitfest, indem er dieser etwa einen Namen gibt. Jedoch spricht er von dem immortalis deus,den er zum Zeugen anrufe (3,2). Daraus wird zumindest ersichtlich, dass es wiederum nurum eine einzige Gottheit geht.

Pacatus schließt sich, was die Bezeichnung der obersten Gottheit betrifft, seinen Vorred-nern an. Auch er äußert sich vage und unbestimmt, wenn er diese «supremus ille rerum fa-bricator» (4,2), jenen höchsten Erzeuger der Dinge, nennt.

Ob die Redner nun einen heidnischen oder einen christlichen Gott vor Augen hatten,wird aus keinem der Panegyrici Latini nach 312 ersichtlich. Einigkeit herrscht hinsichtlichder Allmacht dieses höchsten Herrschers über alle Dinge und darüber, dieser Gottheit kei-nen Namen zu geben sowie sich religionspolitisch neutral zu äußern.

In den Reden nach Constantins Hinwendung zum Christentum wurde der Topos der Er-wählung durch die Götter zwar nicht so sehr betont, wie in den früheren Panegyrici Latini,dennoch spielten die späteren Verfasser indirekt darauf an. Hinter dem Bericht über diegöttliche Hilfe verbirgt sich nämlich die Vorstellung, dass die Götter nur einen Herrscherunterstützten, dessen Machtübernahme sie bereits gefördert hatten, für dessen Herrschaftsie folglich eingetreten waren. Dem Aspekt der auxilia deorum wird demnach in allen vierPanegyrici Beachtung geschenkt, wobei Nazarius ihn besonders hervorhebt. So sagt dieserbeispielsweise: «Illa igitur uis, illa maiestas fandi ac nefandi discriminatrix, quae omnia me-ritorum momenta perpendit librat examinat, illa pietatem tuam texit, illa nefariam illius ty-ranni fregit amentiam, illa inuictum exercitum tuum […] iuuit» (7,4) Jene Kraft und Hoheit,die zwischen Recht und Unrecht unterscheide, schütze Constantins pietas, zerbreche denfrevelhaften Wahnsinn des Tyrannen Maxentius und helfe dem unbesiegbaren Heer Cons-tantins.

Indem der Redner als besondere Qualität der obersten Macht hervorhebt, dass diesesozusagen zwischen Gut und Böse abwäge und gerecht beurteile, verdeutlicht er, dass

89 Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 65.90 Pan. Lat. IV 7,3: «Spectat enim nos ex alto rerum arbiter deus et, quamuis humanae mentes profundos

gerant cogitationum recessus, insinuat tamen sese totam scrutatura diuinitas; nec fieri potest ut, cum spi-ritum quem ducimus, cum tot commoda quibus alimur diuinum nobis numen impertiat, terrarum se curisabdicauerit, […].»

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Constantin die göttliche Hilfe im Gegensatz zu Maxentius verdient habe. Dies wird auch inParagraph 15,3 ersichtlich, wo er die diuina ops Constantins uirtutes zuschreibt und erneutin Paragraph 15,7. An dieser Stelle betont Nazarius ausdrücklich, dass Constantin der au-xilia deorum würdig sei, was er anschließend noch genauer erklärt:

Adesse tibi in omnibus summam illam maiestatem quae te circumplexa tueatur, coniecturamentium tenebamus, etsi nondum ad finem patebat oculorum. Etenim cum mens tua mortalicontagione secreta, pura omnis, funditus sincera, ubique se promerendo deo praestet, cum glo-ria tua humanum modum supergressa sit, quis est omnium quin opitulari tibi deum credat,cum id et uita mereatur et rerum gestarum magnitudo testetur? 91

Da Constantins Charakter von sterblichem Einfluss abgesondert, ganz rein sowie völligunverdorben sei, und sich überall beweise, und weil sein Ruhm außerdem menschlichesMaß überschritten habe, werde ihm von Gott geholfen, was sowohl sein Leben verdiene alsauch die Größe seiner Taten bezeuge. Constantin wird also einerseits göttliche Hilfe zuteil,weil er sozusagen übermenschlich ist oder sich zumindest hinsichtlich seines Charakters,seiner Sittlichkeit, seines Ruhmes und seiner Taten von den Menschen abhebt. Andererseitsbefindet er sich genau dadurch, dass die höchste Gottheit ihm unterstützend zur Seitesteht, auf einer höheren Stufe als die normalen Sterblichen. Der Herrscher wird hier als einWesen präsentiert, das zwischen den Menschen und Göttern angesiedelt ist.

Claudius Mamertinus schildert ebenfalls ein enge Verbindung zwischen dem Herrscherund der Gottheit, wenn er hinsichtlich Julians Entscheidung über die Vergabe des Konsu-lats sagt: «Quid secutus sit, ipse scit et quaecumque consilia eius gaudet formare diuinitas»(15,2). Nur Julian selbst und die Gottheit, der es beliebe, jeden seiner Pläne hervorzu-bringen, wüssten, was er verfolge. Infolgedessen wird der Kaiser in seinen Handlungenvon der Gottheit beeinflusst, die laut Panegyriker auch für seine außerordentliche felicitasverantwortlich ist.92 Dass der Herrscher sich der göttlichen Hilfe bewusst war, wird inParagraph 27,4 ersichtlich. Dort formuliert der Redner nämlich: «Sed imperator, quam-quam caelesti ope salutem rei publicae propagatam uideret […].» Er habe gesehen, dassdas Wohlergehen des Staates mit himmlischer Hilfe fortgesetzt worden sei. Dabei spieltder Herrscher sozusagen die Rolle des Mittlers. Deshalb wird im Panegyricus XII 3,1 auchgeäußert: «cum tua conservatio, salus nostra sit» und in Paragraph 10,2 derselben Rede ge-sagt, dass die Furcht vor der Gefährdung des Kaisers schwerwiegender sei, als die Freudeüber einen Sieg von ihm.93 Der Herrscher bringt Rettung für alle,94 er ist der Garant desaureum saeculum.95

Wenn Pacatus in Panegyricus II 3, 6 von Theodosius’ «forma diuina», dessen göttlicherGestalt spricht oder ihn sogar als einen deus praesens vorstellt (4,5): «deum dedit Hispaniaquem uidemus,» dann ist zu bemerken, dass selbst im Jahr 389 n. Chr. noch die tetrarchi-sche Tradition einer Theokratie fortgesetzt wurde.

91 Ebd. 16,1–2.92 Pan. Lat. III 27,1: «Cuius umquam diuinior felicitas fuit?»; siehe auch XII 22,6: «consilium tuum sequitur

fortuna.» Hier wird erneut die Sieghaftigkeit des Kaisers in Zusammenhang mit Fortuna gebracht.93 Ebd. XII 10,2: «sed tuta, grauiorque metus est periculi tui quam laetitia uictoriae.»94 Vgl. z. B. ebd. II 43,4: «ne oculos istos omnibus salutares homo funebris impiaret».95 Ebd. III 10,1.

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IV.

Betrachtet man die Panegyrici Latini im Rahmen der Herrscherideologie, so ist zunächstfestzustellen, welche Aufgaben die Verfasser solcher Reden zu erfüllen hatten. Als Autoreneines Elements der offiziösen Legitimation waren die Panegyriker verpflichtet, sich lobendüber die kaiserliche Politik zu äußern. Es gehörte zu ihren Verpflichtungen, den Herrscherso darzustellen, wie er in der Öffentlichkeit gesehen werden wollte. Man kann demnachdavon ausgehen, dass ein Panegyricus zumindest vom Kaiser genehmigt worden ist, wenner diesen nicht sogar selbst in Auftrag gegeben hatte. Folglich konnten sich in diesen Redenkeine Äußerungen befinden, die von dem Standpunkt des Herrschers und seiner Regierungabwichen.96 Allerdings ist im Hinblick auf die Wirkung der Aussagen der Lobredner fest-zuhalten, dass es sicherlich effizienter war, wenn die Verkündung der Herrscherideologievon einer Person ausging, die zumindest nach außen den Eindruck erweckte, ihre persön-lichen Ansichten freiwillig darzulegen, als wenn die Herrschaftsauffassung direkt aus deroffiziellen Kanzlei hervorgegangen wäre.97

In rhetorischer Hinsicht war es sozusagen eine Forderung des aptum, der Angemessen-heit, dass die formulierten Gedanken zu den Auffassungen und sittlichen Grundsätzender Menschen passten.98 In dem speziellen Fall des Panegyricus auf den Kaiser sollte alsodie Tendenz der Rede mit derjenigen der Herrschaftsauffassung korrespondieren.99 In die-sem Sinne übernahmen beispielsweise die Panegyriker unter Diocletian die Ideologie derTetrarchie, während die Lobredner unter Constantin dessen dynastische Konstruktion re-zipierten.100 Indem die Redner das Selbstverständnis und die Weltanschauung des Princepsvertraten, versuchten sie den Zuhörern dessen Regentschaft und Macht zu erklären.101

Überdies erläuterten sie dem lokalen Auditorium die aktuellen Prinzipien der kaiserlichenPolitik, verkündeten das Herrschaftsprogramm oder informierten die Zuhörer über geplanteUnternehmungen.102 Der Panegyricus konnte außerdem auch ein Mittel sein, dem KaiserBitten und Wünsche seiner Untertanen zu vermitteln. Eine weitere mögliche Aufgabe desRedners bestand darin, ein Bild des Herrschers zu entwerfen, das diesen als Vorbild für dieBevölkerung, seine Soldaten oder zukünftige Regenten erscheinen ließ. Dadurch stellte derPanegyriker nicht nur den Menschen ein exemplum vor Augen, sondern forderte auch in-direkt den Herrscher auf, diesem gerecht zu werden.103

Die Hauptfunktion der Panegyrici Latini bestand schließlich darin, die Herrschaft desKaisers ideologisch zu untermauern und zu legitimieren, diesen also als rechtmäßigenInhaber der Macht darzustellen. Dies geschah, indem man die Herrschaft theokratisch zubegründen suchte. Der Princeps musste folglich eine Position innehaben, die «als gottge-wollt, sakral, von weltlichen Gewalten unabhängig»104 galt. Er regierte also durch Gottes

96 Vgl. Kolb, Herrscherideologie, 169 f.97 Siehe Straub, Herrscherideal in der Spätantike, 148.98 Quint. Inst. VIII 3,43: «sententias vel graves vel aptas opinionibus hominum ac moribus».99 Vgl. Liebeschuetz, Religion, 389 f.

100 Siehe Portmann, Geschichte in der spätantiken Panegyrik, Basel 1988, 220.101 Siehe J. M. Schulte, Speculum Regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen

Antike, Münster 2001, 258.102 Vgl. MacCormack, Latin Prose Panegyrics, 150. 162.103 Siehe Mause, Darstellung des Kaisers, 26. 225 f.104 Kolb, Herrscherideologie, 140.

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Gnaden, war von diesem zur Herrschaft erwählt worden und hatte somit auch seine Be-rechtigung und Macht von ihm.

Folglich war von einer Befähigung des Kaisers zur Herrschaft auszugehen und kein Zwei-fel an seiner Qualifikation möglich, was die Panegyriker zudem durch ihre Darstellung un-termauerten. Dadurch, dass die Herrscher in den Panegyrici Latini so sehr charismatischüberhöht und sakralisiert wurden, konnten sie mit einer religiös gesicherten Loyalität ihrerUntertanen rechnen.105 Die Göttlichkeit oder zumindest die Nähe zum Göttlichen, mitwelcher die Principes ausgestattet wurden, «bedeutete zugleich die Transzendierung derInstitution des Kaisertums und damit der von ihm repräsentierten res publica Romana ineine sakrale Sphäre, in welcher Gott und das römische Kaisertum die kosmische Ordnunggarantierten.»106 Infolgedessen waren die Herrscher also als Garanten der allgemeinen saluszur Herrschaft berechtigt. Dies herauszustellen, kann als Hauptanliegen der Panegyrikerbezeichnet werden.

Den Panegyrici Latini kamen überdies Funktionen zu, die nicht direkt zu einer Legi-timierung, jedoch zu einer Sicherung und Stabilisierung der Herrschaft beitrugen. Indemdie Redner die Herrscher sakralisierten und eine numinose Aura um sie herum schufen,machten sie diese zu unnahbaren und unantastbaren, übermenschlichen Wesen. Darauserwuchs gesteigerter Respekt und wahrscheinlich auch eine gewisse Ehrfurcht vor demOberhaupt,107 was wiederum die Person des Kaisers schützen und Usurpationen vor-beugen sollte. Damit wurden jegliche gegen den Kaiser gerichteten Handlungen zu einemSakrileg. So stellte beispielsweise der Redner im Panegyricus XII Maxentius als illegitimenSohn Maximians dar,108 weil dieser die Heiligkeit Constantins in Frage gestellt hatte. Aufdiese Weise entzog der Panegyriker dem Feind des Kaisers die Herrschaftsberechtigung.109

Damit waren die Panegyrici Latini also ein Medium zur Stärkung und Sicherung der Stel-lung des Herrschers. Außerdem bestätigten diese Reden innerhalb des Zeremoniells denanwesenden Kaiser in seiner Funktion. Auch die Präsenz des Auditoriums war eine Formder öffentlichen Zustimmung zu dessen Herrschaft.110 Falls die Wirkungsabsicht der Stabi-lisierung der Herrschaft erreicht wurde und die Untertanen bereit waren, den Kaiser zuverehren, war es unwesentlich, ob diese an eine Göttlichkeit desselben glaubten oder ihn‹nur› für einen gotterwählten Stellvertreter und Mittler hielten, der in der Lage war, das Im-perium Romanum zu retten und zu erhalten.111

V.

Zusammenfassend kann hinsichtlich der Darstellung des Verhältnisses von Kaiser undGott in den Panegyrici Latini folgendes festgehalten werden: In den Lobreden der ErstenTetrarchie werden die Kaiser als Söhne der Götter Jupiter beziehungsweise Hercules prä-

105 Vgl. ders., La Tétrarchie. Chronologie und Ideologie der Tetrarchie, AnTard 3, 1995, 28.106 Ders., Herrscherideologie, 140.107 Vgl. Mause, Darstellung des Kaisers, 227.108 Pan. Lat. XII 4,4: «illum, ut falso generi non inuideamus, impietas».109 Siehe D. Lassandro, Sacratissimus Imperator. L’imagine del princeps nell’ oratoria tardoantica, Bari 2000,

37 f.110 Siehe MacCormack, Latin Prose Panegyrics, 158 f.111 Vgl. Enßlin, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, 49 f.

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sentiert. Als solche tragen sie die sakralen Cognomina Iovius und Herculius und verfügenseit ihrer Geburt über die numina ihrer Götterväter, die sich aber erst zusammen mit ihremHerrschaftsantritt offenbaren. Da die Herrscher im Besitz der göttlichen Wirkungskräftesind, können die beiden Götter Jupiter und Hercules durch ihre irdischen Söhne regieren.In deren Taten manifestiert sich das Göttliche. Konsequenterweise sind Iovius und Hercu-lius jederzeit mit Jupiter und Hercules zu vergleichen. Dadurch sind Herrscher und Götternicht identisch, da die eigentliche Macht immer noch von den Göttern herrührt. Jupiter istderjenige, der Diocletian die Herrschaft übertragen hat, folglich ist dieser in gewisser Weisevon dem Gott abhängig und schuldet ihm pietas. Jupiter hingegen entlohnt diese dadurch,dass er ihn mit felicitas versieht. Daraus resultieren für den Herrscher wiederum Sieg-haftigkeit und Erfolg in jeder Beziehung. Somit wird der Kaiser für seine Untertanen zumGaranten des aureum saeculum, warum sie ihn auch als praesens deus wahrnehmen. Erist nämlich einerseits anwesend und sichtbar und andererseits aufgrund seiner väterlichenWirkungskräfte bereit, seine Göttlichkeit unter Beweis zu stellen.

Die Verfasser der Panegyrici Latini VII, VI und V sakralisieren die Herrscher auf eine ähn-liche Art und Weise, indem sie sich derselben Topoi bedienen, diese jedoch aufgrund desveränderten historischen Kontextes anders präsentieren. So weisen sie ausdrücklich daraufhin, dass Constantin von den Göttern zur Herrschaft erwählt wurde, wobei sie als zusätz-lichen Stabilisierungsfaktor sowohl seiner Stellung als auch des Imperium Romanum Cons-tantins dynastische Linie aufzeigen. Während Constantin in Panegyricus VII noch zu derFamilie der Herculii gezählt wird und somit offensichtlich mit dem numen von Herculesausgestattet ist, vertreten die beiden späteren Redner die Ansicht, dass Constantin eine In-karnation Apollons sei. Im Unterschied zu den Panegyrici der Ersten Tetrarchie lassen sichHerrscher und Gott hier auch äußerlich vergleichen. Constantin ist also im Besitz der Wir-kungskräfte Apollons, woraus sich ebenfalls ableiten lässt, dass er Dank dieses Vermögensfür Wohlergehen und Heil sorgt. Er wird nicht nur als praesens deus, sondern sogar als prae-sentissimus hic deus bezeichnet.

Auch in den Panegyrici Latini, die nach Constantins Hinwendung zum Christentum ent-standen sind, wird stets die besondere Beziehung des Kaisers zur Gottheit erwähnt, diesich hauptsächlich durch die göttliche Hilfe offenbarte. Aus dieser Unterstützung lässt sichschließen, dass die Götter die Herrschaft gutgeheißen haben müssen, was einen Hinweisauf die göttliche Erwählung des Kaisers liefert. Daraus resultiert auch hier eine kaiserlicheGarantie für das aureum saeculum. Das wird ebenfalls von Pacatus verdeutlicht, wenn die-ser Theodosius als deus praesens darstellt. Überdies setzte der Panegyriker des Jahres 313n. Chr. Constantin beziehungsweise sein numen mit dem deus ille mundi creator et domniusgleich und bescheinigte dem Herrscher einen diuinus instinctus, den er seiner göttlichenWirkungskraft zu verdanken habe.

Am Ende dieser Ausführungen ist folglich festzustellen, dass tatsächlich in allen spätan-tiken Panegyrici Latini die Kaiser als von den Göttern zur Herrschaft bestimmt, dargestelltwurden; dass sie außerdem stets mit bestimmten Göttern verglichen oder sogar gleich-gesetzt wurden, wie zum Beispiel Diocletian mit Jupiter, Constantin mit Hercules sowiewenig später mit Apollon oder, nach 312 n. Chr., mit einer, neutral formuliert, oberstenGottheit und zuletzt, dass die Panegyriker den Herrschern in sämtlichen Reden göttlicheWirkungskräfte zusprachen. Demzufolge haben alle Verfasser – hinsichtlich der Beziehungzwischen Kaiser und Gott – ihre Panegyrici in Anlehnung an Diokletians Konzeption einestheokratischen Herrschaftssystems verfasst.

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Eckard Lefèvre

Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung0(Eleg. Juv. 1, 5)*

Ernesto Schmidt septuagenariocollegae docto optimo amicocarminum amatoriorum siveantiquorum sive recentiorum

peritissimo

In der von den Neulateinern gepflegten Liebesdichtung nehmen die Niederländer eine be-sondere Stellung ein. Ein hervorragendes Dreigestirn sind Johannes Secundus (1511–1536),Janus Dousa (1545–1604) und Daniel Heinsius (1580–1655). Den ersten, der, «obwohl jungverstorben, unter den lateinisch schreibenden Dichtern der Neuzeit früh zum Klassiker ge-worden» ist,1 haben die beiden letzten nicht mehr erlebt. Sie haben ihn und auch einanderhoch geschätzt.

Seine Dichtungsposition bestimmt Heinsius in der Elegie 1, 5 der Elegiae Juveniles, in derer auf Secundus und Dousa als die neueren Vorbilder ebenso Bezug nimmt wie auf die altengriechischen und lateinischen Liebesdichter. Sie ist bereits in der ersten Ausgabe der Ele-gien von 1603 enthalten, als Einleitungsgedicht zum dritten Buch mit ‹programmatischemCharakter›.2 Ab der vierten Auflage von 1613 wird sie mit vielen anderen den Elegiae Juve-niles zugewiesen, weil sich Heinsius’ Geschmack inzwischen gewandelt hat. In der Vorredean den Amicus Lector sagt er, er habe die frühen Gedichte teilweise der Zensur unterzogenund dabei einige verworfen, andere, die ihm nicht gänzlich mißfielen oder, die Wahrheit zugestehen, anderen in Anbetracht seiner Jugend, wie es scheine, gefallen könnten, getrenntan das Ende gestellt.3 Sicher spielt Heinsius’ künstlerisches Urteil eine Rolle. Der Haupt-grund scheint jedoch ein anderer zu sein, wenn er einräumt, er habe ‹gespielt›, aber aufanständige und züchtige Weise, wie sie durch alle Zeiten autorisiert und beispielhaft vor-gegeben sei.4 Es ist die lockere und unbekümmerte Art, die nicht mehr unbedingt der sichwandelnden Auffassung von Wesen und Aufgabe der Dichtung entspricht; «he did notwant to disassociate himself altogether from the concept of poetic art as a means towardsmoral edification, a concept which had become very powerful again through the Reforma-tion and Counter-Reformation.»5 So ist es zu erklären, daß sich unter den Elegiae JuvenilesGedichte finden, die zu den besten des Autors gehören. Es sind eher taktische Gründe, die

0 Jürgen Blänsdorf und Eckart Schäfer werden wertvolle Ratschläge verdankt.1 Schäfer 2004, 9.2 Ellinger 1933, 173.3 Quæ ætate prima dederamus, partim ad censuram reuocauimus; quædam, penitus eiecimus, nonnulla, si quæ

non omnino displicebant, aut, ut verum dicam, pro ætatis ratione alijs placere posse videbantur, seorsim exhi-buimus in fine (1613, xx III).

4 Lusimus porro; cæterum ingenue ac pudice, omnium ætatum vel auctoritate vel exemplo (ebendort).5 Meter 1984, 36.

*

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Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5) 167

ihn von ‹Jugendelegien› sprechen lassen, denn seit 1603, dem Entstehungsjahr von De Musissuis, ist er immerhin Professor für Poesie an der renommierten Universität Leiden.6

In der achten und letzten Auflage der Poemata von 1649 figuriert die Programmelegie alsEleg. Juv. 1, 5:7

De Musis suis.Regia, quam cernis nullo se tollere cultu,

Inscriptam Musis qua patet ipsa, mea est.Ambitio tristis fastusque hinc exulat omnis,

Curaque in hac partem non habet ulla suam.5 Heinsius hic habitat. jocus hunc hilaresque lepores,

Et posita parvus cuspide cingit Amor.Totaque Musarum domus est. hac lætus in aula

Innocuos ducit, nec sine laude, dies.Vanaque despecti contemnit præmia vulgi,

10 Et dubios casus, & grave mortis onus.Imperii Rex ille sui est, doctisque libellis

Imperat & chartis, nec minus ipse sibi:Et quoties blandos circumspicit ordine cives,

Gaudet, & à populo nil timet ille suo.15 Perlegit hic docti genium lususque Catulli,

Perlegit hic numeros, culte Tibulle, tuos.Battiadenque suum, patriis qui ludit in Umbris,

Quique suis Grajis cognitus ante fuit.Hic levibus curis par ludit Teïus: illic

20 Simichides Siculas carmine mulcet oves:Hic lepidos Moschus calamis invitat Amores;

In choreas parvos dum docet ire Deos.Scilicet hos cives habet Heinsius: Heinsius illic

Cum Phœbo & Musis regna beata tenet.25 Nec cuiquam debere potest, nec supplicat ulli,

Nec trepidat duras judicis ante fores.Et regni sibi causa sui est, nil credulus ulli,

Et tantum menti deditus ipse suæ.Gaudentem doctæ circumstant undique Musæ,

30 Hinc mihi spes omnis, hinc mihi fama venit.Hæc domus, hæc res tota mea est. plorate tyranni,

Invideasque opibus, regia turba, meis.Si mihi non ficti circundant atria vultus,

Gensque terit nostras ambitiosa fores:35 Sed secura quies pascit noctesque beatæ,

Semotum à populo, grataque vita sibi.Sunt & opes opibus placide caruisse: nec ullum

Pauperies Musis addita crimen habet.Iupiter angustas penetravit Baucidis ædes

6 Becker-Cantarino 1978, 9; Meter 1984, 24; Van Dam 2005, 622.7 Text nach Heinsius 1649, 439–440. In der Übersetzung wird die Interpunktion des Originals teilweise mo-

dernem Gebrauch angepaßt.

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168 Eckard Lefèvre

40 Exiguo fultas stipite: Dousa meas.Ille sub hoc tantum submittit culmine civem,

Et Musas audit, vel canit ipse, meas.Iupiter ille mihi est, nec enim pia sacra domumque,

Aut tenues Heinsi præterit ille lares.45 Vulgus abi sterilesque animæ. mihi sacra quotannis

Solvere sic genio, maxime Dousa, tuo,Tum quoque, quod nolim, si te vis invida fati

Surripiat nobis, munera grata feram.Instituam festos, tumuli certamina, ludos,

50 Et similis nobis cura Secundus erit.Illius ad tumulum pariter, vir magne, tuumque

Iunget amatori pulchra puella latus.Hic qui purpureis melius premet ora labellis,

Pluraque figet ovans basia, victor erit.55 Scilicet hos novit mea quondam Græcia ludos,

Et sua defunctis basia munus erant.sic juvenum pulchræ cinxere Dioclea turmæ,

Qui docuit pueros basia prima suos.Interea, mea gens, lepidi salvete libelli,

60 Tuque domus, Musis regia facta meis.Heinsius hic nullum defendit mœnibus hostem,

Nec sibi consortem nec gemit esse parem,Divitiasque suas tacitus miratur amatque,

Et loquitur populo, vel sine voce, suo.

Über seine Musen.Die Königsburg, die du ohne Prunk sich erheben siehst, ist

den Musen geweiht und, soweit sie sich erstreckt, die meine.Finsterer Ehrgeiz und Hochmut sind ganz von hier verbannt,

und keine Sorge hat darin ihren Teil.5 Heinsius wohnt hier. Scherz und heitere Anmut

und der kleine Amor ohne seine Pfeilspitze umgeben ihn.Das ganze Haus gehört den Musen. In diesem Hof lebt er

heiter unschuldige Tage, nicht ohne Ruhm, dahin.Die leeren Belohnungen des verachteten Volks gelten ihm nichts,

10 auch nicht unsichere Zufälle und die schwere Last des Tods.Er ist der König seines Reichs und Herrscher über seine gelehrten

Bücher und Papiere, nicht weniger über sich:Sooft er die schmeichelnden Bürger der Reihe nach anschaut,

freut er sich und fürchtet nichts von seinem Volk.15 Er studiert hier den Geist und das Spiel des gelehrten Catull,

er studiert hier deinen Versbau, gebildeter Tibull,und seinen Kallimachos, der im heimatlichen Umbrien tändelt

und der vorher seinen Griechen bekannt war.Hier scherzt überlegen mit leichten Sorgen Anakreon: dort

20 bezaubert die sizilischen Schafe mit dem Lied Theokrit.Hier lädt die lieblichen Eroten mit der Flöte Moschos ein,

indem er die kleinen Götter im Chorreigen zu gehen lehrt.Das sind die Bürger, die Heinsius hat: Heinsius besitzt dort

mit Phoebus und den Musen ein glückliches Reich.

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25 Er kann in niemandes Schuld stehen, keinen bittet er um etwas,noch zittert er vor der harten Tür eines Richters.

Er ist die Ursache seines Reichs, er baut auf niemanden,er ist nur dem eigenen Denken verpflichtet.

Er freut sich, daß ihn überall die gelehrten Musen umgeben,30 von ihnen kommt mir alle Hoffnung, von ihnen mir Ruhm.

Dieses Haus, dieser Besitz gehört mir ganz. Jammert, Tyrannen,und, königliche Schar, neide meine Schätze!

Wenn meine Halle nicht verstellte Mienen umgebenund ehrgeizige Menschen nicht meine Tür abnutzen,

35 nähren mich doch sichere Ruhe und glückliche Nächte,der ich dem Volk fern bin, und ein Leben in Zufriedenheit.

Es gleicht Schätzen, Schätze ruhig zu entbehren: keinen Makelhat die Verbindung von bescheidener Lebensweise und Kunst.

Iupiter kam in Baucis’ enges Haus, das von einem40 kleinen Pfahl getragen wurde: Dousa in meines.

Er legt unter diesem Dach den so angesehenen Bürger abund hört meine Dichtung an oder trägt sie selbst vor.

Er ist für mich Iupiter, denn nicht geht er an der frommen Stätteund dem Haus oder dem dürftigen Herd vorüber.

45 Volk und stumpfe Gemüter, verschwindet. Mir sei vergönnt,jährlich deinem Genius so zu opfern, größter Dousa.

Auch dann, wenn, was ich nicht wünsche, dich uns das neidischeGeschick entreißt, werde ich dir willkommene Gaben bringen.

Ich werde Festspiele, Wettkämpfe an deinem Grab, veranstalten50 und werde in gleicher Weise für Secundus sorgen.

An seinem und deinem Grab zugleich, großer Mann,wird sich ein schönes Mädchen an den Liebhaber schmiegen.

Wer hier den Mund besser auf purpurne Lippen drücken undmehr Küsse frohlockend anbringen wird, wird Sieger sein.

55 Dieses sind die Spiele, die mein Griechenland einst kannte,und seine Küsse waren die Gabe für die Toten.

So umringten schöne Jünglingsscharen Diokles,der seine Knaben die ersten Küsse lehrte.

Indessen, mein Volk, ihr anmutigen Bücher, seid gegrüßt60 und du, Haus, durch meine Musen zur Königsburg gemacht.

Heinsius hält von diesen Mauern keinen Feind fern undklagt nicht, daß er einen Mitherrscher oder Konkurrenten hat.

Er bewundert und liebt schweigend seinen Reichtumund spricht auch ohne Stimme zu seinem Volk.

Heinsius charakterisiert seine Dichtung mit dem Adjektiv lepidus . Moschos’ Liebesge-dichte (amores) sind lepidi (21) ebenso wie Heinsius’ eigene Bücher (lepidi libelli, 59). Dasist ein stilkritischer Terminus,8 wie er programmatisch in Catull 1, 1 cui dono novomlepidum libellum begegnet. lepidi libelli stehen in der Tradition des kallimacheischen Stil-ideals der M���� ������, der ‹feinen› Muse.9 Catull spricht an anderer Stelle von sei-

8 Syndikus 1984, 73–74; Schmidt 1985, 128–130; Lefèvre 1999, 227.9 Aitia-Prolog, Fr. 1, 24 Pf.

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nem lepidus versus;10 Gedichte, wie er sie mache, sollten lepos haben.11 So ist es konsequent,daß hilares lepores in Heinsius’ Haus wohnen (5). In diesem Sinn wird von Catull undHeinsius das Deminutivum libellus / libelli gebraucht (11, 59), das auf Kallimachos’ Devise� � ������� � � �����12 verweist.13

In De Musis suis spricht Heinsius nicht davon, daß seine Dichtung lusus sei, aber in derprogrammatischen Einleitungselegie der ersten Sammlung von 1603 empfiehlt er Scaligerseine innocui lusus Musarum,14 und im Vorwort zu der Edition der Poemata von 1613 sagt er:En tibi denuo, Amice Lector, lusus nostros, sed cum cura emendatos neque parum auctos.15 Eshat also Gewicht, daß er unter den Vorbildern die lusus Catulli nennt (15). Heinsius willwohl andeuten, daß seine (Liebes-)Dichtung ‹Spiel› sei. ludere = ‹dichten› ist antik. Catullgebraucht den Terminus 50, 2 und 5.16

Was die Alten betrifft, ist es die alexandrinische und in ihrer Nachfolge die neoterischeund augusteische ‹kleine› Dichtung Roms, deren Stil sich Heinsius zum Vorbild nimmt.Dementsprechend will er ein Poeta doctus sein, der unter dem Schutz der doctae Musaesteht (29). Er studiert den Genius und die spielerischen Gedichte des doctus Catullus (15)und ist, wie es heißt, Herr über docti libelli und chartae (11–12). Damit dürften sowohl dieBücher der alten Autoren als auch die eigenen gemeint sein.

In Heinsius’ Haus wohnen nicht nur Apollo und die Musen, sondern auch der parvusAmor. Dieser verzichtet aber auf einen Schuß mit seinem Pfeil (posita cuspide, 6).17 Wie sicham Ende zeigt, hat der Dichter keinen Anlaß, über einen Mitherrscher oder Konkurrentenzu seufzen (62). Er ist autark und glücklich. Trotzdem verschreibt er sich der Liebesdich-tung. Aber von einer Geliebten ist nicht die Rede. Auch in der ersten Elegie der Sammlungvon 160318 wird Rossa nicht erwähnt. Sie ist als Person kaum zu fassen, sie ist weitgehend«a projection of the poet’s amorous feelings, a personification of love and poetry».19 In die-ser Elegie wird das ganz deutlich. Man denkt an Ovids erste Elegie der Amores, in der ersich als Liebesdichter präsentiert, der ohne Geliebte ist. Wie Naso20 kann auch Heinsiusspielen: Beiden erscheint Amor, der für die Liebesdichtung steht, aber sie haben keine Ge-liebte. Bei ihnen geht nicht der Weg von der Liebe zur Liebesdichtung, sondern umgekehrtvon der Liebesdichtung zur (Darstellung der) Liebe.

Ähnlich wie Properz in 2, 34, 85–94 oder Ovid in Tristia 4, 10, 51–54 nennt Heinsiusseine Vorbilder. culte Tibulle (16) ist ein Zitat aus Ovids Amores 1, 15, 28. Besonders liebe-voll wird Properz umschrieben. Heinsius sagt, daß Kallimachos, der Battiade (Battos’Nachkomme), seine spielerische Dichtung in Umbrien verfertige (17). Damit ist der aus

10 Cat. 6, 17.11 Cat. 16, 7.12 Fr. 465 Pf.13 Syndikus 1978, 73; Schmidt 1985, 73; Lefèvre 1999, 226.14 = Eleg. Juv. 2, 1, 23 (1649, 463).15 1613, xx III.16 ludere hat mehrere Nuancen: Catull ‹spielt› anders als Ovid. Heinsius steht eher dem lusor amorum Ovid

nahe (Trist. 4, 10, 1).17 Die Junktur ist antik, z. B. Ov. Fast. 6, 655 (sic posita Tritonia cuspide); Stat. Theb. 7, 10 (atque ibi seu posita

respirat cuspide Mavors): Die Krieger ruhen vom Kampf.18 = Eleg. Juv. 2, 1 (1649, 463–464).19 Becker-Cantarino 1978, 70.20 Lefèvre 1987, 129–134.

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Assisi stammende Properz gemeint, der sich als Callimachus Romanus in 4, 1, 64 bezeichnet(Umbria Romani patria Callimachi ).21 So pointiert die Formulierung ist: Ironie ist vonihr fernzuhalten. Kallimachos (18), Anakreon aus Teos in Kleinasien (19), Theokrit undMoschos aus Syrakus in Sizilien (20–21) werden zu Recht genannt. Heinsius hat eine glän-zende Kenntnis der griechischen Literatur, wie es für die Humanisten nicht durchaus üblichist. Er dichtet sowohl spielerisch wie Kallimachos und Anakreon als auch bukolisch wieTheokrit (Simichidas ist dessen Spiegelbild in dem siebten Eidyllion) und erotisch wieMoschos (5E��« �����«). Von Theokrit übersetzt er die Eidyllia 7 (Thalysia), 8(Boukoliastai ), 13 (Hylas) und 23 (Erastes) in das Lateinische.22 Andererseits dichtet Hein-sius in altgriechischer Sprache. Er wird zwei Sammlungen hinterlassen: Peplus GraecorumEpigrammatum;23 Graeca Reliqua, et quae e Graecis sunt conversa.24 Mit Recht kann er von‹seinem› Griechenland (mea Graecia) sprechen (55). Es ist erstaunlich, wie genau schon derjunge Heinsius sein Schaffensgebiet bestimmt.

Die Elegie lebt von dem Paradoxon, daß der Dichter sein bescheidenes Haus als regia(programmatisch das erste Wort) bezeichnet, weil es den Musen geweiht ist. Dementspre-chend ist er Rex imperii sui, aber er befiehlt (imperat) nur seinen Büchern und Schriften(11–12). Mit Apollo und den Musen hat er regna beata (24). Am Ende wird das Bild wiederaufgenommen: Durch die Musen ist das Haus zur regia geworden (60). Seine Bürger (cives,13) bzw. sein Volk (populus, 64) sind die Bücher. Ihnen befiehlt er (imperat, 12), zu ihnenspricht er – auch ohne Stimme (vel sine voce, 64): Er steht mit ihnen in einem inneren Dia-log. Daß der Weise der wahre König sei (�������«, rex), ist altes stoisches Denken. Hein-sius kann mit dem Chor in Senecas Thyestes sagen, König sei der, der keine Furcht undkeine Übel eines schrecklichen Herzens kenne, den nicht übermäßiger Ehrgeiz und diestets schwankende Gunst des wankelmütigen Volks rühre – dieses Reich könne sich jederselbst geben (348–352, 390):

rex est qui posuit metuset diri mala pectoris;

350 quem non ambitio impotenset numquam stabilis favorvulgi praecipitis movet

390 hoc regnum sibi quisque dat.

In diesem Sinn liegen Heinsius ambitio (3, 34), cura (4), praemia vulgi (9) und Furcht (niltimet, 14) fern, vor allem ‹gibt er sich selbst dieses Königreich› (regni sibi causa sui est, 27).Daß er sich selbst befiehlt (imperat […] ipse sibi, 12), beschreibt stoisches Denken geradezumusterhaft. Auch die paradoxe Formulierung, es sei Reichtum, des Reichtums zu entbeh-ren (37), entspricht den beliebten Paradoxa Stoicorum.25

21 Der niederländische Dichter und Philologe Janus Broukhusius (1649–1707) bemerkt zu Romani Callimachi:«hoc est Propertii, eum apud Romanos numerum obtinens, quem Callimachus apud Graecos. id nuncetiam pueri sciunt: nec tamen semper sciverunt viri» (1727, 381).

22 1649, 598–610.23 1649, 508–538.24 1649, 539–629.25 Seneca sagt, es sei (inneres) Glück, (äußeren) Glücks nicht zu bedürfen, non egere felicitate felicitas […] est

(De prov. 6, 5).

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Aber natürlich ist Heinsius kein stoischer Weiser. Er benutzt nur die popularphilosophi-schen Maximen. Sein Denken beherrschen in ganz unstoischer Weise Venus und Amor –und die Musen. Das ist die Welt der hellenistischen Dichter, der römischen Neoteriker undElegiker. Auch die horazische pauperies26 klingt an (38).

Unter Heinsius’ Freunden wird Janus Dousa (1545–1604), der erste Kurator der 1575 eröff-neten Leidener Universität, herausgestellt (maxime Dousa, 46), der es nicht verschmähe,das bescheidene Haus des Jüngeren zu betreten (wie einst Iupiter Baucis’ Hütte), wo siesich gegenseitig ihre Gedichte vortragen27 – wie es einst die Neoteriker taten. Es ist ein eli-tärer Zirkel. Heinsius ruft das Verdikt aus: vulgus abi sterilesque animae (45), so wie einstHoraz ebenfalls in künstlerischem Sinn ausrief: odi profanum vulgus et arceo.28 Später be-kennt sich Heinsius auch in seiner niederländischen Dichtung zu dieser Devise, wenn erdas gemeene volck ablehnt.29

Dousas «begeistertes Lob gilt der Poesie einer Reihe von Dichterfreunden; es steigertsich am höchsten Daniel Heinsius gegenüber.»30 Umgekehrt preist dieser den anerkanntenÄlteren in mehreren Gedichten, so in Eleg. Juv. 2, 5 Ad Ianum Dousam,31 die mit dem Be-kenntnis schließt: ingenium sequimur, maxime Dousa, tuum (56). Damit ist dessen Vorbild-haftigkeit betont. Nur zu bald stirbt Dousa, und Heinsius widmet dem Toten den ZyklusManes Dousici,32 den er später dem zweiten Buch der Elegiae Juveniles zuweist.33

Mit Secundus (50) ist Johannes Secundus gemeint (1511–1536), «l’icône poétique du cer-cle savant de Leyde», dem Heinsius in seinen frühen Elegien «en imitation ouverte» folgt34

und für den schon Dousa eine ‹unbedingte Verehrung› erkennen läßt: mihi Secundus unusinstar omnium est.35 Heinsius betrachtet beide als seine neueren Vorbilder und huldigt ihnenmit dem folgenden Kuß-Motiv, war doch Secundus der Poet der berühmten Basia36 unddichtete auch Dousa eine Sammlung dieses Namens.37

Die Elegie wird in die Zeit kurz vor dem Tod des offenbar kränkelnden Dousa gehören,da sie von den ‹Spielen› spricht, die Heinsius zu Ehren des Toten veranstalten will (47–58).An Secundus’ und seinem Grab werde er nach dem Vorbild des Gedenkens an den HerosDiokles aus Megara Wettkämpfe durchführen. Die Nachricht über diesen eigentümlichenAgon kann Heinsius Theokrits 12. Eidyllion Aites entnehmen, das an einen Jungen gerich-tet ist. An dessen Ende wird darauf angespielt, daß Diokles, der in einer Schlacht einen ge-liebten ���« mit seinem Schild gedeckt haben und selbst gefallen sein soll, nach dem Todauf anspielungsreiche Weise geehrt wurde (27–34):

26 Lefèvre 1993, 206.27 Über Dousas Liebesdichtung Ellinger 1933, 116–119.28 Carm. 3, 1, 1. Vgl. Lefèvre 1993, 155.29 Becker-Cantarino 1978, 32.30 Ellinger 1933, 128.31 1649, 472–474.32 Ellinger 1933, 193–194.33 1649, 485–502.34 Van Dam 2005, 628.35 Ellinger 1933, 126–127.36 Schmidt 1995, 70.37 Ellinger 1933, 118–119; Schmidt 1995, 70.

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N������ M� ����«, $��������« ������«,������ ��������, μ� #A��μ� �« �������������� �������!�, "����� μ� %��������.

30 ���� �¹ ���λ ����� $����« �'��� ��(9������� ���������)�� %������« Ν��� %���!��αΡ« � �� �����-�9� �)���(��� .������ .����,���!�����« ��%-������ /κ� �« ���# $���!��.�����« Ρ��« ����λ %������ ����� ����9».

Megarer von Nisaia, die ihr euch durch die Ruder auszeichnet,mögt ihr glücklich leben, weil ihr den Fremden aus Attikavor anderen geehrt habt, Diokles, der Knaben liebte.

30 Immer wetteifern im ersten Frühling, an dessen Grab versammelt,die Jünglinge, um den Preis im Küssen davonzutragen.Wer die süßesten Lippen auf Lippen drückt,kehrt, mit Kränzen beschwert, zur Mutter zurück.Glücklich, wer bei jenem Küssen der Jungen Schiedsrichter ist.

Heinsius legt damit ein Bekenntnis ab, daß er weiterhin in Secundus’ und Dousas Art dich-ten wolle. Er überträgt den Agon aus der Sphäre der Knabenliebe in die Welt von Mädchenund Jünglingen. Das entspricht dem Inhalt seiner Liebesdichtung.

Der Bezug auf Theokrit ist für Heinsius ebenso bezeichnend wie dessen Umdeutung.Die griechische Dichtung ist ihm durchweg präsent (Anakreon, Moschos, Theokrit). IhreMotive verwendet er, wie es die römischen Vorgänger taten. Überdies folgt er ihnen darinnach, daß er sie pointiert umwertet und in neue Zusammenhänge stellt. An Catulls Car-men 51, das das von Sappho an ein Mädchen ihres Kreises gerichtete Lied auf ein Eifer-suchtsverhältnis zwischen Mann und Frau überträgt, braucht nur erinnert zu werden.Eine enge Parallele bietet Vergil, der in der zweiten Ekloge das Vorbild, Theokrits Kyklops,aus dem Bereich der Liebe zwischen Mann und Frau in den zwischen Mann und Knabenhinüberspielt – also umgekehrt vorgeht als Heinsius.

In einem weiteren Punkt nimmt sich der junge Niederländer die antiken Meister zumVorbild. So wie er in seine Elegie einen Passus aus Theokrit einschmilzt, gruppiert Catulldie bekannte Klageelegie an Allius (Carm. 68) offenbar um eine (verlorene) griechische Ele-gie über das betrübliche Schicksal von Protesilaos und Laodameia.38 Die gebildeten Rezi-pienten verstehen jeweils den souveränen Umgang mit berühmten Vorbildern, die sich diegelehrten Dichter unterwerfen. Hier wie dort können die Poetae docti mit Auditores bzw.Lectores docti rechnen. Es geht ja in ihren Gedichten nicht nur um die auffälligen Anspie-lungen auf frühere Autoren, sondern auch, wie die in Rede stehende Heinsius-Elegie zeigt,um eine glückliche Formulierung von E. A. Schmidt zu gebrauchen, deren ‹unauffälligePräsenz›.39

Dousa stirbt 1604. Eleg. Juv. 2, 9 ist In obitum Iani Dousæ überschrieben. Es schließen sichdie Manes Dousici an, ein Zyklus von zunächst neun Gedichten,40 denen noch einmal 12 Ge-dichte auf Dousa folgen.41 Das siebte des zweiten Teils trägt die Überschrift Iano Dousæ,

38 Lefèvre 1991, 314–319.39 1995, 45.40 1649, 485–492.41 1649, 492–502.

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Venerum & Cupidinum sacerdoti.42 Es preist den Liebesdichter Dousa. Aus dem Anfanggeht hervor, daß er nicht plötzlich starb, sondern dahinsiechte (1–5):

Cum Dousa victus ægroLanguesceret dolore,Et membra jam supremoSopore concidissent,

5 Perfusa […].

Als Dousa, besiegt von denSchmerzen der Krankheit, dahinsiechteund seine Glieder zusammenbrachen,schon vom letzten Schlaf

5 übergossen […].

Treffend will also Heinsius nach Dousas Tod des Venerum & Cupidinum sacerdos43 geden-ken. Die certamina, die dann ausgetragen werden sollen (Eleg. Juv. 1, 5, 49), könntenbedeuten, daß auch andere Freunde Dousas sich dieses Themas ‹um die Wette› annehmen –so wie es bald darauf nach Justus Lipsius’ Tod 1606 geschehen wird.44 Die gegenseitigeVerbundenheit der beiden Autoren gerade durch die Poesie kommt in dem letzten Gedichtdes ersten Teils der Manes Dousici zum Ausdruck, das den für die Würdigung eines anderenparadoxen Titel Ad Musas s u a s trägt:45

Ad Musas suas.Heinsi deliciæ decusque, Musæ,Quas plus Dousa suis amabat olim,Non illis oculis, profana ParcaQuos jam condidit abstulitque nobis,

5 Sed Musis propriis, suis Camœnis,Camœnis tenerisque lacteisque,Plenis nectare Cyprio favisqueEt superstitibus suo poëtæ,Quas primis satur ebriusque flammis

10 Idæ dulcibus hausit è labellis;Vobis inferiasque lacrymasqueSolvit Heinsius, Heinsius superstesEt Dousæ simul, & suis Camœnis.Actum est ilicet: ilicet valete.

15 Quis vos jam colet expetetque Musæ?Quis vos postmodo deperibit unquam,Heinsi deliciæ decusque Musæ?

An seine (eigenen) Musen.Heinsius’ Entzücken und Zierde, ihr Musen,die Dousa einst mehr als die eigenen liebte,nicht nur mit jenen Augen, die die ruchlose Parzeschon schloß und uns fortnahm,

42 1649, 496–499.43 Horaz bezeichnet sich als Musarum sacerdos (Carm. 3, 1, 3). Vgl. Lefèvre 1993, 155.44 Lefèvre 2007, 203–205.45 1649, 491–492.

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5 sondern mit seinen eigenen Musen, seinen Kamönen,seinen zarten und reinen Kamönen,die voll von kyprischem Nektar und Honig sindund ihren Dichter überleben,die er von seinen ersten Flammen erfüllt und trunken

10 von den süßen Lippen der Göttin vom Ida saugte;euch bringt das Totenopfer und TränenHeinsius, Heinsius, der Dousaund zugleich seine eigenen Kamönen überlebt.Es ist aus: Es ist aus, lebt wohl!

15 Wer wird euch pflegen und auf euch warten, ihr Musen?Wer wird künftig noch in euch sterblich verliebt sein,Heinsius’ Entzücken und Zierde, ihr Musen?

Die Hendekasyllaben in Catulls Art und Geist klagen um die nun beendete Gemeinschaftder beiden Dichter im Blick auf ihre Werke. Dousa habe Heinsius’ Kunst so geschätzt, daßer sie mit seiner Kunst aufnahm – ganz in der Weise der römischen Neoteriker. Umgekehrtheißt es, daß der Überlebende – des Freunds oder besser: der Kunst des Freunds, die ihnanregte, beraubt – selbst nicht mehr dichten könne. Es sei ein Geben und Nehmen ge-wesen.

Daß Dousa tatsächlich von Heinsius’ jugendlicher Liebesdichtung beeindruckt war, gehtaus zwei Elegien hervor, die er dem 25 Jahre Jüngeren widmete: In Poëmata Dan. Heinsii,Iani Dousæ Elegia und Idem de iisdem.46 Die zweite, kürzere der beiden möge das belegen:47

Idem de iisdem.Ganda, inter Flandras quondam pulcherrima Nymphas,

At nunc hosti etiam vel miseranda suo,Cæsareis quanvis cunis se vendidit, Heinsî

Ingenio majus nil tulit illa sui.5 At grave quid, Batavis exsul si degat in oris?

Plus patriam domina non amat ille sua.An patria est, ubi cuique bene est? laus debita Rossæ hæc,

Heinsiadi patrios quæ facit una Lares.Immo urbs Heinsiacos quæcunque tenebit amores,

10 Hæc domus, hæc vati Ganda futura meo.

Janus Dousa über Daniel Heinsius’ GedichteDie Stadt Gent, einst unter Flanderns Nymphen die schönste,

doch jetzt sogar ihrem Feind bemitleidenswert,obwohl sie sich dem kaiserlichen Heer verkauft hat, brachte

nichts Größeres als ihres Heinsius’ Ingenium hervor.5 Aber was ist es schlimm, wenn er als Flüchtling in Batavien lebt?

Nicht liebt er die Heimat mehr als seine Herrin.Ist nicht dort für jeden die Heimat, wo es ihm gut geht? Das Lob gebührt Rossa,

daß sie allein für Heinsius einen heimatlichen Herd bedeutet.In welcher Stadt auch immer Heinsius’ Geliebte sein wird,

10 sie ist gewiß das Haus, sie das künftige Gent meinem Dichter.

46 Abgedruckt bei Heinsius 1649, 634–638.47 Zitiert nach Heinsius 1649, 637–638.

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Heinsius ist 1580 in Gent, auf dessen mythologischen Ursprung angespielt wird, geboren.Da er protestantisch ist, kann er nicht in der Heimatstadt leben, die sich 1584 den katholi-schen Spaniern unter dem Feldherrn Alessandro Farnese ergeben hat. Seine Familie fliehtbereits 1583. Nach dem alten Sprichwort ubi bene ibi patria48 ist, sagt Dousa, für Heinsiusdort die Heimat, wo seine Geliebte Rossa (mit ihm) wohnt. Das ist in den protestantischenNiederlanden (Batavien) der Fall, also in Leiden, wo er seit 1598 mit einer Unterbrechungwohnt.49 Dousa ruft keinen wohlfeilen rhetorischen Trost Heinsius zu. «Any bitter-ness […] over this fate gave way to gratefulness for his new homeland in the North».50

Worauf es in dem hier verfolgten Zusammenhang ankommt, ist das Lob, das der ange-sehene Dousa dem aufstrebenden Heinsius spendet (ingenium), und zwar als Liebesdichter(domina, Rossa, amores).

Der junge Heinsius erweist sich mit der Elegie De Musis suis bereits als gekonnter Vertreterder neulateinischen Lyrik. Es geht, wie G. Manuwald über Johannes Secundus grundsätz-lich gesagt hat, nicht darum, «eine klar definierte antike Vorlage zu imitieren und an-spruchsvoll zu variieren, sondern daß aus verschiedenen Quellen genommene Elemente soin einen neuen Kontext gebracht werden, daß das Auffinden und Wiedererkennen für denhumanistischen Leser einen Teil des Lesevergnügens ausmacht. Der neue Kontext steht un-ter der Idee, daß antike Liebesdichtung von solcher Qualität ist, daß sie durch Rezeptionimmerwährend weitere Dichtung hervorbringen kann; damit wird das Motiv der von anti-ken Dichtern geäußerten Hoffnung auf ewige Dauer ihrer Werke umgewandelt in das einesliterarischen Prozesses.»51 In diesem Prozeß stehen Secundus, Dousa und Heinsius an be-deutender Stelle.

Literaturverzeichnis

Ausgaben und Kommentare sind durch ein Sternchen (*) bezeichnet.Becker-Cantarino , B., Daniel Heinsius, Twayne’s World Authors Series 477, Boston 1978.*Broukhusius , J., Sex. Aurelii Propertii Elegiarum libri quatuor, Ad fidem veterum membra-

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*Danielis Heinsii Poemata emendata […] et aucta. Editio quarta, Lugduni Batavorum 1613.*Danielis Heinsii Poemata Latina Et Græca; Editio post plurimas postrema, longe auctior [8. Auf-

lage], Amstelodami 1649.Lefèvre , E., Ovidius: Alter ab illis. Die literaturgeschichtliche Bedeutung von Am. 1, 1, in: De

Virgile à Jacob Balde. Hommage à Mme Thill, Bull. de la Fac. de Lettres de Mulhouse 15,Univ. de Haute Alsace, Mulhouse 1987, 129–134.

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Lefèvre , E., Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993.

48 Otto 1890, 268.49 Becker-Cantarino 1978, 9.50 Becker-Cantarino 1978, 14.51 2004, 174 (zu Eleg. 3, 3).

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Daniel Heinsius über seine Liebesdichtung (Eleg. Juv. 1, 5) 177

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Otto , A., Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890.Schäfer, E. (Hrsg.), Johannes Secundus und die römische Liebeslyrik, NeoLatina 5, Tübingen

2004.Schmidt , E. A., Catull, Heidelberg 1985.Schmidt , E. A., Stationen der Wirkungsgeschichte Catulls in deutscher Perspektive, Gymna-

sium 102, 1995, 44–78.*Syndikus , H. P., Catull. Eine Interpretation. I: Die kleinen Gedichte (1–60), Darmstadt 1984.Van Dam , H.-J., Daniel Heinsius, poète-philologue, in: La philologie humaniste et ses repré-

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Florian Schaffenrath

Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator

Niccolò Giannettasios Verweise auf frühere und kommende Werke

Einleitung

Einem der fruchtbarsten neulateinischen Dichter im Italien des 17. Jahrhunderts, NiccolòParthenio Giannettasio (1648–1715), ist in letzter Zeit wieder vermehrte Aufmerksamkeitvon Seiten der Forschung geschenkt worden.1 Den Kern des poetischen Schaffens des Jesui-ten stellt didaktische Poesie über Schifffahrt, Kriegstechnik und Fischfang dar. Der Grunddafür, warum dieser interessante und gewitzte Dichter bis vor kurzem nicht behandeltwurde, liegt einerseits in der lange betriebenen Vernachlässigung neulateinischer Texte;andererseits ist uns Heutigen das Verständnis für lateinische Lehrdichtung und ihren Sitzim Leben völlig abhanden gekommen. In einem Aufsatz über Fracastoros medizinischesLehrgedicht Syphilis drückt Yasmin Haskell diesen Umstand pointierter aus: «Fiction issexy, didactic poetry not so sexy»2.

Der Xaverius viator

Giannettasios früheste Dichtung war jedoch kein Lehrgedicht, sondern ein Epos über dieMissionsreisen des Heiligen Franz Xaver: Xaverius viator seu Saberis. Dieses Jugendwerk3

wurde zu Giannettasios Lebzeiten nicht veröffentlicht und erschien erst sechs Jahre nachseinem Tod im Druck als dritter Band der Antonio Rambaldo gewidmeten Gesamtausgabeder lateinischen Dichtungen in Neapel.4 Das Epos besteht aus 7675 Hexametern, aufgeteiltauf zehn Bücher, wobei das zehnte Buch schon nach 21 Versen abbricht und das Werksomit unvollendet lässt. Nicht das ganze Leben des Hl. Franz Xaver wird dargestellt, son-dern nur die Zeit von seiner Einschiffung nach Indien 1541 bis kurz vor seiner Landung aufJapan 1549. Die für den Jesuitenorden so wesentliche Zeit vor 1541, in der Franz Xaver derGruppe um Ignatius von Loyola angehörte und an der Gründung des Ordens wesentlichbeteiligt war, wurde möglicherweise deshalb nicht behandelt, weil diese Geschehnisse be-reits in lateinischen Epen festgehalten worden waren.5 In für das Epos typischen histori-

1Hofmann 1993, Schindler 2001, Klecker 2002.

2Haskell 1999, 77.

3 Die Biographien sind nicht sehr detailliert in der Einordnung der Werke in bestimmte Lebensphasen (vgl.Tarzia 2000). Der Xaverius wird immerhin als «fruit de la jeunesse de l’auteur» (Michaud XVI 404) be-zeichnet und fällt somit in die Zeit des unsteten Umherwanderns, wie es für junge Jesuiten üblich ist.

4 Nicolai Parthenii Giannettasii SJ Xaverius viator seu saberidos carmen posthumum, Neapel 1721.5 Die berühmtesten Ignatius-Epen sind die Ignatias des Antonio Figueira Durao (Lissabon 1632) und die

Ignatias des Laurent le Brun (Paris 1661). Zu Figueira vgl. Klecker 2003, zu le Brun vgl. Gärtner 2004.

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Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator 179

schen Rückblenden und Ausblicken kommt jedoch auch Ignatius im Xaverius viator einewichtige Rolle zu.

Im ersten Buch wird zunächst die Geschichte Indiens aufgerollt, seine historische Bedeu-tung und die ersten Kontakte mit dem Christentum, v. a. durch den Hl. Thomas. Bevor derHeld des Epos noch erscheint, lernt der Leser dessen Gegenspieler Pluto, den Höllenfürs-ten, kennen. Bereits hier zeigt sich, wie sehr sich Giannettasio als imitator der vergilischenAeneis sieht, denn auch dort gehört die erste größere Szene nach dem Proömium Iuno,die sich über die Erfolge der trojanischen Flotte ärgert und Aeolus auf ihre Seite zieht. ImXaverius freut sich Pluto, dass es ihm in der Zeit nach dem Wirken des Hl. Thomas inIndien gelungen ist, das Land wieder für sich zu gewinnen. Eine Prophezeiung hat ihmjedoch angekündigt, dass ein Jesuit dereinst Indien für das Christentum zurückgewinnenwird. Wiederum mit augenfälligen Parallelen zu Vergil erregt er (nach einer beherzten Redevor seinen Unterweltsdämonen) einen Seesturm gegen die inzwischen aus Lissabon ausge-laufene Flotte, die Franz Xaver nach Indien bringen soll. Mitten im schlimmsten Toben desSturmes meditiert Franz Xaver – wohl eine Anspielung auf Jesus, der während eines See-sturmes an Bord des bedrohten Schiffes schläft (Mt 8,23–27) – und kann dann die Windebesänftigen, indem er das Kreuz vor sich hält.

Am Anfang des zweiten Buches landet die Flotte an der Küste Afrikas, um notwendigeReparaturen durchzuführen und um sich von den Strapazen des Sturmes zu erholen. Wäh-rend einer Meditation wird Franz Xaver in den Himmel entrückt, von wo aus er die ganzeErde überblicken kann, bis er die Besinnung verliert.6 Nachdem die Fahrt wieder aufgenom-men wurde, macht sich nach der Überquerung des Äquators eine verheerende Windstillebreit, die den Ausbruch von Seuchen an Bord begünstigt. Mit größter Hingabe kümmertsich Franz Xaver um die Kranken. Als die Fahrt endlich weitergeht, werfen sich den Schif-fen bald gewaltige Untiere entgegen, zuletzt sogar ein riesiger Wal, den Franz Xaver jedochmit göttlicher Hilfe vertreiben kann.

Im dritten Buch landet die Flotte auf der Insel Madagaskar, die von König Tamarus re-giert wird. Dort werden die Ankömmlinge vom portugiesischen Statthalter Martinus emp-fangen. Franz Xaver verbringt die Nacht in der Kirche, wo er sich in frommer Kasteiunggeißelt. Am Morgen nähert sich ihm ein Engel, der ihm von seinen künftigen Erfolgen inIndien kündet. Das Volk strömt zum Gottesdienst zusammen; während Franz Xaver dieMesse liest, erstrahlt sein Haupt und Himmelschöre ertönen. Einige Zeit später nimmt dieFlotte ihre Reise wieder auf.

Am Beginn des vierten Buches prophezeit Franz Xaver die Ankunft in Goa für dennächsten Tag und behält Recht. Ein Zwischenproömium (3,121–147) zeigt, dass hier dererste Teil des Epos, der die Reise nach Indien beinhaltet, abgeschlossen ist. Franz Xaver ge-langt nach Milispara zum Grab des Heiligen Thomas, wo er vom regierenden FürstenApheldes willkommen geheißen wird. Nach einem Gottesdienst besucht Franz Xaver denörtlichen Bischof Albucherius, der ihn und die Jesuiten in ihrer Missionsabsicht unterstüt-zen will. Franz Xaver beginnt sein Werk und kann die ersten Heiden taufen.

Das fünfte Buch beginnt mit der Gründung eines Jesuitenkollegs in Goa. Als im Frühlingdas Meer wieder schiffbar wird, setzt Franz Xaver seine Reise fort. Er landet in Colchinum,

6 Dieses Motiv ist wohl ursprünglich von Ciceros Somnium Scipionis inspiriert. Im neulateinischen Eposspielte es zunächst in Petrarcas Africa (v. a. im ersten und zweiten Buch) eine wichtige Rolle, vgl. Visser

2005, 16–145.

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wo es ihm gelingt, viele Menschen zum Christentum zu bekehren. Auf der Weiterreise ge-langt die Flotte durch Gottes Hilfe sicher durch einen Seesturm; am Strand ereignet sichum Franz Xavers Haupt ein Flammenprodigium. In Tucurinum hilft er einer Frau, die inden Wehen liegt. Ihre Niederkunft geht gut vonstatten, nachdem sie sich taufen ließ. Einenkürzlich Verstorbenen kann er wieder zum Leben erwecken. Der Ruf von Franz XaversHeiligkeit verbreitet sich in vielen Ländern.

Das sechste Buch zeigt, dass man sich auch in Europa von Franz Xavers großen Taten er-zählt. Ignatius von Loyola schickt weitere Jesuiten nach Indien. In der Hölle ist Pluto ent-setzt über die Erfolge der Jesuiten und beruft ein Höllenkonzil ein. Dort beauftragt er dieFurie Allecto, sich in Lycas zu verwandeln, den Vater des Lytrisar, König der Badager, umihn zum Krieg gegen Franz Xaver anzustacheln. Allecto führt ihren Auftrag aus und sta-chelt zudem die anderen Eumeniden zum Kampf gegen die Jesuiten auf. Noch in der Nachtstellt Lytrisar seine Armee auf und marschiert gegen die Stadt Travancoris, wo sich FranzXaver gerade aufhalten soll. Dort bereitet König Acas alles zur Verteidigung der Stadt vor;aufgrund eines Traumes von Königin Phylias wagt er jedoch keinen Ausfall gegen die Ba-dager. In der ersten Schlachtphase ist das Glück auf der Seite Lytrisars, doch ein gewaltigerWolkenbruch zwingt ihn, sich in sein Lager zurückzuziehen. Am nächsten Morgen greiftFranz Xaver, den ein Engel dazu aufgefordert hat, in die Schlacht ein. Er zieht vor die Stadtauf einen nahen Hügel, wo er sich plötzlich in eine riesige Gestalt verwandelt, um die he-rum es blitzt und donnert. Die Badager fliehen.

Wiederum mit einem Zwischenproömium (7,1–19) beginnt das siebte Buch, in dem eben-falls von Kämpfen die Rede ist. Seit dem Wirken des Hl. Thomas hängt die perlenreiche In-sel Manaria dem christlichen Glauben an. König Lysarus eroberte die Insel und zwang dieEinwohner, zum Islam überzutreten. Nur Oaxes weigerte sich und flüchtete in die Wildnis,wo ihm in einem Traum ein Gigant erschien, der einst die Rückkehr des christlichen Gotteseinleiten sollte. Zudem erscheint ihm der Hl. Thomas, der ihm seinen Traum deutet. AmStrand sieht Oaxes dann als erster die nahende Flotte der Jesuiten. In der Hauptstadt ge-lingt es Oaxes und den Missionaren, die Bevölkerung zum Sturz der Götzenaltäre zu über-reden. Der grausame König Orabis aber rüstet gegen den Eindringling zum Kampf und be-lagert die Hauptstadt Manarias. Die Mauern fallen bald nach intensivem Bombardement,Orabis’ Truppen dringen in die Stadt ein und richten ein Blutbad an. Viele Bewohner derHauptstadt sterben den Märtyrertod. In der Zwischenzeit tobt ein Seesturm um die Flotte,die die von Ignatius jüngst entsandten Jesuiten nach Indien bringen soll. Gott schickt denErzengel Michael, um den Sturm zu besänftigen.

Im achten Buch erreicht Franz Xaver die Stadt des Hl. Thomas. Während einer Medita-tion in der Kirche wird Franz Xaver in himmlische Regionen entrückt und erblickt dortdas Himmlische Jerusalem, dessen Beschreibung weiten Raum einnimmt. Der Hl. Thomaserscheint und führt Franz Xaver im Himmel herum. In einer Heldenschau treten zunächstdie bereits verstorbenen Vorkämpfer des Christentums auf. Der sehr früh verstorbeneDiego Hoces, ein Priester aus Malaga, nähert sich Franz Xaver und kündet ihm in einemlangen Katalog die Reihe der künftigen Jesuiten, als deren letzter der Japanmissionar Mar-cellus Franciscus Mastrillus erscheint, wie ja auch Marcellus den Endpunkt der vergilischenHeldenschau im sechsten Buch der Aeneis markiert. Dann führt der Hl. Thomas Franz Xa-ver auf die Erde zurück.

Zu Beginn des neunten Buches liest Franz Xaver eine Messe und treibt Dämonen ausBesessenen aus. In der Hölle beschließt Pluto, nun selbst ins Geschehen einzugreifen und

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macht sich auf den Weg zu Franz Xaver, der gerade in der Kirche meditiert. Dämonen erfül-len das Gotteshaus, Pluto nimmt wie Proteus verschiedene furchterregende Gestalten an,doch Franz Xaver bleibt unbeeindruckt. Als er die Jungfrau Maria zu Hilfe ruft, müssen sichdie Dämonen zurückziehen. Er lässt die Flotte für die Weiterreise nach Japan bereit machen.Um die lange Fahrt etwas erträglicher zu machen, zeigt Olletes eine von ihm verfertigte Welt-karte und beschreibt die einzelnen dargestellten Länder. Endlich landet die Flotte auf Tapro-bane. Das zehnte Buch bricht nach einem Zwischenproömium ab, in dem der Dichter dieMuse um Unterstützung für die letzte Anstrengung (ultimus … labor 10,19) bittet.

Ankündigungen

Während Elisabeth Klecker 2001 bereits auf den kreativen Umgang Giannettasios mitseinem Vorbild Vergil im Bereich der Dido-Rezeption eingegangen ist, sei im Folgenden aufein anderes Phänomen der Vergilnachfolge hingewiesen, nämlich die Vergil nachahmendeVerknüpfung der Werke untereinander.7

Giannettasio ist ein «ankündigungsfreudiger» Dichter; er liebt es, in seinen Werkeneinerseits auf seine früheren Werke hinzuweisen, andererseits künftige geplante Werke an-zukündigen.8 Diese Tendenz ist bereits in seinen ersten veröffentlichten Gedichten – derXaverius blieb ja lange Zeit unveröffentlicht – zu beobachten: 1685 gibt er in Neapel seineEklogen und sein Lehrgedicht Nautica heraus, von diesen Gedichten folgen weitere teilsstark erweiterte Auflagen.

Mit seinen 14 Fischereklogen tritt Giannettasio thematisch in die Fußstapfen seinesLandsmannes Sannazaro, der seinerseits wieder in Vergil-Nachfolge fünf Fischereklogengeschrieben hat.9 Giannettasio verdoppelt die Zahl der Eklogen des Sannazaro nicht nur,wie er die vier Bücher der Georgica durch acht Bücher Nautica verdoppelt hat, sondern erschreibt bedeutend mehr Eklogen. Allein in diesen 14 Gedichten finden sich zwei Ankün-digungen von größeren Epen: Der Tityrus der ersten Ekloge, der allegorisch für Giannet-tasio selbst steht,10 preist Kaiser Leopold I. für seinen Sieg über die Türken und versprichtihm, wenn er ihn nur persönlich sehen könnte, seinen Namen und seine Taten Moeonio …cantu (ecl. 1,96), also in einem epischen Gedicht zu feiern. Am Ende der 14. Ekloge ver-spricht Giannettasio seinem Mäzen und Förderer, dem Grafen Carolo Cardenio,11 ein pa-negyrisches Epos (ecl. 14,95–105):

7 Korenjak hat vor kurzem aufgezeigt, dass Vergil der erste war, der nicht nur Einzelwerke geschreiben hat,sondern seine Werke dem Konzept eines Gesamtwerkes untergeordnet hat, vgl. Korenjak 2005, 219.

8 Das aus der Antike übernommene Motiv der Werkankündigung, v. a. von geplanten panegyrischen Epenfür amtierende Herrscher, wurde in der neulateinischen Literatur intensiv rezipiert. Einer der bedeutends-ten Epiker des 15. Jahrhunderts, Tito Strozzi, kündigt in seinem Epyllion Lucilla (Verse 17–24) etwa einpanegyrisches Epos auf das Haus d’Este und auf Markgraf Leonello im Besonderen an. Strozzi folgt hierseinerseits wieder Giovanni Marrasio, der in einer Elegie ein Este-Epos ankündigte (vgl. Ludwig 1977,17 f.).

9 Grundlegend zu Sannazaros Fischereklogen mit weiterführender Literatur Kidwell 1993, 130–138.10 In der Auflösung der allegorischen Bedeutung der Figuren, die dem Gedicht vorausgeht, heißt es «per

Tityrum poetam».11 Über ihn vgl. Schindler 2001, 147, Anm. 5.

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Tunc genus antiquum regali e sanguine regumcantabo, stirpisque tuae primordia dicam,magnanimos addam heroas regesque superbos,quos Tagus auriferis regnantes vidit areniset quos dives Iber niveaque incinctus olivaBaetis et umbrosa coluit cervice Pyrene,quos et Parthenope titulis maioribus auxit.Noster et in viridi miratus saepe recessuPausilypus fovitque suas Euplaea per undas.Non taceam tua facta, mihi si pulcher Apolloet digna Actiades concedant carmina Musae.

(«Dann werde ich das alte Königsgeschlecht aus königlichem Blut besingen, werde vonden Ursprüngen deiner Familie berichten und die großherzigen Helden und stolzen Kö-nige anführen, die der Tagus an seinem goldführendem Strand, der reiche Ebro und dervon hellen Oliven gesäumte Baetis herrschen sahen, die das Pyrene-Gebirge mit seinemschattigen Haupt verehrte und die Neapel mit noch bedeutenderen Titeln erhöhte. Auchunser Pausilyp bewunderte dieses Geschlecht oft in seiner grünen Abgeschiedenheit,Euplaea war ihm in ihren Wellen gewogen. So will ich deine Taten nicht verschweigen,wenn mir nur der schöne Apollon und die heimischen Musen würdige Gesänge zuge-stehen.»)

Beide hier angekündigten Epen, das für Kaiser Leopold I. sowie das für Graf Cardenio, wur-den nie geschrieben. Etwas anders verhält es sich mit der Ankündigung eines Columbus-Epos, das zwar auch nie geschrieben, jedoch in anderer Form in Angriff genommen wurde:

Kontext

Im neunten Buch des Xaverius viator ist Franz Xaver nach unzähligen Abenteuern inIndien wieder in See gestochen und will nach Chrysaea (wohl Japan) segeln, um auch dortden christlichen Glauben zu verbreiten. Während die einzelnen Stationen dieser Seereisenur kurz angedeutet werden, verwendet Giannettasio viel Mühe auf die Beschreibungdes Kompasses12 einerseits und einer Weltkarte andererseits13. Erzähltechnisch nicht unge-schickt lässt Giannettasio Olletes, den Zeichner bzw. Verfasser dieser Weltkarte, auftretenund sein Werk in einer sehr langen Partie (vv. 9,355–745) beschreiben. Er beginnt mit Erd-regionen, die entlegener sind, um im letzten Teil auf Europa einzugehen. Hier wiederumsteht Italien am Schluss, und innerhalb der Beschreibung Italiens Giannettasios HeimatNeapel.

12 Auch in seinem später entstandenen Lehrgedicht «Nauticorum libri VIII» findet sich eine sehr detaillierteBeschreibung des Kompasses (Naut. 4,60–93).

13 In seiner Prosaeinleitung zu den Nautica hebt Giannettasio hervor, wie sehr sich die moderne Schifffahrtvor der antiken auszeichnet. Neben verbesserten mathematischen Kenntnissen sind es gerade die hier ge-nannten Hilfsmittel, Kompass und Karten, die diesen Fortschritt gebracht haben («Haec vero tempestateope pyxidis mapparumque Geographicarum, necnon et summa mathematicae disciplinae peritia, id praestitumest, ut non per Mediterraneum modo, sed longe lateque per Oceanum tutissima ac brevissima sit nobis naviga-tio» Giannettasio, Opera omnia poetica, Neapel 1715, 46).

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Interpretation

Am Beginn der Beschreibung entlegenerer Erdteile steht Amerika (vv. 9,358–403), das sichim Gegensatz zu den alten Erdteilen Asien, Europa und Afrika auf der linken Seite derKarte befindet und «Neue Welt» genannt wird (9,358–361):

Cernite, qui dextra pictus protenditur orbisterra vetus, Libyam Europenque Asiamque figurat,qui vero ad laevas spectat, novus ille vocaturorbis

(«Schaut euch die alte Welt an, die sich auf der rechten Seite abgebildet findet, Libyen,Europa und Asien. Was aber hier links liegt, das wird Neue Welt genannt.»)

Lange Zeit war dieser Erdteil nicht bekannt, da er durch große Ozeane (den Atlantik imOsten und den Pazifik im Westen) nicht zugänglich war. Dabei ist er sehr groß und er-streckt sich sowohl auf der Nord- als auch auf der Südhalbkugel. Als erstem ist es Chris-toph Columbus, einem Ligurer und der Zierde seines Geschlechtes, gelungen, die Welt derAntipoden zu betreten und sich so großen Ruhm zu erwerben (9,365–368). Amerigo Ves-pucci hingegen hat als erster die Städte und Völker Amerikas erforscht und wurde so zumNamensvetter des neuen Kontinents (9,369–372):

Sed melius Tusca veniens Americus ab oracircuit et mores populorum vidit et urbes.Illius hinc nostri Ammeriam de nomine dicuntfacti haud immemores

(«Dann aber kam Americus aus der Toskana, reiste herum und lernte die Sitten undStädte dieser Völker kennen. Wir heutigen erinnern uns genau an diese Taten und benen-nen den Erdteil nach ihm Ammeria.»)

Die Formulierung et mores populorum vidit et urbes (v. 370) ist eine wörtliche Übersetzungaus dem Proömium der Odyssee, in dem es von Odysseus heißt ������ �2 $������� � Ν�� � ��λ ���� ���� (Od. 1,3). Wenn in dieser Passage der Unterschied und die un-terschiedliche Bedeutung von Columbus und Vespucci herausgearbeitet werden soll undwenn bei Vespucci deutlich auf Homers Odyssee Bezug genommen wird, drängt sich dieFrage auf, ob man in der Darstellung des Columbus Verweise auf das andere homerischeEpos, die Ilias, finden kann. Wenn auch nicht so deutlich wie das wörtliche Zitat, so kannman den Hinweis auf den Ruhm, den sich Columbus durch seine Taten erworben hat, miteinem der wichtigsten Motive der Ilias, den ���� $����, in Verbindung bringen. Späterwird noch zu zeigen sein (s. u.), dass Giannettasio für sein Werk ein vergilisches Konzepthat. Wie die Aeneis eine Synthese aus Ilias und Odyssee darstellt, hat Giannettasio hier er-kannt, dass der Columbus- bzw. Entdeckerstoff eine ähnliche Synthese zulässt und somitfür sein Werkkonzept fruchtbar gemacht werden kann.

In der unterschiedlichen Bewertung von Columbus und Vespucci gibt Giannettasio ers-terem den Vorzug. Er greift dabei das Motiv des ersten, der einen Weg beschreitet, auf undwertet Vespucci als reinen Nachfolger ab. Das Motiv des primus ist in der Columbus-Epiksehr beliebt, sodass noch einer der letzten Autoren, die sich des Themas in einem lateini-schen Epos annehmen, Ubertino Carrara SJ, sich im Proömium seines Columbus (Rom

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1715) rühmt, ein Meer zu besegeln, auf dem ihm noch keiner vorangesegelt ist (obwohl esvor ihm schon einige Columbus-Epen gab).14

Olletes ruft nun aus, dass es sich Columbus in der Tat verdient hätte, von einem lateini-schen Dichter besungen und so verstirnt worden zu sein. Er beschreibt sich selbst als Dich-ter, dessen Werke einige Bedeutung haben, und kündigt an, gleich nach seiner Rückkehr inseine Heimatstadt Neapel einen Tempel zu errichten, um (den Dichtergott) Apollon darinzu feiern und ihm als Priester zu dienen, eine poetische Chiffre für ein Epos über Colum-bus (9,377–385):

Hunc merito Typhim superis adscribere signisdebuerant Latii divino carmine vates.Hunc ego (si quod habent decus et mea carmina possunt;quippe nec ignoro Pymplaeas scandere rupescurrentem et docto distinguere gnomone Phoebum)cum primum incolumis Campanas labar in orasatque iterum reducem excipiet me patria Syrenpertaesum pelagi, celebrabo et culmina Pindi,Phoebe, colam et novus ingrediar tua templa sacerdos.

(«Diesen zweiten Typhis hätten die lateinischen Dichter mit vollem Recht in einem gött-lichen Gedicht unter die Sterne versetzen müssen. Wenn meine Gedichte schön sindund etwas vermögen – denn ich vermag die pympläischen Felsen zu erklimmen und mitgelehrtem Zeiger auf den eilenden Phoebus zu zeigen – will ich diesen, sobald ich unbe-schadet nach Kampanien zurückgekehrt bin und mich meine Heimat Neapel sicher vomMeer zurückgekehrt aufgenommen hat, feiern, ich will die Gipfel des Pindus feiern, ohPhoebus, und als neuer Priester deinen Tempel betreten!»)

Dass Giannettasio mit den Aussagen des Olletes hier auf sein eigenes künftiges Schaffen an-spielt, macht die Angabe der Heimat deutlich: Wie Olletes ist auch Giannettasio ein KindKampaniens und Neapels. Die seltene Formulierung patria Siren für Neapel wiederholtGiannettasio wörtlich in der Sphragis seine Nautica (patria Siren 8,1168) zur Angabe seinereigenen Heimat. Wie Olletes gerade fern seiner Heimat ist, so schreibt auch Giannettasioden Xaverius in einer Zeit, da er sich nicht in Neapel, sondern zu Studien in Süditalienaufhält.15 Dieser Aufenthalt des Dichters in Süditalien spiegelt sich auch in der Figur desAegon der 11. Fischerekloge, unter der man sich Giannettasio vorstellen soll.16 Über diesenAegon heißt es dann in einer Parenthese (ecl. 11,20 f.)

Aegon Euboici quondam maris accola, pontotunc Siculo errabat, patris procul exul ab oris

(«Aegon wohnte einst am Euböischen Meer, wanderte aber dann am Sikulischen Meer,verbannt fern von der Heimaterde»)

14 Die entsprechende Passage aus dem Proömium des Columbus (1,22–27) lautet: «Magnum opus aggrediorneque minor arbitror orbis / posse repertorem comprendere versibus, orbem / quam reperire fuit, ne persequaromnia, certe / invia commentis peragro loca, nullus Homerus, / nullus et Hesiodus, qui nobile fecerit ante, / quodcalcamus iter», zitiert nach Martini 1992.

15 Zu Giannettasios Biographie vgl. Anm. 3.16 Die Allegorien der Fischereklogen Giannettasios sind am Beginn stets aufgelöst. So heißt es am Beginn von

Ekloge 11: «Per Aegonem poetam intellige, qui Rhegii hanc eclogam conscripsit, cum severiori Minervaeoperam daret».

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Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator 185

Giannettasio befindet sich also nicht in der Heimat, wo er die notwendige Ruhe für dasAbfassen eines umfangreichen Columbus-Epos hätte. Wie seine Figur Olletes will er abernach seiner Rückkehr in seine Vaterstadt ein Epos über Columbus schreiben.

Mit dem Bild des Tempels, den er errichten will, um darin als Priester zu dienen, greiftGiannettasio eine der berühmtesten Ankündigungen eines Epos auf: Im Proömium desdritten Georgica-Buches kündigt Vergil ein künftiges Epos über Kaiser Augustus an. Erwählt dazu das Bild eines marmornen Tempels, den er am Ufer des Mincio errichten will(georg. 3,13–15):

et viridi in campo templum de marmore ponampropter aquam, tardis ingens ubi flexibus erratMincius et tenera praetexit harundine ripas

(«Ich will auf grüner Au nahe am Fluss einen Tempel von Marmor errichten, wo der ge-waltige Mincius in trägen Windungen irrt und seine Ufer mit zartem Schilf säumt.» Über-setzung Otto Schönberger)

Die bisher gezeigten Züge der gewollten Vergil-Nachfolge Giannettasios sind stark undwerden im Folgenden noch deutlicher: Giannettasio löst seine Ankündigung eines Colum-bus-Epos ebenso (nicht) ein, wie Vergil sein angekündigtes Augustus-Epos (nicht) einlöst.Das Columbus-Epyllion, das sich im achten Buch von Giannettasios Nautica in den Versen649–1060 findet ist zwar kein Großepos, wie man es sich aufgrund der Ankündigung er-warten könnte, hat aber so viele Eigenschaften eines Epos, dass es Heinz Hofmann (1993,229) mit Recht als «Columbeis in nuce» bezeichnen kann.

Wieder ist es ein geographischer Kontext, in den die Passage über Columbus fällt: Imachten Buch der Nautica beschäftigt sich Giannettasio mit den Ozeanen des Ostens und desWestens. Während die Schifffahrt auf den östlichen Meeren aus der Sicht des allwissendenErzählers dargestellt wird, wählt Giannettasio für den Atlantik die Darstellungsform desEpyllions, um so die seit dem Aristaeus-Epyllion der Georgica Vergils begründete Tradi-tion fortzusetzen.17 Dieses Epyllion ist von Hofmann intensiv erforscht worden undbraucht hier nicht mehr im Detail behandelt zu werden. Interessant ist aber, dass nicht dieFahrten des Columbus oder die erste Fahrt im Speziellen Thema der Einlage sind, sondernvielmehr Columbus’ Jugend und Erziehung durch seine Mutter, die Nymphe Urania, dieihm seine künftigen Heldentaten kündet und ihn auch während eines Aufenthaltes derFlotte auf Teneriffa in den Himmel entrückt, um ihm von dort die Neue Welt zu zeigen. Dieeigentliche Leistung Columbus’ wird in zwei Versen kurz berichtet (Nautica 8,1059 f.)

Atque novi gentes urbesque et litora mundilaetus adit iungitque aliis commercia terris.

(«Und freudig hat er die Völker, Städte und Strände der Neuen Welt aufgesucht und siedurch den Handel mit den restlichen Ländern verbunden.»)

Somit wird klar, dass das Columbus-Epyllion nicht das angekündigte Columbus-Epos desXaverius ist. Genausowenig ist aber die Aeneis das in den Georgica angekündigte Augus-tus-Epos. Giannettasios imitatio Vergilii besteht auch darin, das angekündigte Thema inseinem nächsten Werk zwar zu behandeln, es jedoch nicht ins Zentrum zu stellen.

17 Allgemein dazu Hofmann 1993.

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186 Florian Schaffenrath

Vergil hat sich bestimmter Techniken bedient, um seine Werke untereinander zu ver-binden.18 In der Sphragis seiner Georgica etwa nimmt der letzte Vers (georg. 4,566 Tityre,te patulae cecini sub tegmine fagi ) den ersten Vers der ersten Ekloge (ecl. 1,1 Tityre,tu patulae recubans sub tegmine fagi ) auf, womit eine Klammer für die beiden Werke her-gestellt ist. Ebenso zitiert der letzte Vers der Nautica Giannettasios (Naut. 8,1172 Tityre,te vitreas cecini Crateris ad undas) nicht nur das vergilische Vorbild, sondern noch viel kon-kreter den ersten Vers seiner Fischereklogen (ecl. 1,1 Tityre, quid vitreas recubans Crateris adundas). Zudem ist diese erste Fischerekloge, wie die erste Ekloge Vergils, der geeignete Ortdes Kaiserlobes: Giannettasios Tityrus sing ein Loblied auf Kaiser Leopold I., dem es ge-lungen ist, Wien von den Türken zu befreien (ecl. 1,42–104).

Chronologie

Zwei Probleme stellen sich jedoch, wenn man das Schaffen von Vergil und Giannettasioparallelisieren will: (1) Vergil schrieb sein Epos nach dem Lehrgedicht. (2) Die chronologi-sche Einordnung des Xaverius ist problematisch, da er zwar als Giannettasios Jugendwerkgilt, jedoch erst sechs Jahre nach seinem Tod in Neapel 1721 veröffentlicht wurde. Ob dieParallele, dass auch Vergils Aeneis zu Lebzeiten des Dichters nicht veröffentlicht wurde undunvollendet blieb, reiner Zufall oder Absicht ist, lässt sich nicht sagen. Es ist jedoch auffal-lend, dass auch andere Verfasser neulateinischer Epen, die sich in direkter Vergilnachfolgesehen, diese zu Lebzeiten nicht veröffentlichen, etwa Petrarca, dessen Africa zwar seinenDichterruhm begründete und ihm sogar die Dichterkrönung auf dem Kapitol in Rom ein-brachte, seinen Zeitgenossen jedoch, von kurzen Passagen abgesehen, nicht bekannt war.19

Dieses Problem der relativen Chronologie zwischen Xaverius und Nautica wird nocheklatanter, wenn man eine Stelle vom Anfang des achten Buches der Nautica betrachtet:Hier kommt Giannettasio bei der Beschreibung der östlichen Meere auch auf Franz Xaverzu sprechen. Inbrünstig wünscht sich der Dichter, die Taten dieses Heiligen in einem wür-digen Lied (carmine digno 8,77) feiern zu dürfen, wenn er dereinst am Strand seiner HeimatRuhe und Muse finden wird (Naut. 8,76–88):

O mihi tantifacta viri liceat celebrare et carmine dignoegregiam palmam et clari monimenta triumphiPieria ad virides umbras subtexere lauro.Spero equidem pelago servatam ad litore puppimvertere, laetus ubi descendit in aequora molliPausilypus clivo et sub tegmine rupis opacostant vatis sedes et cognita rura Camoenis.Hic ego, dum tremuli vicino ab litore pontiaspirant lenes Zephyri et vaga murmuris auraAoniam motat silvam, sacro incitus oestroalta trophaea viri atque illustria facta sub ortuet victos dicam populos regesque subactos.

18 Zum Folgenden vgl. Schindler 2001, 155.19 Zu Petrarcas Dichterkrönung vgl. Suerbaum 1972, zum Problem der Unbekanntheit der Africa zu Petrar-

cas Lebzeiten vgl. Amaturo 1971, 106 und Hoffmeister 1997. Zum Konzept der Vergilnachfolge im«vergilischen Dreischritt» (Eklogen – Lehrgedicht – Epos) vgl. Korenjak 2005, 220 f.

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Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator 187

(«Ach möge es mir doch vergönnt sein, die Taten dieses großen Mannes in einem würdi-gen Lied zu feiern, seine Siegespalme und das Denkmal seines berühmten Triumphes imSchatten von Bäumen mit pierischem Lorbeer zu umkränzen. Ich hoffe, dass sein Schiffheil vom Meer zu dem Strand zurückkehrt, wo sich der Pausilyp glücklich in sanftem Ab-hang ins Meer neigt und unter einem schattigen Felsvorsprung das Haus des Dichters unddie berühmten Güter der Camoenen liegen. Während von der nahen Küste des zitterndenMeeres sanfte Zephyrwinde heranwehen und ein sanft murmelnder Hauch den aonischenWald in Bewegung versetzt, will ich, von heiliger Begeisterung entfacht, die großen Tri-umphe dieses Mannes, seine berühmten Taten im Osten und die Völker und Könige, dieer besiegt und unterworfen hat, besingen.»)

Die Ankündigung eines Epos über Franz Xaver ist nicht an und für sich überraschend;überraschend ist die Tatsache, dass dieses Epos über Franz Xaver bereits geschrieben, nurnoch nicht veröffentlicht wurde. Das zeitgenössische Publikum wusste noch nichts vonGiannettasios Jugendwerk Xaverius. Es war Giannettasios Absicht, seine Werke, mit denener Vergil nachfolgen wollte, untereinander eng zu verbinden: So finden sich im XaveriusVorverweise auf das Columbus-Epyllion der Nautica, umgekehrt in den Nautica Ankündi-gungen eines Franz-Xaver-Epos, an die sich die Beschreibung einer idyllischen Landschaftanschließt.

Die Beschreibung dieser idyllischen Landschaft, die sich der Dichter an beiden Stellen alsUmfeld für sein künftiges poetisches Schaffen wünscht, stellt gleichsam das Bindeglied zwi-schen den Nautica und den Fischereklogen her: Eine frappierende Zahl gleicher und ähn-licher Motive erweist Naut. 8,73–156 als direkte Anspielung auf ecl. 14,21–56: sanft we-hende Zephyrus-Winde (ecl. 14,21 Ä Naut. 8,85), herrliche Gärten (ecl. 14,29 Ä Naut.8,110 f.), liebreizender Duft (ecl. 14,30 f. Ä Naut. 8,114), sprudelnde Quellen (ecl. 14,33 f. ÄNaut. 8,95), angenehmer Schatten unter Felsen (ecl. 14,41–43 Ä Naut. 8,120), Chöre derMeernymphen (ecl. 14,45 f. Ä Naut. 8,134), im Wasser spielende Delphine (ecl. 14,47 ÄNaut. 8,132) und das Bild abrundende Zephyrwinde wie jeweils am Anfang (ecl. 14,53 ÄNaut. 8,129).

Vergil-Imitation in der Werkfolge ist kein Phänomen, das erst in der neulateinischenDichtung auftaucht. Bereits Ovid unternimmt den «vergilischen Dreischritt», um späterein anderes Werkkonzept zu entwickeln, vergiltreuer sind Grattius und Nemesian.20 Gian-nettasios Besonderheit ist jedoch, dass das Konzept bei ihm, dadurch dass der Xaverius be-reits vorlag, kein Wunsch bleiben, sondern vorprogrammiert aufgehen musste.

Literatur

Amaturo 1971: Amaturo, Raffaele: Petrarca, Rom/Bari 1971 (Literatura italiana Laterza, 6).Gärtner 2004: Gärtner, Thomas: Die Ignatias des Laurentius Le Brun. Ein Jesuitenepos über

den Ordensgründer Ignatius von Loyola, in: NlatJb 6 (2004), 17–49.Haskell 1999: Haskell, Yasmin: Between Fact and Fiction. The Renaissance Didactic Poetry of

Fracastoro, Palingenio and Valvasone, in: Haskell, Yasmin / Hardie, Philipp (Hg.): Poets andTeachers. Latin Didactic Poetry and the Didactic Authority of the Latin Poet from the Re-naissance to the Present, Bari 1999, 77–103.

20 Vgl. Korenjak 2005, 220 f. (bes. Anm. 57).

Page 194: Antike und Abendland

188 Florian Schaffenrath

Hoffmeister 1997: Hoffmeister, Gerhart: Petrarca, Stuttgart 1997.Hofmann 1993: Hofmann, Heinz: Variations of an Ending. Scipio, Aristaeus, and the Dream

of Columbus, in: RPL 16 (1993), 227–238.Kidwell 1993: Kidwell, Carol: Sannazaro and Arcadia, London 1993.Klecker 2002: Klecker, Elisabeth: «Liebe verleiht Flügel». Ein neulateinisches Epos über die

Missionsreisen des Heiligen Franz Xaver, in: Haub, Rita / Oswald, Julius (Hg.): Franz Xa-ver – Patron der Missionen. Festschrift zum 450. Todestag, Regensburg 2002, 151–181.

Klecker 2003: Klecker, Elisabeth: «Imperium Minervae». Jesuitische Bildungspropaganda inder Ignatias des António Figueira Durao, in: Briesemeister, Dietrich / Schönberger, Axel(Hg.): Imperium Minervae. Studien zur brasilianischen, iberischen und mosambikanischenLiteratur, Frankfurt a. M. 2003, 179–209.

Korenjak 2005: Korenjak, Martin: Abschiedsbriefe. Horaz’ und Ovids epistolographischesSpätwerk II, in: Mnemosyne 58 (2005), 218–234.

Ludwig 1977: Ludwig, Walter: Die Borsias des Tito Strozzi. Ein lateinisches Epos der Renais-sance, München 1977.

Martini 1992: Martini, Mario (Hg.): Ubertino Carrara. Columbus, Sora 1992.Michaud: Michaud, Louis Gabriel: Biographie universelle, ancienne et moderne ou Histoire,

par ordre alphabétique, de la vie publique et privée de tous les hommes qui se sont fait remar-quer par leurs écrits, leurs actions, leurs talents, leurs vertus ou leurs crimes, 85 Bd.e, Paris1811–1862.

Schindler 2001: Schindler, Claudia: Nicolò Partenio Giannettasios Nauticorum libri VIII. Einneulateinisches Lehrgedicht des 17. Jahrhunderts, in: NlatJb 3 (2001), 145–176.

Suerbaum 1972: Suerbaum, Werner: Poeta laureatus et triumphans. Die DichterkrönungPetrarcas und sein Ennius-Bild, in: Poetica 5 (1972), 293–328.

Tarzia 2000: Tarzia, F.: Giannettasio, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 51, Roma2000, 448 f.

Visser 2005: Visser, Tamara: Antike und Christentum in Petrarcas Africa, Tübingen 2005(NeoLatina, 7).

Anhang

Cernite, qui dextra pictus protenditur orbisterra vetus, Libyam Europenque Asiamque figurat,qui vero ad laevas spectat, novus ille vocatur 360orbis, qui tumidis circumfluus undique lymphisiamdudum nostris latuit dissectus ab oris.Inter Atlantaeum se tendit et inter Eoumingentem Oceanum geminosque excurrit ad axes.Hunc prior appetiit Ligurum de gente Columbus21, 365Ausoniae decus eximium, quem Fama superstesclara sub Antipodas pernicibus intulit alisad caelum victrix mox tentatura volatus.Sed melius Tusca veniens Americus22 ab oracircuit et mores populorum vidit et urbes. 370

21 Christophorus Columbus Genuensis Americam primus detexit anno 1492.22 Vespuccius Americus Florentinus, a quo nomen Ammeria sortita est 1497.

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Ein angekündigtes Columbus-Epos im Xaverius viator 189

Illius hinc nostri Ammeriam de nomine dicuntfacti haud immemores, sed gloria tota Columbi est.Sternere nam primum dumosa ad culmina callemnon tenuis labor et tenuis non gloria surgit,monstratam calcare viam, vestigia prima 375exiguus labor, exiguo laus parva labori est.Hunc merito Typhim superis adscribere signisdebuerant Latii divino carmine vates.Hunc ego (si quod habet decus et mea carmina possunt;quippe nec ignoro Pymplaeas scandere rupes 380currentem et docto distinguere gnomone Phoebum)cum primum incolumis Campanas labar in orasatque iterum reducem excipiet me patria Syrenpertaesum pelagi, celebrabo et culmina Pindi,Phoebe, colam et novus ingrediar tua templa sacerdos. 385Sed nunc inceptum detecta per aequora cursumocius, Eoo quam nostrae gurgite puppesaeratae fugiant, animos revocate, sequamur!

(Giannettasio, Xaverius viator 9, 358–388)

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190 Peter Habermehl

Peter Habermehl

Orfeus in Niedersaxn

Arno Schmidts Erzählung «Caliban über Setebos»

«Es ist eine sehr alte Bemerkung,daß fast jeder Schriftsteller

in seinen Büchern nur sein Ich schreibt.»

J.G. Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

Platterdings unspektakulär – auf den ersten Blick zumindest – mutet Schmidts 1964 er-schienener Erzählband «Kühe in Halbtrauer» an. Zehn harmlose Geschichten aus demAlltag der Celler Ostheide erzählen von den kargen Freuden und herben Nöten ältererHerrschaften von respektabler Bildung und gehörigem Ressentiment (die «Halbtrauer» derWiederkäuer ist mehr als nur graphisches Ornament). Es dauerte seine Zeit, bis die Kritik –nicht zuletzt das legendäre Bargfelder «Dechiffrier-Syndikat» – den «Palimpsestcharakter»(um einen Begriff der Schmidt’schen Karl-May-Exegese zu entlehnen), die tiefere zweiteSinnebene unter der Textoberfläche der Geschichten zu entschlüsseln begann und dabeiu. a. nachweisen konnte, daß sie zum überwiegenden Teil, wenn nicht gar zur Gänze,mythisch unterfüttert sind. In «Kundisches Geschirr» betritt eine moderne Metamorphoseder ägyptisch-hellenistischen Isis die Bühne, in «Großer Kain» wallfahren Aphrodite,Persephone und Adonis zum Heiligtum des großen Pan, in «Die Abenteuer der Sylvester-nacht» sticht ein ergrauter Odysseus erneut in See, genauer: die hohe See der Kunst – umdrei prägnante Beispiele zu nennen.

Keiner der Texte jedoch darf solchen mythischen Unterbau mehr für sich in Anspruchnehmen als die vorletzte Erzählung des Bandes, «Caliban über Setebos».1 Dies signalisierenbereits ihre neun Kapitel, die nach dem Vorbild Herodots2 die Namen der neun Musen alsÜberschriften tragen (wobei jedes Kapitel in mitunter schlagender Weise an die Zuständig-keiten seiner Muse erinnert),3 und das Motto, das als Echo eines klassischen Musenanrufs

1 Der Text entstand April/Mai 1963. Zitate nach der «Bargfelder Ausgabe», Werkgruppe I (Romane, Erzäh-lungen, Gedichte, Juvenilia), Bd. 3, Zürich 1987, 475–538.

2 Die Einteilung der «Historien» in neun Bücher dürfte allerdings auf den alexandrinischen Philologen Ari-starch von Samothrake zurückgehen (vgl. K. Meister s. v. Herodotos [1], in: Der Neue Pauly, Bd. 5,Stuttgart 1998, 470). Daß Herodots neun Bücher nach den Musen benannt sind, erwähnt erst die Suda(s. v. �H������«, ed. A. Adler, Bd. ii , 588,25). Das in Anm. 4 zitierte anonyme kaiserzeitliche Distichonsetzt sie allerdings bereits voraus.

3 Dies hat zuerst Andersch 346 f. vermutet. – Der Verdacht liegt nahe, die Erzählungen der «Kühe in Halb-trauer» seien insgesamt den Musen zugeordnet (ausgenommen die zehnte Erzählung, «Piporakemes!», dasSatyrspiel des Bandes, in dem als zehnte Muse – wie einstens Sappho – ein leibhaftiger Arno Schmidt dieBargfelder Bühne betritt). «CüS» wäre demnach der Thalia geweiht, der komischen Muse. – Daß die«Bargfelder Ausgabe» mit der wohldurchdachten Anordnung der Texte in den «Kühen in Halbtrauer»bricht, ist ein editorisches Unding.

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Orfeus in Niedersaxn 191

ein dem Herodot gewidmetes Distichon der Anthologia Graeca auf den Protagonisten derErzählung überträgt.4 Denn bei genauerer Lektüre entpuppt «Caliban über Setebos» (imFolgenden «CüS») sich als die alte Mär von Orpheus’ Höllenfahrt und Ende.

Bei Arno Schmidt braucht dies nicht zu überraschen. Auch wenn einer seiner Ich-Erzäh-ler (und die sind bei Schmidt immer alter ego des Autors) einmal knapp und bündig urteilt:«undiskutabler Tinnef, diese ganze Antike!»5 – der Alte Orient, Hellas, Rom sind in sei-nem Œuvre allgegenwärtig.6 Vier seiner Texte kleiden sich sogar in antikes Gewand. ZumFrühwerk rechnen die drei zwischen 1946 und 1948 entstandenen Erzählungen «Enthyme-sis», «Gadir» und «Alexander», die sämtlich in hellenistischer Zeit spielen.7 Bei aller Ver-läßlichkeit des historischen Rahmens verwenden sie die Antike als Folie für ausgesprochenzeitgenössische Anliegen. Anders der in den Fünfziger Jahren verfaßte «Kosmas»; hier maltSchmidt eine atmosphärisch treue wie inspirierte Szenerie aus der ausgehenden Antike.8

«CüS», nach verbreitetem Urteil unter Schmidts opera minora das literarische Meister-stück, unterscheidet sich von den vier vorausgegangenen antiken Texten gleich in mehr-facher Hinsicht. Als einziger hat er die Gegenwart zum Schauplatz, das Niedersachsender Adenauerära.9 Und als einziger Text Schmidts transskribiert er in Gänze einen antikenMythos: den des Orpheus. Als große «Fingerübung» vor der Niederschrift von «ZettelsTraum» umkreist «CüS» Themen, die dort zentral werden; zugleich wird die Geschichteaber auch zum Blick zurück (das alte Orpheus-Motiv), zur Bestandsaufnahme undRechenschaft des Autors vor seinem Einstieg ins Spätwerk der Typoskripte.10 Denn wo derarchetypische Dichter die moderne Bühne betritt, wird unweigerlich die Kunst selbst zumGegenstand der Kunst.11 Mit anderen Worten: in «CüS» geht es um die Rolle des Autors.

4 Anthologia Graeca IX,160 #H������« M��« �� �����α �9� �# Ν�# ����� | $��λ ����� ���«������ ���� !�� («Als Herodotos einst gastfreundlich die Musen bewirtet, reichte als Dankesgeschenkjede der Neun ihm ein Buch.» Übers. H. Beckby). Das Motto: «georg düsterhenn entertäind seMjußes – (tschieper Bey se Lump) – ietsch Wonn of semm re=worded him for hiss hoßpitällittitie wis SamBladdi mäd=Teariels.» «Inhaltlich unterhöhlt der Vorspruch die vordergründige Handlungsebene durchden Verweis auf die Musen, die den Bezug zur griechischen Mythologie andeuten; die Benutzung der eng-lischen Sprache verweist auf den polyglotten Charakter des Textes, und die Transskription ins Phonetischeauf die Mehrfach-Bedeutungen, die hinter jedem Wort vermutet werden müssen.» (Blumenthal 194). DieVerschreibung «re=worded» (statt «rewarded») spielt zudem auf die ‹Neufassung› des Mythos an. – Auchfür seinen neuen Lyrikband plant Düsterhenn neun Bücher (vgl. Anm. 57).

5 Arno Schmidt, «Großer Kain», in: «Bargfelder Ausgabe» I/3, Zürich 1987, 354.6 Den nach wie vor besten Überblick über das Material bietet Herzog.7 «Enthymesis oder W.I.E.H.» (entstanden 1946), «Gadir oder Erkenne dich selbst», «Alexander oder Was

ist Wahrheit» (beide entstanden 1948). – Zu dem ersten Text vgl. P. Habermehl, ‹Seltene Schützen im Sand-meer›. Anmerkungen zu Arno Schmidts erster Erzählung, «Enthymesis oder W. I. E. H.», in: Der Alt-sprachliche Unterricht 37, 1994, Heft 2, 69–79.

8 «Kosmas oder Vom Berge des Nordens» (1954).9 Daß sich hinter dem Ort der Handlung, dem Dorf Schadewalde, auch (wie so oft) Schmidts Domizil Barg-

feld verbirgt, verraten mehr oder minder verborgene Anspielungen, bes. auf die beiden Nachbarorte Ha-bighorst [514] und «Endewold» (i. e. Endeholz) [516].

10 Wohlleben 10 f. deutet «CüS» als «eine Art Fingerübung oder Entwurfsskizze» für «Zettels Traum», «der esmit seiner bewußt herausgearbeiteten Transparenz dem Leser ermöglichen soll, sich die (für «ZettelsTraum») erforderlichen Lesetechniken zu erwerben».

11 Erste Einblicke in die unerschöpfliche Rezeption des Orpheus-Mythos in der abendländischen Kunst, Musikund Literatur vermitteln D.C. Kochan, Literarische Spuren einer Symbolfigur. Orpheus zum Beispiel, in:W. Wunderlich (Hrsg.) Literarische Symbolfiguren. Von Prometheus bis Svejk, Bern 1989, 37–63; HeinzHofmann, Orpheus, in: ders. (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999,153–198; Wolfgang Storch (Hrsg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, Leipzig 1997.

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192 Peter Habermehl

An der Oberfläche lesen wir den Bericht eines erfolgreichen älteren Literaten über einenWochenendausflug in die niedersächsische Provinz. Auf der Suche nach poetischer Inspi-ration und einer langverschollenen Jugendliebe reist der Lyriker und Icherzähler GeorgDüsterhenn nach Schadewalde, ein tristes Nest unweit der Zonengrenze, wo er gegenAbend eintrifft und im einzigen Gasthof vor Ort ein Zimmer nimmt. Wir erleben ihn in derWirtsstube und beim Spaziergang durchs Dorf, bei der Beobachtung der Natur und desLandvolks, und bei entsprechend inspirierten lyrischen Versuchen. Im Gasthaus nimmt erspäter auch das Abendessen ein und ersteht einen antiken Krug. Bei einem zweiten nächt-lichen Rundgang lernt er einen Handelsreisenden in Gummiwaren kennen, der mit seinerLimousine über die Dörfer fährt.12 In den Gasthof zurückgekehrt, begegnet er endlich sei-ner langersehnten Liebe – nur um sie im Handumdrehen wieder zu verlieren. Geknicktstiehlt er sich aus dem Wirtshaus davon und wird zum heimlichen Zeugen einer lesbischenOrgie, deren Teilnehmerinnen ihn entdecken und hetzen. Mit Hilfe besagten Vertreters,der wie ein deus in machina in die wilde Jagd platzt, entkommt er mit knapper Not ihrermörderischen Rache.

Was diese Inhaltsangabe allenfalls ahnen läßt, machen etliche, über den ganzen Text ver-streute Anspielungen deutlich: «CüS» ist nichts Geringeres als eine moderne Neufassungdes Orpheusmythos.13 Auf einer zweiten Ebene liest Düsterhenns Ausflug aufs Land sichals Orpheus’ Fahrt in die Unterwelt, auf der Suche nach Eurydike, seine Rückkehr mit lee-ren Händen, und sein Ende von der Hand rasender Mänaden. Das gesamte mythische Per-sonal finden wir im Text versammelt: Georg Düsterhenn, der sich mehrfach selbst Orjenennt, ist Orpheus; statt der Leier trägt er seinen Peregrinus Syntax unterm Arm, das be-rühmte Reimlexikon der Goethezeit.14 Eurydike, hier Rieke geheißen, gehört zum Gesindedes Gastwirts. Dessen Name, O. Tulp, ergibt rückwärts gelesen Pluto. Auch die Gattin desUnterweltsfürsten ist zugegen, Persephone.15 Charon tritt auf («Der erste Schiffer»),16 Ker-beros («Kirby»),17 die Mänaden (die vier jungen «Jägerinnen»), die drei Unterweltsrichter,18

aber auch der Flußgott Hebros, der Orpheus’ Haupt ins Meer trägt (der Vertreter H. Levy).Daß Düsterhenn in Schadewalde (in dem Ortsnamen verbergen sich anglisierte ‹Schatten›

12 Wie Düsterhenn ist Levy (den zwei Andeutungen [bes. 537] als Überlebenden des Konzentrationslagers zuerkennen geben) ein Außenseiter in der Schattenwelt von «CüS». Andersch 346 sieht Levy als Abbild des«Ewigen Juden». Sein Name zitiert v. a. den Librettisten von J. Offenbachs «Orphée aux Enfers», L. Ha-lévy.

13 Einen substantiellen Teil der antiken Elemente hat Wohlleben entschlüsselt.14 Sein Name erlaubt zwei Deutungen: die ‹düstere Henne› zeigt den alternden Dichter als ‹Kapaun› (dazu

unten mehr; Anfang der 50er Jahre beschrieb Arno Schmidt sich selbst wiederholt als «düster»). Zugleichspielt er gelehrt mit der antiken Etymologie des Namens, der von griech. "���« abgeleitet wurde («dun-kel, düster»); die zweite Silbe evoziert das sizilische Henna, wo Hades Persephone in die Unterwelt ent-führte. – Seine Eltern heißen «Vater A. Paul Düsterhenn & Mutter Moosedear» [486]: Apollon und die‹liebe Muse› Kalliope, die Schirmherrin der Dichtung, die als Mutter des Orpheus galt (vgl. u. a. Apollo-nios von Rhodos 1,23–5; Apollodor 1,3,2).

15 Einmal ruft Tulp sie «Oll=sche» [484], Anagramm zu ‹Scheol›, der jüdischen Unterwelt. Bei ihrem erstenAuftritt hält sie «ein triefendes Talglicht in der schmutzigen Faust» [484], die Fackel der eleusinischen My-sterien (Wohlleben 4).

16 Er trägt aber auch Züge Silens (Dunker 11).17 «Hätte Arno Schmidt nichts geschrieben als die Schilderung dieses Wirtshaushundes, er wäre schon unser

aller Sprachmeister» (Andersch 344).18 «Drei Archetypen, Dall Damb & Aggli» (englisch zu betonen) [498] – ein rustikales Trio in der Gaststube.

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und ein anagrammatischer ‹Hades›) die Unterwelt betritt, wird von den ersten Zeilen an si-gnalisiert.19

Bei noch genauerem Hinsehen gerät Schmidts Doppelbödigkeit freilich zum veritablenTreibsand. Düsterhenn besitzt auch Züge des Götterboten und Seelenführers Hermes.20

Seine Rieke, die er gelegentlich Fiete nennt, ist zugleich Aphrodite. Mit Herakles, der alsKnecht Tulps dient, vereint sie sich im Wirtschaftshof (von Düsterhenn heimlich beobach-tet) zum «kosmokomischen Eros» [498] (danach legt Herakles am Misthaufen «stöhnend»das Weltei der orphischen Kosmogonie).21 Hades, «der große Wirt», ist auch Dionysos, derin seiner Gaststube die «Anthesterien» ausruft.22 Und einer seiner Stammgäste, der betagtePhilatelist, ist niemand anderes denn Kronos.

Die Orgie der «Jägerinnen» endlich präsentiert uns wie eine toll gewordene Drehbühnegleich vier höchst diverse Szenarien auf einmal. Als Mänaden feiern sie ihre bacchische In-itiation und reißen dabei Düsterhenn-Pentheus ‹zu Tode›. Zugleich sind sie die Erinnyen,die wie einst den Orest nun Orpheus hetzen.23 Die gefahrvolle Voyeurszene erinnert aberauch an Aktaion, dem die badende Artemis zum Verhängnis wird.24 Zuguterletzt findenwir uns im klassischen Hexensabbat der Walpurgisnacht wieder, bei dem die Jägerinnen indie Rolle der Hexen schlüpfen, und Düsterhenn zum Mephisto mutiert.25

Dank solcher und ungezählter anderer Verschlüsselungen und Zitate – die die Lektürezum reizvollen Parcours geraten lassen – liest sich der ganze Text als fürwitziges Spiel mitdem antiken und europäischen Bildungserbe. In seinem vielzitierten Brief an Jörg Drewsspricht Schmidt von den «3000 Fiorituren & Pralltrillern», die er in «CüS» verwoben habe

19 Daß Schmidt bei der Wahl des Namens auch einen Tübinger Gräzisten im Ohr hatte, ist nicht abwegig.Dank seiner Auftritte in Funk und Feuilleton war kaum ein anderer Altertumswissenschaftler der Adenau-erzeit so prominent wie Wolfgang Schadewaldt. – Als Tartaros ist der Innenhof gezeichnet [497], in demRieke sich mit ‹Herakles› verlustiert.

20 Manchen Fingerzeig gibt z. B. seine Kleidung [478], oder sein verstohlenes Auftreten [496 u. ö.].21 Drews 50. – Der «kosmokomische Eros» natürlich frei nach Platons «Symposion».22 Bes. 501 und 504. Die Ende Februar in Athen begangenen Anthesterien feierten den Gott Dionysos, aber

auch den Frühling und den neuen Wein. Am ersten der drei Tage, den ‹Pithoigien› («Öffnen der Fässer»),wurde der neue Wein verkostet. Am zentralen zweiten Tag, den ‹Choen› («Krüge»), hob ein weinseligerKarneval die vertraute Ordnung auf; sogar die Toten kehrten zurück, und mit ihnen die dämonischen Ke-ren. Am ruhigen dritten Tag, den ‹Chytren› («Töpfe»), brachten die Athener Opfer dar (vgl. M.P. Nilsson,Geschichte der griechischen Religion Bd. I, München 31967, 586–9. 594–7; W. Burkert, Griechische Reli-gion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, 358–64). Angespielt wird auch auf die Libe-ralia [500], das altrömische Frühlings- und Fruchtbarkeitsfest zu Ehren des mit Dionysos identifiziertenGottes Liber (vgl. K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, 70), und auf den «Schlauch-tanz» [505], eine Belustigung, die wohl v. a. zu den ländlichen Dionysien in Attika zählte (L. Deubner,Attische Feste, Hildesheim 31969, 135). – Wenn Düsterhenn den Gästen Tulps aus dem frisch erstandenenKrug Brandwein ausschenken läßt [507 f.], wird er zu Odysseus, der an der Schwelle der Unterweltdas «Schattnvolk, ohne Geist & Be=Sinnung» [493], mit Blut bewirtet – ohne daß die Schatten diesmal ihrBewußtsein zurückerlangten.

23 Zu ihren hermaphroditischen Zügen vgl. Dunker (bes. 17). Lene wird zudem als Silen gezeichnet [501]:«Sie, Lene».

24 So ist der «Diana-Dip» [530] zu verstehen, das ‹Dianenbad›.25 Auf drei Vorbilder vor allem greift Schmidt hier zurück: Goethes «Faust», die Voyeurszene im «Mime»-

Kapitel in Joyce’ «Finnegans Wake», und auf dessen Quelle, das Gedicht «Tam O’Shanter» des schotti-schen Frühromantikers Robert Burns (vgl. Dunker). Im Hintergrund stehen die beiden Voyeurszenen amAnfang von Prousts «Sodome et Gomorrhe» und im «Nausicaa»-Kapitel des «Ulysses».

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(legt man die «Bargfelder Ausgabe» zugrunde, ergäbe dies gut eine Verschlüsselung jeZeile – eine Zahl, die man getrost beim Wort nehmen darf).26

Doch wäre es ein arges Mißverständnis, Schmidts «Orfeus» (so der Arbeitstitel der Er-zählung) auf Burleske und Travestie zu reduzieren. Vor allem zwei Lesarten erlauben es,unter der flirrenden Oberfläche Sinn auszumachen: eine psychologische, und eine mytho-logisch-literarische. Beide Lesarten sind tatsächlich unlösbar miteinander verbunden; derKlarheit halber möchte ich jedoch nacheinander auf sie eingehen. Beginnen wir mit derpsychologischen.27

Wie Düsterhenn seine Leser wissen läßt, begibt er sich aus zwei Gründen auf diese Suchenach der verlorenen Zeit: er will frische Eindrücke sammeln für einen neuen Gedicht-band,28 und er hofft, seiner großen, damals nur aus der Ferne angeschmachteten erstenLiebe wiederzubegegnen – auch der erhofften Inspiration halber.

«Ich hatte […] vor, mich durch den Anblick einer Jugendliebe entscheidend & unwider-stehlich schmalzig zu stimmen.» [479] «Nach überdreißich Jahren sie wieder zu sehen!Also wenn das […] meiner Lyriek nich zugute kam: amo amas amat.» [521]

Wie Düsterhenn jedoch bald bewußt wird, ist das wahre Motiv seiner Reise weit wenigerkünstlerisch-romantisch, als er sich und uns eingangs glauben machen will. Kein göttlicherEros beseelt diesen modernen Orpheus; er sucht nicht die verstorbene Gattin aus dem Toten-reich zu erlösen, oder zumindest seine Rieke aus der ‹Unterwelt› ihrer ruralen Existenz – ihmsteht der Sinn nach profaneren Zielen. Auf seine alten Tage will er sich für das in jungen Jah-ren Versäumte an seinem Jugendschwarm schadlos halten. Die einst ätherisch Verehrte wirdzur physisch Begehrten.29 Sexuelle Erfüllung und poetische Ernte sollen Hand in Hand gehen.

Hier lauert bereits die erste Enttäuschung. Nicht einmal die alten Gefühle für Rieke be-stehen vor Düsterhenns kritischem Auge:

«Mein hatt’ich Die damals angehimmelt! Mit 18, als ich noch Prinz war von Arkadien.»[479] «Bis mir endlich einfiel […]: daß das=damals ja mit ‹Liebe› überhaupt nichts zu tungehabt hatte! […] schönfarbige Gedankenspiele waren das, nichts weiter; durch Zuphallan Zu=Felligem befesticht» [526].

(Schmidts Orthographie, die in «CüS» Kapriolen schlägt wie nie zuvor – aber oft danach –,trägt ihr Teil bei zur Veranschaulichung der Botschaft.)30 Soweit, so schlecht das Ergebnisdieser ‹education sentimentale›.

26 Als kleine Einstimmung auf die Rätsel des Textes notierte Schmidt am Rand seines Typoskripts Margina-lien, die postum publiziert wurden (Fiorituren & Pralltriller. Arno Schmidts Randbemerkungen zur erstenNiederschrift von «Caliban über Setebos», Zürich 1988). Höchst willkommen wäre ein philologisch-lite-rarischer Zeilenkommentar. Zu den musikalischen Anspielungen in dem Text, auf welche die «Fiorituren &Pralltriller» gleichfalls verweisen, vgl. Kaiser 2–5.

27 Zu diesem Thema bsd. Thomé; Hink.28 Auch in Wilhelm Buschs «Balduin Bählamm» sucht der Lyriker auf dem Land Inspiration (und wiederum

spielen eine «Rike (Mistelfink)» und ein mit ihr liierter Knecht eine höchst fatale Rolle).29 Düsterhenns wahre Absichten verraten sich am ehesten in spontanen Äußerungen: «„Ä= …: zeigen Sie mir’s

doch bitte –“ .–/ (: das waren die aller=ersten Worte, Mann, die ich überhaupt mit Ihr wechselte! Und natür-lich gleich von auserlesener Zwei=Deutigkeit)» [522 f.]; «Aber dies ging ja doch wohl zu weit, daß ich denHintersassen & Dammwärtel eines stinkenden Knechtes […]? ([…] Ämäss äMätt, Ei läid her flätt)» [522].

30 Schmidts Warnung an den Verleger betreffs «CüS» war gerechtfertigt: «Schärfen Sie dem (bedauernswer-ten; aber es steht nicht zu ändern) Setzer ein: nie anzunehmen, daß ich mich verschrieben haben könnte!

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Doch damit nicht genug: selbst die Hoffnung auf eine späte Befriedigung reifer Gelüstewird herb enttäuscht. Das verklärte Bild der «Rose von Schadewalde» [522], wie er sie ein-mal nennt, zerschellt jäh an der Realität, als er Rieke wiedererkennen muß in jener walkü-renhaften Magd Tulps, die er just beim Verkehr mit ‹Herakles› beobachten durfte.31 Wie erernüchtert festhält, hat das obskure Objekt seiner Begierden jeglichen Liebreiz verlorenund ist zur triebhaften, schollenfesten Matrone hinabgesunken.32 Zynisch zieht er Bilanz:«anmutig ist’s, der Jugendlieb’ begegnen. […] Vor allem, wenn die Heirat unterblieben!»[527]33

So erweisen die Umstände sich seinem Vorhaben zwar als günstiger, als er je zu hoffengewagt hätte – Hades, der Wirt, gibt ihm Rieke gleichsam in die Hand, in der frohen Er-wartung, den betuchten Gast mit solch rustikaler Kost einige Tage an sein Haus zu binden;und Rieke selbst sieht solchem Handel mit kalter Gelassenheit entgegen. Doch sein Ansin-nen, sich ihr faunisch zu nahen, weist Düsterhenn nun entschieden von sich.

Ihre Metamorphose und ihr bukolisches Liebesleben allein sind kaum Grund genug fürdiese Abkühlung. Was genau geht in Düsterhenn vor? Ein Versprecher beim Abschied vonRieke enthüllt seine tieferen Gefühle: «Ich wollte ihr nach rufen, im Sinne von ‹ErinnyenSie sich=nich –?›» [524]. Aus dem Erinnern werden die Erinnyen – Düsterhenn hat Angst.Angst färbt bereits seine Beschreibung Riekes, die von martialischen Metaphern nur sowimmelt (kaum jedoch im Sinn der römischen Elegiker). Auch Riekes Verkehr mit ‹Hera-kles› untermalen kriegerische Bilder; «und es ist keine Frage, welcher Seite der Sieg zu-fällt»: «‹Wie sie sich wälzt’ & rächte. Und ihn entstellt’ & schwächte!›» [497] (Daß hier wiein einem Cento Verse aus Rilkes «Sonette an Orpheus» kolportiert werden, gehört zumboshaften Witz der Passage.)

Als er hinter Rieke die Treppe emporsteigt und ihr Gesäß studiert, gibt er sich «wirklichalle Mühe, was wie’n steatopyges Gelüst in mir zu erzeugen . . . . .: aber unter den voraufge-

Er soll das volle Opfer des Intellekts bringen; (im stillen für meschugge halten darf er mich immer): wennich statt ‹drollig› ein ‹drolling› setze, dann ist mit nichten der Suff oder meine adler mit mir durchgegan-gen; sondern es handelt sich um den Maler kaspar drolling , der auch einen ‹O[rpheus]› gemalt hat.»(Brief an Ernst Krawehl vom 8. 1. 1964; zit. nach dem Beiheft «Zur Zürcher Kassette», Zürich 1985, 23).

31 In dieser Szene trägt Eurydike ihren Namen aus der spätmittelalterlichen Ballade «Sir Orfeo»: «Heurodis»[497] (Suhrbier 45).

32 Ihre Physis steht der des ‹Herakles› in nichts nach: «Der Große Preis der Vierschrötigkeit wäre nicht leichtzu verleihen gewesen: selbst unter Berücksichtigung der terrestrischen Refraktion war die Schulterbreitebei Beiden wahrhaft polizeiwidrig, ob Mäil ob Vieh=Male, […]; und einen Dispens vom Papst, das dickeEnde der Beine nach unten zu tragen […], schien auch Jede(r) zu besitzen» [497]. Ganz anders früher: «icherkannte Sie schon allmählich; Stück für Stück, mit Mühe, nach & nach: Schwanenhals Busen Bauch &Tschinellen: warum weine ich so sehr?» [522] – Vermutlich hat Schmidt hier auch Cervantes vor Augen.Die von Don Quixote verklärte Dulcinea ist in Wirklichkeit eine Sancho Pansa wohlvertraute Bauerndirne:«Ich kenne sie ganz gut und kann sagen, daß sie im Spiel die Eisenstange so kräftig wirft wie der stärksteBursche im ganzen Ort. (…) Was Teufel hat sie für eine Kraft am Leibe, was hat sie für eine Stimme! (…)»(«Don Quixote» I 25; Übers. L. Braunfels).

33 «Düsterhenns Lernprozeß ergibt aber auf dem Gebiet der Liebe die starrste Lektion, die unabänderlichstenMaximen: Sind Mann und Frau gleichaltrig, so hat der Mann bald eine häßliche Frau, die er loswerden will;das wäre Düsterhenns Geschick geworden / gewesen mit der Jugendliebe Rieke […]. Ist die Frau aber we-sentlich jünger, so wird der Mann früher oder später kujoniert (das ist der Fall bei Tulp und seiner Frau);bleibt der Mann Junggeselle, wie Düsterhenn, hat er gar nichts, aber eben auch keinen Ärger. Böse misogynscheint aber auch die Lehre aus Riekes Geschick bzw. Verhalten: Frauen wollen nicht von Dichtern erlöst,sondern von Stallknechten gevögelt werden.» (Drews 61).

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gangenen Um=Ständen konnte ich doch garantiert nich!» [523].34 Und wenn er später, al-lein in der Kammer, angeregt-desillusioniert über Rieke sinniert, muß er erbittert feststel-len, daß korrespondierende physiologische Reaktionen ausbleiben: «nichts ! Er dachtenich daran, sich zu entrunzln» [524]. Was ihn angesichts einer als übermächtig und bedroh-lich erlebten Frau umtreibt, ist die unterschwellige Angst vor einem sexuellen Versagen, diesich unter der Hand (und wie die nächste Episode zeigt, berechtigterweise) zum Schreck-bild der Entmannung auswächst.35

So schlägt sein Plan fehl, und er muß Rieke – der er sich wohlgemerkt nicht zu erkennengibt – unabdingbar verlieren:

«Wecken Sie mich bitte. Morgn Früh um Sex.» Sie horchte 1 Moment dem Klang der Zif-fer nach […]; nickte dann geschäftsmäßig. Wandte sich. Da machte die verflicksDe Funzlihren Um=Riß überscharf. Begabte sie auch zusätzlich mit einer (lachhaft kurzn)Schattn=Schleppe; die hinter ihr her rukkte […]: ich verlor sie , sie verlor sich, die (lein-ölfarbenen) Stufen hinunter: ! . ; , –. . . . .» [524].36

Düsterhenns letzter Versuch, sich im «toten Zonengrenzgebiet» einer wankenden Männ-lichkeit zu vergewissern, ist grandios gescheitert. Aus dem «Schadewalde» seiner erlö-schenden Sexualität retten ihn keine Rieke und kein Gott.

Ein drittes, gänzlich unterschwelliges Motiv, das ihm Rieke vergällt, sind Düsterhenns solatente wie massive homoerotische Anwandlungen, die er allein auf der verschlüsseltenTraum-Ebene auslebt.37 Auch in dieser Hinsicht mausert seine Katabasis sich zur Reise inGrenzbezirke. Von einem strengen Über-Ich kontrolliert, müht er sich nach Kräften, alleeinschlägigen Gelüste zu verdrängen und auf dem «rechten» Weg zu bleiben. Zuguterletzterst, wenn er im stillen Eingeständnis seiner Impotenz das Joch des Über-Ich abschüttelt(dazu unten), kommt es in der Verschiebung des Traumbildes zum symbolischen homo-erotischen Akt mit dem Kondomverkäufer – Düsterhenn wirft sich ins offene Hinterteildes Levy’schen Automobils:

«Neue Kraft! … ich hechtete einfach röchelnd […] mittn zwischn die Überzieherkartongshinein … röch: ›weck!› – … […] (er hatte das trübleuchtende Hinterteil, mitsamt mir=darin, erstmal einfach offen gelassen). «Danke», hörte ich ihn sagen. […] «Danke –»» [537].

34 Solch herkulischer Konkurrenz gegenüber zieht Düsterhenn eindeutig den Kürzeren. – Der Neologismus«steatopyg» ist gebildet aus griech. �μ ���, «festes (tierisches) Fett», und π �&'(, «Steiß, Hintern».

35 Zu den vielfältigen Metaphern der Impotenz im Text vgl. Hink 6. Angst vor venerischen Krankheiten spieltfreilich auch hinein («um mir se Cläpp zu hohlen, hätte es nicht unabdinglich einer Fahrkarte einmalersternach Schadewalde bedurft!» [523]).

36 Augenfällige Brüche trennen die Szene von der kanonischen Version des Mythos: Nicht Düsterhenn führtRieke, sondern sie ihn; nicht er dreht sich nach ihr um, sondern sie nach ihm (vgl. Drews 49; Hink 4 f.). Undletztlich entkommt er der Unterwelt, weil er sich ihr nicht zu erkennen gibt. Die Goldmünze, die Düsterhennfür Rieke liegen läßt, zeigt mehrere Facetten. Sie spielt an auf Offenbachs «Orphée aux Enfers» (Wohlleben 11Anm. 9). Sie läßt den Schriftsteller zum Zeus werden, der Danae mit seinem Goldregen beglückt, und unter-streicht als negative Folie zugleich sein fehlendes sexuelles ‹Vermögen› (Hink 6). Und sie gewinnt skatologi-sche Qualität: Düsterhenn hinterläßt Rieke nicht sein ‹Bestes›, sondern im Gegenteil seine Exkremente: imNachttopf seinen Urin, und auf dem Tisch (in der psychoanalytischen Metaphorik der Goldmünze) seinenKot (vgl. Drews 57). Defätistischer könnte Düsterhenns Abschiedsgruß an Rieke kaum ausfallen.

37 Diese Neigung zeigt sich in etlichen verdeckten Anspielungen, namentlich in «Kalliope», «Urania» und«Thalia». Vgl. Hink 7–14.

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Nicht nur Düsterhenns Angst vor der Impotenz bewahrheitet sich – auch die Angst vor dereigenen Homosexualität.

«Ä ßädder änd ä ueiser Männ» [527],38 stiehlt Düsterhenn sich fort vom Ort seiner nächt-lichen Schlappe, um seine versiegenden Triebe fortan nur noch als scharfer Beobachter zubefriedigen. Die lesbische Orgie bietet ihm dazu so unerhofft wie reichlich Gelegenheit.39

Doch nicht ungestraft versucht Düsterhenn sich nun als Voyeur; als die vier Mänaden ihnentdecken, muß er um sein Leben rennen.

An der Oberfläche der Erzählung entkommt er den vieren, wenn auch um Haaresbreite.Umso Schlimmeres widerfährt ihm darunter. «›mit den zähnen entmannt!› ich sahdie Schlagzeile förmlich […] nur gut daß an mir so viel nich mehr zu entmann’n war»[537] – so schießt es dem flüchtenden Düsterhenn durch den Kopf. Seine Kastrationsäng-ste, die bereits auf der allerersten Seite der Erzählung ihre Spuren hinterlassen, um dannin immer klareren Bildern wiederzukehren, werden nun Wirklichkeit – wenn auch nur inbildlicher Verschiebung. Gleich dreifach variiert der Text das Motiv: (i) Zu Beginn derFlucht verstaucht Düsterhenn sich den rechten Fuß; den Händen der Mänaden entkom-men, stellt er «den fein=schneidenden Schmerz im rechten Fußknöchel» [538] fest: «auchdas noch! Da würde ich in den nächsten 4 Wochen einen solennen Bluterguß nörsnkönn’n» [538]. In der Traummetaphorik der Psychoanalyse steht der Fuß jedoch bekann-termaßen für das männliche Genital. (ii) Dem ihm gleichfalls nachsetzenden Kirby wirftDüsterhenn zur Ablenkung einen Wurstzipfel hin: «meine Linke schlenkerte kümmerlichdas Ende Wurst nach hintn weg» [536], in der Enallage also das ‹kümmerliche EndeWurst› – «des Sengers Phall» [535]. (iii) Insbesondere aber der Verlust der ‹Leier› symbo-lisiert die Entmannung: «Ich ließ blutenden Herzens den köstlichen syntax mitsamtTäschchen fallen […] welch treuer Diener seines Herrn» [536 f.].40

Doch nicht nur die Kastration, auch sein mythischer Sängertod findet sich in der Ver-schiebung dreifach abgebildet. (i) Als ihn unerwartet von hinten der harte Schlag einer Mä-nade trifft, faßt Düsterhenn seine Panik in die Worte: «ich verlor gleich den Kopf!» [535].41

(ii) Ein weiterer Hieb reißt ihm die Mütze herab, die in den Bach stürzt «und ihn nun zwei-fellos in alle Zukunft hinuntertreiben würde» [536] – eine Anspielung auf den Mythos,in der die Kopfbedeckung das poetische Haupt vertritt, und der dörfliche Wasserlauf denthrakischen Hebros. (iii) In Levys Wagen schließlich sitzt Düsterhenn auf dem «Todessitz»[538]; und was von ihm gerettet ist, hören wir im allerletzten Satz: «nu wenn schonn: beieinem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf!» [538]

Düsterhenns verschobene Kastration und der symbolische Exitus von Mänadenhandverbildlichen das Erlöschen seines Sexus. Umgekehrt nehmen seine Impotenz und diemythische Zerreißung sein reales Ende vorweg. Der angedeutete sexuelle und mythischeTod geraten zur erschreckenden Vorschau auf das nahe leibliche Hinscheiden.42 Nicht

38 Eine Zeile aus dem wohl berühmtesten Gedicht von Samuel Coleridge, «The Rime of the Ancient Mariner».39 Gänzlich unberührt läßt das Schauspiel Düsterhenn offenbar nicht: «auch diesmal reekte sie [eine der

«Jägerinnen»] ihren Stern mir zu; und jenes so oft mir schon Gekommene schien mir wieder zu kommenwie Neues» (533; notabene eines der bösesten Rilke-Massaker in dem Text).

40 «syntax mitsamt Täschchen» stehen selbstredend für Phallos und Hoden. Aus dem Täschchen zaubertDüsterhenn seine Goldmünzen hervor, Bild seiner versiegenden Zeugungskraft (vgl. Anm. 36).

41 Seine Flucht verläuft «unterm blutigen Schaffott des Monz» [536].42 Vor allem das Schlußbild zeigt seine Impotenz als Präfiguration des Todes: allein der Geist überlebt.

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von ungefähr spielt die Geschichte zwischen Dämmerung und Nacht, an der Schwellezum Winter, und somit mit der metaphorischen Symmetrie von Jahreszeit und Lebenszeit.43

Sein gescheitertes Abenteuer führt Düsterhenn zu düsteren Reflexionen über seinenphysischen Verfall. Wenn nach Riekes Abgang sein Blick in den Spiegel fällt, sieht er wie einzweiter Dorian Gray unerbittlich seinem Alter und seinen inneren Abgründen ins Auge.44

«Ich verzook angewidert den Mund, op des wullstijen Bocks=dorrt : ! (dessen ‹Gesicht›darob jedoch einen derart quasi=modrijen Ausdruck annahm, daß ich ihm freiwillich dasFeld räumte)» [524].

Der Spiegel entlarvt ihn als lüsternen Pan-Mephisto45 so gut wie als einen dem Vermoderngeweihten Quasimodo.

Welche Rolle ihm jetzt noch bleibt, gerade als Autor, nimmt Düsterhenn in dem Pseud-onym vorweg, unter dem er sein neues opus publizieren will: «Georg von Hagenau» oderauch «Die Nachtigall von Hagenau».

«‹Georg Düsterhenn› vor lürischen Gedichten (ist) unmöglich: volkstümlich sein?, dasheißt verständlich & sonnig sein, heiterdiekunst. ‹v. Hagenau›, hm hm; Georg; hierzu-lande hätte man mich ‹Schorse› gerufen, an der Mauer ‹Orje›: ‹Orje von haargenau +Nackt=y=gail›» [483].

In dem verballhornten «haargenau» verbirgt sich das Konzept eines anderen, präzise ob-servierenden Realismus. «Orje» und die «Nachtigall» verweisen auf Düsterhenns mytho-logisches alter ego, Orpheus, den Autor schlechthin (daß an Orpheus’ Grab die Nachtigal-len am süßesten schlagen, erzählt man in Thrakien).46 Die Verschreibung «Nackt=y=gail»aber (samt dem in diesem Licht eindeutigeren «haargenau») antizipiert den schonungslosenChronisten des Nackten und Geilen «an der Mauer», im Grenzland des seelisch Unterbe-wußten.47 Was Düsterhenn bleibt, ist die Rolle des impotenten Voyeurs.

An dieser Stelle tut ein Blick über «CüS» hinaus not, auf Schmidts späte und eigenwilligeEntdeckung Freuds und der Psychoanalyse, die seine Weltsicht revolutioniert.48 Das pes-simistische Menschenbild, das Schmidts Erzählungen von Anfang an prägt (im frühen«Leviathan» heißt es einmal: «Denken Sie an die Weltmechanismen: Fressen und Geilheit.Wuchern und Ersticken.»),49 wird ihm nun zur unumstößlichen und gleichsam wissen-schaftlich fundierten Gewißheit: was den Menschen umtreibt und beherrscht, sind imGrunde allein die nur mühsam gezügelten Triebe.50

43 Die Geschichte ist offenbar vierzehn Tage nach St. Martin angesiedelt (vgl. 495). Sie spielt also Ende No-vember. Düsterhenn ist zum Zeitpunkt der Erzählung wohl Anfang fünfzig (bes. 485), wenige Jahre älterals Schmidt zum Zeitpunkt der Niederschrift.

44 «Die Helden der späteren Arbeiten Schmidts (sehen) das Wesen der Welt, den eigenen physischen Verfallund die eigene Psyche nicht nur abstrakt pessimistisch, sondern konkret hautnah und schonungslos.»Drews 54.

45 Vgl. Dunker 14 f.46 Pausanias 9,30,7.47 Thomé 200 f.48 Vgl. Thomé 185–218; Drews 57 f. Zu Schmidts aus der vierten Instanz erwachsenen ‹Etym›-Theorie und

seinen Verweisen auf «CüS» in «Zettels Traum» vgl. Herzog 16–8; Thomé 206 f.49 «Bargfelder Ausgabe» I/1, Zürich 1987, 48.50 Schmidt hat «die Psychoanalyse nicht zuletzt auch als eine Lehre von jenen psychischen Invarianten auf-

gefaßt […], die uns alle bestimmen und die jeder nur leise variieren kann.» (Drews 58).

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Der Urgewalt der Naturkräfte ist auch der Schriftsteller unterworfen. Doch es gibt einenPunkt, so Schmidts kühne (und psychologisch schwerlich haltbare) These, an dem eseinigen wenigen genialisch veranlagten Charakteren gelingen kann (zu ihnen rechnet erv. a. Sterne, Joyce und, in aller Bescheidenheit, Schmidt selbst), diese Fessel zu sprengen:die Zeit jenseits der Potenz. Bei diesen happy few entwickle sich mit dem Ende ihres akti-ven Sexuallebens neben Freuds ‹Es›, ‹Ich› und ‹Über-Ich› – genauer: in einer Art Symbiosedes Unterbewußten und des Über-Ichs – eine sog. «vierte Instanz», die souverän über denDingen steht und mit sardonischem Lächeln oder homerischem Gelächter das Wesen dermenschlichen Natur durchschaut, nämlich deren fundamentale sexuelle Ausrichtung bisins Mark der Sprache hinein. Entscheidend aber ist: ihr höheres Wissen um unser unter-leiblich fixiertes Denken und Sprechen vermag die vierte Instanz in der Kunst bewußtschöpferisch umzusetzen – weniger in Freud’scher Sublimation als in Schmidt’scher Sub-version.

Die «Geburt der Vierten Instanz aus dem Geist der Impotenz», wie ein Interpret treffendformuliert hat, führt laut Schmidt zur souveränen Handhabung dieser (man darf sagen:mutmaßlichen) sexuellen Doppelbödigkeit der Sprache.51 Es ist nicht das geringste Ziel des«CüS», die Sprache als Spiegel unseres triebhaften Unterbewußten sichtbar, und damitSchmidts psychologische Theorie in der mythischen Erzählung Fleisch und Blut werden zulassen. Im Grunde geschieht dies vom Beginn der Erzählung an, die ja als innerer MonologDüsterhenns angelegt ist. Zur Peripetie des Textes wird jedoch das mißlungene Tête-à-têtemit Rieke. Düsterhenns unfreiwilliger Abschied von der Sexualität setzt die vierte Instanzin ihm frei. Bei der Beschreibung der lesbischen Liebesspiele schwillt seine Feder sichtlichan, ja explodiert in einem nüchternen Rausch der Silben und Worte, in einer veritablenSprachorgie, die seine Feststellung – «die ganze Sprache ist ja irgendwie sexuell superfoe-tirt!» [535] – aufs Sinnenfälligste durchbuchstabiert.52

Die Erlebnisse mit Rieke und den Mänaden öffnen Düsterhenn die Augen für seinenneuen Status und dessen Konsequenzen. In einer Art Initiation (die stets eine Todeserfah-rung bedeutet), in einer Reise ins Schattenreich der Seele, schüttelt Düsterhenn die Fesselnab, die ihn bislang gefangen hielten, und ist am Ende «frei» [537]: «frei von der Frau undihrer fordernden Sexualität, frei vom Druck der eigenen, aktiven Sexualität» – und damitvon den Heimsuchungen des ‹Es› –, «aber auch frei vom Zwang des Über-Ichs.»53 DieSkylla des Unterbewußten und die Charybdis des Über-Ichs unterjochen ihn nicht länger;er stellt sie in seiner Kunst bloß und überwindet sie damit. Von nun an kann er dem Ver-drängten und Unterdrückten bewußt Raum geben und es künstlerisch gestalten. Diesermoderne Orpheus befreit nicht Eurydike – «er befreit sich selbst.»54

51 Dunker 18.52 «Der Zettelkasten [Schmidts legendäres Arbeitsinstrument] wird zur Zettel-Trommel, und diese läuft auf ho-

hen Touren. Eine Metaphern-Suite, ein Höllenreigen von Nomenklatur-Varianten zwischen Fachsprachenund Rotwelsch, ein berechneter Einsatz von Aspirata und Kehltönen, Labiallauten und Diphthongen,Bauchrednerkunst und Aphasie in einem.» (Andersch 355). Schmidt gelingt dies in so schlagender Weise,daß der Klassische Philologe sich mit Bedauern fragt, warum der Bargfelder Solipsist Cooper, Collins oderPoe übertragen hat, nie aber z. B. Aristophanes. Wer hätte ihm hier das Wasser gereicht?

53 Hink 16.54 Drews 49. «Daß es in der Erzählung in der Tat auch um das Verhältnis von Unbewußtem und Über-ich

geht, macht der Titel klar: ‹Caliban› steht für das personifizierte Unbewußte, ‹Setebos› für die Autoritätdes Über-Ichs» – die nun überwunden wird. «Die Kunst zwischen den Zwängen des Unbewußten und denVerboten des Über-Ichs ist eines der zentralen Themen von «CüS». Es geht um die Neubestimmung ihrer

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An dieser Stelle mündet die psychologische Stimme der Orpheus-Erzählung zurück insmythologisch-literarische Leitmotiv.

Arno Schmidt war an einer Wegscheide angelangt. Sein großes Formexperiment, der dreiJahre zuvor publizierte ‹zweistimmige› Roman «Kaff», war von der Kritik kaum beachtet,geschweige denn verstanden worden («die Nicht-Teilnahme der Leserschaft übertraf diekühnsten Erwartungen»);55 die Arbeit an «Zettels Traum» stand vor ihrem Beginn. An die-ser Wegscheide denkt er nach über die Rolle des Schriftstellers und die Möglichkeiten undAufgaben der Literatur, auch und gerade im Licht der eben dargelegten psychologischenEinsichten.

Zwei prinzipielle Möglichkeiten künstlerischer Äußerung begegnen uns in der Erzäh-lung. Bereits in Düsterhenns erstem kunsttheoretischen Bekenntnis tauchen sie auf:

«Was mir fehlt, ist eindeutig die naive, intime Einzelbeobachtung, plastisch & elementar inden Grenzen des Schicklichen, rein & wahr. Und faltete doch schon wieder skeptisch denblassen Mund […]: ‹rein & wahr›; was […] die Menschen sich so lebenslänglich fürBlauen Dunst vormachen! Denn wenn es je ein Entweder=Oder gab, so war das ja hierder Fall» [489].

Es gibt also – so ließe sich folgern – eine Scheinkunst, die die Wirklichkeit ins aseptisch‹Reine› verfälscht und damit der (Selbst-)Täuschung erliegt; und eine wahre, die sie unge-schminkt und unbestechlich kartographiert.56 Düsterhenn wird sich im Lauf der Erzählungin beiden Formen bewegen, als Lyriker und als Prosaiker.

Den Lyriker Düsterhenn (eine fast schon Wilhelm-Busch-reife Karikatur des Dichter-lings) treibt der Hunger nach gesellschaftlicher Anerkennung und gesichertem Auskom-men. Beides erfordert freilich, wie er erfahren muß, Konsessionen an Geschmack undMoral des Publikums. Dem Geld und dem Erfolg zuliebe paßt Düsterhenn sich den Ver-hältnissen an; er produziert populäre, seichte, mit einem Wort: «schöne» Kunst. Als Volks-dichter von erlesener Plattheit redet er der Menge nach dem Mund; in bewußter Selbstzen-sur geht er aber auch jedem Konflikt mit der Obrigkeit aus dem Weg und schlägt sich aufdie Seite der Mächtigen. «‹Unser Kanzler liebt die Rosen!›: das hatte mir seinerzeit Geldwie Mist gebracht! Wenn man bloß schon genau wüßte, was der Außnminister liebt.» [500]Solche affirmative Panegyrik täuscht das Ideal einer besseren Welt nur vor und verhöhnt esim Grunde bewußt. «Wenn es mir doch bloß nochma gelänge, so gansgans sinnich=einfäl-tich zu werden! ’n paar Mal waren mir daja herrliche Schlager geraten.» [484; vgl. 499]Und trotzig setzt er hinzu: «Man dachte noch vielzuviel: ‹dumm & geil›, das ist das Rezeptdes Erfolges.» [507].57

Zu welcher Kunst diese Haltung führt, erleben wir mit, wenn wir Zeugen seines poeti-schen Schöpfungsprozesses werden – weniger eine dichterische Stern- denn «DüsterhennsDunkelstunde»:

Position zwischen diesen beiden Polen (…), und es geht um die Konsequenzen, die sich aus dieser Ver-änderung für die Kunst und den Künstler ergeben.» Hink 17.

55 Arno Schmidt, Trommler beim Zaren, Karlsruhe 1966, 276.56 Beide Spielarten der Kunst werden auch von ihrer politischen Wirkkraft her definiert.57 Dies drückt sich auch in den Untertiteln aus, die Düsterhenn für die neun «Unter=Bücher» (die neun Mu-

sen!) seines opus magnum plant [484], u. a. «Trautes Heim» [484], «Landlust» [489], «Wanderlieder»[490], «Trinklieder» [499]. Auf die satten Einkünfte, die seine Lyrik abwirft, spielt Düsterhenn zu wieder-holten Malen an [bes. 479; 499].

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«„Ich saß im lieben, trauten Stübchen“,da=dámm da=dámm da=dámm da=dámm: ‹Bübchen› ! :

„mein – – ä – –“(nee; ‹lieb & traut› nich noch ma) – –

„mein kleines süßes Herzens=Bübchen“klar, Mensch! ([…] rann=jetz mit den populären Adverbien!):

„schlang seine –“hm ‹Arme› oder ‹Ärmchen›? Kann das Volk, unser Volk, mein Volk, noch’nDiminutiv verdauen? Ich möchte meinen – ‹ja› […]:

„schlang seine Ärmchen warm um mich.“[…] (Moment. Wie sah denn das bis hierhin aus –):

„Ich saß im lieben, trauten Stübchen,. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .mein kleines süßes Herzens=Bübchenschlang seine Ärmchen warm um mich.“

Logischerweise hätten noch’n paar nähere Bestimmungen von Zeit & Ort da rein gehört,kwommodo kwanndo […]

„grad, als der Tag dem Abend wich=Punkt.“» [485 f.]

Daß diese schwül vibrierenden Schmachtverse aus der Feder Karl Mays stammen, machtdie Sache kaum besser, wohl aber pikanter (im Vorjahr war Schmidts Studie «Sitara» er-schienen, die seine plausibel untermauerte These von der latenten Homosexualität imWerk des sächsischen Barden, die dessen Bücher dem deutschen Leser so lieb & teuer ma-che, unter ein ungläubiges Volk trug).

Indem er Karl May (oder in etlichen centoartigen Zitaten auch Rilke) als Meister trivialerIllusion vorführt (im doppelten Sinn des Wortes), parodiert und diffamiert Schmidt denTypus traditioneller Dichtung, der die Wirklichkeit stilisiert und pathetisch überhöht.58

Damit nicht genug: unter der unschuldigen Oberfläche solcher Kunst zeichnet sich fürSchmidt ihr latentes sexuelles Substrat ab – wie an Karl May exemplifiziert. Mit anderenWorten: die Produkte solcher Autoren sind mitnichten rein und frei, sondern bilden dasvon ihren Verfassern Verdrängte so unwillentlich wie machtvoll ab.59

Dergleichen Ergüsse sollen nun Düsterhenns Erfolg beim Publikum sichern:

«Gans=passabel; so ‹weiche-warme Dämmrung›; ‹düsterhenn’s Dunkelstunde›. Ichhatte aber auch erlesen=platte Sylben anthologisch gepflückt. Und der Inhalt war ja derletzte Hammer: also wenn mir’s diesmal nich gelingt …» [486].

Doch mit dieser Lage der Dinge ist Düsterhenn mitnichten glücklich. Wir sehen ihn zer-rissen zwischen der äußerlichen Anpassung seiner Schmachtverse und seiner inneren Op-position, die es zur Prosa zieht:60 «wenn Prosaschreibm bloß nich so gefährlich wäre;

58 In Richard Tauber oder Karl May sieht er «ewige, nie genug zu verehrende Vor=Bilder uns nach Volks-tümlichkeit Ringenden» [507]. Rilke hingegen steht für die falsche, vom Über-Ich zementierte Kunst des«Reinen und Wahren». Die Absage an Rilkes Ideale und die ‹orphische› Kunsttradition insgesamt wird zurGeburt der Literatur, wie Joyce oder Arno Schmidt sie betreiben (vgl. Herzog 18).

59 Zu den zitierten Versen «läßt sich der Kommentar im Sinne von Sitara und der Weg dorthin unschwer er-raten». (Thomé 208).

60 Zum heiklen Lavieren zwischen Kirche, Staat und Militär meint Düsterhenn: «also was ein Künstler heut-zutage ‹steuern› muß, in den caxton Bedeutungen des Wortes, das kann sich ’n einfacher Mensch gar nichvorstellen!» [503].

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manchma hatt’ich direkt Lust dazu!» [491].61 Diese zweite Kunstform, die auf «Tatsachen-sinn» und «Beobachtung der Umwelt» gründet, verschreibt sich der mikroskopischenAnalyse der Welt, die Düsterhenn an einer Schlüsselstelle das «Uni= sive Perversum» [528]nennt. Was die Kunst des schönen Scheins der Masse trügerisch vorgaukelt, entlarvt sie alsIllusion: die Liebe, die Aufklärung der Menschen, die erträumte bessere Welt sind Unmög-lichkeiten in einer Schöpfung, in der das Mißlungene, das «Fusch=Werk» [534] die Regeldarstellt.62

Hier verwandelt Düsterhenn-Orpheus sich in den Caliban aus Shakespeares «The Tem-pest», genauer: aus Robert Brownings Gedicht «Caliban upon Setebos», das beim Titel derErzählung Pate stand. Caliban, der dämonische Rebell, klagt den Zustand der Welt an, denihr Schöpfer Setebos zu verantworten hat:63

«Natürlich gab’s auch ab & an ne gelungene Stelle im Universum; aber die Mehrzahl derProdukte jenes sete Boss war Fusch=Werk, schnell & schludrich, wie vo’m alten=frechenHandwerksburschen: wenn’s n Buch wär’, würde der Autor schon das seinige zu hörenbekomm’m. Aber so kuschschtn se Alle» [533 f.].

Hier klingt das alte Leviathanthema an, das sich von Schmidts früher Erzählung gleichenTitels an durch sein Werk zieht. Doch während in Schmidts frühen Texten hinter der Re-bellion gegen die schlechteste aller Welten am Horizont noch die Utopie eines anderen,besseren Kosmos aufscheint und ein Entkommen zumindest versucht wird, entlarvt«CüS» derlei Anstrengungen als Illusion.64 Veränderung ist undenkbar; die Welt insgesamtist mißraten und ohne Sinn; der Mensch hat in ihr keine Heimat. Der Abgesang an jedeMetaphysik («Nein!; es hatte keinen Sinn, das ganze .» [525]) ist freilich nicht gleichzu-setzen mit Resignation: zumindest dem Autor bleibt das unbestechlich-distanzierte, wennauch gewiß nicht leidenschaftslose Beobachten und Notieren des Weltenlaufs. Die Antwortauf die Misere heißt Kunst. «Und wozu ist schließlich der Sänger da, wenn nicht um dasUni= sive Perversum mitzustenografieren? Allen zum Anstoß, Keinem zur rechtenFreude.» [528].65

Diesen Prozeß der Reflexion und Neuorientierung des Künstlers am Scheideweg setzt«CüS» dramatisch um. Die Erzählung konfrontiert zwei mögliche Haltungen des Schrift-

61 Woher diese Angst rührt, hören wir an anderer Stelle: «wenn die Regierungen 1 Sorte Künstler ganz be-sonders hassen, dann sind das die ‹Naturalisten›. […] ‹Kunst› setzt ‹Beobachtung› der Umwelt voraus,diese wiederum ‹Tatsachensinn›: und der ist ja so ziemlich das Überflüssigste in den Augen der Regieren-den.» [532 f.].

62 Schmidts radikaler anthropologischer Pessimismus bricht sich Bahn. «Damit verschwindet das Elementvon Aufklärertum und politischem Engagement in Schmidts Werk, der Jakobiner hat resigniert und derSolipsist in Schmidt, der Erbauer esoterischer Wortwelten hat die Oberhand bekommen» (J. Drews, in:ders. / H.-M. Bock (Hrsg.), Der Solipsist in der Heide. Materialien zum Werk Arno Schmidts, München1974, 176 f.).

63 Daß die Welt das Werk eines schlechten Schöpfers sei, folgert ein gnostisch angehauchter Caliban in an-thropomorphisierender Analogie aus ihrer Mangelhaftigkeit. Zu dem Gedicht Brownings vgl. Schleinitz. –Hierher gehört letztlich auch das kosmogonische Einsprengsel in «CüS», Herakles’ orphisches Weltei (vgl.oben S. 193): die Welt als Kothaufen. Zu den kosmologischen Konsequenzen der vielen skatologischenEinlagen in dem Text vgl. Drews 57.

64 Vgl. Finke 140. «Spricht der alte Orpheus-Mythos von der Macht des Gesanges und der Macht des Eros,so die Schmidt’sche Variante von der Macht der Sexualität und der Macht des Geldes. […] Nicht Gesangregiert die Welt, sondern Geld.» Drews 55 f.

65 Zum Abbild des rasend gewordenen «Uni= sive Perversum» wird die Orgie der «Jägerinnen».

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stellers zur Welt: Anpassung, die Anerkennung findet und Wohlstand garantiert, oder aberradikale Opposition. Und am Ende der Geschichte erleben wir mit, wie Düsterhenn mithängender Fahne die Fronten wechselt. Er wirft sein Reimlexikon fort; mit anderen Wor-ten: die Zeit der kopflosen Verse ist vorüber, die Stunde der welthaltigen Prosa hat geschla-gen. «CüS» verbildlicht Schmidts Beschluß, künftig radikal sein neues Programm umzu-setzen: die Sprache der vierten Instanz.

Diese Haltung des Autors wird in der vielleicht schönsten Szene der Erzählung lebendig,wenn Düsterhenn einen kleinen Laternenumzug beobachtet, bei dem zuletzt ein Mädchenübrigbleibt:

«Allein & dennoch leuchtend: sie sah jene zue Tür eine Weile finster an. / Drehte sich dannhart auf dem Absatz um. Und kam, steif den Kopf gesenkt, langsam & unaufhaltbar dieStraße her. ([…] Hielt sie – die Laterne – ’türch nich mehr ganz so vorbildlich.) / Sang so-gar noch; wenn auch zwischen den Zähn’n, die Tapfere! Als sie vorbei zog, verstand ichdie Worte. – / : ‹Heuteblau. Und morgenblau. Und über=morgän=wie=där!›» [495].66

Dem unwirtlichen Abendgrauen wirft die kleine Sängerin trotzig ihr Lied entgegen. Daß esein Trinklied ist, macht Sinn. Als nach der fatalen Begegnung mit Rieke Düsterhenn sichmit einem Trunk aus dem von Persephone erstandenen Krug stärkt, fällt ihm das Lied wie-der ein [525]. In einer sinnleeren Welt bleibt nur der Trost des Hochgeistigen, das der Krug(in dem wir getrost die Hippukrene der Bargfelder Heide vermuten dürfen) reichlich ge-währt: die schöpferische Inspiration der vierten Instanz.67

So ist die Kunst nicht nur unbestechliche Chronistin des Weltzustandes; ihr ‹Aber›, derVerfaßtheit des Un-Kosmos trotzig-prometheisch entgegengeschleudert, zeigt den Künst-ler als den wahren Schöpfer und Demiurgen, der in seinem Werk eine überlegene, weilgeordnete und in ihrem Humor gerettete Welt zu erschaffen weiß. «Zwar kann Literatur,sofern sie Erkenntnis ist, immer nur die Zusammenhanglosigkeit und Unausweichlichkeitder kreatürlichen Misere aufdecken, sie tut dies aber in einem sinnvoll geordneten Gebilde.Die Befriedigung darüber ist das letzte humane Residuum, das (Arno Schmidts) Spätwerkzuläßt.»68

66 In dem von Schmidt’schen Kindheitserinnerungen inspirierten Laternenumzug sieht Andersch 355 das«einzige Residuum von Utopie, von paradiesischer Hoffnung» in dem Stück. Auch in dem Roman «Ausdem Leben eines Fauns» wird ein Laternenumzug zur Flucht aus den Nöten des Alltags kurz vor Ausbruchdes 2. Weltkriegs («Bargfelder Ausgabe» I/1, Zürich 1987, 365). – Drews 48 sieht hier eine Anspielung aufdas ‹Lampenfest› (die �&)�����) der Isis im ägyptischen Sais (vgl. Herodot 2,62).

67 Der Krug «Wonn Gällon» (i. e. one gallon; «auch das der blanke Tiefsinn, ‹Wonne + Galle›» [525]) isterotisches Symbol in Düsterhenns Beziehung zu Madame Tulp und Rieke (vgl. Dunker 18; Thomé 210 f.).In der Schlußszene, im Schoß Düsterhenns, verbildlicht er aber auch die Kompensation der erloschenenSexualität im Alkohol. Düsterhenns Inspiration ist künftig nicht mehr der Eros, sondern der Whiskey(Drews 49). Zuguterletzt steht der Krug aber auch für das entkörperlichte Haupt des Poeten – und sym-bolisiert als Urne den Tod (in den vielen einzelnen Körperteilen, die die Schlußszene aufreiht, spiegelt sichOrpheus-Düsterhenns Zerstückelung).

68 Thomé 218. – Auch darauf verweist Andersch 357, wenn er zu der Erzählung seines Freundes anmerkt:«Last but not least muß konstatiert werden, was unaufhörlich, ein grau-silbernes Licht, durch den Text dif-fundiert: Humor. Humor kopfschüttelnden Grimms natürlich, fern von fidelen Schnurren und sardoni-schem Lächeln. Sondern: Clownerie des Mit-Leidens, wütendes Lachen, Budenzauber von Verdammten.Nach uns die Sintflut. Dieser Mann ist, zu allem hinzu, einer der größten und humansten Humoristen inaller deutschen Literatur.»

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Werfen wir zuletzt einen Blick zurück auf den Orpheusmythos, und sein Geschick unterSchmidts Hand. Daß er zum Mythos greift, hat auch einen literaturgeschichtlichen Grund.Wie auf der psychologischen Ebene Freud, erweist Schmidt hier einem zweiten GroßenReferenz: James Joyce, als Hommage an dessen «Ulysses» «CüS» sich durchaus lesen läßt.Bei beiden schenkt der mythische Unterbau – transponiert «sub specie temporis nostri»(Joyce) – der modernen Handlung ironische Tiefenschärfe und erlaubt Joyce wie Schmidtdas Sprechen mit doppelter Zunge (um nicht zu sagen: in Zungen). Er liefert einen erstaun-lich belastbaren strukturierenden Rahmen, vor allem aber den Stoff, samt seinem reichenGeflecht der Bezüge und Deutungen (vulgo: Rezeptionsgeschichte), die im Wechselgesangmit der Oberfläche ein verwirrend polyphones Konzert anstimmen.69

Mit dem Mythos geht Schmidt dabei so unbefangen um wie Joyce. Die Geschichte umOrpheus hebt er auf ihren beiden Schlüsselebenen auf.70 Die Idee der Liebe wird entlarvtals jugendblinde, unerwiderte Schwärmerei des pubertierenden Jünglings, die der zumMann Gereifte als blanke Triebeslust durchschauen muß; beide zerschellen spät und jäh ander Realität. An die Stelle des Eros und der Gattenliebe tritt der nackte Sexus. Und dieMacht des mythischen Sängers wird abgelöst von der Macht des Materiellen. Das Vermö-gen der Kunst jedoch, die Realität nicht nur ideal abzubilden, sondern verändernd (undzwar zum Guten hin) in sie einzugreifen, wird auf der Ebene des Ich-Erzählers in grellenBildern ad absurdum geführt.

Und doch bleibt solche Antikenzertrümmerung nicht Schmidts letztes Wort; gleichsamjugendfrisch erhebt die alte Mythe ihr graues Haupt. Denn hinter aller Desillusionierungerleben wir Kunst von hohen Graden. Nicht vor den Herrschern des Todes singt unserOrpheus am besten, wie im Mythos, sondern vor und für sich selbst, wenn er im innerenMonolog seine Katabasis beschreibt, sein Scheitern und Erwachen. Auf hintergründigeWeise erweist der alternde Düsterhenn sich als Sprachmusiker und Musenfreund,71 der eineneudefinierte orphische Meisterschaft des bannenden Worts in die götterlosen Adenauer-jahre gerettet hat – unerhörter Sänger unmythischer Zeit.

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69 Zum Einfluß bes. von «Finnegans Wake» auf Schmidt vgl. Drews [Anm. 62] 178 f.70 Bereits Phaidros im platonischen Symposion (179d 3–9) übt Kritik am Orpheusmythos, wenn er den Sänger

einen Hasenfuß schimpft, der sich gescheut habe, für Eurydike zu sterben; zur Strafe hätten die Götter ihmauf seiner Hadesfahrt nur ein Trugbild Eurydikes gezeigt.

71 Wie das Motto verrät, war Düsterhenn beim Erzählen des «Caliban» eben doch von den Musen inspiriert.

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