archithese 3.08 - mehr licht? / more light?

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archithese Alte und neue Aufgaben des künstlichen Lichts Thomas Mika und Christian Vogt im Gespräch über Licht Nachtspaziergang durch Zürich West Brauen + Wälchli: Miroiterie, Lausanne Fussgängerunterführungen in anderem Licht Licht im Bad – zwischen Funktionalität und Wellness Corporate Light als Gestaltungsmittel Rolf Derrer: Lichtszenografie Deutsche Börse Frankfurt Soziales Licht in der Banlieue von Lyon huber und steiger: Lichtprojektionsverfahren LIN U-Boot-Bunker, Saint-Nazaire Fuhrimann Hächler Häuser in Vnà und Lenzburg 3.2008 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Mehr Licht? More Light?

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architheseAlte und neue Aufgaben des künstlichen Lichts

Thomas Mika und Christian Vogt im Gespräch über Licht

Nachtspaziergang durch Zürich West

Brauen + Wälchli: Miroiterie, Lausanne

Fussgängerunterführungen in anderem Licht

Licht im Bad – zwischen Funktionalität und Wellness

Corporate Light als Gestaltungsmittel

Rolf Derrer: Lichtszenografie Deutsche Börse Frankfurt

Soziales Licht in der Banlieue von Lyon

huber und steiger: Lichtprojektionsverfahren

LIN U-Boot-Bunker, Saint-Nazaire

Fuhrimann Hächler Häuser in Vnà und Lenzburg

3.2008

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Mehr Licht?More Light?

Leserdienst 152

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2 archithese 3.2008

E d i t o r i a l

Mehr Licht?

Seit der Revolutionierung des künstlichen Lichts – des Gaslichts zu Beginn und

des elektrischen Lichts gegen Ende des 19. Jahrhunderts – wird die Frage nach

mehr oder weniger Licht immer wieder von Neuem verhandelt. Die aktuelle De-

batte um Lichtverschmutzung zeigt es: Im Vordergrund stehen Lichtmenge, -inten-

sität und -verteilung im Hinblick auf ökologischen, ökonomischen, kulturellen oder

sozialen Nutzen respektive Schaden. Daneben findet aber auch eine Diskussion

über «gutes», über «besseres» Licht statt – über eine qualitätvolle Beleuchtung

also, die mit quantitativen Aspekten enger verknüpft ist, als es auf den ersten

Blick erscheint.

Im Schnittpunkt dieser beiden Achsen situieren sich die Beiträge des vorliegen-

den Hefts. Sie thematisieren die Kriterien einer zeitgemässen Beleuchtung und

berühren dabei Kontexte, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So möchten

wir Sie einladen, in den zauberhaften Schein vereinzelter Lichter an den Rändern

der Stadt einzutauchen – des ehemaligen Industriegebiets Zürich West oder der

Wohnüberbauung einer französischen Banlieue. Wir durchwandern lange Fuss-

gängerunterführungen und treffen dabei auf museale Lichtinstallationen und be-

deutungsvolle Lichtkunstwerke; wir erlauben uns einen Blick in den intimsten

Raum der Wohnung – ins Badezimmer, wo wir uns allmorgendlich im besten Lichte

sehen wollen; wir begutachten szenografische Lichteffekte in der Deutschen Börse

Frankfurt. Liest man diese Beispiele vor dem Hintergrund der Überlegungen zweier

Lichtgestalter, mit denen wir ein ausführliches Gespräch über ihre Profession ge-

führt haben, so zeichnet sich ein breites Spektrum ab, in dem sich die Gestaltung

mit Licht aktuell bewegt.

Die vorgestellten Beleuchtungen erhellen ihre gebaute Umgebung im Innen-

und Aussenraum auf unterschiedliche Weise. So gibt die von innen heraus leuch-

tende, textile Fassade der neuen Miroiterie im Lausanner Quartier Flon ihrem Ort

ein charakteristisches Gepräge, während das Beleuchtungsdesign einer Marken-

filiale der Bekleidungsindustrie vielmehr mit globaler Leuchtkraft wirkt – auch

wenn es sich dazu auf ein paar wenige, teure Kubikmeter in einer Shoppingmall

reduzieren muss. Dass Werbung mit Licht so alt ist wie das elektrische Licht selbst,

stellt übrigens ein Blick in die Geschichte gleich am Anfang des Hefts klar. Den

Abschluss hingegen bildet die Zukunft: Wie werden unsere Städte in einigen Jah-

ren leuchten? Ein neu entwickeltes Lichtprojektionsverfahren – energiesparend,

lichtemissionsarm und grossräumig – lässt Vermutungen aufkommen.

Redaktion

Unterführung in Winterthur, 2003 (Foto: Bernadette Fülscher)

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28 archithese 3.2008

über aktuelle Tendenzen im städtischen Raum, über Innen-

raumgestaltungen und zukünftige Visionen erfahren. Auf

die Frage, was sich mit der Professionalisierung der Licht-

planung verändert hat, verweist Vogt auf die historische

Entwicklung. Bereits seit mehreren Jahrzehnten existieren

Versuche, Lichtplanung im heutigen Sinn zu betreiben. Ins-

besondere Menschen aus dem Theaterbereich, die Erfah-

rung hatten im Umgang mit Lichtstimmungen auf der Bühne,

waren es gewohnt, «in Licht zu denken». Eine zentrale Fi-

gur war auch der Amerikaner Richard Kelly, der seit den

Fünfzigerjahren mit Philip Johnson, Louis Kahn und Mies

van der Rohe zusammenarbeitete. Vogt bedauert, dass bis

heute ein Grossteil der umgesetzten Beleuchtungsplanun-

gen noch immer auf einem sehr technischen Ansatz basiere.

Dabei blieben die Fragen im Hintergrund, welche Stimmung,

welches Raumgefühl entstehen soll. Genau hierzu braucht

es seiner Meinung nach Lichtplaner: jene Spezialisten, die

neben technischen Fragen über gestalterische Fähigkeiten

Text: Doris Agotai

Klickt man auf die Seite der Büroprofile auf www.swiss-

architects.com, findet man mit «Lichtplanung» bereits eine

eigene Rubrik. Mit der professionellen Lichtgestaltung ist

seit den Neunzigerjahren ein neues Berufsbild entstan-

den, das inzwischen auch von einer breiten Öffentlichkeit

wahrgenommen wird: etwa im Zusammenhang mit der

Kontroverse um die Weihnachtsbeleuchtung an der Zürcher

Bahnhofstrasse, der Einführung des Plan Lumière in der

Stadt Zürich oder mit der aktuellen Debatte um die Licht-

verschmutzung. Doch wofür braucht es diesen neuen Beruf,

zumal der Umgang mit Licht so alt ist wie die Architektur

selbst? Was ist unter «professioneller Lichtplanung» zu ver-

stehen und worin liegt der Mehrwert, von einem professio-

nellen Lichtdesigner gut beraten zu sein?

Im Gespräch mit Thomas Mika, Geschäftsinhaber von

reflexion, und Christian Vogt von Vogt & Partner wollten

wir dieses neue Berufsfeld näher kennenlernen und mehr

Die Lichtgestalter Thomas Mika und Christian Vogt im Gespräch Der Einsatz von Licht im Innen- und Aussenraum

wird mehr und mehr zu einer Angelegenheit professioneller Lichtplaner und Lichtdesigner. Thomas Mika von der

Firma reflexion und Christian Vogt von Vogt & Partner erklärten uns, was es mit dieser neuen Profession auf sich hat.

«In LIcht denken»

1

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verfügen und über die Interaktion von Licht und Oberfläche

Bescheid wissen. Der Planer braucht demnach Kenntnisse

über Oberflächenbeschaffenheiten, Materialien und Farben,

aber auch über Zusammenhänge aus der Psychologie, zumal

sich die Gefühlswelt je nach Atmosphäre der Umgebung ste-

tig verändert.

Auch Mika beschreibt die Lichtgestaltung als Spannungs-

feld, in dem verschiedene Themen und Aspekte zusammen-

flössen. Er glaubt, dass der Anspruch darin liege, einerseits

den künstlerischen Aspekt – die Wahrnehmung, die Gestal-

tung – differenziert zu untersuchen, dies andererseits aber

auch technisch und wissenschaftlich korrekt umzusetzen.

Dieser Ansatz geht seiner Meinung nach über das etwas

geringschätzig formulierte «Leuchtenverplanen» hinaus, bei

dem die jeweiligen Leuchten in der richtigen Leistung am

richtigen Ort und in der richtigen Anzahl eingesetzt werden.

Doch dies, so Vogt, sei nur ein kleiner Teil der Arbeit, der erst

an zweiter oder dritter Stelle erfolge. «Eine Arbeit wird erst

dann zur Lichtgestaltung, wenn derjenige, der sie ausführt,

beginnt in Licht zu denken» – wenn der visuelle Umgang mit

Raum hinterfragt wird, in Licht- wie auch in Schattensitua-

tionen.

Zwischen Architekt und Elektroplaner

In der Zusammenarbeit mit Architekturbüros ist das Licht-

design eines von vielen Elementen in der Designkette eines

Bauprojekts. Als besonders wichtig erachtet Mika dabei die

Idee des Prozessualen, der Einbindung der Lichtplanung in

den Gesamtprozess eines architektonischen Projekts, einer

landschaftsarchitektonischen oder städtebaulichen Auf-

gabe: «Wir Lichtplaner steigen irgendwo zwischen Archi-

tektur und Elektrotechnik ein. Versteht man den Planungs-

prozess gemäss SIA, so findet die Lichtplanung im Moment

gar nicht statt. Ein Bauherrenvertreter, der eine Planung

möglichst schnell und effizient ‹durchpauken› möchte, wird

kaum einsehen, wieso er neben dem gestaltenden Archi-

tekten und dem Elektroplaner, der die Leuchtenstrukturen

verortet und erschliesst, noch einen Lichtplaner braucht.

Wenn man nun auf ein Wertesystem zurückgreift und auf-

zeigt, wie Qualitäten im Umgang mit Tageslicht geschaffen

werden, wie eine Verbesserung der energetischen Situation

entsteht oder wie Themen visuell und gestalterisch bear-

beitet werden, so müssen sich die Lichtplaner an dieser

Schnittstelle einfädeln und einen Teil des Gestaltungsparts

des Architekten übernehmen und auch mit ihm die Itera-

tion betreiben. Die SIA-Norm zeigt auf, wo der Mangel liegt,

nämlich genau an dieser Schnittstelle.» Auch Vogt gibt zu

bedenken, dass die Lichtplanung im heutigen SIA-Modell

nicht existiere, fügt aber hinzu, dass Bestrebungen im Gang

seien, diesem Problem Abhilfe zu verschaffen. «Gleichzeitig

stellt sich damit das Problem, dass der Lichtplaner jemand

anderem etwas wegnimmt – denn gemäss SIA sind alle

Leistungen schon abgedeckt.»

Traditionellerweise wird der Bereich des Tageslichts eher

beim Architekten angesiedelt, während die Kunstlichtpla-

nung dann beim Elektroplaner liegt. Füllt man diese Lücke

mit der neu definierten Lichtplanung, heisst dies aber nicht

automatisch, dass das Bauprojekt dadurch teurer wird. Im

Gegenteil empfindet es Vogt als eine Herausforderung, in-

nerhalb eines tiefen Budgets ein gutes Lichtprojekt zu erar-

beiten. «Unter Umständen kann aus einer einfachen Fassung

wunderbares Licht entstehen, aus einer einzigen Lichtquelle

und ohne Gehäuse – denn das Gehäuse kann grundsätzlich

der Raum selbst sein.»

Wenn die Nacht zum Tag wird

Mika und Vogt hoffen, dass sich das Berufsbild in Zukunft

professionalisieren wird – dass sich einerseits Qualitätsnor-

men etablieren und sich die Lichtplanung institutionell wie

schulisch stärker formiert, dass andererseits aber auch eine

Diskussion in Gang kommt, welche die Bedürfnisse abwägt

und eine anzustrebende Entwicklung aufzeigt. So stellt sich

etwa im städtischen Raum die Frage, wie mit der nächtlichen

Aussenbeleuchtung umzugehen ist. Soll die Nacht zum Tag

gemacht und der nächtliche Aussenraum immer intensiver

belebt werden? Oder wollen wir vielmehr den Nachtraum

mit Sternenhimmel und Mondschein zurückerobern? Mika

meint, dass hier sehr unterschiedliche Bedürfnisse aufei-

nanderträfen. Gerade im städtischen Siedlungsgefüge, in

Masterplänen, ständen Fragen der Sicherheit im Vorder-

grund, was sich hauptsächlich in der Strassenbeleuchtung

zeige. In Belgien beispielsweise wird jeder Meter Autobahn

1 Lichtlinie im Büro Vogt & Partner, Winterthur, Spiegelung in einer schwarzen Hoch-glanzoberfläche, 2007 (Foto: Andreas Aebi, Vogt & Partner) 2 Konzeptdar- stellung Kirche St. Arbogast, Ober-winterthur, 2003, Grauzeichnung mit Ölkreide (Bild: Reto Keller, Vogt & Partner)

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im Vordergrund, wie Thomas Jomini, Projektleiter für die

Anlagegestaltung bei der SBB-Division «Infrastruktur», er-

zählt. Diese Anforderungen haben sich in den vergangenen

Jahren verstärkt, da Pendlerzahlen stetig steigen und Van-

dalenakte im Vergleich zu früher zugenommen haben. Als

häufigste Massnahmen der SBB nennt Jomini gestalterische

Interventionen wie Lichtinstallationen sowie Wandbilder,

die in den letzten Jahren speziell entwickelt worden sind, in

besonders problematischen Unterführungen zusätzlich das

Anbringen von Überwachungskameras.

Andere Räume

Verweilen wir noch ein wenig bei den Unterführungen im

Allgemeinen und vergleichen sie (im Sinne eines theorieins-

pirierten Gedankenganges) mit jenen Räumen, die der 1984

verstorbene Philosoph Michel Foucault als «Heterotopien»1

bezeichnete. Für den Lieblingstheoretiker vieler Architekten

waren Heterotopien «andere Räume»; Räume, die innerhalb

einer Gesellschaft eine Sonderstellung einnehmen und die im

Vergleich zu ihren Gegenspielern, den «Utopien», ungleich

wirklicher sind. Tatsächlich finden sich einige Eigenschaften

von Unterführungen auch in Foucaults Sechs-Punkte-Katalog

der Merkmale heterotopischer Räume. So etwa, dass Hetero-

topien – ebenso wie Unterführungen – als privilegierte oder

verbotene Räume Individuen vorbehalten sind, die sich ge-

genüber dem Rest der Gesellschaft in einem Sonderzustand

befinden. Tatsächlich unterlag die Benutzung vieler Strassen-

Text: Bernadette Fülscher

Unterführungen sind Orte der besonderen Art. Als Wege,

die Hindernisse nicht überbrücken, sondern «unterlaufen»,

haben sie das hehre Ziel vor Augen, uns unversehrt unter

befahrenen Hauptstrassen, mehrspurigen Gleisanlagen,

hohen Felsgipfeln oder reissenden Flüssen hindurch «auf

die andere Seite» zu bringen. Auf direktem Wege also, un-

kompliziert und effizient, verbinden sie Teilgebiete, die im

Laufe des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses

durch Verkehrsschneisen getrennt worden sind oder die

geografische Hürden seit jeher kennen. So gesehen haben

Unterführungen – insbesondere in einer Gesellschaft, die auf

Kontrolle, Sicherheit und Zeiteinsparung ausgerichtet ist –

geradezu utopischen Charakter. Dass dies aber nur ein mög-

licher Blick auf das Phänomen unterirdischer Gänge ist, hat

in den vergangenen Jahrzehnten die Alltagsrealität zur Ge-

nüge gezeigt. Gemäss einer anderen Sicht präsentieren sich

Fussgängerunterführungen sodann als düstere, gefährliche

«Unorte», die nach Abfall und Fäkalien stinken, Vandalen an-

ziehen, kalt und feucht sind und so bald wie möglich wieder

verlassen werden wollen.

Diese Auffassung dominiert heute bei den Behörden, die

für Unterhalt und Sanierung bestehender Fussgängerun-

terführungen verantwortlich sind. In Bezug auf die zahl-

reichen unterirdischen Gänge im Umfeld von Bahnhöfen

stehen etwa für die SBB objektive und subjektive Sicher-

heit sowie ein reibungsloser und kostengünstiger Betrieb

Zur neuen Beleuchtung von Fussgängerunterführungen

Gemeinhin bekannt als düstere Unorte, präsentieren sich Unter-

führungen seit einigen Jahren zunehmend als Räume mit

aussergewöhnlichem Charakter. Einmal mehr spielt bei diesem

Wandel der Einsatz von Kunstlicht eine zentrale Rolle. Eine

Reise in die Unterwelt zwischen Genf und St.Gallen.

Anderes Licht in der UnterweLt

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und Gleisunterführungen noch vor zwei, drei Jahrzehnten

nicht einer Pflicht, sondern galt als Angebot für jene Mit-

glieder der Gesellschaft (Kinder, Behinderte, Betagte), denen

man das vorsichtige und zügige Überschreiten von Strassen

und Gleisen nicht zumuten wollte oder konnte. (Unter diesem

Blickwinkel liesse sich die aktuelle Entwicklung so deuten,

dass mit dem rapide anwachsenden Verkehr und unserem

nicht minder steigenden Sicherheitsbedürfnis inzwischen

die gesamte Gesellschaft in einem Krisenzustand lebt.)

Besonders interessant wird die Suche nach weiteren

heterotopischen Eigenschaften von unterirdischen Fuss-

gängerpassagen mit Blick auf die jüngste Vergangenheit:

Seit rund einem Jahrzehnt fegt ein Erneuerungswind durch

Schweizer Unterführungen, der keineswegs bei grossen, um

internationales Renommee (und Geld) kämpfenden Städten

haltmacht, sondern inzwischen auch kleinere Gemeinden

im mittelländischen Nirgendwo erreicht hat.

Von der Kinderzeichnung zur Lichtarchitektur

Verschiedene Beispiele zwischen Genf und St.Gallen spie-

geln ein neues Interesse, die unterirdischen Gänge für ihre

Passanten attraktiv zu gestalten. Während in den Achtzi-

gerjahren Schulklassen die Wände von Unterführungen zur

«Verschönerung» bunt bemalen durften (und man in den

Neunzigern teilweise zu Graffitis überging, um den urbanen

Charakter der Anlagen zu unterstreichen), lässt sich seit eini-

gen Jahren beobachten, dass bei Neugestaltungen Lichtpla-

ner und Lichtkünstler hinzugezogen werden. Diese Tendenz

der Professionalisierung im Umgang mit Fussgängerpassa-

gen einerseits und der zunehmenden Technisierung ihrer

Gestaltung andererseits verdeutlicht, dass wir ehemaligen

Unorten einen neuen Stellenwert beimessen. Die Entwick-

lung spiegelt wider, was Michel Foucault in seinem zweiten

Grundsatz zu den Eigenschaften von Heterotopien festge-

halten hat: Die Heterotopien einer Gesellschaft können im

Laufe der Geschichte neue Aufgaben übernehmen. Während

Fussgängerunterführungen dereinst das Ziel hatten, die Bür-

ger vor dem gefährlichen Verkehr zu schützen, und im Zuge

des Urbanisierungsprozesses der Nachkriegszeit selbst zu

Symbolen bedrohlicher Räume mutierten, setzt nun ein Auf-

wertungsprozess ein, der die unterirdischen Gänge erneut

zu Utopien der Sicherheit macht (und dabei auf eine neue

Bedrohung reagiert).

Funktionswandel

Beispiele für aufgewertete Unterführungen gibt es einige.

Viele von ihnen stammen aus dem Umfeld der Eisenbahn, wo

innerhalb von wenigen Jahren zahlreiche Bahnhöfe inklusive

unterirdischer Gleiszugänge saniert und modernisiert wor-

den sind. So in Delémont, wo 2005 das ortsansässige Büro

Salvi Architecture im Rahmen einer Bahnhofserneuerung

auch einen Teil der Unterführung neu gestaltete. Die beste-

hende Passage mit zwei unterschiedlich breiten Gangpartien

erhielt einen grosszügigen Aufgang zum Bahnhofsgebäude

1 Bahnhofsunter-führung Frutigen, 2005, Lichtgestaltung: Vogt & Partner, Architektur: Ueli Huber (Foto: BLS AlpTran-sit AG)

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rierten. Eine Dampfmaschine im Maschinenhaus arbeitete

dabei ausschliesslich für die Dachillumination. Als Signet

war die Fabrikansicht seinerzeit auf verschiedenen Werbe-

trägern verfügbar und Einzelhändler konnten sich ein Modell

der Yenidze aus farbig bedrucktem Karton mit leuchtender

Glaskuppel ins Schaufenster stellen.2 Nur einen Gebäudeteil

zu illuminieren – dies entsprach nicht dem Selbstverständnis

des bekannten Kaugummi-Herstellers Wrigley. Der Neubau

des Wrigley Building in Chicago erhielt daher 1921 eine kom-

plette Fassadenanstrahlung – damals ein Novum in der Welt.

William Wrigley setzte mehr als 200 Flutlichter ein, die alles

bisher Dagewesene übertreffen sollten. Passend zur Wer-

bekampagne strahlte das Gebäude für ihn die Frische und

Text: Thomas Schielke

Nicht erst seit Ralf Peters nächtlichen Tankstellen-Bildern

wissen wir, dass Markenkommunikation mittels Licht mehr

beinhaltet als leuchtende Schriften oder Logos.1 Schon zu Be-

ginn des 20. Jahrhunderts beleuchteten Unternehmer nachts

nicht ohne Stolz ihre Firmenarchitektur und stellten dabei

fest, dass die riesigen Gebäude mit Licht noch markanter

wirkten als leuchtende Firmenlogos auf den Dächern. 1909

verwirklichte der Zigarettenfabrikant Hugo Ziertz mit dem

Architekten Martin Hammitzsch in Dresden seinen Traum

einer lichtstarken Marketingstrategie: Sein orientalischer Pa-

last mit der Glaskuppel wurde nachts elektrisch beleuchtet,

damit Bahnreisende nicht nur bei Tag seine Marke regist-

Corporate Light als Gestaltungsmittel der Markenwelt Einheitliche Lichtkonzepte ergänzen das

Instrumentarium grosser Unternehmen, um in ihren Filialen Markenbotschaften noch besser fühlbar zu

machen. Das standardisierte Licht ergänzt die Lichtreklame als Signet auf (und an) den Geschäften,

damit der Kunde nicht nur vor, sondern auch im rechten Licht seiner Marke steht.

Leuchtende Marken

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Sauberkeit seines Pfefferminzkaugummis aus. Die Fotos des

erhellten Bauwerks gingen um die Welt und stärkten über

die Lichtinstallation die Markenpräsenz auch an anderen Or-

ten.3

Statt auf die Wirkung der Leuchtreklame am Gebäude zu

vertrauen, reagierten Ziertz und Wrigley mit Lichtarchitek-

tur auf die wachsende Konkurrenz im Markenwettbewerb.

Die neue Lichtsprache von Unternehmenszentralen steckte

zwar nur einzelne Punkte im urbanen Raum ab (über welche

die Presse auch berichtete) und hielt ihre Wirkung auf Dis-

tanz zum Kunden, für den die Firmensitze nicht zugänglich

waren. Die nächtliche Architekturinszenierung blieb den-

noch nicht ohne Folgen: Auch andere Unternehmen erkann-

ten die Kraft dieses Mediums und beleuchteten ihre Unter-

nehmenszentralen, um die Präsenz ihrer Marke auch nachts

zu etablieren und sich als wichtigen Ankerpunkt für die

stadträumliche Navigation einzuprägen. Vergleichbar mit

der Entwicklung der Lichtreklame kam es auch bei der Ge-

bäudeillumination bald zu einem Wetteifern um Helligkeit

und Farbe. In der Absicht, sich gegenüber der Konkurrenz

mit der weit verbreiteten Flutlichtbeleuchtung abzusetzen,

begannen Planer, differenzierte Lichtkonzepte einzusetzen,

und konzentrierten sich nunmehr, statt auf die Quantität,

auf die Qualität von Licht.

Vom Hauptsitz in die Filialen

Dass Geschäftsfilialen einer bestimmten Marke in verschie-

denen Städten abends in gleicher Art leuchten, mag nicht

grossartig beeindrucken. Doch genau dieser Umstand zeigt,

wie selbstverständlich sich Unternehmen mit ihren einheit-

lichen Lichtkonzepten bereits in unserem Kopf verankert ha-

ben. Mit der Ausweitung eines spezifischen Lichtkonzeptes

vom Firmensitz hinein in die nationalen und internationalen

Verkaufsniederlassungen demokratisiert ein Unternehmen

seine Lichtwelt und macht es für den Kunden zugänglicher.

Im Verkaufsraum betritt der Konsument direkt das Terrain

des Unternehmens mit dem Warenangebot und kann die Fa-

cetten von Licht viel nuancierter erleben als über ein leuch-

tendes Firmensignet. Die Beleuchtung beschränkt sich dabei

nicht auf die funktionale Aufgabe, Sehen zu ermöglichen,

sondern entfaltet mit einer Lichtstimmung eine Identität

und leitet eine Differenzierung ein. Mit Licht als der vier-

1 Lichtkunst von James Turrell als Teil der Unterneh-menskommunika-tion. Verbundnetz Gas AG, Leipzig 2 Lichtarchitektur im Dienste des Zigarettenkonsums, Yenidze, Dresden, erbaut 1909, Bild aus den Zwanziger-jahren (Foto: Fotoarchiv Reemtsma / Museum der Arbeit Hamburg) 3 Komplette Fassa-denanstrahlung des Wrigley Buildings in Chicago, Postkarte um 1925

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A R c h i t e k t u R A k t u e l l

xxx A R c h i t e k t u R A k t u e l l

Plastizität für die Kunst

AndReAs FuhRimAnn, GAbRielle hächleR:

hAus PResenhubeR, Vnà, und AtelieRhAus

in lenzbuRG, 2007

Im Unterengadin und im Aargau haben

Fuhrimann Hächler zwei Bauten realisiert,

die der Kunst gewidmet sind: ein durchaus

monumentales Haus für eine Galeristin

und ein kostengünstig in Elementbauweise

erstelltes Gebäude für ein Künstlerpaar.

die touristische erschliessung des unterengadins

ist historisch gesehen eng verbunden mit dem bä­

dertourismus und konzentrierte sich zunächst auf

die Region scuol/tarasp/Vulpera. der Aufschwung

setzte 1864 ein, als das nach Plänen von Felix Wil­

helm kubly errichtete kurhaus von tarasp seine

Pforten öffnete – und gleichzeitig die talstrasse

durch das engadin eingeweiht wurde. im sog des

boomenden bädertourismus avancierten die eins­

tigen bauerndörfer scuol, tarasp und Vulpera zu

kurorten. der Ausbruch des ersten Weltkriegs

verhinderte einen weiteren Aufschwung. mit dem

Paradigmenwechsel des tourismus – leitbild war

nun der sportlich aktive urlauber – verlor das unter­

engadin an bedeutung. das hatte den nachteil einer

gegenüber dem Oberengadin geringen Wertschöp­

fung in diesem sektor, doch blieb andererseits die

kulturlandschaft von Verbauung und zersiedelung

bewahrt, welche die schweizer Ferienregionen

in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg

grundlegend verändern sollten.

ein schlüsseljahr für das unterengadin stellte

1999 dar – jenes Jahr, in dem der Vereinatunnel er­

öffnet wurde. mit der winterfesten Verbindung zum

unterland verkürzte sich die bisherige bahnreisezeit.

nach einer studie, die vom bundesamt für Raum­

entwicklung, dem kanton Graubünden sowie den

Regionen Prättigau und engiadina bassa in Auftrag

gegeben und Anfang 2006 veröffentlicht wurde, hat

die tunnelverbindung durchaus positive Auswirkun­

gen auf die touristische entwicklung, doch wären

neue Angebote für die Gäste noch entscheidender.

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1 Vnà: Gesamtansicht von Osten (Fotos: Valentin Jeck) 2 Eingangshalle im Erdgeschoss 3 Ansicht von Südwesten

der befürchtete boom mit den Folgen zersiedelung

und Verkehrschaos sei ausgeblieben.

das Fazit ist wohl zutreffend, wiewohl auch im

unterengadin die Preise für häuser und Grundstü­

cke massiv steigen. dafür aber ist weniger der Ve­

reinatunnel verantwortlich zu machen als vielmehr

die tatsache, dass der immobiliendruck, der auf

dem Oberengadin lastet, nun gleichsam innabwärts

kanalisiert wird. eine Pionierrolle hierbei spielen –

nicht anders als in städtischen kontexten – Galeris­

ten. nachdem sich mit dem hotel castell sowie den

Galerien tschudin und monica de cardenas in zuoz

ein erstes kunstzentrum ausserhalb von st. moritz

etablieren konnte, strebt die szene weiter Richtung

nordosten. Jüngste zeichen dafür sind die stattliche

chasa del Guvernatur in sent, die von duri Vital für

Gion enzone sperone umgebaut wurde, den new

Yorker Galeristen seines bruders not Vital, und

das von Andreas Fuhrimann und Gabrielle hächler

errichtete Galeriehaus für die zürcher Galeristin eva

Presenhuber in Vnà. dabei handelt es sich gleich­

sam um einen funktionalen hybriden. das skulptu­

rale betonvolumen ist privates Feriendomizil, besitzt

aber auch einen öffentlichen charakter: die kunst­

händlerin veranstaltet in den Räumen halb offizielle

Ausstellungen, zu denen Freunde und interessierte

eingeladen werden.

Tradition und Modernität

Vnà kann knapp siebzig einwohner aufweisen und

liegt, über eine serpentinenreiche strasse zu er­

reichen, 400 höhenmeter über dem im talboden

des inns befindlichen Gemeindehauptort Ramosch.

es gilt als die sonnenreichste Ortschaft im enga­

din – und besitzt ein bis heute weitgehend intaktes

Ortsbild. dennoch leidet Vnà unter Abwanderung,

da die alpine landwirtschaft nur noch bedingt zum

einkommen beiträgt und junge menschen kaum

zum leben in einer derart abgelegenen Ortschaft

bereit sind.

das bisher unbebaute Grundstück von eva Pre­

senhuber liegt inmitten des siedlungsgefüges und

2 3

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88 archithese 3.2008

A R c h i t e k t u R A k t u e l l

xxxA u S S t e l l u N G

Surrealistische Konfigurationen

Die AuSStelluNG The World of Madelon

Vriesendorp

flagrant délit zählt zu den berühmtesten Bildern von

Madelon Vriesendorp, die seit den Siebzigerjahren

unzählige Male in Architekturpublikationen veröffent­

licht wurden und durch ihre rätselhafte Symbolik bis

heute in der Architekturwelt präsent sind. unver­

gessen ist die erotische Spannung zwischen dem

personifizierten chrysler Building und dem empire

State Building, die in einer innigen Bettszene 1978

das cover von Rem koolhaas’ Bestseller delirious

new York zierten. Wie eine kriminalgeschichte gibt

das «geheime leben der hochhäuser» in der komp­

lexen Bildkomposition dem Betrachter zahlreiche

Rätsel auf. ungeduldig blickt er von einer architek­

turhistorischen Anspielung zur nächsten und starrt

schliesslich – ähnlich wie das Rockefeller center und

die personifizierte Manhattan Skyline – voyeuristisch

in den intimen Raum hinein.

Dreissig Jahre später präsentierte die Architec­

tural Association in london die Ausstellung The

World of Madelon Vriesendorp, die mit einem um­

fangreichen katalog einen einmaligen einblick in die

bisher verborgene Welt hinter dieser doppelbödigen

Bettszene bot. interviews und essays führen an­

schaulich in das Œuvre der 1945 im niederländischen

Bilthoven geborenen künstlerin ein, die an der Gerrit

Rietveld Academie in Amsterdam und der central

Saint Martin’s School of Art and Design in london

studiert hat. Nach ihrer heirat mit Rem koolhaas im

Jahr 1971 konzipierte sie gemeinsam mit ihm, elia

und Zoe Zenghelis den Wettbewerb «exodus, or the

Voluntary Prisoners of Architecture» und frühe OMA­

Projekte wie das Welfare Palace hotel.

im Vorwort betont Brett Steel, Direktor der Ar­

chitectural Association, dass dieser katalog und die

Wanderausstellung eine längst überfällige korrektur

der Rezeption von Madelon Vriesendorps Werk dar­

stellten. es sei bemerkenswert, wie die ikonischen Ge­

mälde der künstlerin, jenseits ihrer reinen Origina lität,

immer wieder durch Redakteure, Sammler und kura­

toren verzerrt und manipuliert worden seien. Obwohl

ihre Gemälde in so bedeutenden Sammlungen wie

dem Museum of Modern Art in New York oder dem

canadian centre for Architecture in Montreal zu seh­

en sind, würde ihr Beitrag als Gründungsmitglied von

OMA wie auch ihr eigenständiges Werk bisher nicht

angemessen gewürdigt. Auch Rem koolhaas stellt in

einem interview den konzep tionellen Beitrag seiner

Frau heraus, die durch den erfolg ihrer internati onal

verkauften Gemälde die Arbeit von OMA in den Sieb­

zigerjahren zu einem grossen teil finanziert habe.

Aus dem weit verteilten Œuvre haben die kura­

toren und herausgeber Shumon Basar und Stephan

trüby eine Anzahl von Arbeiten zusammengetragen,

die einerseits die entstehung des in delirious new

York veröffentlichten Gemäldezyklus dokumentieren

und andererseits zum ersten Mal auch die freien

künstlerischen Arbeiten von Madelon Vriesendorp

vorstellen. Neben den detailreichen Originalen zog

in der Ausstellung auch der trickfilm flagrant délit

von 1985 die Blicke der Besucher auf sich. Der

Film und zahlreiche Studienskizzen veranschauli­

chen die räumliche Verknüpfung der einzelnen Bilder

zu einem labyrinthischen System von fiktiven Räu­

men vor dem hintergrund der New Yorker Skyline.

Als ein highlight der Ausstellung ist in zwei koffern

auch die Sammlung von Postkarten zu sehen, die

nicht nur Vriesendorps Bilder, sondern auch Rem

koolhaas’ Buch delirious new York beeinflusst hat.

Gemeinsam mit einer Auswahl von Bad paintings

illustriert die Sammlung elemente der Massenkultur,

die Madelon Vriesendorp, als Prostest gegen die

traditionellen Architekturdarstellungen, bis heute in

ihren doppeldeutigen «kindergarten Surrealismus»

integriert. Die pittoresken Zentralperspektiven und

Pastellfarben sind dementsprechend auf die popu­

lären Postkartenmotive zurückzuführen und bilden

einen spannungsvollen Gegensatz zu den erotischen

Sujets und ironischen Architekturanspielungen. Stu­

dien zu der Buchillustration duffy’s rocks zeigen,

wie Vriesendorp Schritt für Schritt Postkartenmotive

und Alltagsobjekte zu komplexen Bildkompositionen

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Publikation: Shumon Basar / Stephan trüby (hrsg.), The World of Madelon Vriesendorp, AA Publications, lon­don 2008, £ 26,50.Die Wanderausstellung The World of Madelon Vriesendorp war nach der AA in london in der Berliner Architektur­ galerie Aedes am Pfefferberg zu sehen; weitere Stationen in Vorbereitung.

1 Madelon Vriesendorp: Flagrant Délit, 1978 (Fotos 1–3: Katalog)

2 Madelon Vriesendorp: Greed AKA New York Doom, 1973

3 Charlie Koolhaas: Blick in das Studio von Madelon Vriesendorp

4 Blick in die Ausstellung in der AA London (Foto: Bettina Schürkamp)

verdichtet und so die für ihre kunstwerke charakte­

ristische intensität erzeugt.

charles Jencks veranschaulicht in seinem essay

Madelon seeing Through objects, wie die künstle­

rin Objekte als Vehikel für zahlreiche Bedeutungen

verwendet. Sie stehe damit in einer surrealistischen

tradition, die unter anderem durch Dalís paranoid­

kritische Methode geprägt sei. eine beeindruckende

Fotodokumentation ihrer tochter charlie koolhaas

stellt das Studio der künstlerin und ihr Archiv von kul­

turellen Artefakten vor, das als weiterer höhepunkt

in der Ausstellung gezeigt wurde. in Vitrinen waren

unzählige Figuren zu sehen, die Madelon Vriesen­

dorp über Jahrzehnte weltweit zusammengetragen

hat. körperteile aus kunststoff, kunsthandwerkliche

afrikanische insekten, asiatische Souvenirs und rus­

sische comicfiguren sind hier zu einer kuriosen Cul-

ture of Congestion zusammengefügt, die mit immer

neuen Beziehungen zwischen den objets trouvés

experimentiert. Ob nun Schauder, ekel oder Verzü­

ckung – wichtig ist, dass die Objekte bewusst und

unbewusst eine elektrische Spannung auslösen und

keines der Dinge den Betrachter unberührt lässt.

Auf die Frage, warum sie sich als Frau eines Archi­

tekten mit so flüchtigen kunstwerken beschäftige,

antwortet Madelon Vriesendorp: «i think these things

are most important of all. the jokes, the fun, the

memories, it’s all in the details. the detail is all that

really matters. i am the detail.» in immer neuen kons­

tellationen verbindet sie in ihrer künstlerischen Arbeit

alltägliche erfahrungen, verborgene kindheitsträume

und Sehnsüchte des Zeitgeistes zu einem einmali­

gen musée imaginaire, das auf wundersame Weise

die kuriositäten wie auch Gemeinsamkeiten unserer

heutigen globalen kultur widerspiegelt.

Bettina Schürkamp

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