buschendorf_zur begrundung der kulturwissenschaft

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226 III Philosophie der Verkörperung It had previously been offered to "Horizon" and I never had the slightest reason to doubt that you had not made it available for publication. I liked it immediately and believing that the craze for existentialism was a rapidly spreading danger I made the gross mistake of publishing it without waiting for a reply to my letter to you which asked you to let us know immediately if you objected. We heard nothing and assumed your consent. May I again express my most sincere regrets and assure you that an explanation will be made in the next "Polemic" (that is to say No. 7, No. 6 is already printed.) I hope it is not impertinent of me to mention payment. Our normal rate is 5 guineas a thousand words, which works out at nine guineas for your manuscript, but of course we would not suggest any sum less than that to which you are accustomed. Yours very sincerely, Humphrey Slater. (Archiv Margaret Wind) VII Humphrey Slater an Edgar Wind, Brief vom 21. 2. 1947 Edgar Wind Esq. Smith College, Northampton, Mass. Dear Sir, I notice from our accounts that we have not yet paid any fee for our disreputa ble mistake in printing your article on existentialism. I should be most grateful iE ) ou would let us know what amount to send yo u. Perl1aps you would let us know the name of yoUf bank in America (we ha ve to get special permisslOn to make a sterling transfer) or alternatively, any account in England into which Te rr.ight pay sterling? Again, please accept my apologies, Yours very sincerly, Humphrey Slater. (Archiv Margaret Wind) Zur Begründung der Kulturwissenschaft Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind Bernhard Buschendorf Grundlegend für Edgar Winds Konzept von Kulturwissenschaft ist sein Symbol- begriff, denn mit ihm sucht er den kulturwissenschaftlichen Gegenstand zu bestim- men. Da Wind vor allem an die Symboltheorie anknüpft, die der Kulturwissen- schaftler Aby Warburg aus der Symboltheorie des Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer entwickelte, möchte ich im folgenden zunächst diese beiden Theorien ver- gleichen. In Absetzung von ihnen werde ich sodann die wesentlichen Momente von Winds Symbolbegriff erörtern. Vischer ging es in der Symboltheorie, die er vor allem in dem späten epoche- machenden Aufsatz "Das Symbol" explizierte,1 um eine anthropologisch ausge- richtete, au fond psychologische Grundlegung der Ästhetik, mit der er sich ent- schieden gegen konkurrierende Begründungsversuche der formalistischen Schule wandte. 2 Vischer gibt zunächst eine allgemeine Definition des Symbolbegriffs. Er bestimmt das Symbol als äußerliche Verknüpfung von Bild und Bedeutung unter 1 rnedrich Theodor Vischer, "Das Symbol", in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fimfzlg-Jäbrigen Doctor-Jubdaum geWIdmet, Leipzig 1887, S.151-193 [wiederabgedruckt in: ders., Gänge 4, hrsg. von Robert Vischer, München 21922, 420-456); vgl. ders., "Der T.raum", in: KntlSthe Gdnge 4, S. 459-488; vgl. dagegen Vischers frühe Symboltheorie in: ders., Asthetik oder des Schönen, hrsg. von Roben Vischer, München 21922, Tl. II, §§ und 444 tf.; zur Revision semes fruhen Symbolverständnisses siehe bereits: ders., "Kritik meiner Asthe- tik", in: Kntische Gänge 4, S. 222-419, hier S. 314-325. .' 2 J)le 'crtrett' r der forma li stischen Schule wie zum Beispiel Roben Zimmermann zielen auf eme du lt 'Is.he Begründung der Ästhetik, denn sie machen neben dem Ausdruckspr.inzip, auf dem. der ast! et :,c!-Je Genuß der im Kunst- oder Narurschönen präsenten Gefühle und Stimmungen baSiert, ein gltH .. Formprinzip geltend, das dem ästhetischen arn der rorm n lugrunde liegt. Dagegen gibt der späte Friedrich !heod.or VIsch:r eme n.am- lieh, uS0chheßlich ausdrucksästhetische Begründung der Asthetlk. D.lbcl beruft .. er slc.h auf semen Sohn Robert, der Anfang der siebi'iger Jahre dargetan hatte, daH nicht nur Genug der Gehalte von Kunst- und Naturschönem, sondern auch der des vermemtltch remen For- d k ., .' I' h f E" f' hlung beruht· vgl Robert menspicls in WahrheIt a uf dem Aus ruc sprm7lp, namlc au u. .", Visdler, Uber das optzsche formgefübl. Em Betrag zllr Ast/;etik. LeIpZIg 1873 [wlederabgedru\:kt in oers, Dm Sc/mften zum äs thetISchen Formproblem, I lalle 1927, 1-44).

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BUSCHENDORF_Zur Begrundung Der Kulturwissenschaft

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  • 226 III Philosophie der Verkrperung

    It had previously been offered to "Horizon" and I never had the slightest reason to doubt that you had not made it available for publication. I liked it immediately and believing that the craze for existentialism was a rapidly spreading danger I made the gross mistake of publishing it without waiting for a reply to my letter to you which asked you to let us know immediately if you objected. We heard nothing and assumed your consent. May I again express my most sincere regrets and assure you that an explanation will be made in the next "Polemic" (that is to say No. 7, No. 6 is already printed.)

    I hope it is not impertinent of me to mention payment. Our normal rate is 5 guineas a thousand words, which works out at nine guineas for your manuscript, but of course we would not suggest any sum less than that to which you are accustomed.

    Yours very sincerely, Humphrey Slater. (Archiv Margaret Wind)

    VII Humphrey Slater an Edgar Wind, Brief vom 21. 2. 1947

    Edgar Wind Esq. Smith College, Northampton, Mass.

    Dear Sir, I notice from our accounts that we have not yet paid any fee for our disreputable

    mistake in printing your article on existentialism. I should be most grateful iE ) ou would let us know what amount to send you. Perl1aps you would let us know the name of yoUf bank in America (we have to get special permisslOn to make a sterling transfer) or alternatively, any account in England into which Te rr.ight pay sterling?

    Again, please accept my apologies, Yours very sincerly, Humphrey Slater. (Archiv Margaret Wind)

    Zur Begrndung der Kulturwissenschaft

    Der Symbolbegriff bei Friedrich Theodor Vischer, Aby Warburg und Edgar Wind

    Bernhard Buschendorf

    Grundlegend fr Edgar Winds Konzept von Kulturwissenschaft ist sein Symbol-begriff, denn mit ihm sucht er den kulturwissenschaftlichen Gegenstand zu bestim-men. Da Wind vor allem an die Symboltheorie anknpft, die der Kulturwissen-schaftler Aby Warburg aus der Symboltheorie des sthetikers Friedrich Theodor Vischer entwickelte, mchte ich im folgenden zunchst diese beiden Theorien ver-gleichen. In Absetzung von ihnen werde ich sodann die wesentlichen Momente von Winds Symbolbegriff errtern.

    Vischer ging es in der Symboltheorie, die er vor allem in dem spten epoche-machenden Aufsatz "Das Symbol" explizierte,1 um eine anthropologisch ausge-richtete, au fond psychologische Grundlegung der sthetik, mit der er sich ent-schieden gegen konkurrierende Begrndungsversuche der formalistischen Schule wandte.2 Vischer gibt zunchst eine allgemeine Definition des Symbolbegriffs. Er bestimmt das Symbol als uerliche Verknpfung von Bild und Bedeutung unter

    1 rnedrich Theodor Vischer, "Das Symbol", in: Philosophische Aufstze. Eduard Zeller zu seinem fimfzlg-Jbrigen Doctor-Jubdaum geWIdmet, Leipzig 1887, S.151-193 [wiederabgedruckt in: ders.,

    Kriti~che Gnge 4, hrsg. von Robert Vischer, Mnchen 21922, 420-456); vgl. ders., "Der T.raum", in: KntlSthe Gdnge 4, S. 459-488; vgl. dagegen Vischers frhe Symboltheorie in: ders., Asthetik oder \t'i~senscbaft des Schnen, hrsg. von Roben Vischer, Mnchen 21922, Tl. II, 426f~. und 444 tf.; zur Revision semes fruhen Symbolverstndnisses siehe bereits: ders., "Kritik meiner Asthe-tik", in: Kntische Gnge 4, S. 222-419, hier S. 314-325. . '

    2 J)le 'crtrett' r der formalistischen Schule wie zum Beispiel Roben Zimmermann zielen auf eme du lt 'Is.he Begrndung der sthetik, denn sie machen neben dem Ausdruckspr.inzip, auf dem. der ast! et :,c!-Je Genu der im Kunst- oder Narurschnen prsenten Gefhle und Stimmungen baSiert, ein gltH .. hur~prunglic hes Formprinzip geltend, das dem sthetischen Genu~ arn Sp~el. der rei.~en rorm n lugrunde liegt. Dagegen gibt der spte Friedrich !heod.or VIsch:r eme mon~stlsche. n.am-lieh, uS0chhelich ausdruckss thetische Begrndung der Asthetlk. D.lbcl beruft .. er slc.h auf semen Sohn Robert, der Anfang der siebi'iger Jahre dargetan hatte, daH nicht nur de~ as~het1Sc~e Genug der Gehalte von Kunst- und Naturschnem, sondern auch der des vermemtltch remen For-

    d k ., .' I' h f E" f ' hlung beruht vgl Robert menspicls in WahrheIt auf dem Aus ruc sprm7lp, namlc au _ I~ u. .", Visdler, Uber das optzsche formgefbl. Em Betrag zllr Ast/;etik. LeIpZIg 1873 [wlederabgedru\:kt in oers, Dm Sc/mften zum sthetISchen Formproblem, I lalle 1927, 1-44).

  • 228 111 Philosophie der Verkrperung

    einem Vergleichspunkt, wobei er mit dem Wort Bild irgend einen anschaulich gegebenen Gegenstand meint und unter Bedeutung irgend einen begrifflich fa-baren Sinn versteht. Auerdem erklrt Vischer, die Verknpfung von Bild und Bedeutung msse unangemessen sein,) was nichts anderes besagt, als da die Bedeutung, auch wenn sie mehrere Sinnrnomente enthlt, gegenber den vielen konkreten Eigenschaften des Bildes einfach und abstrakt sein mu.

    Diesen allgemeinen Symbolbegriff zerlegt Vischer sodann in drei besondere For-men. Er unterscheidet sie zum einen temporal-relational nach ihrem frheren oder spteren Auftauchen in der Entwicklungsgeschichte des Menschen, fat sie mithin als drei Stufen. Zum anderen aber und vor allem differenziert er sie psychologisch-systematisch nach der Art und Weise der Verbindung zwischen Bild und Bedeu-tung. Als erste behandelt Vischer die entwicklungsgeschichtlich vergleichsweise frhe Stufe der Symbolik, die er als die religise oder dunkel-unfreie Symbolform apostrophiert," und diskutiert als zweite die diametral entgegengesetzte, entwick-lungsgeschichtlich relativ spte Stufe, die er die rationale oder helle und freie Sym-bolform nennt.5 In deutlicher Abgrenzung von beiden expliziert er schlielich die gesuchte sthetische - von ihm auch als "vorbehaltende" bezeichnete - Stufe oder Form der Symbolik: Sie ist historisch und systematisch zwischen der religisen und der rationalen gelegen, von beiden scharf geschieden und dadurch definiert, da sie zwischen beiden vermittelt.

    In der frhen oder religisen Form der Symbolik, in der das Bild der Sphre des Unpersnlichen, die Bedeutung aber dem Gebiet des Heiligen entstammt, hat der Mensch noch eine so starke affektive Bindung an das Bild, da er es mit der nur dunkel geahnten Bedeutung verwechselt und mit ihm unwillkrlich reale Hand-lungen, namentlich gottesdienstliche Akte vornimmt, indem er sich etwa dem - mit der Bedeutung identifizierten - Bild unterwirft oder es sich einzuverleiben trachtet. Als paganes Beispiel nennt Vischer den "Stier", der in der gyptischen Religion "durch den Vergleichspunkt seiner Strke und Zeugungskraft" als "Symbol der Urkraft" verstanden, dabei "aber mit dieser verwechselt" und infolgedessen kul-tisch verehrt wird.6 Als christliches Beispiel fhrt er das komplexe Symbol der Eucharistie an, in der der Glubige sich das durch Christi Opfertod bewirkte Heil der Sndenvergebung durch Brot und Wein einzuverleiben su"ht.,

    3 Vgl. F. Th. Vischer, Das Symbol (wie Anm. 1), S. 423; zu Rec.ht bemukt 'i~c.r CI. da Un-an gemessenheit auch fr Hegel ein zentrales Merkmal de~ Symbol i t. Zu di s r Lr das Symbol charakteristischen "Unangemessenheit von Idee und Gestalt" siehe dIe Definition dtr "symbolI-schen Kunstform" und den Abschnitt "Symbol berhaupt", in: (,eorg Wilhclm F ricdridl lIegcl, Vorlesungen ber die sthetIk I, Werke in zwanzig Blinden, Bd. 11, hankfurt/M. 1970. S. 107-109 (hier insb. S. 109) und S. 393-413 (hier insb. S. 396).

    4 Vgl. Das Symbol (wie Anm.I), S. 424- 427. 5 Vgl. ebenda, S. 427-431. 6 Ebenda; vgl. auch Vi schers Kritik meiner sthetIk (wie Anm. I), S. 317. 7 Das Symbol (wie Anm. 1), S. 424 f.

    B. Buschendorf: Zur In der spten oder rationalen Symbolfotm ist .

    sehen an das Bild bereits so gering, da er es voJIJ.k4:)." trachten und somit Bild und Bedeutung in hellem unterscheiden kann. Markantes Beispiel dieser Form ist fr in der ein unpersnliches Bild mit einem klar umrissenen Sinn eine Personifikation im Dienste eines Gedankens ersonnen Wlr"~;",J_ Vischer die rationale Form der Symbolik in dem Verhltnis excm][JWlZtl~;.~ gebildete Europer zu den in Kunst und Literatur tradierten Mythen det"AI.1e und des Christentums hat. Der aufgeklrte, modeme Mensch glaubt an diese mythischen Gestalten nicht mehr. Er begreift sie vielmehr lediglich als Prod1Jkte der Einbildungskraft, denen er denn auch keine historische Wahrheit, sondern nur mehr eine "innere", "allgemein menschliche Wahrheit" 9 zuerkennt, indem er etwa Raffaels Sixtinische Madonna als Sinnbild "unaussprechlicher Himmelsfreude-versteht. 1o

    Die mittlere oder sthetische Form der Symbolik besteht in dem "leihende[n] Akt", in welchem der Mensch - unwillkrlich und dennoch frei - dem Unbeseel-ten seine "Seele und ihre Stimmungen unterlegEt]",!! wobei er die rationale Ein-sicht in die Inadquatheit dieses Aktes whrend desselben auer Kraft setzt oder, wie Vischer sagt, vorbehlt. Mit der affektiven Bindung an das Bild ist demjenigen, der einen Gegenstand sthetisch betrachtet, daher nur im Moment der Beseelung ernst. Wie in der religisen gibt es also auch in der sthetischen Form der Symbolik eine affektive Bindung an das Bild. Doch whrend sie beim religis Glubigen noch so stark ist, da er Bild und Bedeutung nicht zu unterscheiden vermag und infolgedessen auf das affektiv besetzte Bild durch Verrichtung wirklicher -namentlich kultischer - Handlungen unmittelbar reagieren mu, ist diese Bindung bei demjenigen, der in sthetische Betrachtung versunken ist, durch das eigentlich schon vorhandene Wissen um die tatschliche U nbeseeltheit des Bildes bereits so weit gemildert, da er Bild und Bedeutung nur mehr im Moment der sthetis

  • 230 I II Philosophie der Verkrperung

    ahnungsvolle Beleuchtung" "der sinkenden Sonne" beschwrt. 13 Wie Vischer erlutert, wei natrlich ein jeder, da es sich bei solchen vom Dichter beschriebe-nen Phnomenen an sich um seelenlose, rein physikalische Ereignisse handelt. Dennoch wird sich der Leser, wie Vischer betont, auf solche Metaphern gerne ein-lassen und sie als gelungene Tuschung gutheien. Die bereitwillig, wenn auch unter Vorbehalt vollzogene seelische Handlung der Empathie begreift Vischer als basalen Akt des sthetischen Bewutseins und bezeichnet sie - im Anschlu an seinen Sohn Robert - als Einfhlung. '4

    Bei Vischer ist die polarittstheoretische Konzeption der gesamten Theorie und der zentralen Begriffe zwar bereits in der triadischen Struktur angelegt, doch tritt sie erst allmhlich zutage und wird noch nicht ausdrcklich als solche bezeichnet. Die religise und die rationale Symbolik bilden zunchst einen kontrren Gegen-satz, der durch die sthetische Symbolik vermittelt und erst dadurch zu einem polar-kontrren Gegensatz wird. Als polar-kontrre Begriffe fungieren die religise und die rationale Symbolik einerseits als Grenzbegriffe, denn die sthetische Form der Symbolik ist von ihnen scharf geschieden. Andererseits aber sind sie auch Momente der sie vermittelnden - und durch eben diese Vermittlungsleistung aller-erst definierten - sthetischen Symbolform.

    Aby Warburg hat Vischers Symboltheorie immer wieder studiert. ls Er teilt mit seinem Gewhrsmann die anthropologisch-psychologische Orientierung, folgt

    13 Ebenda, S. 432; der hexametrische Eingang des achten, "Melpomene. Hermann und Dorothea" betitelten Gesangs lautet: "Also gingen die 7wel entgegen der sinkenden Sonne, / Die in Wolken sich tief, gewinerdrohend, verhllte, / Aus dem Schleier bald hier, bald dort mIt gluhenden Bltcken / Str,lhlend uber das feld die ahnungwolle Bekuchtung." [Hennann und Dorothea, Johann Wolf-gang von Goethe, W'erke (Hamburger Ausgabe), Bd. 2, Mnchen 91972, S. 431-514, hier S. 498.

    14 Eine differeni'ierte Explikation des Einfhlungskoni'epts gibt Vi~chcr In dem AufsatL .,Das Sym-bol" (wie Anm. I), S. 437-452.

    15 on Warburgs intensiver Beschaftigung mit Vi schers Symbolkonzept zeugen vor allem die kunst philmophischen Aphorismen, die CI hauptschlich von 1888 b,s 1892 'Verlate, von 1894 bis 1905 ergnzte und 1896 mit dem Titel Grundlegende BmchstuckL zur Psycholoue dr!r A&trlst versah. Unter bestndigem Rckgriff auf Vi scher beginnt Warburg dIese S mml '1' usdru k kundlieher Reflexionen mit etwa dreiig Aphorismen zum Symbolbegnff, ,n:.f du; er sIch Ir dtr hllge immer wieder be7ieht. Diese noch immer unpubliziertc Aphorismlnsammlung befindet i( h im Londo-ner Warburg Institute im Warburg-Archiv (Ill, Nr. 43 -45); einc VeroftllltlidlUng ist in Vo~bereitung: Ab)' Warburg, Fragmente Zla Ausdruckskunde, hrsg. von Bernh'rd B.J~ h(l1dClf und Clau-dia Naber, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von. Horst Bredebmp, MIClt e Dltr, TJ(ho las Mann, Martin Warnkc, Berlin (vorausichlich 1999ff.), 4. Abteilung Bd. IV, lU Walburgs Rckgriff auf Vi schers Symbolkon7Cpt siehe: Ab)' M. Warburg, "Bilder aus dem GebIet der PueblO IndianCf in

    ord-Amerika", in: ders., Schlangellritual. Em RelS(:bencht, Mit emem achwort von Llrich Raulff, Berlin 1988, S. 9-59; ders, Gesammelte Schn/ten, hrsg. von der Bibhothek Warburg, Bd. I und 11, Die Emeuerung der heidnischen AntIke. Kulturwlsscnscbajt!lche Beitrage zur GeschIchte deI" europt:l/Schen Renaissance. Mit einem Anhang unverffentlichter Zusatze, hrsg. von Gertrud Bing, unter Mitarbeit von frit;- Rougemont, Leipzig, Bcrlin [Ndr. Nenddn (LIechtenstein) 19791 1932, S. 5, 58, 158, 328, 534, 565 und 611 ff. An forschung i'U Warburgs Vischer-Bei'ug siehe:

    B. Buschendorf" Zur Begrndung der KultuT'Wissenschaft 231 Vischers Vorstellung eines Ausgleichs zwischen irrationaler und rationaler Denk-form, adapti.ert ?aher au.ch die U~terscheidung zwischen drei besonderen Symbol-formen sowie die Idee emer Ableitung der dritten aus den heiden ersten und ber-nimmt nicht zuletzt .. das Konzept der Einfhlung. Doch whrend es Vischer um eine Definition des Asthetischen, also um eine Grundlegung der sthetik zu tun w~r, geht es .Warburg in seiner Symboltheorie um die Bestimmung des kultur-wIssenschaftlIchen Gegenstands und mittels dieser Bestimmung um die Formulie-rung eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms.

    Aufgrund dieses vllig anderen Erkenntnisinteresses mu Warburg an Vischers Theorie zwei entscheidende Modifikationen vornehmen. Erstens ersetzt er Vischers vergleichsweise moderaten Gegensatz von religisem und rationalem Symbol durch den extremen Gegensatz von magisch-verknpfendem und logisch-sonderndem Symbol und fat damit den zu definierenden Begriff der Kultur so weit, da er auf der irrationalen Seite noch die primitivsten Formen des Aberglaubens und auf der rationalen Seite noch die abstraktesten Formen der Wissenschaft enthlt. Zweitens przisiert Warburg den logischen Status des Gegensatzes. Whrend Vischer den Gegensatz von religiser und rationaler Symbolik zunchst nur als kontrren Gegensatz konzipiert und ihn erst anschlieend durch die in der sthetischen Sym-bolik erfolgende Vermittlung implizit als polar-kontrr fat, bestimmt Warburg den entsprechenden Gegensatz von magisch-verknpfender und logisch-sondern-der Symbolform von Anfang an ausdrcklich als polar-kontrr und definiert damit Kultur als einen zwischen polar-kontrren Extremen aufgespannten, verschieden-ste Gebiete umfassenden und daher in sich hchst diskontinuierlich strukturierten Bereich.

    Zur Kultur im weiteren Sinne gehren folglich auch die sie begrenzenden Pole: Magie und Logik. Doch haben diese extremen Gegenstze jeweils an sich selbst noch Momente ihres Gegenteils. Dem magischen-verknpfenden Symbol eignet

    Edgar WInd, "Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung fr die sthetik", in: VIerter Kongre /itr sthetIk Imd allgememe KunstWIssenschaft, Beilagenhcft zur Zeitschrift fr sthetik und allgememe Klfnstwlssenschaft, 25, 1931, S. 163-179, insb. S. 170-174 [wiederabge-druckt in: Bzldende Kunst als Zelcbensystem 1. Ikonographie und Ikonologie: Theorien, Entwick-lzmg, Probleme, hrsg. von Ekkehard Kaemmerling, Kln 1979, S. 165-184; sowie in: Aby M. War-burg. 4usf!,e;hlte Selm/ten und Wurdlgungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 21980, S. 401-417], fritz Saxl, "Die Ausdrucksgebrden der bildenden Kunst", in: Bericht ber den XII. Kongre der Deutschen Gesellschaft fr Psychologie in Hamburg vom 12.-16. A,Pril 1931, Je~a 1932, S. 13 25 [wlCderabgedruckt in: Wuttke (Hrsg.), Aby Warburg, 419-425, hIer 421]; sowIe Ernst H Gombrich, Aby Warburg. Eme mtellektuelle Bzograpble [Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1971], bers. von Matthias Fienbork, Frankfurt/M. 1981, S. 99~102;. ~dgar Wind, .. Concerning Warburg's Theory of Symbols" [Wind-Nachlass (I, 3, vi)]; ders., Unftmshed Business Ab)' Warburg and his Work", The Times Llterlll)' Supplement, June ~5, 1971, S. 73~f. [wiederabgedruckt und mit kleinen Ergnzungen aus Winds naehgclassene.n PapIeren vers.eh~n 111: ders., Thc Eloquence 0/ Symbols. Studies in Humanist Art, hrsg. von Jaym~ Anderson, mIt elllem "Biographical Memoir" von Hugh Lloyd-Joncs, Oxford 1983, S. 106-113, lllcr S. 108)].

  • 230 I/ I Philosophie der Verkrperung

    ahnungsvolle Beleuchtung" "der sinkenden Sonne" beschwrt. 13 Wie Vischer erlutert, wei natrlich ein jeder, da es sich bei solchen vom Dichter beschriebe-nen Phnomenen an sich um seelenlose, rein physikalische Ereignisse handelt. Dennoch wird sich der Leser, wie Vischer betont, auf solche Metaphern gerne ein-lassen und sie als gelungene Tuschung gutheien. Die bereitwillig, wenn auch unter Vorbehalt vollzogene seelische Handlung der Empathie begreift Vischer als basalen Akt des sthetischen Bewutseins und bezeichnet sie - im Anschlu an seinen Sohn Robert - als Einfhlung. 14

    Bei Vischer ist die polarittstheoretische Konzeption der gesamten Theorie und der zentralen Begriffe zwar bereits in der triadischen Struktur angelegt, doch tritt sie erst allmhlich zutage und wird noch nicht ausdrcklich als solche bezeichnet. Die religise und die rationale Symbolik bilden zunchst einen kontrren Gegen-satz, der durch die sthetische Symbolik vermittelt und erst dadurch zu einem polar-kontrren Gegensatz wird. Als polar-kontrre Begriffe fungieren die religise und die rationale Symbolik einerseits als Grenzbegriffe, denn die sthetische Form der Symbolik ist von ihnen scharf geschieden. Andererseits aber sind sie auch Momente der sie vermittelnden - und durch eben diese Vermittlungsleistung aller-erst definierten - sthetischen Symbolform.

    Aby Warburg hat Vischers Symboltheorie immer wieder studiert. ls Er teilt mit seinem Gewhrsmann die anthropologisch-psychologische Orientierung, folgt

    13 Ebenda, S. 432; der hexametrische Eingang des achten, "Melpomene. Hermann und Dorothea" betitelten Gesangs lautet: "Also gingen die zwei entgegen der smkenden Sonne, / Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhllte, / Aus dem Schleier bald hier, bald dort mit glhenden Blicken / Strahlend ber das Feld die .1hnungsvolle Beleuchtung." [Hennann lind Dorothea, Johann Wolf-gang von Goethe, W/erke (Hamburger Ausgabe), Bd. 2, Munchen 91972, S. 437 514, hier S. 498.

    14 Eine differenzierte Explikation des Emfhlungskonzepts gibt Vischer In dem Auf~atL "Das Sym-bol" (wie Anm. 1), S. 437-452.

    15 Von Warburgs intensiver Beschftigung mit Vi schers ymbolkonzept zeugen '.or llcm die kunst-philosophischen Aphorismen, die er hauptschlich von 1888 bis 1891 \

  • 232 I II Philosophie der Verkrperung

    ein Mindestma von Form oder Gestalt. Und im logisch-sondernden Symbol findet sich aufgrund der ihm innewohnenden, auf Verstndnis zielenden Bedeu-tung ein wenn auch zumeist verschwindend geringer emotionaler Bezug. Zwischen beiden Extremen aber vermittelt die symbolisch-verknpfende Symbolform, die die Gegenstnde der Kultur im engeren Sinne konstituiert. Zu welchen Wert-sphren sie auch immer gehren, ob sie also etwa der Astrologie, der Religion, der Philosophie, der Politik, dem Recht, der bildenden Kunst, der Literatur oder den Wissenschaften entstammen, die Gegenstnde der Kultur werden von Warburg grundstzlich als Ausgleichsprodukte einer symbolisch-verknpfenden, zwischen Irrationalitt und Rationalitt vermittelnden Konstitutionsleistung begriffen.

    Nach Warburgs innerster, tief von humanistischem Geist geprgter berzeu-gung verdankt sich die Kultur des Abendlandes einer bestndigen Rezeption des antiken Altertums, die gleichsam in Wellen hchst unterschiedlicher Art und Strke verluft und sich vor allem seit der Renaissance in so massiven Schben fortsetzt, da in der abendlndischen Kultur seither jede Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geradezu unausweichlich zu einer Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe wird. Das Nachleben der Antike wurde daher fr Warburg zum zen-tralen Problem, das ihn, wie er selbst zu sagen pflegte, lebenslnglich komm an-dierte. 16 Und indem Warburg mit seiner Symboltheorie den Gesamtbereich der Kultur als polar-kontrr aufgespanntes Diskontinuum bestimmte und das kulturelle Einzelobjekt als Ausgleichsprodukt zwischen irrational bindenden und rational distanzierenden Krften konzipierte, formulierte er das Problem des N achlebens der Antike als Forschungsprogramm: Er verlieh ihm eine theoretische Basis und unterstellte es zugleich einem dezidiert psycho-historischen Erkenntnisinteresse.

    Die psychische Operation der Einfhlung, die Vischer als grundlegend fr die sthetische Symbolform ansah und somit ausschlielich fr die Erschlieung sthe-tischer Gegenstnden reservierte, betrachtet Warburg als basale Operation der symbolisch-verknpfenden Symbolform und erachtet sie somit gegenber allen Gegenstnden der Kultur als adquat. Einfhlung ist daher fr Warburg das wich-tigste Werkzeug kulturgeschichtlicher ArbeitY Als Organ historischer Forschung kann sich Einfhlung freilich nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch hchst

    16 Zu Warburgs Forschungsprogramm zum Nachleben der Antike siehe vor allem die folgenden Arbeiten Fritz Saxls: "Rinascimento dell'antichira. Studien zu den Arbeiten A Warburgs", 111: Repertorium fr Kunstu'lssenschaft, 43, 1922, S, 220-272; "Die Kulturwissenschaftlichr lbljothek Warburg in Hamburg", in: Forschungs-Instztute. Ihre Geschichte, Organisatztm und Ziele, hrsg, von Ludolph Brauer, Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Adolf Meyer, d,2, Hamhurg 1930, S. 355-358; "Warburgs Mnemosyne-Atlas" (1930) lalle wiederabgedruckt 111: Wuttke (J Irsg.), Aby M. Warburg (wie Anm.15), S. 313-315, 331- 334 und 347-399].

    17 Theoretisch beschftigte sich Warburg mit dem psychischen Akt der Einfhlung insbesondere in seiner Frh7eit; siehe hierzu die seiner Dissertation beigef gten "Vier Thesen" in: Gesammelte Schriften (wie Anm.15), S. 58; vgl. auch Warburgs Grundlegende Bruchstcke (wie Anm.15), S.28, 29,51,174.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 233 mittelbar, nmlich auf dem Wege einer uerst umstndlichen, begrifflich geleiteten Erschlieung ihrer Gegenstnde vollziehen. Geleitet von seinem stark psycho-historischen Erkenntnisinteresse, machte Warburg von diesem Mittel denn auch intensiven Gebrauch. Durch Einfhlung versuchte er, in den kulturellen Manifesta-tionen, die er erforschte, die seelischen Lagen der an ihrer Hervorbringung direkt oder indirekt Beteiligten zu erschlieen, also gewissermaen ihren seelischen Ort im weiten Spektrum zwischen rationaler Selbstbehauptung und triebhafter Selbst-aufgabe auszumachen.

    Als Kunsthistoriker interessierte sich Warburg freilich nicht fr alle Wertsphren in gleichem Mae, sondern konzentrierte sich in seiner kulturgeschichtlichen Arbeit vor allem auf die Welt der Bilder. In seinen frhen kunstphilosophischen Reflexionen ging es Warburg um eine ausdruckssthetische Begrndung des Bild-begriffs, bei der er sich stark an der Polarittstheorie des Symbols orientierte. t8 Die wichtigsten Momente seines Begrndungsansatzes suchte er schon im Titel hervor-zuheben 19, den er bezeichnenderweise denn auch mehrfach revidierte. Mit dem ursprnglich gewhlten Titel Grundlegende Bruchstcke zu einer monistischen Kunstpsychologie unterstreicht Warburg die grundlagentheoretische Absicht seiner Kunstphilosophie und betont zugleich seine berzeugung von der Notwendigkeit ihrer Fundierung in einem einzigen, psychologischen Prinzip. Da Warburg dabei immer schon das Ausdrucksprinzip, also eine ausdruckssthetische Begrndung des Bildbegriffs im Sinn hatte, verdeutlicht er durch eine sptere Version des Titels: Grundlegende Bruchstcke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde. Durch den expliziten Hinweis auf den pragmatischen Charakter seines Ansatztes gibt er auerdem zu erkennen, da er die Begrndung des bildknstlerischen Gegenstands handlungstheoretisch auszurichten und somit grundstzlich auch der sozialen D imension von Kunst Rechnung zu tragen gedenkt.lo

    Mit dem seinen Reflexionen vorangestellten Motto "Du lebst und tust mir nichts" 21 betont Warburg, da er das Bild - seiner ontologischen Struktur nach -als Vermittlungs- oder Ausgleichsprodukt zweier basaler, gegenstzlich gerichteter Strebungen begreift. Die eine dieser antagonistischen Krfte ist der formende oder vergegenstndlichende Distanzierungswille, der gegenber dem knstlerischen Objekt bereits dann zur Geltung kommt, wenn dessen blo fiktiver und somit illu-

    18 Grundlegwde Bruchstlkke (wie Anm. 15), 1. Buch 1888-1892, insb. S. 1-12; zu Warburgs "Begriff des Bildes" SIehe den gleichnamigen Abschnitt in Winds Aufsatz "Warburgs Begriff der Kultur-wissenschaft und seine Bedeutung fr die sthetik" (wie Anm. 15), S. 163-170.

    19 Vgl. Warburgs Notizen auf dem Buchdeckel zum ersten Buch seiner Grundlegenden Brucbstlicke (wie Anm.15).

    20 Vgl. ebenda, III anderen dort in Erwagung gezogenen Titcln begngre sich Warburg damir, seine psychologische AUSrIchtung und seine grundlagenrheoretische Absicht zu betonen: Grundlegende Bruchstucke zu emer psycbologlschen KllnstplJllosoplJ/e oder Gnmd/egendc Bruchstcke zur Psy-chologIe der Kunst.

    21 Grundlegende Bruchstllck e (wie Anm. J 5), S. J3.

  • 234 I I I Philosophie der Verkrperung

    sionrer Charakter bewut wird. Die Gegenkraft ist der Drang nach mglichst intensiver Vergegenwrtigung von Ausdruck und Leben. Warburg expliziert diese Doppelstruktur oder Widerspruchsspannung sowohl in produktions- als auch in rezeptionsthetischer Hinsicht. Produktionssthetisch erklrt er: "Ein Kunstwerk, das einen dem menschlichen Leben entnommenen Gegenstand oder Vorgang, wie er erscheint, darzustellen versucht, ist immer ein Compromiproduct zwischen der Unfhigkeit des Knstlers, dem knstlerischen Gebilde wirkliche Lebendigkeit zu verleihen einerseits und dessen Fhigkeit andererseits die (Oberflche der) Natur getreu nachzuahmen." 22 Und in rezeptionssthetischer Hinsicht konstatiert er: "Dieselbe Zweiheit herrscht in den Ansprchen, die der Zuschauer an ein derarti-ges Kunstwerk stellt: Einerseits der Wunsch, die Nichtlebendigkeit des Kunst-werks als stillschweigende Voraussetzung fhlbar gemacht zu bekommen, anderer-seits der Wunsch, den vlligen Schein des Lebens zu empfinden." 23 Kurzum, Warburg verfhrt polarittstheoretisch, denn er begreift das Bild als Produkt eines psychischen Ausgleichs zwischen Ausdruck und Form.

    Wie aber lt sich die spezifische Art und Weise, die besondere Gestalt dieses Ausgleichs im konkreten Einzelfall genau bestimmen? Fr Warburg war dies ein Problem, das er in erster Linie rezeptions- oder traditions geschichtlich zu lsen suchte. Zum einen legte er dar, da aus dem riesigen Schatz der in der Antike geprgten und der Nachwelt berlieferten Ausdrucksformen seit der Renaissance vornehmlich die Superlative der Gebrdensprache - wie etwa die Gebrden gieri-ger Verfolgung, brutaler Unterwerfung oder hemmungsloser Klage - ausgewhlt, also gerade diejenigen Ausdrucksformen bevorzugt wurden, die als Verkrperun-gen von Leidenschaft oder Leid einen durchaus pathetischen C harakter haben und somit fr die Darstellung des innerlich oder uerlich bewegten, mimisch gestei-gerten Lebens besonders geeignet sind. Zum anderen aber konnte Warburg zeigen, da Form und Ausdrucksgehalt dieser Pathosformeln im Laufe des berlicfe-rungsgeschehens immer wieder - und zudem hufig in hchst charakteristischer Weise - den besonderen Bedrfnissen ihrer jeweiligen Rezipienten angcpat, also einer bestndigen Transformation unterworfen wurden, die bis zu drastisLhcr Um-gestaltung der ursprnglichen Form oder zu vll iger Inversion des ursprimglichen Ausdrucksgehalts fhren konnte.

    Da Warburg das Nachleben der Antike nach Magabe seines p.,ychologisch ausgerichteten, polarittstheoretisch przisierten Symbolkonzepts erfo1",chte, liegt in fast allen seinen Arbeiten klar und deutlich zu Tage. So untersuchte \Varburg zum Beipicl bereits in seiner Dissertation Sandro Botticelfis "Geburt der Vemts" und " Frhling " die fr die Renaissance charakteristische Anverwandlung antiker Ausdrucksmittcl, denn er zeigte in dieser Schrift, da "die Knstler des Quattro-

    22 I~ benda. 23 Ebenda.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 235 c.ento [ ... ] sich an. antike Vorbilder anlehnten, wenn es sich um Darstellung uer-hch bewegten ~elwerks - der Gewandung und der Haare - handelte" .24 Seinem

    Selbsr:er~tndn~s. zuf~lge erforschte er damit exemplarisch "den sthetischen Akt der ,EI~fuhl~ng In se.lne~ Wer~en als stil bildende Macht" .25 Typisch fr diese aus-drucksasthetische Onentlerung Ist auch der Aufsatz "Drer und die Antike". War-burg tut darin nmlich dar, da der Nrnberger Knstler "die echt antiken For-meln gesteigerten krperlichen oder seelischen Ausdrucks", die in der zweiten

    H~fte 15. J ;hr.hund~rts in Oberitalien "in den Renaissancestil bewegter Lebens-schilderung emgeglIedert worden waren, zunchst enthusiastisch bernahm als-bald an "jenem barocken antikischen Bewegungsmanierismus Qedoch] k;inen ~efallen me.hr" fand. 26 Bezeichnend fr das psycho-historische Interesse Warburgs ~st f~rner seme .Abhandlung "Francesco Sassettis letztwillige Verfgung", sucht er m dIeser Arbeit doch darzulegen, da die Frhrenaissance die antiken Pathos-formeln, von deren ausdruckssteigernder Kraft sie so ungeheuer fasziniert war,

    z~nchst ~~.r in de~ uerst distanzie:ten Form der Grisaille vergegenwrtigteP Die Polantatstheone des Symbols leitete Warburg nicht zuletzt auch in seiner Abhandlung ber "Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zei-ten ce, in der er die divergenten Rezeptionsformen antiker Astrologie bei Anhngern und Gegnern der Reformation, bei Humanisten sowie bei Philosophen und Knst-lern der Renaissance untersuchte. Mit dieser Studie wollte Warburg erklrtermaen dazu beitragen, die "tragische Geschichte der Denkfreiheit des modernen Europers" zu erforschen, und ganz im Sinne seiner auf Interdisziplinaritt zielen-den Symboltheorie zugleich zeigen, wie sich "die kulturwissenschaftliche Methode" "durch Verknpfung von Kunstgeschichte und Religionswissenschaft [ ... ] verbes-sern" lat.28 Wie Warburg zusammenfassend feststellt, vollzieht sich in der frhen Neu7Cit ,,[d]ie Wiederbelebung der dmonischen Antike [ ... ] durch eine Art pola-rer Funktion des einfhlenden Bildgedchtnisses. Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler - zwischen magischer Praktik und kosmolo-gischer Mathematik - den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt .l.li erringen versuchte. Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurckerobert sein. ce 29

    24 GCl,zmmelte Scbriften (wie Anm. 15), S. 1-60 und S. 307-328, hier S. 5. 25 FI)cnda. 26 Gesammelte Scbriften (wie Anm. 15), S. 443-449 und 623-625, hier S. 447f. Warburgs einfhlungs-

    theuretisc.he Onentierun g wird hier in seiner Deutung der nitgenssischen Rezeption des antiken Orpheusmythos aUl.h terminologisch deutlich, denn er erklrt, "daB der Tod des Orpheus [ ... ] ein wirklich 1m Geiste und nach den Worten der heidnischen Vor7eit leidenschaftlich und \'er-Mandnisvoll nachgefhltes Frlebl11s aus dem dunklen Mysterienspiel der Dionysischen S.lge war."(ebenda, S. 446).

    27 Gl's,unmelte Schriften (wie Anm. 15), S. 127- 158 und 353-365, hier S. 157. 28 Ebenda, S. 535. 29 Gesammelte Sc/mften (wie Anm. 15), S. 487-558 und 647-656, hier 5.534.

  • 236 I I I Philosophie der Verkrperung

    Wind fhrte mit Warburg in dessen letzten beiden Lebensjahren intensive theo-retische Gesprche, die immer wieder um Warburgs Symbolkonzept kreisten.3o Das Resultat dieser Gesprche fate er nach Warburgs Tod in einem grundlegen-den Aufsatz zusammen.31 Als Warburgs unmittelbarer Schler und als theore-tischer Kopf der Bibliothek Warburg versuchte er in den spten zwanziger und frhen dreiiger Jahren, Warburgs Symboltheorie zu przisieren und weiterzuent-wickeln. Die Ergebnisse seiner berlegungen publizierte er freilich nur in knapper, stark programmatischer und daher notwendig verkrzter Form, nmlich in dem nur drei Seiten umfassenden Abschnitt "Das Symbol als Gegenstand kulturwissen-schaftlicher Forschung" seiner "Einleitung" in die Kulturwissenschaftliche Biblio-graphie zum Nachleben der Antike.32 Da er es dabei bewenden lie, ist zum einen den Wirren der Emigration, zum anderen aber wohl auch der notwendigen Umori-entierung geschuldet, die die Bibliothek Warburg nach der Emigration vornehmen mute: Um sich in den angelschsischen Kontext besser integrieren und mit der angelschsischen Forschung kooperieren zu knnen, mute das Warburg Institute seine grundstzliche Kompatibilitt mit deren Traditionen und Grundorientierun-gen herausstellen und daher eher seine positivistischen Starken als seinen symbol-theoretischen Grundansatz akzentuieren. Diese Akzentverschiebung zeigt sich auch in dem "Symbols in History" betitelten Abschnitt der englischen Fassung von Winds "Einleitung", wo er die Insistenz auf der grundlagentheoretischen Fundiert-heit des Symbolbegriffs gegenber der deutschen Fassung erheblich abschwcht.33

    30 Nachdem Wind Warburg Im Sommer 1927 bei einem Besuch in Hamburg kennenlernte, kehrte er Ende 1927 aus den Vereimgten Staaten, wo er seit 1924 gelebt und />uletzt als Phdosophiedozent an der Universitt von North Carohna (1925-1927) gelehrt hatte, na(.h J iamburg zllruck, um 1928 wissenschaftlicher AssIstent an der Bibliothek Warburg zu werden. Zu Winds inten ivcm Gedan-kenaustausch mit Warburg sIehe: Bernhard Buschendorf, "War em sebr tchtIges gf'gellseltzges For-dern: Edgar Wind und Ab} Warburg", in: !dea QahrbUl:h der Hamburger Kun~thalle), IV, 1985, S.165-209, hier insb. S. 176-193 und S. 204-209, sowie ders., "Auf dem Weg nach England - Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg", in: Portrat aus B;lcbem. BiblIothek Warbm'g & W'arburg Instuute Hamburg - 1933 - London, hrsg. von Michael Diers, Hamburg 1993, S. 85 bis 128, hier S. 89-91 und S. 120-121.

    31 Warbln'gs Begriff (wie Anm.15); zu diesem Aufsat7. erklrte Wind spter: "In my paper of 1931, which was designed as an introduction to the Warburg Library in llamburg, and delivered as a lecture to the Congress of Aesthetics that happened to meet in that library, I tned to put War-burg's basic ideas If1to a systematic order which I had learned from hirn in long coversations." ["Concerning Warburg's Theory of Symbols" (wie Anm. 15) S. 2].

    32 "Einleitung" in: KultuTWlssenschaftlzcbe Biblzographie zum Nachleben der Antike. Erster Band: Die Erscheznungen des Jahres 1931. In Gemeinschaft mit Fachgenossen bearbeitet von I lans Meier, Richard Newald und Edgar Wind, hrsg. von der Bibliothek Warburg, Leipzig und Berlin 1934, S. V-XVlI, hier S. VIII-XI [wiederabgedruckt in: Kosmopolzs der Wissenschaft. E. R. C'zmlus und das Warburg Instltute. Briefe 1928 biS 1953 lind andere Dokumente, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1989, S. 281-293, hier S. 284- 287).

    33 "Introduction", in: Blblzography on the SUTVival of the Classlcs, hrsg. vom Warburg Institute , London 1934, S. V-XII, hier S. VI-VIII.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 237 Die folgen~e .. Rekonstruktion v?n Winds Symbolkonzept sttzt sich daher vor allem auf dIe auerst fragmentansehen Notizen zu seiner letzten, im Winterseme-ster 1932/33 an der Universitt Hamburg gehaltenen Vorlesung ber G d-begriffe der Geschichte und Kulturphilosophie", in der er den Symbolb;gr:;:~ns Zentrum stellte.34

    Wind hat Warburgs Symboltheorie in wesentlichen Stcken bernommen. Auch ihm geht es um die Bestimmung des kulturwissenschaftlichen Gegenstands und damit um die theoretische Fundierung des Forschungsprogramms zum Nachleben der Antike, dem er in der Nachfolge Warburgs zeitlebens verpflichtet blieb. Ferner teilt er Warburg~ star~ kulturan~hropologisch-psychologische Grundorientierung. Vor allem aber ubermmmt er dIe polar-kontrre Konzeption und den generellen Aufbau der Symboltheorie, denn hnlich wie Warburg und Vischer definiert er den Symbol begriff zunchst allgemein, unterzieht ihn sodann einer zugleich systema-tisch und entwicklungsgeschichtlich begrndeten Dreiteilung, gewinnt dadurch drei besondere Symbol begriffe und expliziert den mittleren dieser Begriffe als den entscheidenden. Gleichzeitig modifiziert und przisiert er freilich auch die zentra-len Begriffe der Theorie, klrt ihren systematischen Zusammenhang und verdeut-licht ihre methodologischen Konsequenzen.

    Unter dem allgemeinen Begriff des Symbols versteht Wind jede Form des Ver-haltens, in der eine seelische Kraft nicht in der Innerlichkeit oder bei sich selbst verharrt, sondern sich ausdrckt, indem sie sich an ein sinnlich fabares Zeichen heftet. In diesem sinnlich manifestierten Ausdruck ist sie zwar nicht mehr sie selbst, sondern hat sich entuert. Doch hat sie in dieser Entuerung auch Form und Gestalt angenommen. Diese Gestalt appelliert ihrerseits wiederum an eine see-lische Kraft, auf die sie zurckweist und durch die sie wieder verinnerlicht werden mug, um Leben und Bedeutung zu gewinnen. Wind definiert also das Symbol allgemein als polar-kontrren Gegensatz von "absoluter Verinnerlichung" und "absoluter Entuerung" 35 und bestimmt damit den Begriff der Kultur als einen zwischen polar-kontrren Extremen aufgespannten, in sich diskontinuierlich struk-turienen Bereich:

    Gerade das Symbol, das Spezifikum aller Kulturleistung, - sei es nun religi-ses oder staatliches, wissenschaftliches oder knstlerisches Symbol, - lebt von der Schwingung zwischen diesen beiden Polen. Es ist Ausdruck einer seeli-schen Kraft, und sofern es nicht mehr diese Kraft selbst ist, sondern deren Relikt, ist es ihr "entuert". Aber gerade in dieser Entuerung bleibt es Signal, Aufforderung fr eine seelische Kraft, auf die es zurck wei t und durch die es wieder lebendig und bedeutsam, kurz: - "verinnerlicht" werden

    34 Grzmdbegrzffe der Geschichte und KultlHphzlosophze [Wind-Nachb (I, 2, ii). 35 Eznleitung (wie Anm. 32), S. VIII.

  • 238 I I I Philosophie der Verkrperung

    mult In diesem Auseinandersetzungsproze sind verschiedene Grade der "Verinnerlichung" und "Ent~iuerung" zu unterscheiden, und je nach ihrer Entfernung yon dem seelischen Kraftzentrum nehmen die einzelnen Symbole ver chiedene "seelische Orte" in der Umwelt des individuellen oder sozialen Organismus ein: Bald wirken sie wie ein magischer Zwang, auf den man handelnd reagieren mu, bald wie ein neutrales Begriffsgebilde, das zu analy-sierender Betrachtung anlockt. Nie aber darf die Spannung zwischen diesen beiden Polen in eine radikale Antithese verwandelt werden. Denn selbst das abstrakt gewordene Zeichen, das den hchsten Grad der Entuerung dar-stellt, behlt, sofern es berhaupt eine seelische Bedeutung hat und "verstan-den" werden kann, eine wenn auch noch so gelockerte Beziehung zur Aus-drucksgestaltung bei. Und ebenso enthlt auch der intensivste und daher am strksten verinnerlichte Ausdruck, sofern er eben Ausdruck ist und "verstan-den" werden kann, ein Minimum der Bezeichnung und damit der Entue-rung.36

    Indem er Ausdruck und Entuerung gleichsetzt, nimmt Wind an der Symbol-theorie Vischers und Warburgs eine entscheidende Modifikation vor, denn er fat damit den Ausdrucksbegriff viel weiter als seine beiden Gewhrsleute. Wie ein-gangs gezeigt, verstand Vischer unter Ausdruck einen beseelenden oder einf hlen-den Akt des Ausgleichs zwischen rationaler und irrationaler Orientierung und betrachtete ihn ausschlielich als sthetisches Prinzip. \X'arburg hingegen bertrug den Begriff auf alle Gegenstnde der Kultur, sah sie also allesamt einem solchen Ausgleichsakt entspringen und ging daher davon aus, da sie nur durch einen ent-sprechenden Akt der Einfhlung wieder yerst:indlich gemacht werden knnen. Wind hlt zwar am Gedanken der U mkehrbarkeit von Produktion und Rekon-struktion fest, doch versteht er unter Ausdruck die sinnliche Manifestation einer jeglichen inneren Kraft, auch wenn diese Kraft kaum noch Affekt- oder Gefhls-momente enthalten sollte. Ausdruck ist fr \'{Tind somit jede form, il der eine solche innere Energie in einer ~lETaf)aall; EL~ lIJ.AO )'EVO~ nach auen tntt, sich ent-uert und verkrpert. Diese inhaltliche Extenslvierung des Ausdrucksbegriffs hat zur Folge, da Wind in seinen kulturgeschichtlichen Forschungen von der domi-nant psycho-historischen Ausrichtung Warburgs abweicht und sich st:irkcr ideen-geschichtlich orientiert.37

    36 Ebcnda, S. VIII f. 37 Winds allgcmcinc Fassung dcs Ausdrucksbcgriffs als E ntuerung oder Verkrperung Jcdweder

    Art ist aucrdcm von cminentcr methodologischer Bedeutung, dcnn er bezeugt damit, da er in viel strkcrem Mac als Warburg an Fragcn dcr cmpirischcn Validlcrung intcressicrt ist. Die bcr-zcugung, da Verkrpcrung cin konstitutivcr Bestandtcil dcs Symbols sci, entspricht dcm G rund -satz, da Symbole cincn Anspruch auf Geltung nur dann crhcbcn knncn, wenn sie sich ver-krpcrn und an der Rcalitt erprobcn lassen. Diese berzeugung entwickeltc Wind whrend seines Amerika-Aufenthalts in Auscinandcrsctzung mit dem Pragmatismus oder kriti schcn Reabs-

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 239 Ebenso wie seine Vorgnger unterscheidet Wind, wie gesagt, drei besondere

    entwicklungsgeschichtliche Stufen oder symbolische Verhaltensweisen: eine frhe, magisch-rituelle Stufe, auf der das Verhalten des Menschen absoluter Verinner-lichung noch sehr nahe kommt, eine spte, rein begriffliche oder allegorische Stufe, auf der das Verhalten bis zur absoluten Entuerung gelangt, und eine zeitlich und systematisch mittlere, im engeren Sinne symbolische Stufe oder Verhaltensweise, die die eigentlich kulturelle und somit die kulturwissenschaftlich im Grunde erst wirklich relevante ist. Wie Wind im Skript zu seiner Vorlesung ber "Grundbe-griffe der Geschichte und Kult.~rphilosophie" notiert, liegt ,,[das] [k]ulturphiloso-phische Problem [also] beim Ubergang von [der] rituelle[n] zu[r] allegorische[n] Auffassung, [denn] von da [an ist] eigentlich erst von ,Symbol' zu sprechen!"38 Bei der Explikation der verschiedenen symbolischen Verhaltensweisen bedient sich Wind allerdings einer viel prziseren psychologischen Terminologie als Vischer und Warburg.

    Auf der frhen, magisch-rituellen Stufe, zu deren Errterung Wind Beobachtun-gen aus der Psychologie der Tiere, des Kindes und der sogenannten Primitiven her-anzieht, ist der Mensch in seinem Verhalten noch weitgehend affektbestimmt. Da er sich bestndig in intensiver Erregung befindet, vermag er alles, was ihm begeg-net, nur diffus, gewissermaen nur als Reiz wahrzunehmen, auf den er besinnungs-los, unmittelbar und geradezu zwanghaft reagieren mu. Nur zuweilen gelingt es ihm, die Erregungsintensitt zu mildern, seine Reaktionen zu retardieren, vom bloen Affekt gelste Vorstellungen zu entwickeln und sie ein Stck weit zu diffe-renzieren. Doch wird die Lage fr ihn immer wieder sehr schnell prekr, denn die D iskrepanz zwischen Affekt und Vorstellung und ihre ansatzweise Differenzie-rung fhren unweigerlich zu spannungsvoller Mehrdeutigkeit und lassen weitere Einbrche des N euen gewrtigen. Der sogenannte Primitive minimalisiert daher die Pamen der Besinnung, reduziert die entstandene Mehrdeutigkeit und Span-nung und sucht sein Heil wieder im Sicherheit gewhrenden Affekt, indem er die Symbole im Sinne des Affekts zu bloen Signalen, also zu mglichst eindeutigen Handlungsvorschriften macht und ihnen gem in kultisch-ritueller Weise agiert. Oder wie es in Winds Notizen heit:

    Sonderung der Sinnes gebiete aber erst auf hherer Stufe mglich. Kind handelt und empfindet aus Affekt. Aktionen bilden Einheit. Bewutsein trennt erst. 39

    mus. Er legte sie seiner Habilitationsschrift Das Experzment lind dieUet'lph~:sik. Z/~r ~41tf!0slmg der kosmologISchen Antinomien [Tbingen 1934] zugrunde und brachte sie sp:1ter au.' die I'Ol"mcl, "dag S) mbole real nur insofern sind, als sie sich in eincm nperrmentllm C1"IIC/S >crkorpern lassen, dessen Ausgang direkt zu bcobachtcn ist." ["Microcosm and Memory", Thc Tune, I.llcrar)' ~,pplement, May, 30, 1958, S. 297]; siche hlcrzu: Buschendorf, \1'l'lllgcs Fordern (wic Anm. 30), S. 172-176 und S. 202f.

    38 Grrmdbegrlffe der Geschichte und Kulturphilosopbie (wie Anm. 34), S. 13. 39 Ebend a, S. 9.

  • 240 I I I Philosophie der Verkrperung

    ~tz: ve~brann~es Ki.nd s.cheut Feuer: falsch! [ ... ] Kind lernt erst, da es ge-wisse DlIlge gibt, die meht brennen, meht Schmerz verursachen, nicht um gekehrt; alImhliche Neutralisierung, Zhmung = Proze des Lernens (an Tieren experimentiert). - Triebleben differenziert noch durch Zeitpausen zwischen Affekt und Vorstellung. "Spannung" gibt es fr den primitiven Menschen nicht.40

    Zusammenhang mit der Erregungsseite! Zusammenhang mit magischem Ver-halten. Signale, die der Primitive ,Omina' nennt. Sie beherrschen seine Ver-haltungsweise. Man handelt unmittelbar, ohne sich ber Entstehung klar zu werden. Form des Risikos (in der Handlung) sucht der Primitive auszuschal-ten. Der Primitive kennt schon die Pause der Besinnung, da er frchtet, da etwas entstehen knne (Zukunft! ). Er sucht die Pause zu minimalisieren. Bestimmte Handlungsvorschriften. S} mbol hat sofort und fast nur Signal-charakter. Da auch die Mehrdeutigkeit des S} mbols im Sinne des Affekts minimalisiert.4 1

    Die Symbole der magisch-rituellen Stufe entstehen also aus dem Affekt und kn-nen ihre handlungsorientierende Funktion nur erfllen, wenn sie in starkem Mae an ihn gebunden bleiben. Sie lassen sich - ebenso wie spter auch die im engeren Sinne kulturelIen Symbole - vollgltig nur unter Bercksichtigung dieser ihrer Genese verstehen. Wer sie allerdings in dieser einzig angemessenen Form verstehen will, mug psychisch in der Lage sein, ihre spannungsvolle Ivlehrdeutigkeit, die aus der Diskrepanz zwischen Affekt- und Gegenstandsseite und ihrer fortschreitenden Differenzierung resultiert, wenn nicht dauerhaft, so doch zumindest lngerfristig auszuhalten und zu ertragen. Genau das aber vermag der Primivc nicht. Er mu daher den Versuch, die von ihm geschaffenen Symbole wirklich verstehen zu wol-len, nachgerade zu vermeiden trachten, wenn anders er der stabillSlcrenden Funk-tion nicht verlustig gehen will, die die Symbole - dank seiner affektiven Bindung an sie - als bloe Signale fr ihn haben.

    Auf der spten, rein begriffl ichen Stufe ist das Verhalten des M en" ehen dagegen nicht nur nicht mehr affektbestimmt, sondern vllig frei von jeder affektiven Fr-bung. Er steht der Welt nunmehr gnzlich neutral und distanziert gegenber und sucht sie rational zu durchdringen. D ie klar umrissenen Konzepte, die er dazu bentigt, gewinnt Cl' dadurch, da er die begriffliche Bedeutung des Symbols an ein lebloses und deswegen eindeutig bestimmbares Zeichen heftet. Oder anders gesagt, um die Gegenstnde begrifflich erfassen und kontrollieren zu knnen, mu er sie isolieren, also aus ihrer Umgebung herauslsen, was in letzter Konsequenz ein

    40 Ebenda, S. 11. 41 Lbcnda, S. 16 f.

    B. Buschendorf' Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 241 vl!iges Absehen von ihrer Affektseite, eine radikale Tilgung der aus der Spannung zWIschen. Affekt- .~nd C?egenstandsseite resultierenden Mehrdeutigkeit, also im Grunde eme Zerstorung Ihres Symbolcharakters impliziert. Wie Wind hervorhebt ist die K?r:elatio.~ von emotionaler Indifferenz und begrifflicher Eindeutigkei~ charaktenstIsch fur das Verfahren der Naturwissenschaften und findet sich am markantesten in der Mathematik ausgeprgt:

    Genau wie in der Psychologie: zunchst keine Sonderung, das Gleiche: in der Wissenschaft (z. B. astrologische Wissenschaft ursprnglich direkt auf den Menschen bezogen (magisch-astrologisch), heute ohne besonders nahes Interesse / / Frage nach Distanzierung, Isolierung. Hier das Problem: diese Symbolik (Sternbilder z. B.) hat Mehrdeutigkeit, Vibration. In der Methode der Distanz entwickelt sich das, was man in der Wissenschaft Isolierung nennt. Dadurch Symbolcharakter zerstrt: es wird nur mit Zeichen gerech-net. Naturwissenschaft hat also ihr Wesentliches darin, da sie Gegenstnde sondert, Affektbetonung der Symbole auflst und mit Zeichen rechnet. / / Eindeutigkeit der Termini nur durch Sonderung gewonnen: in der Physik: das Phnomen wird "kontrolliert". Postulat der Isolierbarkeit an die Stelle des Postulats der Exaktheit gesetzt. // [ ... ] Mit der Isolation des Gegenstan-des aus der Umgebung zugleich Isolation des Betrachters. Das fhrt zur Ersetzbarkeit des Betrachters und des Phnomens.42

    Fr den rationalisierenden Menschen gleichgltig, wie ich eine Gebrde aus-fhre, wenn ich mir nur die Bedeutung klarmache. (Letzte Konsequenz in der Mathematik, x und y vertauschbar.) Ideal der bersetzbarkeit von einem System ins andere. Die Signalreihen der Mathematik ( + ... - ) haben keinen emotionalen Charakter. Selbst Bedeutungselemente geworden.4J

    Whrend im magisch-rituellen Verhalten der Versuch, die Symbole unter dem Zwano des Affekts zu bloen Signalen zu machen, nie restlos gelingt, so da Ein-deutigteit immer nur erstrebt, doch nie ganz erreicht werden kann, entspringt Ein-deutigkeit im rein begrifflichen Verhalten der vlligen affektiven Indiffere.nz u~d gelingt vollstndig. Psychologisch gesehen, ist allerdings der "Math~matlk~r 1m Gegensinn ebenso extrem wie der Magiker":44 Beiden geht es u:n Veremd.eutIgung von Mehrdeutigkeit, also um Tilgung der polaren Spannung ZWIschen ~ffekt- und Gegenstandsseite und um Eliminierung des durch diese Spannung bedmgten Deu-tungsspielraums, beide suchen die "Pause der Besinnung fast aus[ zu ]schalte[ n r

    42 Ebenda, S. 30. 43 Ebenda, S. 16. 44 Lbenda.

  • 242 I/I Philosophie der Verkrperung

    und beide heben die Anverwandelbarkeit oder "relative bertragbarkeit" von ymbolen und somit die Mglichkeit auf, ,,[das] Symbol durch das Medium der

    Erinnerung [zu] sehen". ,,[Der] Akt der Erinnerung fehlt beim Mathematiker und Magi ker." 45

    Der Eintritt in die entwicklungsgeschichtlich und systematisch mittlere Phase ist der Eintritt in die Kultur im engeren und eigentlichen Sinne. Einerseits bedeutet er Verzicht auf die im magisch-rituellen Verhalten garantierte Sicherheit und zugleich Befreiung vom Zwang elementarer Bindung, lt sich der Mensch doch nun nicht mehr in erster Linie, geschweige denn ausschlielich, durch den Affekt bestimmen. Andererseits vollzieht sich diese Befreiung jedoch keineswegs - wie dies erst auf der sp:iten, rein begrifflichen Stufe der Fall ist - in Form einer absoluten Entue-rung oder radikalen Tilgung des Affekts, denn zwar unterliegt der Affekt in der Kultur einer stndigen Transformation und Sublimierung, doch wird er in diesem Verwandlungs- und Verfeinerungsproze nie vllig aufgezehrt, sondern bleibt ge-wissermaen als tragender Grund und Nhrboden, aus dem sich die immer diffe-renzierteren Formen des Geistes entwickeln, grundstzlich erhalten.

    Der zivilisierte Mensch vollzieht in seinem symbolischen Verhalten stndig -und stets auf neue Weise - einen Ausgleich zwischen dem affektiven und dem rationalen Pol des Symbols. Zu dieser wahrhaft kulturstiftende Vermittlungs-leistung ist er allerdings nur in der Lage, weil er zuvor in einem langen und schmerzlichen Lernproze insbesondere die folgenden geist ig-psychischen Fhig-keiten erworben hat: Er vermag in seinem symbolischen Verhalten die Vorstellung vom Affekt nunmehr nicht nur prinzipiell zu lsen, sondern die Unterscheidung zwischen beiden auch auf Dauer zu stellen. Er kann die pobr-kontrare Diskrepanz zwischen Affekt und Vorstellung und die sich daraus ergebende Mehrdeutigkeit permanent steigern, indem er sie in hchst verschiedene Sphren oder Ordnungen mit immer komplexeren Gebilden ausdifferenziert und damit das Diskominuum Kultur hervorbringt. Er vermag an all ihren O rdnungen gleichzeitig Ztl partizipie-ren, sich von ihnen formen zu lassen und sie ih rerseits - im begrenzten Rahmen seiner jeweiligen Mglichkeiten - auch wiederu m zu verndern. Vor allem ist er nmlich imstande, die vielfltigen Spannungen zwischen den diversen Ordnungen, die allesamt - wenn auch jeweils auf unterschiedl iche Weise - 7wischc:.n Affekt-und Gegenstandsseite vermitteln, dauerhaft auszuhalten und zu ertragen.

    Freilich kann der zivilisierte Mensch diese Fhigkeiten nie als endgltig gesicher-ten Besitz betrachten. Vielmehr mu er sie immer wieder erproben und sich dabei stets aufs Neue bewhren, denn nur so vermag er der grundstzlich nie vllig gebannten Gefahr eines krankhaften Rckfalls in elementare Bindung zu entgehen. Oder wie Wind notiert:

    45 [benda.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 243 Kultur ist Spannung zwischen den gesonderten Ordnungen (Religion, Kunst etc.). Wesentliches Element der Entwicklung: Durchbruch durch den primi-tiven Zustand. Neurose: Kulturkrankheit, Unvermgen zur Freiheit durch Spannung, Neurose - Zustand elementarer Bindung beibehalten. Loslsung der Vorstellung bedeutet Freiheit, Spannung. Abbau der Spannung durch Hypnose. Rausch (Baudclaire): Zurckfhrung auf primitiven Zustand: Affekt - nicht Vorstellungszustand. / / 1) Krankheit durch Unvermgen zum Durchbruch. / / 2) Spannungslosigkeit in groen Erregungen. / / Darauf be-ruhend Symboltheorie.46

    Der ursprngliche, dem Symbol im Moment seiner Entstehung verliehene Sinn geht mit zunehmender Loslsung der Vorstellung, mit wachsender Diskrepanz zwischen Affekt und Vorstellung, mit der daraus resultierenden Mehrdeutigkeit und den immer grer werdenden Auslegungsspielrumen stets in gewissen Mae unweigerlich verloren. Doch kann er, wie Wind darlegt, durch Auseinandersetzung prinzipiell wieder ermittelt, restituiert und zurckgewonnen, kurzum: - erinnert werden:

    Fr Entstehung von Symbolen - Erregung im handelnden Sinne ntig. -Ablsungsfunktion des Symbols: (spt. Entwicklung des Symbols) - Gegen-satz: unvermittelt in Erregung Schaffendes (Bild) und Betrachtendes (Zei-chen). / / [ ... ] Mit Loslsung eigentlicher Sinn bis zu einem gewissen Grad verloren, aber wieder erweis bar: Problem der historischen Erinnerung.47

    Aber: unter welcher Bedingung entstehen Symbole? Symbole sind in ver-schiedenem Grad verstndlich oder unverstndlich. Eine Eigenschaft aus dem G anzen, aus dem Gegenstand herausgelst. berall logisch willkrliches Element. Hier fast immer Allegorie genannt. (Obskures, Unverstndliches). Frage nach der Entstehung wesentlich fr das Verstndnis der Symbole. (im Logischen bedeutungslos).48

    Gleichgltig ob die Auseinandersetzung oder Erinnerung im alltglichen Leben, in der Rckbesinnung auf die Vergangenheit oder in den Sphren d~r K~nst, der Politik oder des Rechts geschieht, stets weist sie die drei folgenden, Jeweils polar-kontr.lr strukturierten Grundzge auf: Erstens ist sie stets eine d~ppel~e .Opera-t ion, die :zwei spannungsvoll aufeinander bezogene und unaufls~lch mltem~nder verl)undene Akte umfat: die emotionale Erschlieung der affektiven Energie des Sr mbols und die kognitive Ermittlung seiner Bedeutung. Zweitens tendiert sie ent-wc:der mehr zur Verinnerlichung, also zu einer Betonung des Affekts, oder mehr

    46 Lhenda, S. 11 . 47 cbcnda, S. 13. 48 [~bcnd.l, S. 15.

  • 244 I I I Philosophie der Verkrperung

    z~r Entuerung, also zu einer Akzentuierung der Gegenstandsseite so da d' eIzeInen Symbole - je nach ihrer Distanz zum Affekt - die unters~hiedlichst:~ Bedeutungcn u.nd Fu.nkti?nen im Leben eines Individuums oder Gemeinwesens h.aben. ~ nd . dnttens .ISt sIe zugleich Wiederherstellung und Adaption, denn zum cIen ZI~1t SIC auf Wlcdergewinnung des ursprnglichen Sinns, zum anderen aber crfolgt sIe tcts von cinem bestimmten Standpunkt aus, ist also - nicht anders als dcr ur prngl.ic?c A.kt ~er ~ym~.ole~zeugun~ - imme~ schon perspektivisch gebun-den und damit JewcIls In elgentumhcher Welse affektiv und kognitiv vororientiert o da~ die von ihr geleistete Restitution immer auch produktive Anverwandlun~

    oder Ubertragung dcs zu rcttenden Sinns auf dic eigene Situation ist. Dies lt sich nach Wind zum Beispiel ,,[s]chon in der Sprache" beobachten, wo die "Zeichen mit ursprnglichem Emotionscharakter geladen" sind, "so da jede bersetzung Verwandlung ist." 49

    Um die sich zugleich als Restitution und schpferische Anverwandlung vollzie-hende Auseinandersetzung als einzig angemessene Form kulturellen Verhaltens aus-zuzeichnen, grenzt Wind sie von zwei gleichermaen fragwrdigen "Typen im Kulturverhalten" 50 ab: einem quasi-primitiven und einem rationalistischen Typus. W:ihrend ersterer die "Krise als das Entsetzliche" 51 ansieht und daher die mit Re-fle -ion unweigerlich verbundene Verunsicherung unter allen Umstnden zu vermei-den sucht, begegnet letzterer allen Symbolen gleichermaen indifferent, beurteilt die Mglichkeit ihrer triftigen Deutung grundstzlich skeptisch, stellt die mit der Ausschaltung aller Wertbeziehungen einhergehende Sinnkrise auf unbeschrnkte Dauer und deklariert den permanenten "Zweifel als das einzig Menschliche" 52. Gegenber diesen beiden defizit:iren Formen ist nach Wind jedoch durchaus eine "MittelsteIlung mglich! - [Sie ergibt sich aus dem] Zusammenhang mit dem Pro-blem der Renaissance (Erinnerung!) [und besteht im] Akt des pltzlichen pltz-lichen Zurckgehens auf die ursprngliche Bedeutung. Der Doppelheit der Symbole liegt psychologisch das Problem der Renaissance zugrunde: Auseinandersetzung!" 53

    Die Przisierung und Systematisierung, die \'V'ind an Warburgs Symbolkonzept vornimmt, besteht in der begrifflichen Zuschrfung der polar-kontrr strukturier-ten Zentralterme und in der damit einhergehenden Verdeutlichung des inneren Zusammenhangs der gesamten Theorie. Insbesondere gelingt ihm dies bei der Bestimmung des im engeren Sinne symbolischen oder kulturstiftenden Verhaltens, also bei der Errterung des Auseinandersetzungs- oder Erinnerungsbegriffs. Mit diesem Begriff schliet er zweifellos an Warburgs Begriff des symbolisch-verkp-fenden Verhaltens und an dessen Mnemosyne-Konzept an, doch vermag Wind zu

    49 Ebenda, S. 16. 50 Ebenda, S. 17. 51 Ebenda. 52 Ebenda. 53 Ebenda.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der KultuffllissenscN/t zeigen, da im Begriff der Auseinandersetzung oder Erinnerung vervhiedene, in sich jeweils polar-kontrr strukturierte Momente auszumachen sind und ein inte-grales Ganzes bilden. Die wichtigsten Aspekte eines Auseinandersetzungs- oder Erinnerungskonzepts seien daher hier noch einmal festgehalten: die Erkenntnis, da die Diskrepanz zwischen Affekt- und Gegenstandsseite und die daraus resul-tierende Mehrdeutigkeit fr kulturelle Symbole konstitutiv ist; der in der Formel "Freiheit durch Spannung" umrissene Gedanke, da Auseinandersetzung auf der Fhigkeit beruht, die zunehmende Spannung zwischen den verschiedenen Ord-nungen, die sich immer weiter ausdifferenzieren und dabei immer komplexer wer-den, dauerhaft auszuhalten und zu ertragen; die Erkenntnis, da der urspngliche Sinn des Symbols stets in gewissem Grade verloren geht, doch im Rckgriff auf seine Entstehung grundstzlich wieder erinnert werden kann; die Beobachtung, da im Rekurs auf den ursprnglichen Sinn die emotionale Erschlieung seiner Affektseite und die kognitive Ermittlung seines Bedeutungsgehalts unauflslich miteinander verschrnkt sind; und nicht zuletzt die kapitale Einsicht, da der Rckgang auf den verlorenen Sinn nicht nur Restitution, sondern stets auch schp-ferische Anverwandlung bedeutet.

    Fr den Kulturwissenschaftler ergeben sich aus der Polarittstheorie des Sym-bols zum einen drei methodische Prinzipien; zum anderen folgt daraus die War-nung vor den methodischen Hauptfehlern der problemgeschichtlich orientierten Fachdisziplinen. Die methodischen Prinzipien sind folgende: erstens die kulturwis-senschaftliche Grundvoraussetzung, da die verschiedenen Funktionen oder Berei-che der Kultur wie Politik, Recht, Kunst, Religion usw. in Wechselwirkung stehen, und die daraus resultierende Forderung nach Einbettung der Forschungsgegen-stnde in die Gesamtkultur; zweitens die psychologisch gesttzte kulturanthropo-logische Grundannahme, "da die verschieden gerichteten Krfte im Menschen nicht unabhngig von einander wirken, sondern selbst dort, wo sich ein Hchst-ma der Spannung zwischen ihnen entwickelt, durch eben diese Spannung noch aufeinander bezogen bleiben und niemals indifferent nebeneinander herlaufen;" 54 sowie der in dieser Annahme fundierte, handlungstheoretische Grundsatz, da die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Kulturfunktionen stets durch die symbolischen Aktionen und Interaktionen der historischen Personen vermittelt ist; drittens die poietische Forderung nach Konzentration auf das Einzelobjekt, also die werkorientierte Maxime, da sich das Einzelobjekt vollgltig nur verstehen lt, wenn es symboltheoretisch als Auseinandersetzungsprodukt historisch be-griffen, also im Rckgang auf die gegenstzlichen Krfte erschlossen wird, "die sich in dieser Auseinandersetzung - bald hemmend, bald frdernd - begegnen." 55:

    54 Edgar Wind, "Humanittsidce und heroisiertes Portrt in der englischen Kultur des 18)aJ:rrhun-dem", in: England und die Antike, Vortrge der Bibliothek Warburg, 1930-1931, LeipZig und Berlin, S. 156-226, hier S. 159.

    55 Wind, Einleitung (wie Anm. 32), S. IX.

  • 246 I I I Philosophie der Verkrperung

    Denn der symbolischen Betrachtungsweise gilt die gedankliche Leistung als unverstndlich oder nur halb verstanden, solange sie nicht im Zusammen-hang oder auch im Konflikt mit den Krften gesehen wird, die sich in der Bildnisgestaltung und der religisen oder sozialen Handlung uern. Die Bildgestaltung gilt ihr als unverstndlich oder nur halb verstanden, wenn die rclisen und intellektuellen Bildungsinhalte, die sich in ihr verkrpern oder von denen sie sich loslst, nicht in die Betrachtung miteinbezogen werden.56

    Oder wie Wind in der Abhandlung "Humanitts idee und heroisiertes Portrt in der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts" erklrt:

    Ohne zu leugnen, da der Sinn des Bildes sich primr an die Anschauung wendet, der Sinn des philosophischen Satzes primr an die begriffliche ber-legung, wird man daher im Bilde doch mittelbar nach philosophischen In-dizien und im philosophischen Satze mittelbar auch nach knstlerischen Konsequenzen suchen drfen, um jede dieser beiden Gruppen von Doku-menten - im vollen Bewutsein der zwischen ihnen herrschenden Spannung -der Deutung der anderen dienstbar machenY

    Was die Warnung vor den Grundfehlern der fachdisziplinr beschrnkten For-schung betrifft, so besteht nach Wind ihr erster und entscheidender methodischer Fehler in der vlligen Isolierung der einzelnen Kulturfunktionen, entspringt also einer problemgeschichtlich orientierten Betrachtungsweise, die "Begriff un~ An-schauung, Wort und Bild, Erkenntnis und Glauben voneinander trennt und SIe alle aus ihrer Verbundenheit mit der sozialen H and lung herauslst" .58 Im Kampf um ihre Autonomie orientieren sich die einzelnen Fachdisziplinen wie Literaturwis-senschaft, Philosophie oder Kunstgeschichte an ideellen Grenzkonstru~tionen, d~e keine Entsprechung in der historischen \'V'irklichkeit haben: Der Be~nff d~r "reI-nen Form" die nur den Stil oder die Schreibweise und nicht da., SUjet melllt, der Begriff des '"reinen Denkens", das sich ausschlielich begriffslogisch vollzieht und keinerlei Bezug zur Anschauung hat, oder der Begriff des "reinen Sehc.m", das l.mr die "optische Schicht" erfat und von allem Stofflichen absieht, all dIese Begnffe konzipieren den historischen Gegenstand, der d'lrgestellt, gedacht oder gesehen, und das heit "in einem Auseinandersetz~ngsproz~~ gest~ltct wIrd", alsetw~s, ~~! der Funktion des Gestaltens fremd und Ihr "nur auerIJch zugeordnet bleIbt. Durch diese Abstraktion wird der "G egenstand seines symbolischen Gehalts und damit seiner funktionalen Bedeutung fr die Gesamtkultur entkleidet." 60

    56 Ebenda, S. IX f.. 57 ll/whWltdtszdce (wie Anm. 54), S. 160. 58 Ebenda, S. IX. 59 Ebenda. 60 Ebenda.

    B. Buschendorf: Zur Begrndung der Kulturwissenschaft 247 Der zweite methodische Fehler ist der der Hypostasierung. Die problem-

    geschichtliche Forschung begeht ihn vor allem dann, wenn sie einen abstrakten Gegenstand wie etwa ein einzelnes philosophisches Problem oder ein einzelnes literarisches Motiv zum lebendigen Subjekt einer immanenten und kontinuierlich verlaufenden Entwicklung macht und das Gesetz seiner Vernderung dem Gang der Entwicklung selbst entnehmen zu knnen glaubt. Sie macht sich dieses Fehlers aber auch dann schuldig, wenn sie den Zusammenhang zwischen den verschiede-nen Kulturfunktionen, den sie vorgngig durch Isolierung zerstrte, nachtrglich durch Parallelisierung der diversen Entwicklungen und schlielich durch die An-nahme eines alles bestimmenden Zeitgeistes, eines epochalen Lebensgefhls oder eines sonstigen Absolutums wiederherzustellen sucht. Der Theorie einer immanen-ten, kontinuierlich verlaufenden Entwicklung hlt Wind entgegen, da ein Gegen-stand durch Isolation prinzipiell all seiner ueren Spannungen beraubt wrde und damit eben auch jede Fhigkeit verliere, sich zu entwickeln. Zudem verliefen histo-rische Entwicklungen stets diskontinuierlich: "Gerade weil die geschichtlichen Er-eignisse und Leistungen ihre symbolische Form dadurch gewinnen, da sie aus grundlegenden Spannungen als vorbergehende Ausgleichsversuche hervorgehen, sind sie von einer eigentmlichen Sprunghaftigkeit." 61 Gegen alle wissenschaft-lichen Erklrungen, die auf ein hypostasiertes Absolutum rekurrieren, spricht nach Wind die prinzipielle Ungreifbarkeit reifizierter Abstrakta. Stets wrde in Rck-griffen dieser Art versucht, das Bekannte aus dem Unbekannten zu erklren.62 Wind zufolge lassen sich auch grere geistige Zusammenhnge einer Zeit aut.hen-tisch nur am Einzelobjekt erschlieen. Dies sei freilich nur auf symboltheorettsche Weise mglich: Der Forscher mu das Einzelobjekt als ein Auseinandersetzungs-produkt historisch begreifen, und das heit, er mu. in e~nem hchst umstnd-lichen, quellengesttzten Erinnerungsvorgang unter Elllbeziehung von Doku"!e~ten verschiedener Kulturgebiete auf die gegenstzlichen Krfte zurckgehen, dIe III dieser Auseinandersetzung zusammentreffen.

    Als quellenkritisch gesttzte Erinnerung vermag kulturhis~ori~che Forschung dIe in symbolischer Auseinandersetzung stets angestrebte RestltutlOn des verlore-

    61 EbenJa, S. x. Th F I 62 Siehe hicrw Winds programmatIsche - 1957 in Oxford gehaltenen, - Antri~t~vorles~n~" .e .. ~ -

    la.:y of Pure Art", in der er das u. a. von A. C. Bradley vertrete?e I ~r~ PO/li I a~t-Pnnzlp kn:lSlcrt und Sich beilufig mit Alois Riegls Versuch auseinandersetzt, die pra~ls.e Schattlerun~stechmk. der sptrmischen Kunst mit der "l"egationslehre Augustins zu parallehs!eren ~nd belde a~f el~en gememsamen Nenner zu bringen [vgl. hierzu Alois Riegl, Spdtrmlscbe K/~nstmdllst~/C, Wien 21927, , . 389-405]: "By thus reducing vision and tho.ug~t to a common dcnomm~tor \:hlCh .tran~~

    ccnd~ them both an identical impulse underlying thclr dlfference, he agam com~lts the old tallla~) of Schclling: he ~xplain s the known b} the unknown. To account for ~ conneCtIon b~tween atej Rom1n an and Augustine 's philosoph)', he is not satisfied that Augustlne looked at plcture~, .1~ look~J :t them in a particular wa)': in addition hc assul11cs (to borrow Bradley's expressIOn a conneuzon wholly underground." [Wind-Nachla, V, 21,1].

  • 111 Philosophie der Verkrperung

    ~en Sinns zu optimieren und erfllt damit ihre Wissenschahsfunktion. Zugleich ist sl.e ab~r auch Anverwandlung und bertragung des verlorenen Sinns auf die eigene

    I~atlon und erfllt damit ihre Bildungsfunktion. In Winds Konzept von Kultur-WI sensehaft schlieen sich Wissenschafts- und Bildungsfunktion nicht nur nicht aus, sondern bedingen und verstrken einander. Als "Organ, das es ermglicht, an diese Dinge heranzukommen"63 erffnet und verstetigt das subjektive Interesse den kritischen Erinnerungsvorgang. Und nur durch diesen wiederum ist histori-ehe Selbsterweiterung und die damit einhergehende Selbstformung mglich.

    Die im 19. Jahrhundert massiv einsetzende Modernisierung und die dadurch rapide beschleunigte Sonderung der einzelnen Kulturgebiete zeitigen, wie Wind betont, zwar in vieler Hinsicht durchaus posivite Folgen: die zunehmende kultu-relle RandsteIlung des Knstlers fhrt zu uerster Verfeinerung im sthetischen und erst durch immer engere Spezialisierung knnen die Wissenschaften ihre pr-zisen Begriffe, Theorien und Methoden entwickeln. Nach Winds kulturkritischer Diagnose fhrt dieser Entwicklungsproze aber auch zur "Entwurzelung": "Organe, mit denen man sich symbolisch auseinandersetzt mit der Umwelt - zerbrochen, das heit die Welt als Ganzes zerbricht. Wenn Funktionen (Kunst = Wissenschaft) sich isolieren, zerbricht das Ganze". 64 Mit ihrer radikalen Isolierung der Kultur-gebiete trgt die problemgeschichtlich ausgerichtete Wissenschaft also zur zuneh-menden Disintegration und Enthumanisierung der Kultur bei. Oder wie Wind sagt: "Isolierung den anderen Gebieten gegenber hat zu ganz symbolarmen Begriffen gefhrt." 65 Diese Krise der Moderne sucht der symboltheoretisch orien-tierte Kulturwissenschaftler zu kompensieren, indem er die Tradition erinnert und das Sinnpotential der berlieferten Symbolwelten gegenwrtig hlt, denn nur in bestndiger Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann Selbstformung und humane Selbstbehauptung gelingen.

    63 Wind, Grundbegriffe (wie Anm. 34), S. 27. 604 Ebenda, S. 40. 6S Ebenda, S. 42.

    IV

    Dokumente

  • Bild und Text!

    Edgar Wind

    Die erste und wichtigste Grundregel lautet, da Bild und Text, wenn beide in ihrem eigenen Medium bedeutsam sind, meist nicht in eine Eins-zu-eins-Beziehung zueinander treten. Wo dies der Fall ist, sprechen wir von einer "buchstblichen Illustration", die kein besonderes Problem aufwirft. Es ist allerdings bemerkens-wert, wie wenige bedeutende heidnische Bilder der Renaissance sich der Gruppe der buchstblichen Illustrationen zuordnen lassen.

    In ihrer Mehrheit sind sie das, was die Renaissance als poesie oder fantasie be-zeichnete - Gestaltungen, die ersonnen wurden, um eine Idee zu vermitteln, die aber so angelegt waren, da der Gedanke hierdurch mal bar wurde. Es versteht sich, da die Qualitt eines Gedankens im Hinblick auf eine malerische Absicht nicht identisch ist mit seinem intellektuellen Rang, denn es ist durchaus mglich, einen trivialen Gedanken sehr gut zu malen oder einen tiefen Gedanken sehr schlecht. In beiden Fllen scheint die Haltung des Amateurs letztlich die einzig vernnftige zu sein: Er neigt dazu, im einen Falle von der Idee, im anderen vom Bild abzusehen. Wenn sich alle Renaissancekunst in diese beiden Gruppen einteilen liee, wre das Studium der Renaissance-Ikonographie ein unproblematisches Geschft. Aber auf-fllig wenige "heidnische Erfindungen" der Renaissance gehren tatschlich in eine dieser Gruppen.

    Im Gegenteil, wir stoen in diesen Bildern auf eine auerordentliche Gabe zur Veranschaulichung von Ideen, eine Fhigkeit, die, recht besehen, weder dem Be-reich des Diskurses noch dem der Wahrnehmung angehrt, die vielmehr als ein spezifisches Vermgen der Phantasie zwischen beiden angesiedelt ist. Vielleicht lt sich di e l-higkeit am ehesten als eine Art Taktgefhl im Urteil darber bezeichn Tl welche Arten von Diskurs sich malen lassen und welche Formen von Malerei ein.n Diskurs auszudrcken vermgen. Meistens verbindet sich mit ihr das

    1 Aus einem fnihen Entwurf zu einer Einleitung fr die erste Ausgabe von Pagan Mysteries In the RenaiHanLt (1958), die aufgegeben und durch eine abschlic/~ende "Bemerkung zur Methode" ersetzt wurde. Vgl. die deutsche Ausgabe: Heidnische Mysterzen In Renaissance, Frankfurt/M. 1981, S. 270-273. Copyright Margaret Wind.

  • 260 IV Dokumente

    Bestreben, diese Mglichkeiten auch grndlich auszuloten. Wenn wir nicht einiges von dieser Fhigkeit wiedergewinnen, wird es unseren Interpretationsbemhungen immer an Richtung und Methode fehlen; und genau hier wird die Beschftigung mit der Ikonographie der Renaissance riskant und bedeutsam. Heutzutage sind wir fr diese Aufgabe besonders schlecht gerstet, weil der Kult der reinen Wissen-schaft und der Kult der reinen Sinnlichkeit - cette peinture decerebree, wie Gide sie genannt hat, oder die misplaced concreteness im Sinne Whiteheads - gemeinsam dazu beigetragen haben, da jenes Phantasievermgen zur Veranschaulichung eines Gedankengangs verkmmert ist. Dieser Sackgasse, die Gide in L'Enseignement de Poussin untersucht hat, versuchen die Kunst und die Rhetorik unserer Zeit auf ver-schlungenen Wegen zu entkommen.

    Der Knstler der Renaissance war insofern in einer gnstigeren Lage, als er seine gedanklichen Leistungen nicht allein erbringen mute. Seine Ideen zu einem Bild entstanden in der Beratung und oft im Ringen mit einem gebildeten Auftraggeber. Zu den Diskussionen, in denen diese Fragen errtert und geregelt wurden, gibt es in der modernen Kunst kaum Parallelen, allenfalls im Bereich der Architektur, wo die Kunst, die Wnsche eines Auftraggebers herauszufinden und zu formen, nach wie vor als Teil des schpferischen Prozesses gilt. Es ist fr Auseinandersetzungen dieser Art bezeichnend, da sie in ihren wichtigsten Phasen informell ablaufen. Wenn ihr Ergebnis in einem Vertrag feste Gestalt annimmt, werden die technischen Einzelheiten ausfhrlich niedergelegt, selten aber der Grund, warum man sich auf sie geeinigt hat. Auf diese Lcke stoen wir in Vertrgen aus der Renaissance mit rgerlicher Regelmigkeit. Sie nennen die Anzahl der Figuren auf einem Grabmal oder einem Gemlde, gelegentlich erwhnen sie sogar deren Namen, aber nur in den seltensten Fllen enthalten sie H inweise darauf, was die Figuren bedeuten. Und Briefe haben den unvermeidlichen Nachteil, da sie nur dann geschrieben werden, wenn die Korrespondenten voneinander getrennt sind, whrend die ent-scheidenden Phasen des Gedankenaustauschs zwischen ihnen in die Zeiten fallen, in denen sie zusammen sind. Nur zweitrangige Knstler mit literarischen Ambitio-nen haben die eigenen Programme in schriftlicher Form verdoppelt. Vasari und Zucchi sind typische Beispiele. D as einzige ausfhrlich beschriebene Programm im 15. Jahrhundert findet sich in dem Vertrag fr ein Gemlde von Perugino, das sich als Mierfolg erwies. Man hat oft berrascht und enttuscht festgestellt, da fr keines der groen Werke der Renaissance, weder fr die Sixtinische Kapelle noch fr die Stanza della Segnatura, weder fr die Camera di San Paolo noch fr Tizians Himmlische und irdische Liebe, ein schriftliches Programm berliefert ist.

    Da die verfgbaren Dokumente sich so hufig weigern, unsere Frage zu beant-worten, knnte indessen darauf hindeuten, da diese Frage selbst falsch gestellt ist. Gesetzt den Fall, die Briefe aus jener Zeit sagten mehr ber diese Programme, die Vertrge wren ausfhrlicher und ein H umanist wie Poliziano htte seine Kunst der ekphrasis wenigstens einmal an einem wirklich existierenden, statt an lauter imaginren Bildern gebt, dann wrden wir diese Zeugnisse vermutlich als unsere

    E. Wind: Bd und Text 261 "Texte" benutzen, wrden die Bilder als ihre "buchstbliche Illustration-lesen und au.f diese ~eise wieder in .die Suche nach Eins-zu-eins-Beziehungen zurckfallen. Dies vereiteln nun aber die Dokumente selbst. Sie bilden (wenn ich diesen Aus-druc~. eines e~glischen Hofastronomen aus spterer Zeit aufgreifen darf) .. eine Ver-schworung, die uns daran hindert, etwas zu sehen, das nicht da ist". . Sobald ~ir uns. v~n der Vo~stellu~g ~sen:. das beste Dokument zur Deutung

    emes Ge~al~es sei ~mes, das dieses Bild m Wortern verdoppelt, werden die Doku-mente, die bisher die Antwort zu verweigern schienen, pltzlich sehr mitteilsam. Die gleichen Briefe, die die Bedeutung eines Bildprogramms nicht preisgeben, lassen uns doch die Personen identifi.zieren, die am Entwurf dieses Programms beteiligt waren; und es bedarf nur germ ger Anstrengung, um herauszufinden, was diese Leute schrieben, was sie lasen, mit wem sie sich unterhielten etc. In dieser Bezie-hung sind die epistolaria der Renaissance so beredt wie die des 18. Jahrhunderts. Es gibt also eine Flle von Indizien, die es erlauben, das intellektuelle Umfeld eines Mal~rs zu rekonstruieren, und in der Regel ist es nicht sonderlich schwierig, zu bestimmen, welche antiken oder zeitgenssischen Texte eine gelehrte compositio angeregt haben. Wir brauchen diese Texte nur zu lesen, wie sie damals gelesen wur-den. Aber wie wurden sie gelesen? Da liegt das Problem.

    Es ist ratsam, nicht mit dem Register zu beginnen. Diese Unart, die zum Kenn-zeichen des ikonographischen Betriebs geworden ist, reduziert die Lektre eines Buches auf eine Lotterie, bei der man das eine oder andere Gedanken- oder Satz-fragment hervorzieht und feststellt, da es wunderbarerweise zu einem bestimmten Bild pat. Beim Zusammensetzen solcher Bruchstcke erscheint das alte Spiel der Herstellung von Eins-zu-eins-Beziehungen in seiner lcherlichsten Gestalt, denn mit einer reichhaltigen , wohlerhaltenen Literatur wird hier umgegangen, als wre sie nur in winzigen Papyrusfetzen auf uns gekommen. Je mehr wir uns auf die Literatur in ihrer Gnze einlassen, desto weniger werden wir dazu neigen, ihre Relevanz fr die Malerei an der Oberflche zu suchen. Die Auswahl der Zitate, die immer prekr ist, sollte man erst ganz zuletzt vornehmen. Nur wenn uns unsere Lektre zunchst einmal weit wegfhrt von den Bildern, wird sie uns auch wieder zu ihnen zurckfhren. Mehr als alles andere ist die Ikonographie das, was Focillon mit Bedauern un dhour genannt hat. Divergenzen sollte man sorgfltig verfolgen und den Konvergenzen mitrauen, bis sie sich uns gegen unsere Erwartung auf-drngen. Bei der Beschftigung mit einem philosophischen Text kann es geschehen, da ein besonders schwieriger Gedankengang pltzlich klar und einleuchtend wird, weil wir uns eines Bildes entsinnen, das ihn reflektiert. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, den Punkt, an dem ein Bild uns hilft, in einem Text die Akzente richtig zu setzen, und an dem ein Text uns hilft, in einem Bild die Akzente richtig zu setzen, dann gewinnen beide eine neue Leuchtkraft - und nach mehr sollten wir nicht streben. Aber erst wenn sich diese Erfahrung erweitert und ver-tieft, wenn weitere Texte und weitere Bilder den Eindruck verstrken, drfen wir ihm trauen. Um diese Erfahrung zu vermitteln, bedarf es einer Beweisfhrung, die

  • 262 IV Dokumente

    sich vom mathematischen Beweis radikal unterscheidet. An die Stelle einer linearen Logik, in der jeder Satz durch wohldefinierte Antezedenzien mit einem Komplex wohldefinierter Prmissen verknpft ist, mssen wir eine konfigurative Logik setzen, die kontingente Argumente miteinander verbindet. Fr derartige Unter-suchungen kommt es, mit Charles S. Peirce zu sprechen, darauf an, da unser Gedankengang "keine Kette bildet, die nicht strker ist als ihr schwchstes Glied, sondern ein Tau, dessen Fasern noch so schwach sein mgen, wenn sie nur zahl-reich genug und eng miteinander verknpft sind. 2

    Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser

    2 CharIes S. Peirce, "So me Consequences of Four Incapacities", in: Colletted Paper>, hr~g. v. C. Hartshorne u. P. Weiss, Cambridge 1934, Bd. V, S. 157; dt. "Einige Konsequenzen aw, vier Unvermgen", in: C. S. Peirce, Schrzften 1, Frankfurt/M. 1967, S. 186.

    Die Autoren

    Horst Bredekamp, geb. 1947 in Kiel; Professor fr mittlere und neuere Kunst-geschichte, Humboldt-Universitt zu Berlin. Demnchst erscheint Das Urbild des modernen Staates. Thomas Hobbes' visuelle Strategien.

    Werner Busch, geb. 1944 in Prag; Professor fr Kunstgeschichte, Freie Univer-sitt Berlin. Zuletzt erschien Landschaftsmalerei, 1997.

    Bernhard Buschendorf, geb. 1947; Privatdozent fr Literaturwissenschaft an der Universitt Heidelberg und lehrt am Institut fr Literaturwissenschaft der Univer-sitt Karlsruhe (TH). Zahlreiche Verffentlichungen zu Edgar Wind; demnchst erscheint " Mit Platons und Jacobis Musenpferden pflgen". Studien zur Meta-physik in J ean Pauls sthetik und Dichtung.

    Christa Buschendorf, Professorin fr Amerikanistik, Johann Wolfgang Goethe-Universitt, Frankfurt/M. bersetzung u. a. von Edgar Winds Pagan Mysteries in the Renaissance (mit Bernhard Buschendorf und Gisela Heinrichs). In Vorberei-tung: " Th e High Priest of Pessimism ce: Zur Rezeption Schopenhauers in den Ver-einigten Staaten.

    Philipp Fehl, geb. 1920 in Wien; Professor em. fr Kunstgeschichte, University of Illinois und verantw ortlicher Herausgeber des Cicognara-Projektes, Vatikani-schen Bibliothek. In Vorbereitung: Kunst und Menschlichkeit: Verschttete Zu-gange zu Bildthemen der R enaissance.

    Pa cal Griener, geb. 1956; Professor fr Kunstgeschichte, Universitt Neuchatel; Her.lUsgeber von Edgar Winds Studien zur Schule von Athen. Zuletzt erschien die Monographie Hans Holbein (mit Oskar Btschmann), 1997.

    Picrre Hadot, geb. 1922 in Paris; Professor em., College de France (Chaire d'hi-stoire de la pensee hellenistique et romaine); auf Deutsch erschienen zuletzt Philo-sophie als Lebensform, 1991 und Die innere Burg - Anleitung zu einer Lektre Mare Aurels, 1996.

    P1440327P1440328P1440329P1440330P1440331P1440332P1440333P1440334P1440335P1440336P1440337P1440338P1440339P1440340P1440341P1440342