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3 Vorwort Hartwig Schiller Lange Zeit blickte das Arbeitskollegium der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutsch- land auf das Jahr 2011 und den sich zum 150. Mal jährenden Geburtstag Rudolf Steiners vor- aus. In welcher Weise würde sich dieses Ereig- nis lebensvoll, anregend und offen gestalten lassen? Was während dieses Blickens Zukunft war, ist heute Vergangenheit und stellte immer wiederholt die Frage nach der Gegenwart. Wo ist Rudolf Steiner heute zu finden? Wo ist sein Wirken gegenwärtig und in welcher Weise wirksam? Welche Entwicklung mag er selbst nach dem Abschluss seines Erdenwirkens 1925 genommen haben und wie ist eine lebendig sich fortentwickelnde Anthroposophie in die- sem Zusammenhang zu denken? Anthroposophie schaut auf den ganzen Men- schen mit dem vollständigen Zusammenhang leiblicher, seelischer und geistiger Dimensio- nalität. Sie stellt die Sinn- und Existenzfragen der Gegenwart und sucht den Menschen als Quellort schöpferischer Entwicklung in seiner Ich-Form zu erfassen und zu fördern. Dadurch bleibt sie nicht bei einem einmal Erreichten stehen, sondern sucht ihre Entwick- lung mit Rudolf Steiner und den Intentionen seines Werkes in dem anhaltend gegenwärti- gen Entwicklungsziel Mensch zu werden. Die hier vorliegenden Dokumente zeigen den höchst augenblicklichen und vorläufigen Ver- such vom Juni 2011. Er stellt sich als Weg neuer Qualitäten und Ausblicke dar, der seiner Vor- läufigkeit eingedenk ist. Als Arbeitsschritt möge er die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutsch- land erfreuen und die Freunde der anthroposo- phischen Arbeit bei ihren Unternehmungen anregen. Liebe Anwesende, ich möchte Sie alle sehr herzlich willkommen heißen. Mit „alle“ meine ich alle Freunde der Anthroposophi- schen Gesellschaft sowie alle Freunde und Interessierte der Anthroposophie. Auch möchte ich diejenigen sehr herzlich willkom- men heißen, die einen weiten Weg zurückge- legt haben, wie z. B. Frode Barkved aus Nor- wegen, Generalsekretär der norwegischen Landesgesellschaft, oder Dr. Stefano Gaspari, Arzt und Generalsekretär aus Italien. Schließ- lich möchte ich auch die Freunde des Dorna- cher Vorstandes, von denen anschließend Paul Mackay ein Grußwort sprechen wird, herzlich willkommen heißen und alle Mitglieder, die jünger oder älter als 25 Jahre sind. Schon gestern, als hier noch emsige Vorberei- tungsarbeiten erledigt wurden – höchstens einmal für fünf Minuten durch den Besuch in einem Straßencafé unterbrochen – war erleb- bar, wie die Anthroposophenschaft Deutsch- lands Besitz ergreift von Weimar. Man blieb nicht lange allein im Café und die fünf Minu- ten vermehrten sich nicht unbeträchtlich – aber herzlich. Also herzlich willkommen! Bereits in diesen vorweg genommenen Begegnungen wurde etwas vom Tagungsgeist erlebbar. Denn eine solche Tagung entwickelt sich bei aller Gründlichkeit der Vorbereitung überraschend. Überraschend wurde z. B. deutlich, dass die Namensgebung der Tagung stimmt. Das weiß man vorher nicht vollkom- men sicher. Es gehört Prophetie dazu, den stimmigen Namen einer Tagung zu finden. Vermutlich haben im vergangenen Jahr viele Menschen eine Meditation versucht über unseren Titel – ein widerständiger Titel, der auf jedes Verb, jedes Adjektiv verzichtet und stattdessen vier scheinbar unvermittelte Ele- mente hinstellt: „Empfindung – Mensch – Wirkung – Anthroposophie“. Bereits mit dem Beginn der Tagung ist bemerklich, dass das ergänzt werden kann, vielleicht sogar ergänzungsbedürftig ist. Gestern kam mir das Wort „Bedürfnis“ in den Sinn – Bedürfnis Anthroposophie. Anthropo- sophie ist offensichtlich keine Theorie, kein überkommenes Dogma, sondern etwas, das Menschen, viele Menschen bewegen kann, in Bewegung versetzen kann, um dem nachzu- gehen, was eine lebendige Entwicklung von Anthroposophie ist oder sein kann. Ein Zweites hat sich dem Bedürfnis noch hin- zugesellt: „Notwendigkeit“ Anthroposophie. Das entstand aus dem Blick auf die Zeitaufga- ben, dem, womit die Welt sich so dringend zu beschäftigen hat, der Vielzahl von ideolo- gisch-kriegerischen Auseinandersetzungen; dem Krieg der Ideologien, Fundamentalis- men, der Religionen; dem Krieg der Vertei- lungskämpfe; dem Krieg um Gesundheit, Krankheit, Wohlergehen und Lebenserfül- lung. Es geht dabei um einen allgegenwärti- gen Kampf, um die überraschenden und zunächst oft unerklärlichen Ursachen von auftretenden Gefährdungen. Immer wieder ist dann ein Hang zu oberflächlichen Sicher- heiten, oberflächlichen Welterklärungen zu beobachten, die den Menschen zu beruhigen versuchen, letztlich aber nicht tragen. Was benötigt wird, ist keine Stellvertretersi- cherheit durch sogenannte Experten, die - nicht hinterfragt und undurchschaut – Theo- rien als Scheinerklärungen von Problemen äußern. Was der gegenwärtige Mensch braucht, jeder individuell und doch auch im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, ist das tragfähige Fundament einer Sicherheit, die durch das Durchschauen von Ursachen und Wirkungen entsteht. Wir müssen uns selbst überzeugen können, müssen selbst sicher sein durch Erkennen eines Zusammen- hanges von Taten und Tatenfolgen. Das steht vor uns und führt uns zusammen: das Bedürfnis nach Welterkennen, nach Selbsterkennen und nach Übereinstimmung der eigenen Existenz mit unseren Lebensauf- gaben. Alles das lebt in uns, drängt in uns nach Klärung. Einen Teil dieser Aufgaben kennen wir, ein Teil ist partiell unbewusst und liegt verschüttet in den Schichten unserer Bio- graphie. Auch da bemühen wir uns, sie aus aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland Sonderheft Empfindung, Mensch Wirkung, Anthroposophie Tagungseröffnung Hartwig Schiller

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VorwortHartwig Schiller

Lange Zeit blickte das Arbeitskollegium derAnthroposophischen Gesellschaft in Deutsch-land auf das Jahr 2011 und den sich zum 150.Mal jährenden Geburtstag Rudolf Steiners vor-aus. In welcher Weise würde sich dieses Ereig-nis lebensvoll, anregend und offen gestaltenlassen? Was während dieses Blickens Zukunftwar, ist heute Vergangenheit und stellte immerwiederholt die Frage nach der Gegenwart. Woist Rudolf Steiner heute zu finden? Wo ist seinWirken gegenwärtig und in welcher Weisewirksam? Welche Entwicklung mag er selbstnach dem Abschluss seines Erdenwirkens 1925genommen haben und wie ist eine lebendigsich fortentwickelnde Anthroposophie in die-sem Zusammenhang zu denken?Anthroposophie schaut auf den ganzen Men-schen mit dem vollständigen Zusammenhangleiblicher, seelischer und geistiger Dimensio-nalität. Sie stellt die Sinn- und Existenzfragender Gegenwart und sucht den Menschen alsQuellort schöpferischer Entwicklung in seinerIch-Form zu erfassen und zu fördern.Dadurch bleibt sie nicht bei einem einmalErreichten stehen, sondern sucht ihre Entwick-lung mit Rudolf Steiner und den Intentionenseines Werkes in dem anhaltend gegenwärti-gen Entwicklungsziel Mensch zu werden.Die hier vorliegenden Dokumente zeigen denhöchst augenblicklichen und vorläufigen Ver-such vom Juni 2011. Er stellt sich als Weg neuerQualitäten und Ausblicke dar, der seiner Vor-läufigkeit eingedenk ist.Als Arbeitsschritt möge er die Mitglieder derAnthroposophischen Gesellschaft in Deutsch-land erfreuen und die Freunde der anthroposo-phischen Arbeit bei ihren Unternehmungenanregen.

Liebe Anwesende, ich möchte Sie alle sehrherzlich willkommen heißen. Mit „alle“meine ich alle Freunde der Anthroposophi-schen Gesellschaft sowie alle Freunde undInteressierte der Anthroposophie. Auchmöchte ich diejenigen sehr herzlich willkom-men heißen, die einen weiten Weg zurückge-legt haben, wie z. B. Frode Barkved aus Nor-wegen, Generalsekretär der norwegischenLandesgesellschaft, oder Dr. Stefano Gaspari,Arzt und Generalsekretär aus Italien. Schließ-lich möchte ich auch die Freunde des Dorna-cher Vorstandes, von denen anschließend PaulMackay ein Grußwort sprechen wird, herzlichwillkommen heißen und alle Mitglieder, diejünger oder älter als 25 Jahre sind.Schon gestern, als hier noch emsige Vorberei-tungsarbeiten erledigt wurden – höchstenseinmal für fünf Minuten durch den Besuch ineinem Straßencafé unterbrochen – war erleb-bar, wie die Anthroposophenschaft Deutsch-lands Besitz ergreift von Weimar. Man bliebnicht lange allein im Café und die fünf Minu-ten vermehrten sich nicht unbeträchtlich –aber herzlich. Also herzlich willkommen!Bereits in diesen vorweg genommenenBegegnungen wurde etwas vom Tagungsgeisterlebbar. Denn eine solche Tagung entwickeltsich bei aller Gründlichkeit der Vorbereitungüberraschend. Überraschend wurde z. B.deutlich, dass die Namensgebung der Tagungstimmt. Das weiß man vorher nicht vollkom-men sicher. Es gehört Prophetie dazu, denstimmigen Namen einer Tagung zu finden.Vermutlich haben im vergangenen Jahr vieleMenschen eine Meditation versucht überunseren Titel – ein widerständiger Titel, derauf jedes Verb, jedes Adjektiv verzichtet undstattdessen vier scheinbar unvermittelte Ele-mente hinstellt: „Empfindung – Mensch –Wirkung – Anthroposophie“.Bereits mit dem Beginn der Tagung istbemerklich, dass das ergänzt werden kann,vielleicht sogar ergänzungsbedürftig ist.Gestern kam mir das Wort „Bedürfnis“ in denSinn – Bedürfnis Anthroposophie. Anthropo-

sophie ist offensichtlich keine Theorie, keinüberkommenes Dogma, sondern etwas, dasMenschen, viele Menschen bewegen kann, inBewegung versetzen kann, um dem nachzu-gehen, was eine lebendige Entwicklung vonAnthroposophie ist oder sein kann.Ein Zweites hat sich dem Bedürfnis noch hin-zugesellt: „Notwendigkeit“ Anthroposophie.Das entstand aus dem Blick auf die Zeitaufga-ben, dem, womit die Welt sich so dringend zubeschäftigen hat, der Vielzahl von ideolo-gisch-kriegerischen Auseinandersetzungen;dem Krieg der Ideologien, Fundamentalis-men, der Religionen; dem Krieg der Vertei-lungskämpfe; dem Krieg um Gesundheit,Krankheit, Wohlergehen und Lebenserfül-lung. Es geht dabei um einen allgegenwärti-gen Kampf, um die überraschenden undzunächst oft unerklärlichen Ursachen vonauftretenden Gefährdungen. Immer wiederist dann ein Hang zu oberflächlichen Sicher-heiten, oberflächlichen Welterklärungen zubeobachten, die den Menschen zu beruhigenversuchen, letztlich aber nicht tragen.Was benötigt wird, ist keine Stellvertretersi-cherheit durch sogenannte Experten, die -nicht hinterfragt und undurchschaut – Theo-rien als Scheinerklärungen von Problemenäußern. Was der gegenwärtige Menschbraucht, jeder individuell und doch auch imgesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, istdas tragfähige Fundament einer Sicherheit,die durch das Durchschauen von Ursachenund Wirkungen entsteht. Wir müssen unsselbst überzeugen können, müssen selbstsicher sein durch Erkennen eines Zusammen-hanges von Taten und Tatenfolgen.Das steht vor uns und führt uns zusammen:das Bedürfnis nach Welterkennen, nachSelbsterkennen und nach Übereinstimmungder eigenen Existenz mit unseren Lebensauf-gaben. Alles das lebt in uns, drängt in unsnach Klärung. Einen Teil dieser Aufgabenkennen wir, ein Teil ist partiell unbewusst undliegt verschüttet in den Schichten unserer Bio-graphie. Auch da bemühen wir uns, sie aus

a u s d e r a n t h r o p o s o p h i s c h e n A r b e i t i n D e u t s c h l a n d

Sonderheft

Empfindung, MenschWirkung, Anthroposophie

TagungseröffnungHartwig Schiller

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t4

eigentlich irgendetwas wie lebendige Anthro-posophie erlebbar gewesen sei. Sie fragte nachder Gegenwart lebendiger Anthroposophie.Sie bezweifelte damit, ob altersbedingt gedun-keltes Holz von Möbelstücken ohne Ecken tat-sächlich Anthroposophie wiedergibt. Sicher-lich legten die Exponate Zeugnis ab von Men-schen, die von Anthroposophie bewegt waren.Dem solle man unbedingt Respekt und von ihraus auch Ehrfurcht entgegen bringen. Aberehrlicherweise, sagte diese Frau, die sich ziem-lich genau 0,0 Prozent für Anthroposophieinteressiert, könne eine tatsächliche Ausstel-lung von Anthroposophie doch allein auseiner realen, gegenwärtigen geisteswissen-schaftlichen Arbeit bestehen. Anthroposophiemüsse doch als geistiges Leben anwesendsein, anwesend gemacht werden, leben.Und da konnte ich dann glücklicherweise ant-worten, dass wir das jetzt in Weimar am Endeder Woche vier Tage lang vorhätten.Eine beispielhafte Methode, mit der das ver-sucht wird, ist die Art der angebotenen Vorträ-ge. Was die drei, die jetzt beginnen werdenoder was die folgenden beiden Dreier-Teamstun werden, ist nicht geplant, sie haben nichtverabredet, wer wie lange und über was genausprechen wird; festgelegt ist nur die Eingangs-äußerung.Was wir erleben werden, ist also ein Reinfalloder etwas aktuell Lebendiges, das dadurchspannend ist, dass es vorher nie so gewesen istund sich nachher nicht wiederholen wird undallein durch mehrhundertfache lebendigeErinnerung als hoffentlich Wirksames in dieWelt gehen wird. Das war von Anfang anunser Ziel, Anthroposophie gegenwärtig,lebendig zu erarbeiten, in Menschen anwe-send, wirksam werden zu lassen. Damit wol-len wir Rudolf Steiners Werk und seinenImpuls ehren und fortentwickeln. Nicht Muse-ales, nichts Historisiertes, sondern Aktuellesund schließlich sogar in seiner Zukunftsfähig-keit Befragbares und Nachspürbares soll indieser Tagung leben.Das wollen wir mit aller Intensität und mitallem guten Willen hier versuchen. Bei einemsolchen Versuch gibt es kein Stellvertreterprin-zip, keine Matadore, die anderen die ureigeneAufgabe abnehmen. Es gibt nur Mitarbeiten-de, weil das, was entsteht, mit uns und durchunsere Anwesenheit entsteht. Daran schließtsich die Frage an, ob wir das bemerken und obwir entscheidend mitbauen werden. Darin lie-gen die Mittel einer Baukunst im Geistigen.Christiane Haid, Leiterin des Verlags am Goe-theanum, sitzt in der Mitte, von Ihnen ausgesehen rechts daneben Walter Kugler und aufder linken Seite Wolf Ulrich Klünker. Heutemorgen lag beim Frühstück neben mir eineKarte, eine Art Glückskeks ohne Backwerkbzw. Orakel ohne Pythia und darauf ein Satzvan Goghs: „Was wäre das Leben, hätten wirnicht den Mut, etwas zu riskieren.“Das sei das Motto unserer Tagung. Bevor eslosgeht und solange die Beitragenden die letz-ten Schweißtropfen von der Stirn wischen,hören wir noch Paul Mackay.

dem Geröll und Schutt auszugraben, unserMenschsein suchend.Diese Tagung hat sich Großes vorgenommen.Hoffentlich bestätigt sich der Eindruck, dassdie Aufgabe zumindest zutreffend formuliertwurde. Erfüllung wäre, wenn erste Schrittedazu gegangen würden. Selbstverständlichhängt diese Tagung zusammen mit dem 150.Geburtsjahr Rudolf Steiners. Auch steht sie imZusammenhang mit einer Reihe weiterer Ver-anstaltungen, die aus diesem Anlass weltweitunternommen werden. Weimar nimmt daeine bestimmte Stelle ein. Der Blick darauf hatim vergangenen Herbst begonnen. Damalswurden z. B. verschiedene Veröffentlichungenangekündigt, die mit zum Teil beträchtlichemAufwand Lebensbilder entwerfen sollten:Rudolf Steiner im Zusammenhang seinesWerkes, seiner leitenden Ideen, Anschauun-gen, seiner Erkenntnisbemühungen.Wer diese Werke aufmerksam zur Kenntnisgenommen hat, den notwendigen Fleiß wür-digt, der bringt ihnen durchaus den gehörigenRespekt entgegen, musste sich bei einigerWerkkenntnis aber sagen, von Rudolf Steinerselbst oder seinem Werk zum Teil erschreckendwenig darin zu finden. Manche Darstellungzeigte eher einen geradezu entstellendenCharakter. Diese Erscheinungen waren wieEinleitungen zum Gedenkjahr 2011 gewesen.Im Februar folgte dann zum historischen Ter-min am Goetheanum in Dornach eine Tagungder schweizerischen Freunde mit einer Feieram Sonntag, den 27. Das war der Blick auf dashistorische Geburtsdatum.Als nächster Schritt folgte eine eindrucksvolleTagung in Bologna, in der sowohl des 150.Jubiläums gedacht wurde, als auch des bedeu-tenden philosophischen Vortrages anlässlichdes Philosophenkongresses in Bologna 1911.Dort kamen im Frühjahr ungewöhnlich vieleMenschen zusammen und der deutscheBesucher konnte den Eindruck gewinnen,dass Rudolf Steiner in Italien posthum zumNationalphilosophen erklärt wurde; ganzoffensichtlich wurde er da zu einer Tatsachedes öffentlichen geistigen Lebens. Das hängtnatürlich auch mit dem Charme und der Lie-benswürdigkeit der italienischen Kultur, desitalienischen Volkes zusammen und miteinem Rückblick auf Lebenszeit und Werk.Blicken wir jetzt auf Weimar, kann festgestelltwerden, dass die Historizität mit ihrer musea-len Versuchung schon während der Vorberei-tungszeit nie im Mittelpunkt stand. Daskönnte ketzerisch oder arrogant klingen. Ichmöchte das Gemeinte daher mit einem Erleb-nis der letzten Tage illustrieren. Am Dienstagsaß ich mit der Leiterin des Kunstmuseums inStuttgart zusammen, wo die Ausstellung„Kosmos Rudolf Steiner“ mit 80.000 Besu-chern alles übertraf, was bisher dagewesen ist.Selbst Wolfsburg als Vorveranstaltung verblas-ste zur unverhohlenen Freude der Stuttgarterdemgegenüber.Dann jedoch bat mich die Kuratorin unver-mittelt um ein offenes Votum. Sie fragte, ob inder Ausstellung anthroposophischer Objekte

GrußwortPaul Mackay

Verehrte Anwesende, liebe Freunde, ich möch-te herzliche Grüße aus Dornach vom Goethe-anum überbringen. Virginia Sease vom Vor-stand kann wegen anderer Verpflichtungen lei-der nicht anwesend sein, und Sergej Prokofieffkann krankheitsbedingt nicht hier sein. Er istim Mai operiert worden. Es war eine relativgroße Operation, die gut gelungen ist. Er wirddie Sommermonate brauchen, um wieder zuKräften zu kommen. Er hat uns gebeten, überdie Art der Krankheit keine weiteren Aussagenzu machen. Das möchten wir respektieren, undich denke, wenn Sie ihm gute Gedanken schi-cken, dass es ihm bei seinem Wieder-zu-Kräf-ten-Kommen sicherlich helfen wird.Wir hatten am Goetheanum letztes Woche-nende eine Tagung über die WochensprücheRudolf Steiners, die er 1911 vorbereitet hatund die dann 1912 als Seelenkalender inErscheinung getreten sind. Einer der Beitra-genden, Martin Barkhoff, hat gesagt: Um dieWochensprüche verstehen zu können, müssteman eines der Paradigmen der Moderne ver-stehen, nämlich das Paradigma der Umstül-pung oder Inversion. Rudolf Steiner spricht ineinem öffentlichen Vortrag am 26. November1921 in Oslo (GA 79) darüber, dass das eineArt des Denkens, eine dritte Art des Denkensist. Die erste ist das Kombinierende, die zwei-te das In-Metamorphosen-Denken und diedritte das Denken in Umstülpungen. Innenwird außen, außen wird innen.Wenn dieses Denken mehr erübt und prakti-ziert wird, kann das Verständnis für Anthropo-sophie vertieft werden.So habe ich die vier Worte, die auf dem Pro-gramm dieser Tagung stehen, angeschaut:„Empfindung Mensch – Wirkung Anthroposo-phie“. Und dann habe ich die Reihenfolgeumgekehrt, d.h. invers gedacht: „EmpfindungAnthroposophie – Wirkung Mensch“. Wiewäre das? Das hieße, das eigene Verhältnis zurAnthroposophie so zu vertiefen, dass sie zueiner Empfindung des Höheren Selbst imMenschen wird. Das hätte zur Folge, dass ichmehr Mensch werde; das wäre die Wirkung.Möge diese Tagung dazu beitragen, dass dieAnthroposophie zur Empfindung wird und aufdiese Weise mehr Menschlichkeit entsteht!

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dass er gleichsam durch den Tod hindurchge-gangen sei und mit jedem Moment desLebens über den Tod hinausschreitet. Ich leseeine kurze Stelle, dass Sie einen Eindruckerhalten: „Ich habe mich in ihrem schreckensstarrenBlick gesehen, zum erstenmal seit zwei Jahren… Ich glaubte, mit dem Leben davongekom-men zu sein. Zumindest ins Leben zurückge-kehrt zu sein. Aber es sieht nicht danach aus.Wenn ich meinen Blick im Spiegel des ihrenerrate, hat es nicht den Anschein, als befändeich mich jenseits all diesen Todes.“1

Der Erzähler beschreibt nun, wie in ihm dieIdee aufleuchtet, gleichsam die Empfindungerwacht, dass er von einer langen Reise ver-ändert und verklärt zurückgekehrt sei:„Ich habe plötzlich begriffen, dass diese Sol-

daten recht hatten zu erschrecken, meinemBlick auszuweichen. Denn ich hatte den Todnicht wirklich überlebt, ich war ihm nicht aus-gewichen. Ich war ihm nicht entgangen. Viel-mehr ich hatte ihn durchlaufen von einemEnde zum anderen. Ich hatte seine Wegedurchlaufen, hatte mich darin verloren undwieder gefunden, ungeheurer Landstrich,durch den die Abwesenheit rinnt. Kurz, ichwar ein Wiedergänger … Vielleicht hatte ichden Tod nicht einfach überlebt, sondern warvon ihm auferstanden: vielleicht war ich fort-an unsterblich, zumindest für unbegrenzteZeit zurückgestellt, so als hätte ich den FlussStyx bis zum anderen Ufer durchschwom-men.“2

Sie werden vielleicht bemerkt haben, dassdiese Art des Blickes auf sich selbst ein Blickist, der die Grenzen von Diesseits und Jenseitsnicht mehr kennt. Die Schwelle ist wie aufge-hoben. Für mich hat sich an diese Beschrei-bung eine Passage Rudolf Steiners aus einerTotenansprache für Maria Strauch-Spettiniangeschlossen. Er entwickelt dort, dass dieVerstorbenen in einer ganz anderen Art undWeise wahrnehmen als wir: In dem Moment,wo die Grenze, die wir als Diesseits und Jen-seits bezeichnen, nicht mehr besteht, ergibtsich eine andere Form der Wahrnehmung. Esist nicht mehr so, dass man selbst gleichsamin die Welt hinausschaut, willentlich etwaserblickt, sondern dass nun die eigene Existenzdadurch gekennzeichnet ist, dass man ange-schaut wird.Rudolf Steiner formuliert das so: „Man müsste eigentlich der geistigen Weltgegenüber sagen, nicht ich schaue an, nichtich nehme wahr, sondern ich weiß, dass ichangeschaut werde. Ich weiß, dass ich wahrge-nommen werde.“3 Im Folgenden charakteri-

siert Rudolf Steiner, dass die Aufgabe der Ver-storbenen zu einem Teil darinnen besteht,dass sie uns Lebende anschauen. Dass sie unsdurch die Substanz ihres Blickes Kraft geben,dasjenige, was wir in der Welt zu tun habenauszuüben. Und bei der Frage nach der Iden-tität und Identifizierbarkeit Rudolf Steinerswar gerade diese Stelle für mich persönlichsehr wesentlich. Ich will mit diesem Gedan-kengang nicht so weit gehen, dass wir unsvorstellen sollten, Rudolf Steiner würde uns indem, was wir tun, anblicken. Das kann jederselbst entscheiden, ob er diesen Gedanken sodenken möchte oder nicht. Aber ich habe denEindruck, dass es ein fruchtbarer Gedanke ist,ein Gedanke, der auch eine Art von Gewis-sensbildung möglich macht.Vielleicht das, alseine Art Impuls für den Beginn unseresDreiergesprächs.

Kugler: Ich möchte gerne auf den ‘Blick’ nähereingehen, weil er mich sehr berührt hat. Umdas Blicken, das Sehen geht es ja auch, wennich durch eine Ausstellung – wie etwa inWolfsburg oder Stuttgart – gehe. Da stellt sichja die Frage, was und wie sehe ich? Was trittmeinem Blick entgegen, was schaut mich an?Sehr hilfreich war für mich, was der PhilosophGadamer einmal die ‘Gesichtslinie’ genannthat. Damit meint er gleichsam den geometri-schen Ort, an dem sich das innere, das Ideen-Sehen und das äußere, das optische, visuelleSehen treffen und durchdringen. Eine solcheGesichtslinie tragen wir ja alle mit uns. – Inder Pause können Sie dann die Gesichtsliniedes anderen beobachten. Aber nicht urteilen,das kommt dann später. Wichtig ist, wahrzu-nehmen, wie sich an der Gesichtslinie zeigt, inwelchem Verhältnis man zu Innen und Außensteht. – In einer ganz wunderbaren Weise hat auchRudolf Steiner das Verhältnis von inneremund äußerem Sehen mit einer Gesichtslinie –nicht verbal, sondern in bildlicher Form – zumAusdruck gebracht und zwar mit seiner Tafel-zeichnung zum Vortrag vom 29. April 1922(GA 212). Sie sehen da mit nur einer Linie dasProfil eines Kopfes gezeichnet, beginnend beider Stirn über Nase und Mund bis hin zumKinn. In einem nächsten Schritt fügt er – pro-portional überbetont – das Auge hinzu. ImAuge selbst betont er den Sehvorgang durcheine rote Farbe, die dann die Profil- oderGesichtslinie nach außen hin überschreitetund so die Beziehung zu außen verbildlicht.Man kann diese Zeichnung auch soanschaun, dass man von der vor dem Profil,also außen, angelegten roten Struktur nachinnen in das Auge geführt wird. Diese Tafel-zeichnung hat den Kurator des Museum Linerin Appenzell so intensiv berührt, dass er sie

Christiane Haid: Verehrte Anwesende, ichmöchte zu Beginn noch eine kleine Vorbemer-kung zur Zusammenstellung unseres Trialogsmachen, die ich als eine gewisse Schicksalsfü-gung sehe. Denn derjenige, der die Ausstel-lungen in Wolfsburg und Stuttgart und bald inWeil am Rhein über viele Jahre vorbereitethat, ist jetzt einer von uns Dreien. EineFügung, durch die eine Art Kontinuität ent-steht, und mit der wir gleichsam in diesesWagnis einsteigen.Einleitend möchte ich nun einer Persönlich-keit gedenken, die man im Zusammenhangmit der Anthroposophie so nicht vermutenwürde, deren Biographie und Schicksal aberviel mit dem Ort Weimar zu tun haben.Letzte Woche ist der spanisch-französischeSchriftsteller Jorge Semprun im Alter von 87Jahren verstorben. Sempruns wichtigsteWerke handeln von Buchenwald. Als Zwan-zigjähriger wurde Semprun, er war Mitgliedder französischen Resistance und Kommu-nist, in Auxerre von den Nationalsozialistenverhaftet und für 18 Monate in Buchenwaldinterniert. Seine Erlebnisse während der Ver-haftung und als Inhaftierter in Buchenwaldhat er in verschiedenen Romanen in ein-drucksvoller Weise beschrieben. Semprunberührt in seinen Überlegungen über dieMenschlichkeit des Menschen und das Böseeine menschliche Kernerfahrung im Zeitalterder Bewusstseinsseele. Die Frage nach demMenschen ist zugleich eine Frage, die mitRudolf Steiner und der Anthroposophie inengster Weise verbunden ist. Fragt doch dieAnthroposophie nach dem Menschen, suchtsie danach, ein „Bewusstsein des Menschen-tums“ zu entwickeln, was insbesondere durchdie Ereignisse im „Dritten Reich“ eine nochbrennendere Aktualität erhalten hat und nachwie vor hat.Um dem Thema das Trialogs, „Identität undIdentifizierbarkeit Rudolf Steines“ näher zukommen, möchte ich eine Begegnung darstel-len, die Jorge Semprun in einem seinerBuchenwald-Romane erzählt, gleichsam alseine Brücke zu unserer Thematik.In dem auf Deutsch 1997 erschienenenRoman „Schreiben oder Leben“ berichtetSemprun bzw. der Ich-Erzähler im erstenKapitel, wie er sich im Blick einiger britischerSoldaten selbst erkennt. Einen Tag nach derBefreiung des Lagers wird er sich im Spiegelihrer Blicke bewusst, welche Art der Existenzer jetzt innehat: Von diesem Moment an istder Tod für ihn keine Perspektive mehr, auf dieer zugeht, sondern jeder Moment des Lebensentfernt ihn weiter vom Tod. Der Tod ist jetztnicht mehr ein Augenblick, auf den das Ichzulebt, also eine Perspektive in der Zukunft,sondern der Erzählende hat die Empfindung,

Identität und Identifizierbarkeit Rudolf Steiners – der Berührungspunkt vonMensch und Werk

Christiane Haid, Wolf-Ulrich Klünker, Walter Kugler

1 Jorge Semprun: Schreiben oder Leben, Frankfurt 1997, S. 242 ebd., S. 253 Rudolf Steiner, Unsere Toten, GA 261, Dornach 1984, S. 38

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als Motiv für das Ausstellungsplakat und auchfür die Titelseite des Katalogs verwendet hat.Die Tafelausstellung unter dem Titel «Ich bindas Bild der Welt» in Appenzell endet amSonntag; man muss sich also ziemlich sputen,wenn man sie noch sehen will.

Klünker: Was jetzt über den Blick und über dasSehen gesagt wurde, gilt natürlich auch fürdas Sprechen, für das Wort. Und ich würdesagen, was gerade über das Sehen und überden Blick gesagt wurde, gilt sogar forciert fürdas Sprechen und das Wort.

Wenn ich spreche, ist darin eigentlich nichtvon selbst das Verständnis enthalten, dassmein Gegenüber gleichsam in sich spricht, sodass sein Verstehen auch ein Sprechen ist. Ichspreche in das hinein, was von meinem Spre-chen verstanden wird. In dem Verständnis desanderen, des Hörers, werde ich gesprochen.Damit sind wir unmittelbar bei unseremThema, der Identität, der IdentifizierbarkeitRudolf Steiners. Wir haben auch hier das Ver-hältnis von Sprechen und Gesprochenwer-den. Die Realisierung des Wortes geschiehterst dadurch, dass es verstanden wird. DasWort ist noch nicht wirklich gesprochen,wenn es gesprochen wird, sondern das Wortist dann real, wenn es verstanden und nach-vollzogen wird. Das gilt natürlich auch fürRudolf Steiner.Das gilt dezidiert für die GegenwärtigkeitRudolf Steiners. Wir haben ja gesagt im Hin-blick auf diese Gegenwärtigkeit: Identität undIdentifizierbarkeit Rudolf Steiners liegenheute in dem Berührungspunkt von Personund Werk. Oder man könnte auch formulie-ren, in dem Berührungspunkt von Person undWort. Rudolf Steiner kommt mir in seinemWort da entgegen, wo ich ihn verstehe. Ichkomme Rudolf Steiner da entgegen, wo ichihn verstehe.Und in diesem Empfinden, in dieserZwischenmenschlichkeit, die geistig möglichist, da ist Rudolf Steiner präsent. Vielleichtnoch stärker als im Blick, weil dieses Wort janoch innerlicher, noch inspirativer, nochweniger abhängig ist von der physischenWelt. Und ich glaube, im Bereich des Wortesist die Schwelle zwischen Lebenden und Ver-storbenen vollständig offen. Da können wirgar nicht differenzieren zwischen denen, dieschon verstorben sind oder noch verstorbensind einerseits, und denen, die noch oderschon leben andererseits. Sondern in diesemWortbereich ist die Schwelle zwischen Lebenund Tod so offen, dass in dem wechselseitigenVerständnisprozess das Wort über die Schwel-le gehen kann.Und mit dem Begreifen wird das Wort Rudolf

Steiners überhaupt erst heute, d.h. in derGegenwart, ausgesprochen. Da ist die Grenzezwischen Lebenden und Toten so offen, dassgar nicht die Frage so wichtig ist, inkarniertoder nicht inkarniert. Sondern da geht es umdie Gegenwärtigkeit Rudolf Steiners im Wort.Und ich würde gern noch einige Aspekte

dazufügen. Ich glaube, was uns hier verbin-det, so unterschiedlich wir individuell undpersönlich, seelisch und geistig sind, ist, dassjeder existenziell empfindet im Sinne derEmpfindung Mensch, dass die Anthroposo-phie das einzige seelische, zwischenmenschli-che und geistige Überlebensmittel des 20. und21. Jahrhunderts sein kann. Ich meine dasnicht sozial-empirisch, sondern als eine Artgeistiger Kraftwirkung, die nicht spektakulär,die nicht groß, die nicht offenbarungsähnlichauftritt. Nur die Anthroposophie und RudolfSteiner haben dazu geführt, dass die Mensch-heit in der Wirklichkeit des 20.Jahrhundertüberleben konnte, seelisch-geistig überlebenkonnte.Was uns hier zusammengeführt hat, ist, dasswir diese Anthroposophie als das einzige see-lisch-geistige Überlebensmittel, auch physi-sche Überlebensmittel der Zukunft spüren.Dass wir das auf das 20. Jahrhundert rückbli-ckend beziehen und vorblickend auf das 21.Jahrhundert und wissen: Rudolf Steiner wares, der dieses Überlebensmittel der Individua-lität und der Menschheit zur Verfügung stellenkonnte. Das hat uns hier zusammengeführt.Ich glaube, jeder kann persönlich und biogra-fisch sagen, wie er an die Erfahrung, an dieEmpfindung Mensch durch Anthroposophie,an die Empfindung Zukunft Mensch durchAnthroposophie und durch Rudolf Steinerherangekommen ist.Und die große Frage ist: Wie lösen wir diesesVermächtnis ein, auch gerade angesichts desvirulenten 20. Jahrhunderts. Angesichts derAussage von Adorno, der formuliert hat, nachden 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhundertskann nichts mehr sein wie vorher. Wie kön-nen wir mit dieser Verantwortung – denn dasgilt selbstverständlich auch für die Anthropo-sophie – in die Zukunft gehen? Ich glaube,das ist die Verantwortung, die uns hierzusammengeführt hat.Paul Mackay sprach vorhin von drei Ebenendes Denkens bei Rudolf Steiner. Ich habe denEindruck, wir müssen heute, 90 bis 100 Jahrespäter, noch eine vierte Ebene des Denkenshinzufügen. Da hätte ich Lust, dass wir darübersprechen: eine vierte Ebene des Denkens, vonRudolf Steiner veranlagt, aber aus zeitgegebe-nen Gründen damals noch nicht wirklich ein-lösbar: das Denken von freien Zusammenhän-gen durch freie Individualität. Von wirklichfreien Zusammenhängen, die auch nicht mehrnur Umstülpung sind, die sich von der Formdes Denkens lösen, um zu der eigentlichenForm zu kommen. Die eigentliche Form aberist nichts anderes als die Ich-Form.So wäre einzulösen, was in der Entwicklungder Menschheit, seit Entwicklung der Indivi-dualität in der Mitte steht, was auch für dieAnthroposophie im Zentrum steht, nämlichdie Schicksalsverbindung von Intellektualitätund Individualität. Wenn Sie die Karma-Vor-träge Rudolf Steiners lesen, wenn Sie die Aus-sagen lesen über die Entwicklung des Den-kens im Aristotelismus, im Platonismus, dannbemerken Sie die Bedeutung des Denkens für

die Ich-Entwicklung. Die AnthroposophieRudolf Steiners ist insgesamt ist ein Denken,das Mensch wird, und eine Menschlichkeit,die sich im Denken findet.Es geht um die Verbindung von Intellektua-lität und Individualität, die aber nicht bei derIntellektualität stehenbleibt, sondern in dersich die Ich-Form findet. Und ich glaube, daist das 21. Jahrhundert in einer fortgeschritte-nen Situation gegenüber dem 20. Jahrhundert– ein Denken, in dem alle äußere Form über-wunden wird, in dem sich das Ich als Ich-Form findet und damit den Übergang in dieSphäre, in den Bereich hinter dem Denkenschafft. Das ist das eigentliche Schwellenge-heimnis der Anthroposophie, die Sphäre hin-ter dem Denken, die Empfindung hinter demDenken.Es geht nicht um einen menschlichen Bereichvor dem Denken. Das wäre rückschrittlich,das wäre anti-individualistisch, in einemBereich vor dem Denken mit der Anthroposo-phie stehenbleiben zu wollen. Es wäre aberauch eine falsche Verabstrahierung derAnthroposophie, im Denken steckenbleibenzu wollen. Sondern wir müssen mit dem Ichdurch das Denken hindurch in diesen Emp-findungsraum hinter dem Denken, wo einevöllig neue Empfindung, eine völlig neue Ich-Beziehung, eine völlig neue Gefühlsbildung,auch eine völlig neue Zwischenmenschlich-keit entsteht.Meine Frage lautet, mit der ich mein Ein-gangsvotum abschließen würde, ob wir indiesen Empfindungsraum hinter dem Denkenin einer Art von Wortversuch einsteigen kön-nen. In dem Empfindungsraum hinter demDenken, so meine Vermutung, da ist die neueSeele, da ist der neue Geist, da ist die neueIch-Form, aber da ist auch Rudolf Steiner inseiner Gegenwärtigkeit anzutreffen. Wiegelangen wir durch Anthroposophie in dieErlebnisschicht nach, hinter dem Denken? –Durch das Denken von freien Zusammen-hängen, die uns diese Sphäre überhaupt ersteröffnen können.Für mein Erleben und auch für meine biogra-fische Erfahrung kann ich sagen: Anthroposo-phie und meine Beziehung zu Rudolf Steinerhaben für mich damit zu tun, dass ichbemerkt habe: Erkenntnis entwickelt sich nurdurch den Menschen, und der Mensch entwi-ckelt sich nur durch Erkenntnis. Es wirdimmer problematisch, wenn man versucht,Erkenntnis gegen Menschlichkeit oderMenschlichkeit gegen Erkenntnis auszuspie-len. – Also: Wie kommen wir in diese Sphäre,in die Empfindung, in den Empfindungsraumhinter dem Denken, wo Wahrheit undMensch, wo Erkenntnis und Mensch sich imAngesicht Rudolf Steiners, in der Anwesen-heit Rudolf Steiners gemeinsam entwickelnkönnen? – Der Mensch durch Erkenntnis unddie Erkenntnis, die Anthroposophie durchden Menschen.

Kugler: Das war jetzt richtig schnell und fürmich beeindruckend und schlüssig zugleich.

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t 7

Aber ich habe mich irgendwie noch in der vonPaul Mackay angesprochenen dritten Denk-kategorie, der Umstülpung, verhakt. Darinliegt für mich ein großes Geheimnis. Es gibtfür mich etwas, das habe ich erst vor einigerZeit an Rudolf Steiner entdeckt, etwas, dasmir ein neues Tor geöffnet hat. Ich denke, vielevon Ihnen kennen jene Worte, die in denhybernischen Mysterien gesprochen wurdenund die Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom7. Dezember 1923 (GA 232) zitiert und auchan die Tafel geschrieben hat: «Ich bin das Bildder Welt, sieh wie das Sein mir fehlt …». Unddann in der nächsten Strophe heißt es «Ichbin das Bild der Welt, sieh wie Wahrheit mirfehlt …». Und im selben Kontext kommt erdann auf das Verhältnis von Kunst und Wis-senschaft zu sprechen und schildert, wie dieSchüler im Rahmen ihrer Prüfungen vor zweiBildsäulen geführt werden, die gleichsam zutönen begannen: «Ich bin die Phantasie, aberwas ich bin, hat keine Wahrheit» und «Ich bindie Erkenntnis, aber was ich bin, ist keinSein». Was mir daran aufgegangen ist – unddas siedle ich zwischen Punkt 3 und Punkt 4an – das ist, dass man sich stellen muss demErlebnis des Unvollkommenen, des Mangels,dessen, was noch nicht ist, was kein Sein oderkeine Wahrheit hat. Und für mich entstandhieraus das Bild, dass – und das sage ich jetztvielleicht etwas zu populistisch – Anthroposo-phie eine Aufforderung zum Konsum derbesonderen Art und die AnthroposophischeGesellschaft eine Konsumgenossenschaft istin dem Sinne: Besorge dir das, was dir fehlt.Diese Art von Defizitdeckung, so glaube ich,ist ganz wesentlich, um die von Wolf-UlrichKlünker angesprochene vierte Stufe des Den-kens zu betreten.Herr Schiller hat ja davon gesprochen, dass inder Stuttgarter Ausstellung «Kosmos RudolfSteiner» Objekte, Möbelstücke zu sehen sind,denen eine Ecke fehlt. Ja, das ist es ja, diesefehlenden Ecken muss man sehen, muss manerleben können! Das ist das Entscheidende. Inder Ausstellung waren auch Möbel vonKünstlern, die dem tschechischen Kubismus(1906-1915) zugeordnet werden. Auch dort‹fehlen› Ecken, was zum Ausdruck bringt,dass diese Künstler die Bedeutung desvordergründig Nicht-Anwesenden sehr guterkannt haben. Und mit ihren Objekten rich-ten sie die Aufmerksamkeit auf das, wasscheinbar nicht da ist.Die Dichterin Marina Zwetajewa hat malsinngemäß zum Ausdruck gebracht, dass viel-leicht das Wesentliche an Rudolf Steiner dasist, was er nicht gesagt hat, was sein Geheim-nis blieb. Das war nach einem Besuch vonMaximilian Woloschin in Dornach. Alleerwarteten nach seiner Rückkehr in Russland,dass er jetzt ganz viel erzählt darüber, wasRudolf Steiner alles gesagt hat und – Wolo-schin schwieg. Wörtlich: «Bei Max aber bilde-te alles eine Einheit. Er selbst war dasGeheimnis, so wie auch Rudolf Steiner seineigenes Geheimnis war (das Geheimnis sei-ner eigenen Kraft), und so wie Steiner es

weder seinen Schriften noch seinen Schülernanvertraute.» Nun aber noch zum Thema Umstülpung.Viel-leicht haben es einige Ausstellungsbesucherin Stuttgart oder Wolfsburg bemerkt, dass dasPhänomen der Umstülpung eine ganzwesentliche Rolle in der Ausstellungskonzep-tion, insbesondere in der Ausstellung «RudolfSteiner und die Kunst der Gegenwart»gespielt hat. Es war der WolfsburgerMuseumsdirektor Markus Brüderlin, der aufeinmal gemerkt hat, dass es nicht lediglichdarum gehen kann, sich im Sinne des vonRilke in seinem Gedicht ‹Archaischer TorsoApollos› formulierten Appells «Du musstDein Leben ändern» auf den Weg zu machen,sondern es geht darum, sich umzustülpen.Und so schreibt Brüderlin in dem lesenswer-ten Katalog zur Ausstellung: «Steiner hat beidem Versuch, das Verhältnis zwischen deräußeren physischen und der inneren geistigenWelt darzustellen, eine Denk- und Fühl-Methode entwickelt, die auf eigentümlicheWeise ein Grundprinzip der modernen Kulturdes Denkens bis hin zur Praxis der Gestaltungvorwegnimmt und ihn als eine Schlüsselfigurdes Aufbruchs in die Moderne ausweist. Eshandelt sich um das Prinzip der Umstülpung,der Inversion.» Brüderlin hat sehr schönerkannt, dass die Umstülpung etwas ganzWesentliches ist. Die angesprochene 4. Stufebetreten zu können, so meine ich, geht nichtohne Umstülpung. (Lachen)

Haid: Ich knüpfe nicht direkt an, aber ichmöchte gerne noch einmal den Weg vom Wortzur vierten Dimension ins Auge fassen. WolfUlrich Klünker hat ja vorher angedeutet, wieder freie Mensch sich jetzt frei zur Anthropo-sophie oder zum Wort Rudolf Steiners stellt.Das ist jetzt meine Formulierung, aber imSinne Klünkers.Für mich spielt besonders da der Blick eineRolle. Der Blick auf die Dinge ist etwas, wasman gerade an manchen aktuellen Publika-tionen über Rudolf Steiner und seine Biogra-phie sehen kann; der Blick färbt das Objekt, jaman könnte auch sagen, das Auge ist durchVorwissen getrübt, durch Vorurteile verdun-kelt, und das wirkt sich auf die Darstellungaus. Hier wirkt der Blick im doppelten Sinne.Zum einen schaut derjenige auf ein Leben,ein Werk, das durch ihn dargestellt wird. Zumanderen ist aber mit der Art der Darstellungauch derjenige, der schaut, charakterisiert mitseinem bestimmten Blick auf das Angeschau-te – in diesem Falle die Biographie RudolfSteiners.Und gerade hier kommt dem Wort eine gros-se Bedeutung zu. Denn heute begegnet manRudolf Steiner vor allem durch sein Wort,möglicherweise auch durch die Wirkung sei-nes Wortes in der Pädagogik, Medizin oderLandwirtschaft, und zum Teil durch dieBeschreibungen von Menschen, die ihn selbsterlebt haben. Das Wort ist also oftmals derMittler, Rudolf Steiner und der Anthroposo-phie zu begegnen. Freilich können es auch

bestimmte Menschen sein, doch auch dasführt zu Steiners Wort in seinen Schriften.Es zeigt sich da dann aber sehr oft, dass dieFähigkeit nicht unbedingt vorhanden ist, die-sem Wort adäquat zu begegnen, ihm so zubegegnen, dass der Betreffende in ein reales,wirklichkeitsgemäßes Verhältnis zu RudolfSteiner tritt. Zweifellos stehen uns hier gewis-se Bildungsgewohnheiten im Wege, was nichtheißt, das selbständige „Denke und Prüfe“auch des Wortes von Rudolf Steiner zu unter-lassen. Wesentlich ist, dass das Wort auf dieEmpfindungsfähigkeit, ja auch auf eine gewis-se Verwandlungsbereitschaft im Menschentreffen kann.In dieser Hinsicht habe ich den Eindruck, dassim Umgang mit dem Werk Steiners durchausnoch eine Kultur des sachgemäßen Verstehensentwickelt werden kann, dass man sich einer-seits seinen eigenen Standpunkt deutlichmacht und andererseits lernt, auf die darge-stellten Inhalte so einzugehen, dass man esmit etwas zu tun hat, das einen selbst ver-wandeln kann. Da muss natürlich eine ent-sprechende Bereitschaft sich zu verwandelnda sein, sonst findet man nur sich und derBlick bleibt eben trüb, wird nicht von deranderen Seite berührt.

Klünker: Ich würde gern in diesem Sinne insis-tieren auf der vierten Dimension, der Empfin-dung hinter dem Denken als der Gegenwär-tigkeit oder Anwesenheit Rudolf Steiners imverstandenen oder zu verstehenden Wort: dasWort, das Rudolf Steiner gesprochen hat odernicht hat sprechen können vor 90 oder 100Jahren – durchaus auch das, was er nichtgesagt hat – das Wort, das heute vielleicht erstsprechbar wird, und die gegenseitige Reso-nanz in dem Gesprochenwerden und Hören-können zwischen Rudolf Steiner damals undheute. Und mir hat in den letzten Jahren – ichbin stark mit der Johannes-Frage umgegan-gen – eine Sache außerordentlich zu denkengegeben und mich beschäftigt.Und zwar hat Rudolf Steiner zum Schluss sei-nes Lebens in dem Zyklus zur Apokalypse, imsog. Priesterzyklus vom September 1924 (GA346), eine Aussage getroffen, die uns in derThematik, auf die wir uns geeinigt haben,einen Schritt weiter führen kann. Er fragtzunächst: Was ist eigentlich der Inhalt derApokalypse des Johannnes als des „spirituell-sten“ Buches des neuen Testaments? In derApokalypse sind viele Schichten, auch esote-rischen Inhalts, zukunftsgerichtet enthalten. –Rudolf Steiner antwortet: Eigentlich ist derganze geistige Inhalt der Apokalypse nichtsanderes als das langsam, nachdrücklich, sorg-fältig selbst ausgesprochene Ich des Johannes.Der ganze esoterische Inhalt ist nichts ande-res, als wenn Johannes selbst sein Ich nachund nach ausführlich und exakt aussprechenwürde.Das führt mich auf den Punkt, den ich imBereich des Wortes als Brücke über dieSchwelle zu den Verstorbenen sehe: dass ichim esoterischen Inhalt, den ich spreche,

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t8

unmittelbar selber anwesend bin. Alles, wasich inhaltlich sage, ist Ausdruck meiner selbst;ich bin das, was ich inhaltlich sage. Ich kanndas, was ich geisteswissenschaftlich, esote-risch, anthroposophisch vertrete, nicht nebenmich stellen. Ich kann nicht sagen, da müssteman hin, aber das haben andere zu erledigen.Das kann ich nicht delegieren. Das kann ichauch nicht an Rudolf Steiner delegieren. ImSinne der johanneischen Spiritualität, die dagemeint ist, bin ich selbst verantwortlich: ichbin es. Denn womit ich inhaltlich umgehe,was ich inhaltlich, geistig, anthroposophischausspreche, darin spreche ich mich aus, undich spreche nichts anderes aus außer michselbst.Also, wann bin ich mit dem Inhalt vollständigbei mir, und wo kommt der Inhalt erst durchmich vollständig zur Geltung? Das wäre ja dieandere Facette der Entsprechung vonErkenntnis und Mensch oder von Wahrheitund Ich: So wie ich mich durch den geistigenInhalt ausspreche, spricht sich auch der geisti-ge Inhalt durch mich aus. Gleiches gilt für denUmgang mit Anthroposophie, sogar für denUmgang mit Rudolf Steiner: ich muss bemer-ken, was ich als Anthroposophie ausspreche,das bin ich selber, und nur da kann Anthropo-sophie sein, wo ich selber nicht delegierend,sondern eigenverantwortlich mich geistig-seelisch-menschlich aussprechen kann.Die Aussage vom September 1924 beziehtRudolf Steiner nur auf die Apokalypse und aufdas darin sich aussprechende Ich des Johan-nes. Das ist für uns ganz umfassend esoteri-sche und geistige und anthroposophischeWahrheit geworden: dieses Verhältnis zwi-schen Ich und geistiger Wirklichkeit, zwischenIch und geistigem Inhalt. Ich bin es, ich selberbin vollständig dabei. Diese Haltung suchtmenschlich und zwischenmenschlich denEmpfindungsraum hinter dem Denken; ande-rerseits entsteht diese Haltung in dem Emp-findungsraum hinter dem Denken. Hier kön-nen heute die Menschenseelen in Freiheitund doch intensiv zusammenkommen.

Kugler: Da darf ich vielleicht noch hinzufügen,weil hier eben Bezug genommen wurde aufden letzten der Theologenkurse, dass dieangesprochene Thematik auch mit dem Aus-gangspunkt der Bewegung für eine religiöseErneuerung, der Christengemeinschaft, zutun hat. Es war die im Februar 1920 von dem21jährigen Philosophiestudenten Werner

Klein an Rudolf Steiner gerichtete Frage, obdie Zeit gekommen sei, dem johanneischenChristentum, über das Schelling gesprochenhat, die Bahn zu bereiten. Wenn Sie das tunwollen, so antwortete Rudolf Steiner, dannbedeutet dies etwas ganz Großes für dieMenschheit.Nun, jetzt wo wir uns schon in die höchstenHöhen hinaufbewegt haben, sollten wir unsaber doch noch einmal hinunter ins Profanebewegen und auf das von Wolf-Ulrich Klün-ker angesprochene Thema der Identität zusprechen kommen. Ich möchte dies aus derSicht eines Archivars tun, der ja immer wiedervon Besuchern angesichts der ungeheurenFülle von Manuskripten,Vortragsmitschriften,Briefen und Dokumenten mit der Frage kon-frontiert wird: Wie hat Rudolf Steiner all diesbewältigt? Wer, wie war er denn wirklich? Dassind ja Fragen nach seiner Identität, die nunwirklich nicht leicht zu beantworten sind.Eine Art Schlüsselerlebnis war für mich, alsich Mitte der 70er Jahre erstmals Rudolf Stei-ners persönliche Bibliothek sah. Sie umfasstmehr als 9000 Bücher und allein die Abteilung‹Philosophie› enthält 1118 Bücher, wobei derAnteil an zeitgenössischer Philosophie – wirhaben mal 80 zeitgenössische Philosophengezählt – sehr hoch ist. Ich weiß nicht, wieviele zeitgenössische Philosophen wir hieralle zusammen aufzählen können. Abermeine Erfahrung zeigt, dass die Nennung vonzehn schon sehr viel ist. Da stellt sich dieFrage, warum Rudolf Steiner so viele zeitge-nössische Philosophen gelesen hat. Es hateinige Zeit gedauert, bis mir wirklich klarwurde, dass er sie lesen musste – und ebensodie Werke zeitgenössischer Naturwissen-schaftler, Theologen und Historiker –, weil ersich in einer außerordentlich intensiven ima-ginativen Sphäre bewegte und sein Denkenvon Inspirationen und einer reichen Intui-tionsgabe bestimmt war. Aber da erschienenja nicht unmittelbar die Worte und Sätze wieauf einem Display, die er nur abzulesenbrauchte, sondern Rudolf Steiner mussteangesichts des Erlebens intensiver Bildweltendann mit dem Gestaltungsprozess anfangenund die Bildwelten gleichsam erdigen anhandder Worte und Begriffe, die in der Kulturweltverhandelt wurden. Und eben hierfür brauch-te er diese Bücher. Wenn man nun dieseBücher nach und nach in die Hand nimmt,und seine Randbemerkungen liest, seineAnstreichungen wahrnimmt oder auch die

Eselsohren, dann ist es, als ob man ihm beider Arbeit über die Schulter schaut. Das ist derMoment, in dem man seine Identität, dieganze Kraft seines Seins spürt, ganz ähnlichwie in jenen Momenten, in denen man in sei-nen Notizbüchern oder seine handgeschrie-benen Manuskripte und Briefe liest. Die soerlebte Identität Rudolf Steiners, so habe ichmanchmal das Gefühl, weckt das Beziehungs-gefüge zu meiner eigenen Identität, das isteinfach wunderbar. Damit andere auch diesesErleben teilen können, habe ich schon ver-schiedentlich gedacht, dass es Sinn machenwürde, von ganz wesentlichen Werken inRudolf Steiners Bibliothek einen Reprint –inklusive Anstreichungen und Randbemer-kungen – anzufertigen, so dass jeder bei sichzu Hause diese Bücher gleich neben derGesamtausgabe platzieren kann. Das ist dannIdentität schaffend in zweifacher Hinsicht. Inden Büchern lebt ja ganz intensiv der Geistder Zeit in alle Richtungen oszillierend, so z.B. wenn man in einem Werk von Fritz Mauth-ner liest, dass die Sprache ein Gefängnis ist.Irgendwie hat man sofort das Gefühl: da mussman raus. Und Rudolf Steiner erforscht dieBewegungselemente, die jedem Laut zugrun-de liegen und schafft die Eurythmie – das istein wahrer Befreiungsakt.Nun haben wir natürlich im Archiv auch alldie Erstausgaben von Rudolf Steiners Schrif-ten und vielfach auch die Originalzeitschrif-ten, in denen er seine Aufsätze veröffentlichthat. Und schließlich sind da noch die Erstdru-cke seiner Vortragszyklen. Leider kann manbei Mitgliedern heute bisweilen eine gewisseMüdigkeit hinsichtlich des Lesens von Zyklenspüren. Wir sehen das auch am Rückgang desVerkaufs. Die Frage, die sich hier stellt, lautet:Gehen wir nicht viel zu verschwenderisch mitden Zyklen Rudolf Steiners um, indem wir sienicht lesen? Die Frage enthält bereits eineFeststellung, und die hat Rudolf Steiner 1924in einem Aufsatz unter dem Titel «Wie dieLeitsätze anzuwenden sind» so formuliert:«Wir wirken in der AnthroposophischenGesellschaft wie rechte Verschwender, wennwir die gedruckten Zyklen ganz unbenutztlassen.» Im gleichen Kontext spricht er auchdavon, dass er immer wieder hört, dass Leuteenttäuscht sagen, dass es ihnen wenig nütze,so viel von geistigen Welten zu hören, wennsie selbst doch nicht in diese Welten hinein-schauen können. Und darauf antwortetRudolf Steiner, dass mit den Vorträgen Stoff

Wolf-Ulrich Klünker, Christiane Haid, Walter Kugler

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t 9

gegeben ist, der das Schauen in geistige Wel-ten anregt. Meditation allein reiche nicht, son-dern es braucht auch den Gestus, sich mitHilfe der Vorträge schauend in die geistigeWelt hinein zu leben. Dies, so meine ich, istebenso Identität schaffend. Und in bezug aufdas Verhältnis von AnthroposophischerGesellschaft und anthroposophischen Ein-richtungen, wie Schulen, landwirtschaftlichenBetrieben usw. gilt es im Hinblick auf dieIdentität noch etwas zu beachten, was RudolfSteiner in seinem letzten Mitgliederzyklus inTorquay ganz am Ende des letzten Vortragesausgesprochen hat. Gleichsam in Parenthesegesprochen will ich hier nur kurz anmerken,dass Rudolf Steiner diese Vorträge in der TownHall von Torquay gehalten hat, einem Ort, andem während des Ersten Weltkrieges AgathaChristie als Krankenschwester tätig war, undda vermutlich auch den Umgang mit Arsen,das zu den mit dem Zinn verbundenenAbbauprodukten jener Region (Tin-Tagel)gehörte, lernte, mit Spitzenhäubchen viel-leicht auch.Ich komme jetzt auf jene Ausführungen RudolfSteiners in Torquay zu sprechen, weil hier imSaal viele anwesend sind, die in anthroposo-phischen Einrichtungen tätig sind, und weil esum das Thema Identität geht. Es ist ja keinGeheimnis, dass es immer nur wenige sind, dieauch in einem engen Zusammenhang mit derAnthroposophischen Gesellschaft stehen. DieFrage, die sich daran anknüpft, ist: Kann dasgut gehen, für beide, also die Institutionen unddie Anthroposophische Gesellschaft? Ich wagedies zu bezweifeln. Der Schlüssel für dieGegenwart und Zukunft, so scheint es mir,liegt in dem, was Rudolf Steiner am 22. Augustin Torquay seinen Zuhörern ans Herz legt.Zunächst betont er, was Ihnen allen hiersicher geläufig ist, dass Anthroposophie aufallen Gebieten in das Leben hinein fließenwill. Dies aber kann sich nur vollziehen, wennin der Gegenrichtung die im alltäglichenLeben gemachten Erfahrungen einfließen indie Anthroposophie. Das heißt, wir brauchenbeides. Und diese Wechselbewegung Innen –Aussen – Innen ist es, die uns weiterbringt.Wenn Sie so wollen: wir müssen uns immerwieder umstülpen.

Klünker: Das Verhältnis der Anthroposophiezum Leben ergibt sich auch aus dem kurzenVotum zur Psychiatrie vom März 1920 (GA314), das mich jahrelang beschäftigt hat. Es istleider ziemlich unbekannt geblieben. RudolfSteiner sagt dort, es gehe mit der Psychiatrienur weiter, wenn wir Begriffe finden, die nichtüber das Leben urteilen, sondern die aus demLeben sind. Was sind Begriffe, die aus demLeben stammen? Aber Begriffe, die aus demLeben stammen? Und Begriffe, die aus demLeben stammen?So glaube ich, man muss einerseits über diephilosophische Bibliothek sprechen, dieRudolf Steiner begleitet hat, aber andererseitsauch über die Behinderung, die ihn begleitethat. Wie bekommt man denn diese beiden

Extreme zusammen? Die Behinderung, dieihn von Anfang an begleitet hat: mit zweimehr oder weniger behinderten Geschwis-tern und mit einer Herkunftsfamilie, die allesandere als intellektuell oder philosophischbeflissen und beschlagen war.Dann in Wien die Hauslehrertätigkeit in derFamilie Specht, die ich für bisher wenigerforscht halte. Auf der einen Seite der Geistund das Denken, auf der anderen Seite abermit der Wirkung, dass er einen stark behin-derten Sohn aus dieser Geisteshaltung herausgesund machen kann. Einen Sohn, der bei derSchulaufnahmeprüfung nur das Blatt Papierruiniert hat, statt darauf ein Bild zu malen.Dieser Sohn der Familie Specht konnte durchRudolf Steiners Hilfe die Schule besuchen,später auch studieren.Die Identität von Ich und Inhalt wirkt offenbarderartig kraftschöpfend, dass diese Kraft bis indie Konstitution hinein gesundend wirkt. Ent-scheidend ist doch, dass die philosophischeBibliothek in Rudolf Steiner den inneren Kraft-schluss vollzieht, dass die ganze Konstitutioneines anderen Menschen dadurch gesund wer-den kann.Auch folgendes Motiv begleitet Rudolf Steinervon Anfang an: Seine Esoterik und die Gei-stigkeit, die er vertrat, waren nicht philoso-phisch oder geistig oder wissenschaftlich oderoffenbarungsbezogen splendid, sondern daswar gefährdet, das war fragil. Denn wenn manin die Identität von Ich und Inhalt eintritt,dann kommt man in Risikobereiche hinein –ungeheure Risikobereiche, auch existenziellund persönlich. „Fragilität“ habe ich das kürz-lich in einem Aufsatz genannt, „Fragilität derAnthroposophie und auch ihres Begründers“.Geisteswissenschaft kann nicht herkömmlichsicher sein; sie kann nur folkloristisch nochsicherer als sonstige Wissenschaft verkündetwerden. Geisteswissenschaft und der Geistes-wissenschaftler sind fragil, sind angreifbar.Das ist auch das Problem Rudolf Steiners.Aber nur in diesem auch existenziellen Risikofindet der innere Kraftschluss des Geistes, desDenkens statt, so dass der Geist dann bis insSeelisch-Leibliche hinein wirken kann. Unddiese Kraft entsteht in der Sphäre hinter demDenken.Anthroposophie kann nicht auf eine „sichere“Wissenschafts- und auch nicht auf eine„sichere“ Offenbarungsseite geschoben wer-den. Die Identität von Geist und Ich verbleibtvielmehr im Risiko. Alles ist nur ichhaft gei-stig, nicht aber „objektiv“ abzusichern: Kraft-schluss in der Fragilität. Das gilt auch für dieAnthroposophie und die sie begründendegeisteswissenschaftliche Entwicklung im 21.Jahrhundert. Die Kraftwirkung entsteht ausdem ganz Kleinen. Der Kraftschluss kommtweder aus dem Selbstverständlichen noch ausdem selbstverständlich Sicheren.

Haid: Ich habe den Eindruck, es geht imUmgang mit dem Werk Rudolf Steiners umeinen Rhythmus zwischen Fülle und Verzicht,zwischen einem Aufnehmen der Inhalte und

einem Verzicht weiteres aufzunehmen,zugunsten einer Verarbeitung, einer Verleben-digung und Konkretisierung in den Lebens-vollzügen. Gerade wenn es um die Frage geht,wie es zu einer Deckung zwischen dem Auf-genommenen und dem eigenen Ich kommenkann. Da muss man auch abschätzen können,was man überhaupt innerlich ausfüllen kann– und hier ist das urteilende Ich der Maßstab.In diesem Prozess der Aufnahme und Aneig-nung gibt es eine gewisse Grenze, an der manunter Umständen sagen muss: Ich beschränkemich jetzt auf sehr Weniges und konzentrieredas so, dass es in eine wirkliche Vertiefungführt und eben diese Wandlungskraft freisetzt,eine meditative Verdichtung.Die andere Bewegung muss dann die sein,dass man das Werk tatsächlich kennenlerntund die Dinge umfassend studiert, die Dingeimmer wieder aufsucht und so das innereWachstum des Aufgenommenen verfolgt. Dasist wie die andere Seite des Atems, die wie einLuftholen ist. Dies als eine Blickrichtung inbezug auf die Frage der geistigen Perspektiveund der Dimension einer lebendigen Anthro-posophie.Ich glaube, der wesentliche Punkt ist, dassman sich in beiden Bewegungen, dem Auf-nehmen bzw. Einatmen der Inhalte so bewusstfühlt, sich seiner selbst klar ist, wie auch imVerzicht, in der Vertiefung, der meditativenVerinnerlichung. Wesentlich ist, dass man denRhythmus abschätzen kann, wann das eineund wann das andere notwendig ist. Dass mansich nicht aufbläht oder erstickt. Ich habe denEindruck, dass dieses Finden des eigenenRhythmus etwas ganz Individuelles ist, wassich auch in den verschiedenen Lebensalternin Maß und Geschwindigkeit wandeln kann.Die Gemeinschaft mit anderen kann dabeieine wesentliche Rolle spielen.Mich hat immer wieder eine Stelle in den Mit-gliederbriefen sehr berührt: Rudolf Steinerbeschreibt hier, was eigentlich das Motiv ist,um in den Zweig zu gehen. Man würde viel-leicht denken, man geht dorthin, um etwasüber die Anthroposophie zu erfahren, neueInhalte der Geisteswissenschaft kennenzuler-nen. Aber die Antwort Steiners ist sinngemäß:Man geht in den Zweig, um zu erleben, wiedie Anthroposophie im anderen Menschenlebt. Selbst wenn man alles, was dort vorge-bracht wird, bereits kennen würde, dann wäretrotzdem die wesentliche Qualität, zu erleben,wie Anthroposophie im anderen Menschenlebt – als lebendiges geistiges Wesen undLeben – zwischen den Menschen anwesendist.Hiermit ist auf die Dimension einer lebendi-gen Geistigkeit geschaut, die zum Teil nochgar nicht vollkommen ist, aber in der der wer-dende Mensch in seiner Bemühung, eine gei-stige Bewegung zu vollziehen, das Wesentli-che ist. Meinem Eindruck nach ist diese Seitedes Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftslebensnoch gar nicht ausgeschöpft, so dass mansagen könnte, bei allen oftmals gemachtenÄußerungen über die Zukunft der Zweige,

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gerade aus den oben genannten Gründen: esgibt eine Zukunft der Zweige, es geht aller-dings darum, sie zu entdecken und mögli-cherweise anders und neu zu gestalten!

Kugler: Ich möchte aber noch an Wolf UlrichKlünkers Ausführungen etwas anschließen.Um die nötigen Denkbewegungen ausführenzu können, da braucht es auch den entspre-chenden Mut, ja sogar den Mut zum Verrück-ten. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hateinmal gesagt: «Wenn man noch viel verrück-ter denkt als die Philosophen, kann man ihreProbleme lösen». (Lachen) Wittgenstein warja ein Sprachphilosoph, der sieht alle Dingeund Nichtdinge sehr wörtlich real. Verrücktheißt daher, einmal auszutreten aus demMainstream, weg von der Zentralachse, ander sich alle drängeln – eben seinen Stand-punkt verrücken. Da eröffnen sich neue Blick-felder, neue Perspektiven. Irgendwann wirddann das, was sich an der neuen Achse desVerrücktseins abspielt, die Mitte, das Zentrumbilden, und dann gibt es nur eines: wiederetwas verrücken. Im Zusammenhang mit denverschiedensten Ausstellungen, an denenunser Archiv mitwirken konnte, habe ichimmer wieder die Erfahrung gemacht, dass esgerade das Verrückte war, das die Kuratorenund beteiligten Künstler interessierte undverschiedentlich neu belebte. Ich will ein Bei-spiel anführen. Rudolf Steiner stellte im Vor-trag vom 25. November 1923 die Frage:„Warum lieben die Menschen die Rose?“ –und wer jetzt die Antwort nicht hören, son-dern selbst die Antwort finden will, mögebitte seine Ohren schliessen –. Nun, die Ant-wort lautet: weil die Rosen die allererstenKindheitserinnerungen aufnehmen, währendwir schlafen. – Ist doch ‹verrückt›, aberunglaublich schön. Ich bin fest davon über-zeugt, dass der Feind der Kreativität dieAnpassung ist – und dies gilt auch für unserWissenschaftsverständnis. Denn das, wasWissenschaft wirklich ist, kann doch niemandendgültig sagen. Das Spektrum reicht hiervon der rein materialistischen Anschauungbis hin zu poetischen oder gar mystischenImplikationen. Dass Martin Heidegger einWissenschaftler ist, wird kaum jemandbestreiten. Dieser Heidegger hat 1944 einenText geschrieben über die Gelassenheit. Erbeginnt mit der Frage nach dem Wesen desMenschen und mündet schließlich gegenEnde ein in das folgende Bild: «Für das Kindim Menschen bleibt die Nacht die Näherinder Sterne. Sie fügt zusammen ohne Nahtund Saum und Zwirn. Sie ist die Näherin,weil sie nur mit der Nähe arbeitet. Falls sie jearbeitet und nicht eher ruht – indem sie dieTiefen erstaunt …».Als ich diese Stelle las, spürte ich unmittelbareine Nähe zum ersten Leitsatz und damit zudem ganz großen Gestus, in dem es darumgeht, das Geistige im Menschenwesen zumGeistigen im Weltenall zu führen. Bei Heideg-ger, so empfinde ich, findet man in wunderba-rer Konzentriertheit einen jener Momente

beschrieben, in dem sich diese Geistesbegeg-nung vollzieht.

Klünker: Ich möchte noch einmal die Verrück-theit aufgreifen. Es gibt eine große Sehnsuchtnach Verrücktheit, aber nicht nach Verrück-theit an sich, sondern ich will es, in Anknüp-fung an vorhin Gesagtes,Verrücktheit aus derIch-Form nennen. Anthroposophie ist in demSinne eine Verrücktheit aus der Ich-Form,dass das Ich in Bereiche hereingeht, die esnicht vorher abgesichert hat.Aber das Ich muss hineingehen. Nicht in dasVerrückte an sich; das wird auch nichtgesucht. Sondern das Ich will sich in Berei-chen halten, die es bisher noch nicht betretenhat. Das scheint mir der Weg mit Rudolf Stei-ner zu sein, und der Weg der Anthroposophie:Wie kann ich in Bereiche hineingehen, die mirnoch unbekannt sind – in die Wirklichkeit derNacht im Sinne von Walter Kugler oder vonMartin Heidegger.Mein „Lieblingsphilosoph“ – ich kann auchPhilosophen zitieren – ist Georg WilhelmFriedrich Hegel. Und Hegel hat in seiner Reli-gionsphilosophie einmal gesagt: Wir müssenaufpassen, dass wir nicht werden wie dieRömer, denn bei den Römern hat man imReligiösen immer den Eindruck, als ob mandergleichen auf dem Theater sähe.Ich glaube, das ist die große Scheidelinie:Kommen wir geistig in die Wirklichkeit, oderhat man den Eindruck, als ob man derglei-chen auf dem Theater sähe.Ich würde als Schlusswort gern sagen: Deroffene Raum, in den es hineinzugehen gilt,dieser offene Raum in aller Risikohaftigkeit, inaller Fragilität, in aller Existentialität, derEmpfindungsbereich hinter dem Denken, derheute möglich ist: darin könnte Rudolf Steinerheute anwesend sein, vielleicht mehr als zuseinen Lebzeiten im vorangegangenen Jahr-hundert. Denn in diesem Raum ist die Indivi-dualitätsentwicklung weit fortgeschritten,durch die Risiken des 20. Jahrhunderts hin-durch. Wir sind einfach tiefer eingestiegen indie Sphäre hinter dem Denken.Das ist im Grunde auch das Thema der letztenAnsprache Rudolf Steiners gewesen: letztlichdie Frage, wie eine fragile und hochkomplexeIndividualität geistig-menschliche Lebensbe-dingungen auf der Erde finden kann. RudolfSteiner sucht nach einer solchen gegenwärti-gen Ich-Form aus der angesprochenen viertenDimension des Wortes, im Sinne einer fortge-schrittenen Individualitätsentwicklung. Dasist die Anfrage an die Anthroposophie: damitdas Ich richtig auf der Erde ankommen kann.

Kugler: Dürfen wir auch noch ein Schlusswortsagen? Meines beginnt mit der Frage: Was hatRudolf Steiner in Weimar gemacht, wenn ernicht gerade mit der Herausgabe von Büchernbeschäftigt war. Antwort: Er hat Kontakt zuseinen Zeitgenossen gesucht und unzähligeGespräche geführt. Und so manche Gesprä-che hat er geführt mit der Schriftstellerin undDichterin Gabriele Reuter. Rückblickend auf

ihre Begegnungen mit Rudolf Steiner schreibtsie: «Man mag über die Anthroposophie den-ken wie man will – ein Verdienst muss manRudolf Steiner zuerkennen: Er hat hundertevon Menschen aus hoffnungsloser Dürre zueinem Leben voll vertieften geistigen Inhaltsverholfen – er hat ihnen durch die Geisteswis-senschaft ihre Seele neu geschenkt.» – Und,das ist mein letzter Satz: Ich fühle mich wieeiner von diesen Menschen.

Haid: Ich möchte mit einem Zitat schließen,das die Art und Weise dieser Annäherung andie vierte Dimension charakterisiert und auf-leben lässt. In einem Dialog aus den Myste-riendramen wird die Frage angesprochen, wiesich das Wort und die Lehre des Lehrers inZukunft von seinen Nachfolgern und Schü-lern fortbilden lässt. Der Schüler ist in dieserSzene Mönch im Mittelalter und Lehrenderder Überzeugung, dass seine buchstabenge-treue Umsetzung der Inhalte im Sinne seinesLehrers ist. Durch die Geisterscheinung sei-nes verstorbenen Lehrers erfährt er aber, dasssich die Lehre auf diesem Wege in ihr Gegen-teil verkehrt. Er erhält eine rätselhafte Anwei-sung, die ihn auf den Zusammenhang zwi-schen der Zeit und der lebendigen Fortbil-dung der Lehre verweist. Hier spielt vor allemdas individuelle Ergreifen des Wortes und dasinnerliche Leben mit dem Wort eine zentraleRolle. Das Wort wird erst durch einen Prozessder Verinnerlichung und Umwandlung – auseinem Erheben aus der Welt des Stoffes in dieindividuelle Geistsphäre – zum Organ leben-diger Geistwahrnehmung. (Zweites Myste-riendrama, 7. Bild) Der Mönch hat hier dienachtodliche Erscheinung seines LehrersBenediktus, in der dieser Folgendes sagt: „Ich kann den rechten Weg dir weisen, wenndu in tiefster Seele dich durchdringst mit Wor-ten, die ich einst auf Erden sprach. Und willstDu dieser Worte Leben, in jenen Welten dannerstreben, in welchen du mich jetzt erschauenkannst, wird dir der rechte Weg gewiesensein.“Ich denke wir haben hier ein Vorbild, wie dieVerwandlung der Lehre erfolgen kann. Siemuss im individuellen geistigen Leben jedesEinzelnen neu auferstehen, eine Anstrengungund Tätigkeit, um die man im Zeitalter derBewusstseinsseele nicht herum kommt unddie der freie Mensch fordert. Eine herausfor-dernde, aber auch begeisternde Aufgabe.

Schiller: Liebe Freunde, ich möchte Sie bitten,sich noch nicht vollkommen zu verausgabenmit dem Applaus, weil ich zu den Vorausset-zungen dafür noch etwas beitragen muss undzwar einmal meinen herzlichsten Dank fürdieses ermutigende Beispiel für die weitereTagung; ich glaube, sie werden nicht furchtbarentsetzt sein von dem, was noch auf unszukommen wird. Herzlichen Dank für diesenschönen Beitrag und dieses gemeinsameGespräch und einen besonderen Dank anWalter Kugler, der für den erkrankten SergejProkofieff eingesprungen ist.

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t 11

Heute vor 58 Jahren gab es – auch hier in die-sem Gebiet und mit dem Schwerpunkt in Ber-lin – den Volksaufstand in der DDR, der inunserem geschichtlichen Bewusstsein anwe-send ist. Mit diesem Volksaufstand steht eineSituation vor uns, die uns hilft zu realisieren,darauf zu achten, wer neben uns, über uns,unter uns, um uns herum ist.Denn wenn wir in der AnthroposophischenGesellschaft zusammenkommen, dann wol-len wir auch diejenigen einbeziehen, die nichtmehr lebend im Leibe unter uns sind, diesogenannten Verstorbenen.In diesem Zusammenhang möchte ich eineÜbung erwähnen, durch die man sich demein bisschen nähern kann. Rudolf Steiner hatvon seinen Schülern raschere Fortschritte inder Eroberung geistiger Erfahrungen erwar-tet als dann tatsächlich bewusst eingetretensind. In einem Vortrag schlug er zum Erlan-gen geistiger Erfahrungen am Menschen vor,bestimmte Äußerlichkeiten einfach abzusug-gerieren, bestimmte Leiblichkeiten abzusug-gerieren.Suggerieren sie sich zum Beispiel ab, welcheSeeleneigenschaften ein Mensch an sich trägt,ob sie das nun leiden mögen oder nicht, ob esauffällig oder eher verborgen ist, suggerierenSie es sich ab. Suggerieren sie sich auch ab,was seelisch Konstitution geworden ist, dieSeelenleiblichkeit, und suggerieren sie sich

ebenso den Gewohnheitsmenschen, dieGewohnheitsleiblichkeit ab.Zuletzt suggerieren sie sich ab, was am Men-schen leiblich konstitutionell sichtbar ist.Was ist es, was uns dann bleibt, was könnenwir vergegenwärtigen von den Menschen, mitdenen wir wirkliche Begegnungen gehabthaben, mit denen wir verbunden waren undes vielleicht noch heute sind? Was können wirverfolgen von dem Weg, dem Gesetz, unterdem sie angetreten sind, und dem Stern, demsie weiter folgen, ihre Entwicklung suchend?Rudolf Steiner hat in einer ernsten Situation,wie sie am 17. Juni 1953 in Deutschland gewe-sen ist – in Ostdeutschland gewesen ist –, näm-lich während des Ersten Weltkrieges einenSpruch gedichtet. Durch diesen Spruch sollte esmöglich werden, sich sowohl sorgend denMenschen zu nähern, die in Gefahr sind, alsauch denen, die den Tod erfahren haben. Erspricht von den „Erdenmenschen“, an die mansich suchend über ihr höheres Wächterwesenwendet, ihr Geistselbst oder Engelwesen. DieWorte können sich aber auch an dieses höhereWesen wenden, um die Verbindung zu den Ver-storbenen zu finden. Dann heißt es an der ent-sprechenden Stelle „Sphärenmenschen“ stattErdenmenschen. Es wird sein geistigesUmkreiswesen angesprochen.Und dieser Umkreis ist nicht bloß in unend-lich weiten Fernen zu suchen, sondern dieser

Umkreis strahlt herein und er kann herein-strahlen in unser Bewusstsein – bis in das, waswir zu vergegenwärtigen vermögen.Und so möchte ich diesen Hinblick zu denVerstorbenen mit dem genannten Spruchbeschließen und dabei das Wort des Sphären-menschen verwenden und insbesondere ein-beziehen den Blick auf alle die Menschen, diehier auch in der Zeit der DDR mit Anthropo-sophie und für Anthroposophie gelebt haben,jene Menschen, die verstorben sind im ver-gangenen Jahr, als Mitglieder unserer Anthro-posophischen Gesellschaft und alle Men-schen, die diese anthroposophische Arbeitaufgebaut und getragen haben, seitdem siebegonnen hat.

Geister eurer Seelen

Wirkende Wächter

Eure Schwingen mögen bringen

Unserer Seelen bittende Liebe

Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen

Dass mit eurer Macht geeint

Unsere Bitte helfend strahle

Den Seelen, die sie liebend sucht.

Ansprache für die Verstorbenen Hartwig Schiller

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t12

Schiller: Mit dem Trio des heutigen Morgenssind wir sehr verbunden. Es hat in den ver-gangenen 15 Jahren bis heute maßgeblichVerantwortung getragen für die deutscheLandesgesellschaft und die anthroposophi-sche Arbeit. Das ist zum einen Mechtild Olt-mann, Mitglied des Arbeitskollegiums von2002 bis 2008 und Priesterin der Christenge-meinschaft in Berlin, in der Mitte GottfriedStockmar, im Arbeitskollegium von 1996 bis2002, und auf der linken Seite MichaelSchmock, Mitglied des Arbeitskollegiums seit2005 mit besonderem Aufgabengebiet imZusammenhang von Jugendinitiativen.

Schmock: Verehrte Anwesende, unser Themalautet „Lebensprüfung und Menschenwürde– die zweifache Schwelle des Ich“. Wir werdendazu nacheinander drei Einleitungsbeiträgegeben und dann versuchen, diese Beiträgemiteinander im Gespräch zu vertiefen und zuverarbeiten.Ich möchte mit Fragen aus konkreten Begeg-nungen und Erlebnissen der letzten Zeitbeginnen, die vielleicht jeder Zeitgenosse inähnlicher Art erlebt haben könnte.Eine kleine Situation: Ich trete aus meinemHaus auf die Straße und begegne dem Nach-barn. Dieser Nachbar ist ein hagerer ältererMensch, etwa 65 oder 66 Jahre alt, mit liebe-vollem, rührendem Wesen, der nie vorübergeht, ohne freundlich zu grüßen und zu fra-gen, wie es geht.Jetzt frage ich ihn nach seinem Befinden undbemerke ein Zögern, er scheint fast vorbeige-hen zu wollen. Ich begleite ihn ein Stückchenund frage, was die Kinder machen. Daraufantwortet er, dass er da ein Problem habe. Erhat drei Kinder, zwei von ihnen sind noch inder Ausbildung und er hat als sorgender Vaternatürlich für ihre Ausbildung Geld zurückge-legt, Geld angelegt.Vor etwa zwei Jahren trat die Situation ein,dass dieses Geld plötzlich nicht mehr zur Ver-fügung stand. Ursache war die Banken- undWirtschaftskrise, durch die seine Möglichkeit,den Kindern ihre Ausbildungen zu finanzie-ren, dahin schwand. Es handelte sich um eini-ge Tausend Euro, die da plötzlich verschwun-den waren. Während wir da gemeinsam gin-gen und miteinander sprachen, dachte ich:„Merkwürdig. Irgendetwas habe ich mit die-sem Vorgang zu tun – aber was?“Zunächst einmal berührte es mich persönlich,berührte es mich als Mensch. Es berührtemich, weil ich überall in den Nachrichten vonsolchen Vorgängen gehört hatte, und jetztberührte es mich, weil er, mein Nachbar, inder Situation war.Natürlich könnte ich sagen: Ja aber – er hatdas Geld angelegt, das ist sein persönliches

Problem. Warum spekuliert er, noch dazu mitseinen Ersparnissen? Und trotzdem, ichkenne seine Kinder, ich erlebe diese Betrof-fenheit.Und in diesem Moment stellte sich mir dieFrage: „Ist das Erlebte, das von ihm Durchleb-te eigentlich seine ganz persönliche Schick-salssituation? Hat er das, was geschehen ist,allein mit sich auszumachen? Ist das in seinerBiographie, in seiner Entwicklung jetzt einpersönlich zu verantwortendes Schicksals-ereignis? Etwas, was persönlich ursächlich,sozusagen karmisch verursacht ist, was ausseiner Vergangenheit entstanden ist?Oder ist das vielleicht etwas, was nicht ihnallein, sein individuelles Schicksal, seine eige-ne Entwicklung, sondern darüber hinaus auchuns alle betrifft? Was haben wir alle mit derWirtschaftskrise zu tun?Oder, jetzt springe ich in eine andere Situa-tion, die Sie möglicherweise auch erlebthaben, ich gehe über zu den Ereignissen inJapan nach dem Tsunami.Sie haben vermutlich alle die Bilder in denMedien gesehen. Da sitzt eine Frau auf denTrümmern ihres Hauses, Verwüstung überall.Und dann kommen die Reporter und fragen:Sagen Sie, was fühlen Sie jetzt gerade? Unddann sitzt sie da und sagt: Ich suche meinenMann, der ist weg, das Haus, der Mann …Und ich war berührt von diesen Bildern, undhabe mich auch hier wieder gefragt: Ist daseigentlich ihr persönliches Schicksal, ihre per-sönliche Lebensprüfung? Oder ist das überihre persönliche Situation hinaus etwas, wasuns alle als Menschheit betrifft? Habe ichdamit etwas zu tun? Oder noch anders: wenn man das ganzeDrama weiter verfolgt und sieht da in derReaktorruine die Menschen herumlaufen, dieversuchen, das Kühlwassersystem wieder inGang zu bringen. Lauter Strahlenopfer mitfurchtbaren gesundheitlichen Folgen. Hängtdas, was sie da tun, mit ihrem persönlichenSchicksal zusammen?Ich habe wirklich den Eindruck, dass bei die-sen Erlebnissen, die man da vor sich habenkann, bis hin zu den Bauern irgendwo in Süd-amerika, die eigentlich nicht mehr von dem,was sie produzieren, leben können, nichtmehr genug zu essen haben, weil wir uns denBiosprit in den Tank füllen.Ich habe den Eindruck diese Vorgänge sindursächlich nicht mehr auf ein persönlichesSchicksal zurückzuführen. Hier zeigt sich eineSchicksalssignatur, mit der ich selber auchverbunden bin, von der ich selber auch ein Teilbin. Oder ich könnte noch radikaler sagen:Merkwürdigerweise ist es gegenwärtig in die-sem noch sehr anfänglich beginnenden 21.Jahrhundert doch irgendwie so, dass das, was

da alles geschieht, die Folge von etwas ist,dessen Ursache nicht mehr im individuellenSchicksal liegt, dass da aber ein menschheit-licher Zusammenhang besteht, und dass ichselber Teil von diesem gesamtmenschheit-lichen Zusammenhang bin.Gemeint ist, dass es hier nicht mehr um einepersönliche Situation geht, die in dem indivi-duellen Schicksal urständet, sondern dass esein Zeitschicksal gibt, in das wir gegenwärtigimmer mehr verwoben werden. Und die Ent-scheidung, ob dies oder jenes mit dieser oderjener Folge entsteht, die findet heute an derKasse im Supermarkt statt, wenn ich Kaffeeoder Textilien kaufe; die stellt sich dadurch, anwen ich meine Stromrechnung zahle und vie-les mehr.Also das sind Dinge, die einen in der Weltbetreffen, die mit mir, aber auch mit derMenschheit zusammenhängen.Und wenn ich sagen würde, etwas geht überein persönliche Schicksal hinaus in einMenschheitsschicksal über, dann ist da eineSchwelle, die wir überschreiten, die, somöchte ich mal sagen, folgendes aufzeigt:Ich kann seit dem Ende des letzten Jahrhun-derts oder dem Anfang dieses Jahrhundertseigentlich nur noch wahrhaftig leben, ichmeine, existenziell wahrhaftig, wenn ich das,was anderen Menschen geschieht, als Teilmeines eigenen Schicksals erfahren kann.Das gilt auch gerade dann, wenn es keinepersönliche Begegnung mit den Menschengibt, wenn die Folgen meiner Handlungenerst auf der anderen Seite des Globus sicht-bar werden. Hier komme ich mit meinemursprünglichen Schicksalsbegriff in Schwie-rigkeiten. Und trotzdem habe ich den Ein-druck, da geschieht etwas auch für mich alsAnthroposoph, wodurch deutlich wird: Jetztkommt eine andere Dimension, eine neue,die anders ist als das, was ich vorher alsSchicksalsbegriff für mich verstanden habe.Dieser neue Schicksalsbegriff beinhaltet fol-gendes: Vielleicht bin ich nicht mehr selbstder Verursacher eines tragischen Ereignissesund trotzdem geht die Welt nur weiter, wennich für die Folgen mit einstehe, auch inbezug auf das, was anderen Menschengeschieht. Anders formuliert bedeutet das:individuelles Karma ist Menschheitskarmageworden!Ohne diese Bewusstseinsveränderung, sofühle und so empfinde ich, geht eigentlich dieWelt nicht mehr weiter. Wir sind mitschuldigals Zeitgenossen für die menschheitlich ver-ursachten Miseren, Probleme und Katastro-phen. Das ist die Lebensprüfung der Gegen-wart. Das ist das Neue im 21. Jahrhundert, daswir geisteswissenschaftlich verstehen kön-nen, verstehen müssen, wenn die Mensch-

Lebensprüfung und Menschenwürde– die zweifache Schwelle des Ich

Mechtild Oltmann, Michael Schmock, Gottfried Stockmar

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t 13

heitsentwicklung fortschreiten soll. Das isteine neue Art von Lebensprüfung, die in derBiographie des modernen Zeitgenossen ent-steht – und Menschenwürde wird hier zurMenschheitswürde.So weit ein erster Versuch, in einen Bereichpersönlicher Lebensfragen und Schwellensi-tuationen einzusteigen.

Stockmar: Wir haben eine lose Verabredunggetroffen, dass wir in dieser jetzt stattfinden-den Reihenfolge kurze Beiträge geben unddann werden wir sehen, was entsteht.Mir ist jetzt gerade an der Darstellung vonMichael Schmock spontan in den Sinngekommen, dass eine Dramatik in den Myste-riendramen zwischen dem Vorspiel und demeigentlichen Mysteriendrama liegt.Wenn man solche Schilderungen von Situa-tionen dieses Familienvaters hört oder ebenauch in Fukushima die Schicksale, das hatHerr Schmock selber auch gesagt, dann istdas zunächst mal so, dass die dargestelltenSituationen Szenen des Theaterstückes „DieEnterbten des Leibes und der Seele“ angehö-ren könnten. Und wo sind eigentlich die tiefe-ren Ursachen oder die tieferen menschlichenund auch mit der Natur in Zusammenhangstehenden Ereignisse zu suchen?Und ich würde gerne den Anfangsbeitrag inein Spannungsverhältnis setzen, vielleichtauch vor diesem Hintergrund, und zwar aus-nahmsweise persönlich –, etwa: wo ich an

bestimmte Grenzen meiner Biographie gesto-ßen bin im Zusammenhang mit der Anthro-posophie und der AnthroposophischenGesellschaft.Das könnte ich ganz kurz so zusammenfas-sen, dass ich jahrzehntelang ein doch sehrdeutliches Bestreben hatte und eine starkeSehnsucht, mich erkenntnismäßig mit derAnthroposophie auseinander zusetzen.Auch mit bestimmten Schwerpunkten, daswerden viele kennen, die Freiheitsfrage ist fürmich schon eine der wichtigsten Fragen –,aber eben vor allen Dingen mich erkenntnis-mäßig einzuleben in die Vielfalt der Anregun-gen, die Rudolf Steiner gegeben hat.Aber auch zunehmend mit dem Gefühl, ichbringe mich selbst in eine Situation dadurch,die ich kennzeichnen möchte als eine Art„beredte Unwirklichkeit“.Also man kann, wenn man sich viel mitAnthroposophie beschäftigt, eigentlich zuallem und jedem etwas sagen. Das ist garnicht abfällig gemeint, sondern das ist einganzer Kosmos, der für mich immer nochbrennend interessant ist, aber ich komme ineine Situation eines riesigen Horizontes, unddennoch einer fehlenden Verbindung mit derLebenswirklichkeit.Und das ging bis zu der Zeit, als ich auch nochVorstand in der Deutschen Landesgesellschaftwar und auch andere Dinge getan habe. Undes wuchs in mir das Bedürfnis doch in dieWirklichkeit einzutauchen.

Und dann habe ich ein Projekt in Ganggesetzt, Herr Schiller hat es angedeutet,eigentlich nur noch Bedingungen herzustel-len für eine sich selbst aussprechende Wirk-lichkeit.Und jetzt im Moment stehe ich in der Situa-tion, dass ich, das ist jetzt sehr drastischgesagt, sozusagen in eine „stumme Wirklich-keit“ eingebunden bin. Eine Wirklichkeit, diedurch irgendwelche Hindernisse nicht zumSprechen kommt, nicht zum Erkennenkommt.Das ist auch biografisch ein Nacheinander-Erlebnis, vielleicht muss man sogar sagen,wenn man in diese Extreme geht, in dieErkenntnis auf der einen Seite, in die Lebens-wirklichkeit auf der anderen Seite, vielleichtmuss man es dann letzten Endes Leben nen-nen. Wobei die Frage ist, was jeweils eigent-lich die Brücke bildet. Da will ich vielleichtnachher noch kurz darauf zu sprechen kom-men.Eines jedoch zieht sich durch mein Lebendurch, und das ist die Frage der menschlichenBegegnung.Ob nun in der stummen Wirklichkeit oder inder beredten Unwirklichkeit, immer bin ichMenschen begegnet, und für mich ist durch-gehend eigentlich die Frage, was sehe ich, wasnehme ich wahr, wenn ich einen Menschenwahrnehme.Und das ist auch letztlich mein Hauptthema.Von Friedrich Schiller kommt dieses Wort:

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t14

„Wenn man einen Menschen sieht, sieht manFreiheit und denkt Notwendigkeit.“Also gibt es Wirklichkeitsbereiche, wo manetwas erfährt, wo man etwas wahrnimmt, wasman noch nicht zu denken in der Lage ist.Und gibt es auf der anderen Seite eben Idealeoder moralische Ideale oder anderes, Berei-che, wo man noch nicht in der Lage ist, dassdas wirklich sichtbar oder lebbar wird oder indie Wirklichkeit eintaucht.Eines aber scheint mir da wie herausgehoben,und das ist der Mensch selbst. Und ich sagedas jetzt hier einfach mal so.Rudolf Steiner hat, was das Wahrnehmeneines anderen Menschen angeht, sehr vieleMetamorphosen in seiner eigenen Biographiedurchgemacht und ich will mal die letzteMetamorphose ganz kurz sinngemäß darstel-len.In den letzten Michael-Briefen sagt RudolfSteiner: „Feierlich sollte es stimmen, ein Gei-stiges mit physischen Sinnen in der physi-schen Welt als Menschengestalt wahrzuneh-men.“Nun habe ich mich gefragt, wie ist das?Nehme ich nun physisch wahr oder ist dasgeistig? Oder wie ist das nun eigentlich, wassehe ich, was nehme ich wahr, wenn ich einenMenschen wahrnehme?Und jetzt meine ich nicht nur die äußereOberfläche oder – wie gestern angedeutetwude – den Scherenschnitt, also diese Linie,sondern alles, was ich am Menschen wahr-nehmen kann.Und Rudolf Steiner geht so weit – Stichwort:„Die Sendung Michaels“ –, dass er sagt: Wennich einen Menschen wahrnehme, nehme ichnichts Sinnliches wahr. Und doch ist dieserMensch in der Sinneswelt.Und zu diesem Wahrnehmen gehören derUmriss, die Flächengestaltung, die Aufrichte,die Hände, die Gestalt, aber auch das wassozusagen nicht nur statisch ist, sondern dasSprechen, wie gestern angedeutet, dass derMensch ausdrucksfähig ist. Ich würde sogarso weit gehen, dass diese Gestalt in gewisserWeise schon die Veranlagung der Freiheitselbst ist, und zwar nicht als Idee, sondern alsWirklichkeit.Dass auch das Ich nicht irgendein philoso-phischer Gedanke ist, sondern dass das Ichetwas mit der Gestalt zu tun hat – bis übri-gens zu der Frage, was ist eigentlich dasPhantom?Gut, das ist sozusagen die mittlere Situationund ich stehe im Moment in der Fragestel-lung: Wie können Bedingungen hergestelltwerden, dass das, was in der Gestalt des Men-schen veranlagt ist, sich ausleben kann?Und das hat zum Beispiel sehr viel zu tunauch mit der Frage der sozialen Dreigliede-rung.Heißt Lebensprüfung, dass man sich irgend-wie mit der heutigen Gesellschaft ausein-andersetzen muss und da irgendwie seinenMann oder seine Frau stehen muss? Oderheißt Lebensprüfung: Wo finde ich und wiestelle ich die Bedingungen her, dass ich men-

schenwürdig leben, miteinander in Beziehungtreten, geistig arbeiten kann.Vielleicht erst einmal so weit.

Oltmann: Die Schwelle ist das wichtigsteMotiv, über das sich Gedanken zu machenlohnt. Es gäbe die Anthroposophie nicht,wenn das nicht eines ihrer zentralen Themenwäre. Die Schwelle beinhaltet, dass die Weltsich verändern kann, dass Menschen sich ver-ändern können, dass es Entwicklung gibt.Die Frage ist also: Was verändert sich zuBeginn des 21. Jahrhunderts und verändertsich gegenüber allem, was noch vor 100 Jah-ren war? Was kommt dazu, was ist nicht mehrda, wie kann man das erfassen und was ist dasEntscheidende in der Gegenwart an diesemMotiv?Zunächst kann man die Schwelle im Raumbetrachten, ein Übergang zwischen getrenn-ten Räumen, andererseits gibt es sie in derZeit, im Jahreslauf im Lebenslauf oder zwi-schen ganzen Epochen.Seit einiger Zeit beobachte ich das Geschehenin dieser Hinsicht bei den Festeszeiten: ichsitze in meinem Zimmer am Heiligen Abend,es ist still, ich habe keine Ablenkung, weder inWeihnachtsschmuck noch in Engelgesangirgendwo, da bemerke ich, dass es greifbarnahe kommt, eine Art Bugwelle, in der sichetwas gegenwärtig ankündigt, eine Art direkteintretender Advent, mit voller Kraft undWucht, die sich dann oft ebenso dramatisch –manchmal auch gegen äußere Widerstände –in die Mitternachtsstunde ergießt.Ähnlich erlebe ich das auch oft vor Ostern, inder Karsamstagnacht, wenn ich mir vorstelle,wo auf der Erde jetzt schon Ostern ist, wiekommt es heran und wie lange wird es dau-ern, bis es dann am Abend auch in New Yorkangekommen ist. Eine Bugwelle im Reich derZeit, die um die ganze Erde geht.Als ich zuerst auf diese beiden Schwellen inder Zeit aufmerksam geworden bin, habe ichmich gefragt, ob und wie man so etwas auchin der Biographie erkennen kann. Auch dagibt es Bugwellen an einer Schwelle.Manchmal ist es deutlich zu erleben, bevor einMensch stirbt oder bevor ein Kind sich inkar-nieren möchte. Es gibt auch „Nachwellen“ beibesonderen Ereignissen und nicht unerheb-lich ist es, das zu bemerken. Wir kennen dasPhänomen des Tsunami eigentlich schonganz lange – geistig.Eine Schwelle ist eine Art „geflügeltes“Wesen, es gibt ein Hüben und Drüben, einWesen, dass sozusagen „einen Fuß auf demLand und den anderen auf dem Meer“ hat.Die beiden Ufer sind einander jetzt wohlnäher gekommen, es gibt im alten Sinn keinDiesseits und Jenseits mehr, gestern wurdesogar gesagt, es sei in mancher Beziehungnicht mehr so entscheidend, als ein geistigesWesen nach dem Tod oder im Leben auf derErde sich zu finden.Ich verstehe ganz, was damit gemeint ist,möchte es aber doch nicht so stehen lassen.In dem von Goethe so grandios beschriebe-

nen Zwischenreich des „Übergänglichen“befindet sich trotz aller Nähe und Annähe-rung beider Reiche dazwischen der Abgrund,die Leere, das Nichts, der Tod. Genau hierscheint sich jetzt, Anfang des 21. Jahrhun-derts, etwas zu verwandeln. Der Abgrundwird Gegenwart und die Gegenwart wird voneinigen Menschen neu erforscht und fälltüberhaupt ganz neu ins Gewicht.Ich möchte zwei Beobachtungen schildern,die das bestätigen, zwei Forscher, die auf ganzunterschiedlichen Stufen, aber neu, das Phä-nomen der Gegenwart bearbeiten, derGegenwart als Augenblick. Man hat sogar dieZeit bemessen, in der der Mensch überhauptGegenwart erlebt, es sind 30 Sekunden! Bevor ich es beschreibe, möchte ich es miteiner weiteren Frage einleiten: Zu den häufigzitierten Aussagen Steiners gehört der Hin-weis darauf, dass die Menschheit seit Endedes 19. Jahrhunderts unbewusst über dieSchwelle der geistigen Welt geht oder gegan-gen ist. Auch die Folgen, die das hat, werdenbeschrieben und erfahren. Die Frage ist jetzt,was kommt danach? Könnte es sein, dass jetztallmählich der Weg des Aufwachens, desBewusstwerdens an dieser Stelle beginnt?Das könnte heißen: zu erwachen für dasNichts, den Tod, die Leere; wach zu werdenund dadurch gegenwartsfähig.Alain Ehrenberg4, Soziologe und Philosophan der Sorbonne, beschreibt, wie das 20.Jahrhundert stark und berechtigt in die Ver-gangenheit schaut, z.B. auf die Entdeckungder Biographie als aus der Vergangenheit dieGegenwart bestimmend. Das war dieMethode der Psychoanalyse, und es gab zuFreuds Zeiten auch die Krankheiten, durchwelche er auf diese Methode kam und durchdie man dann mit ihr arbeitete. Jetzt gibt esneue Krankheiten, die nicht mehr Neuras-thenie, Migräne und Hysterie heißen, vorallem eine sehr verbreitete, die Depression.Hier würde der Blick und die Aufarbeitungder Vergangenheit weniger helfen, als dieunmittelbare Erkraftung der jeweiligenGegenwart, das Hier und Jetzt, die Hilfe, sichda neu zu ergreifen und zu finden. Es istübrigens auch in der Suchttherapie einwesentliches Moment, sich sagen zu lernen„heute nicht!“Ein zweiter Autor, der Pädagoge ist, EugenSorg5, hat über das Böse geforscht und dabeiherausgefunden, dass viele Ausbrüche vonGewalt, Terroraktionen oder Amokläufennicht zu erklären sind aus der Vergangenheiteiner Biographie oder der Computersucht beiJugendlichen, was diese selbst auch immerbetonen, sondern dass es seit einiger Zeitwohl eine neue Art der schieren „Lust amBösen“ gibt, die ja dieselbe war in den Verbre-chen der Nazizeit, die niemand aus der bio-graphischen Vergangenheit erklären würde,die im Augenblick entsteht und auch solcheMenschen erfasst, von denen andere dann

4 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Suhrkamp 2008 5 Eugen Sorg, Die Lust am Bösen, Nagel & Kimche 2011

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hinterher sagen „Ausgerechnet der!“. DieEntstehung dieser Lust stammt heute oftmalsaus dem Leiden an unerträglicher Leere undan dem Nichts, der Sinnlosigkeit und Inhalts-losigkeit der jeweiligen Gegenwart.Natürlich werden solche Taten auch oft langevorbereitet, manchmal geschehen sie aberauch ganz spontan, vielleicht noch nicht ein-mal ganz bewusst, so dass der Täter selbsthinterher erschrickt über das, was er getanhat.Um das noch einmal von einer anderen Seitezu betrachten, ist eine anthroposophischeErkenntnis äußerst hilfreich und erhellend.Es ist die Charakterisierung der vier Wesens-glieder im Hinblick auf ihre Rhythmen: Derphysische Leib hat den Rhythmus von einemJahr, der Ätherleib von vier Wochen, derAstralleib von einer Woche, und in derGegenwart, d.h. im Heute, im Rhythmus vonTag und Nacht, lebt das Ich.6 Alle Erfahrungendes Nichts, der Leere, der Unerfülltheit rufennach dem neuen Erwachen dieses Ichs als des„Meisters“ der Gegenwart, das erwachenkann für Geistesgegenwart, für Selbst-Gegenwart.Auf solche Momente – die natürlich nichtlange dauern können, dann würde derMensch verbrennen –, aber auf bestimmteAugenblicke, sagt Ehrenberg, sollte man aucheinmal rückblickend schauen, da, wo blitzartiggehandelt worden ist, aus einem Augenblickheraus. Jeder, der Auto fährt, kennt das: Sollich jetzt auf die Bremse treten oder auf dasGas? Das kann lebensentscheidend sein ineiner Sekunde. Wer entscheidet da eigentlich?Er vermutet, dass man fast immer richtig han-delt in solchen Momenten. Wenn man über-legt, macht man es eher falsch.Es gibt die Erfahrung, dass etwas aus mir spre-chen kann, was aus einem neuen Bewusstseinstammt, das mir selber bisher noch gar nichtbewusst war und auf das ich auch nicht rech-nen kann, das aber ganz aus gegenwärtigerWachheit stammt. Das wahre Ich ist insofernselbst eine Art Risikofaktor, als es nicht konti-nuierlich mit mir verbunden ist, das würde jetztnoch niemand ertragen, es ist aber herbeiruf-bar. Wenn das geschieht und eintritt, dannwirkt es immer inspirierend. Diese Inspirationist dann keine des Gedankens, keine des Wor-tes, auch nicht des inneren Wortes, es inspiriertdie Tat.7 Für solche Vorgänge und Verwandlun-gen aufzuwachen, in denen von der anderenSeite der Schwelle etwas hereinkommt, scheintmir die zentrale Gegenwartsforderung zu seinund eine Zukunftshoffnung, denn mit all demwird auch eine neue, eigene Verantwortungentstehen können.Lassen Sie mich bitte am Ende noch eineshinzufügen: Ja, die Welt und das Leben in ihrsind prekär geworden, Katastrophen überall,in verschiedensten Bereichen. Vielleicht mussdas so sein, vielleicht sind manche davon

Wehen zur Geburt dieses neuen Bewusstseins,mit dem das Ich des Menschen in die Wirk-lichkeit des Geistes hinein erwacht, überalldort, wo Schwelle ist und wo bisher Unbe-wusstheit war.Wenn das als eine Hoffung verstanden wer-den kann für die Zukunft, so möchte ich esnennen: die Menschheit wird abgrundfähig.

Schmock: Ja, ich hatte ein inneres Mitgehen beiIhren Ausführungen über den Abgrund unddie Leere, die Depression, die Schwellensitu-ation, die Ich-Wesenheit, das neue Bewusst-sein, die Hoffnung, und dann die Ich-Tat.Und jetzt: Ich versuche im Nachvollzug daskonkret zusammenzubringen mit dem, wasGottfried Stockmar beschrieben hat, was inder unmittelbaren Begegnung von MenschenWirklichkeit ist, Ich-Tat ist.Ich versuche das zu verbinden mit demThema, das Gottfried Stockmar angesprochenhat, wo uns ja ein geistig-physisches Gegenü-ber als Mensch da ist, auch als Ich-Mensch,und ich trotzdem mich fragen muss, ob ich eswahrnehme, ob ich es sehe, ob ich begeg-nungsfähig bin .Um diese Frage mal zu nehmen und dann mitder Ich-Tat zu verbinden: Ist meine IchTat,dass ich den anderen in seinem Ich, in seinergeistig physischen Realität wirklich wahrneh-me, ist das mit der Gegenwärtigkeit gemeint?Also, ist da etwas, was ich konkret wahrneh-me? Kann ich da etwas wahrnehmen, oderbleibt es verhüllt?Also, wo ist da diese Gegenwärtigkeit in derBegegnung, die Gottfried angesprochen hat?Wo seht Ihr die? Wie ist sie beschreibbar?

Stockmar: Naja, die Dinge sind schwierig. Ichhabe gerade so ein Erlebnis an dem Ort, woich jetzt bin, gehabt, das intensiv um diesenGegenwartspunkt gerungen hat. Wann bin icheigentlich wirklich gegenwärtig. Und dasheißt aber für mich eine massive Ausein-andersetzung mit der Vergangenheit unddann die Frage, mit was eigentlich setze ichmich da auseinander. Und eine ganz andereAuseinandersetzung mit der Zukunft. Ich willihnen ein Wort von Steiner aus einem Notiz-buch – sinngemäß – sagen: „Vergangenheitnicht wissen und aus ihr wollen macht denMenschen unfrei und treibt ihn in die ArmeLuzifers. Zukunft unwollend wissen schnürtden Menschen von der Realität ab und treibtihn in die Hände Ahrimans.“ Also auch dieses ganze Motiv, was gestern soangeklungen ist: Denken ist weder gut nochschlecht, sondern man müsste schon genauaufpassen, wo man eigentlich zu denken hatund wo man mal aufhört zu denken, das sindsehr verschiedene Bereiche.Was Rudolf Steiner da anspricht ist: ich mussschon die Vergangenheit wissen, um nicht ausihr unbewusst bestimmt zu werden. Und jetztsage ich diesen, nochmal diesen Blick aufeinen Menschen. Da sagt Rudolf Steiner: Wieviel sitzt in uns unbewusst, was uns sagt, dasist eigentlich gar kein Mensch, sondern das ist

irgend so ein Viechelchen, das kommt allesaus diesem Unbewussten was sich sozusagenaus der Vergangenheit in den Blick des Men-schen gegenwärtig hereinmischt.Und das Denken hat eine sehr große Aufgabe,mit der Vergangenheit fertig zu werden, sie inden Tod zu bringen, so sagt es Rudolf Steinerauch.Dieses Denken hat auch nicht viele Möglich-keiten in die Zukunft zu gehen, denn sonstwird es auf der anderen Seite schwierig.Und wie gesagt, jemand sagte dann einmal:„Ich habe Frieden geschlossen zwischen Ver-gangenheit und Zukunft.“ Das war eine Situ-ation, es war eine Situation und das habe ichbegleitet –, dass ein Mensch sozusagen ver-sucht, seine Vergangenheit zum Schweigen zubringen. Und das ist sehr viel – sehr, sehr viel.Wie viel Katholisches hängt noch drin, wieviel altes Testament hängt noch drin, wie vielPreußisches hängt noch drin usw.Und dann in die Situation zu kommen, dassman wirklich gegenwärtig einem Menschenbegegnet ohne Erwartung, ohne Forderun-gen.Ein Motiv der Gegenwart ist für mich zumBeispiel auch: Ich habe Sehnsucht nach Men-schen, die bei sich sein können. Friede, auchein Wort Steiners, Friede wird erst sein, wennjeder Mensch bei sich sein kann.Vielleicht sogar so weit, ich muss eigentlichnichts sagen, aber ich könnte.

Oltmann: Man darf vielleicht dieses Beispielvon Herrn Schmock auch umkehren: wassehen eigentlich andere an mir.Ich schlage vor, sich zu fragen: Wie empfindeich es, wenn ein Anderer mich ansieht, jemand,den ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen habeund ich spüre, der verwechselt mich mitjemand anderem. Ich meine jetzt, er siehtschon mich, aber nicht gegenwärtig. Es ist eineunglaubliche Beleidigung, mit seiner eigenenVergangenheit verwechselt zu werden.Deswegen meine ich, man fühlt sich docheigentlich nur von einem Menschen wirklichgesehen, wenn er das sieht, was die Vorstel-lungen aus der Vergangenheit durchdringenkann.Die Ich-zu-Ich-Begegnung ist eigentlich nurmöglich in dem gegenwärtigen Augenblick,sonst sieht man wie ein Mensch von außenist, ob er krank ist, wieviel er durchgemachthat, was er auf dem Buckel hat, man kann jaalles mögliche äußerlich aneinander sehen,aber derjenige, der man ist, den sieht man nurvon Ich zu Ich und immer im gegenwärtigenAugenblick. Das ist dann immer ein Augen-blick der Freiheit.Ob man da gleich den Frieden findet, da hätteich Fragen, ich bin da eher beunruhigt.

Stockmar: Sie sind beunruhigt, wovon?

Oltmann: „Der Preis für die Identität des Ich istdie ständige Beunruhigung des Herzens“,weil eben, glaube ich, dieses unsterbliche Ichan uns kein Dauerbewohner ist, sondern

6 Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, GA107, Dornach 20117 R. Steiner „Die Schwelle der geistigen Welt“, GA 17, Dornach1956

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einer, der ein Paraklet ist, ein herbeigerufenesWesen, mit ihm ist immer ein Risiko verbun-den , das „ Vielleicht“, das „Wie lange noch?“,oder das „ Kommt es?“. Das ist ein sensiblerBereich, aber das ist der Frieden auch in Wirk-lichkeit. Das ist sicher, dass es den „ewigen“Frieden im Leben auf der Erde gar nicht gibt.

Stockmar: Ja, dann käme da der Kopf, der suchtnach einem ewigen Begriff des Friedens.Der Kopf sucht nach einem ewigen Begriff desFriedens, das Herz sucht vielleicht mit Sehn-sucht nach Frieden und der Wille, an denWillen ist eigentlich die Frage gestellt, was istFriedensfähigkeit. Genauso wie man nachFreiheitsfähigkeit fragen kann. Und ich glau-be, da ist schon in dieser Abfolge immer einSpannungsverhältnis. Man kann nichtirgendwie einen Frieden statisch hinkriegen.Das geht nicht, so wie die Gegenwart auchnicht wirklich statisch ist, sondern sie ist auf-gespannt zwischen Zukunft und Vergangen-heit.Und ich glaube auch, dass – letzlich habe ichdas schon angedeutet – Leben heißt, inGegensätzen, in Widersprüchen, in Pendel-schlägen Leben entfalten zu können. Undeine Friedensfähigkeit muss, glaube ich, per-manent entwickelt werden.

Schmock: Vielleicht insbesondere dann, wenn– wir waren ausgegangen von dem anderenMenschen – wenn der Andere wirklich andersist als ich selber!Denn über Frieden lässt sich ja gut reden, undebenso über Harmonie, wenn man irgendwieeinschwingt, wenn das Miteinander einfachda ist. In dem Moment, in dem etwasgeschieht, was unerwartet ist, was anders ist,was mich vielleicht auch ärgert, was vielleichtnicht meinen eigenen Seelengesten, meinen

Gedanken, meinen Denkgewohnheiten ent-spricht, was einfach anders ist, auch mit einergewissen Radikalität anders ist. Dann kann estrotzdem sein, dass ich den Eindruck habe, dagibt es die Kraft des Offenlassens, die Kraft,die möglich macht, dass ich diese Andersar-tigkeit, diese Merkwürdigkeit annehme, ohne– und jetzt würde ich , wenn ich das seelischanschaue, sagen – ohne Angst davor zuhaben.Weil eigentlich alles, was irgendwie anders ist,merkwürdig ist und ganz eigen ist, in mirauch etwas auslöst, was mich verunsichert,was mich verängstigt. In der Folge kommtman dann so ein bisschen in dieses „Wegkip-pen“ aus dem offenen, gehaltenen Raum her-aus in dieses Ängstliche. Und dann halte ichmich irgendwo fest, und das ist ja schon imGespräch so, wenn ich mich darauf einlasse,was jemand anderes sagt. Eigentlich halte ichmich ständig irgendwo am Tisch fest. Undjetzt zu sagen, nee, ich lasse das offen. Insbe-sondere auch dann, wenn das, was kommt,wirklich anders und fremd ist.Es geht um diese Kraft. Irgendwie hängt diedamit zusammen, dass ich etwas zulasse, wasvorher nicht in meinem Horizont war und esaushalte und mich dazu stelle, ohne michzwanghaft an etwas festzuhalten oder einfachwegzulaufen. Also, wir müssen das irgendwiemiteinander in Beziehung bringen. Entstehteigentlich in dieser Situation etwas Neues?

Oltmann: Die Angst gehört zu der Bugwellevor der Schwelle, die ist überhaupt nicht zuvermeiden, die ist da, es gibt auch niemanden,der sie nicht hätte.Sie kann ganz verschieden auftreten, aber dasgehört zum Leben dazu, es wird sogar imEvangelium ausgesprochen als Diagnose –Menschheitsdiagnose: „In der Welt habt ihr

Angst…“ Es wird nicht gesagt, ihr brauchtdoch keine Angst zu haben, „alles wird gut.“Das ist die Bugwelle vor der Schwelle – daranerkennt man: jetzt kommt es. Und dannwackelt die Erde. Die Fähigkeit erlernen zukönnen, in solchen Momenten zu stehen, dasist, glaube ich, neu – und zwar aus dem Inner-sten eine Kraft wahrnehmen zu können, diesich in einem solchen Augenblick einstellenkann.

Stockmar: Ich würde das gerne vielleichtdadurch ergänzen, dass ich auch noch einSchwellenproblem dazustelle, und das ist dieSchwelle zwischen Erkenntnis und Wille.Denn das ist, glaube ich, eine der dramatisch-sten Schwellen. Der Mensch hat eigentlich insich den ganzen Kosmos, der ist nicht irgend-wo da oben über einer Grenze. Und vonRudolf Steiner stammt, ich will das nurdadurch schneller deutlich machen, an einerStelle bei Nikolaus von Cues hat er dasbeschrieben, wie der an einer bestimmtenStelle stand, an so einer Schwelle, wo er dreiMöglichkeiten eigentlich hatte: Das eine ist,an dieser Schwelle zu verzweifeln, dann bleibtman sozusagen in dem Raum der Schwelleirgendwie hängen, oder der Zweifel ist ja viel-leicht noch aktiv, aber die Verzweiflung isteigentlich ein kollabierter Zweifel.Dann ist die zweite Möglichkeit des Rück-wärtsgehens, wieder zurück von der Schwel-le, was man übrigens außerordentlich gut fri-sieren kann auch dahin, dass man über dieSchwelle gegangen ist. Und die dritte …

Oltmann: Wie? Das verstehe ich nicht, noch-mal.

Stockmar: Man geht rückwärts und bildet sichein, dass man vorwärts geht. Das geht doch

Michael Schmock, Gottfried Stockmar, Mechtild Oltmann

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wunderbar. Das kann jeder auch nur mit sichselber abmachen, wie das so ist.Und dann tauchen eben zwei Orte auf, wo ersagt, an dieser Stelle gibt es dann eine dritteMöglichkeit, und das ist weder Erkenntnisnoch Wille, sondern Mut und Vertrauen.Mut und Vertrauen.Und ich glaube es geht sogar bis zur Dreiglie-derung. Ich weiß, dass das hundert-tausend-fach besprochen worden ist. Aber eine Sachehat Rudolf Steiner einmal gesagt in bezug aufdie Dreigliederung, ich meine jetzt die sozialeDreigliederung: Es ist die Brücke nicht gefun-den worden zwischen der Erkenntnis unddem mutigen Willen. Das ist der eigentlicheGrund des Scheiterns. Nicht dass die Men-schen zu wenig erkannt hätten oder so etwas,sondern dass diese Brücke nicht gefundenwird.Und ich habe das häufig gesagt, alles mussüber das Herz gehen, alles – nichts geht amHerzen vorbei.Und das meine ich bis in das Menschenkund-liche, das hat nichts mit Sentimentalität zutun.Und das ist eine Frage eines Bereiches, der jaim Halbdunkel liegt. Was heißt eigentlich Mutund was heißt Vertrauen? Vielleicht auch inErgänzung zu dieser Frage der Hoffnungohne Vertrauen.Auch das ein Wort Steiners: Für das Vertrauengibt es im Sozialen keine Alternative. Null,nicht die geringste Alternative.Und er hat sogar einmal gesagt, in einerbestimmten Situation: Das ist gar nicht sowichtig, ob Sie alles wissen, aber wem ver-trauen Sie? Wem vertrauen Sie?Und das, meine ich, ist einfach ein Schwellen-bereich, der eben zwischen dem was die Hel-ligkeit der Erkenntnis ist und dem, was in derDunkelheit des Willens oft sogar das Gegen-teil von dem macht, was erkannt wird – dasLied kennt man ja auch schon. Ich wollte dasnur als Schwelle nochmal dazu fügen.

Oltmann: Es gibt ja überall mannigfaltige Bei-spiele in den Schicksalen davon, dass Men-schen aufwachen für Bereiche, in denen siebisher unbewusst waren. Auch in bestimmtenMomenten.Da spreche, handele, empfinde ich auf einmalvöllig aus mir selbst, nicht aus der Prägungeines Amtes, einer Gruppierung, zu der ichgehöre, auch nicht aus einer Verpflichtungheraus, sondern ganz frei.Es heilt etwas im eigenen Seelenwesen, wenndas Zusammenwirken der drei Seelenkräftewieder möglich wird, aber dann anders, alsgeschähe es, dass sich wieder wie „zusammen-stülpt“ sozusagen, was sich auseinander gefal-tet hatte. Das zu beobachten, finde ich sehranregend.Wie ist das mit der Identität zwischen Den-ken, Fühlen und Wollen in bestimmtenAugenblicken? Wo kann ich wirklich dastun, wo in der Welt kann ich wirklich dassagen und tun, was ich gerne sagen und tunmöchte?

Schmock: Das sieht sowieso keiner. Aber daswäre ja schon sehr merkwürdig, wenn ich vondiesem Äußeren, Rollenmäßigen, Funktiona-len ausgehe und dann sage, das hat einbestimmtes Gewicht und ist eine gewisseRepräsentanz, eine Realität, und die kommteinem da entgegen – merkwürdig. Aber wirreden ja hier von einer menschlichen, see-lisch-geistigen Identität. Wo entsteht eigent-lich diese Identität? Also wo bin ich ganzanwesend? Wo bin ich wirklich? Oder, mitWolf Ulrich Klünker: Worin besteht die Ich-Präsenz, die Ich-Form, wo ist das wirklichgegenwärtig?Ich habe den Eindruck, das lebt in diesemeben besprochenen Freiraum zwischenGehaltensein und Offensein. Also in Bezugauf die Vergangenheit, in Bezug auf die Votenanderer, in Bezug auf die Situation, geht esum dieses Offen-Sein und gleichzeitigeGehalten-Sein. Und ich frage mich, was hältda? Also, wenn ich mich auf das Abenteuerdieser Schwellensituation einlasse in Bezugauf diese Offenheit und mich nicht künstlichan etwas festhalte, was hält mich dann?Gottfried hat gerade eben gesagt, es ist nichtder Bezug zur Vergangenheit, zum Geworde-nen, also zu dem, was ich schon weiß, was ichbereits kenne, was ich schon immer sagenmöchte, was die äußere Funktion, die Formist, der Habitus ist, usw. Aber was hält mich?Und jetzt möchte ich das noch verkomplizie-ren, weil in dem Moment, in dem ich einGegenüber erlebe, in dem ich in ein Gesprächeintauche, in eine konkrete Lebenssituation,in dem Moment, in dem ich innerlich michauf etwas einlasse, mitgehe bei dem, was derandere sagt, was er spricht, dann bin ich nichtin mir gehalten. Ich halte mich eigentlichnicht aufrecht, sondern ich lebe mit, ich lebeganz ein oder – man könnte auch in RudolfSteiners Sinne sagen –, eigentlich schlafe ichein für mein eigenes waches Selbstbewusst-sein, was mich ja normalerweise wach hält.Und sich auf diesen Prozess einzulassen,undtrotzdem offen zu sein, um das Gehalten-Seinzu erleben, das ist ein Bewusstsein, das sichnur erfährt, wenn es nicht Ich-zentriert bleibt.Ich habe den Eindruck, wenn ich diesesAbenteuer dieser modernen Schwelle wirk-lich will, dann ist das, was mich innerlich hält,etwas Neues. Es entsteht oder es entstehtnicht. Und den Mut zu haben in der gegen-wärtigen Zeit, zu sagen, ich lasse es jetzt dar-auf ankommen, dass es entsteht, ist nichtselbstverständlich. Und das Verrückte ist, ichkann das nicht selber einfach machen. Odervielleicht doch? Es entsteht in dem Moment.Es ist eigentlich – fast möchte ich sagen, die-ses Neue, das ich nicht gemacht habe, es istauch hinzugefügt – es ist geschenkt. Oder ichkönnte sagen, es ist Gnade. Es wird mir gege-ben.

Oltmann: Ja, aber es hat eine Voraussetzung,dass ich es gedacht habe vorher als Möglich-keit. Dass ich es erwarte. Es kommt nicht übermich, es hat nichts mehr mit Unbewusstheit

zu tun. Es ist völlige Klarheit, kristallklar. Undich muss es offen lassen, ob es eintritt inbestimmten Momenten. Wesentlich ist,hinterher zu erkennen, wann und wo undwodurch hat es stattgefunden.Vorläufig ist man – wie immer – erst einmaldamit beschäftigt, wie es bei einem selbst ist,aber es ist entscheidend, es zu bemerken,wenn es bei Anderen eintritt, dass jemand –wie Sie sagen – „dabei“ ist.Wenn diese wache Aufrechte, dieser Halt wie-der hergestellt werden kann, wenn er einmalverlorengeht, dann erlebe ich es immer alsetwas, was mich von oben hält, nicht mehrvon der Erde her. Vielleicht könnten Euryth-misten darüber etwas sagen, wie man vonoben gehalten werden kann.In dem Moment, in dem man das erlebt, kannman eine Schulklasse innerlich aufrichten,indirekt. Mit der eigenen Intention den ande-ren aufrichten im Gespräch mit jemanden, derverzweifelt ist. Oder sich aufrichten lassen,wenn man selber verzweifelt ist. Das über-springt die Schwelle dann, oder das wandeltdann über die Schwelle.

Schmock: Ich habe da die Worte von PabloPicasso in Erinnerung: „Ich suche nicht – ichfinde“. Und damit meint er, er orientiert sichnicht an dem, was er schon im Bewusstseinhat, was er nur noch in der Realität suchenwill. Er blickt hier eher auf das Unerwartete,Neue. Nur das kann man finden, erfinden,auffinden. Das ist die neue Situation, die sichfür ihn aus einem künstlerischen Prozessergibt. Also, ich lasse das Gewusste,Vergange-ne los, und trotzdem bin ich gehalten, finde,erfinde das Neue, oder wie er auch sagt: DieseOffenheit für jede neue Erkenntnis, für jedesneue Erlebnis im Außen und im Innen, das istdas Wesenhafte des modernen Menschen, derin aller Angst des Loslassens doch die Gnadedes Gehaltenseins, im Offenbar-Werdenneuer Möglichkeiten erfährt“. Also seineSicherheit liegt darin, dass es eine Erfahrunggibt, die nicht schon bereits erfahren ist, dieneu ist. Darauf stützt er sich in diesem vor-sichtigen, subtilen Vorgang des Neuen in derBegegnung, in dem Zusammenwirken, indem künstlerischen Prozess. Es geht umnichts Geringeres, als darum, dass wir einenSchritt aus dem Vergangenen heraus tun, derin eine offene Zukunft führt, eine Zukunft, dienicht bereits gewusst bzw. vorgestellt oderfestgelegt ist, bevor sie überhaupt beginnenkann. Es geht um eine Ich-Wirklichkeit, dienach dem Loslassen beginnt und auf dasSchöpferische abzielt, ohne die Vergangenheitzu perpetuieren. Oder man könnte vielleichtauch sagen, dass heute die Lebensprüfungdarin besteht – im Sinne von Pablo Picasso –,sich auf das Abenteuer einzulassen, wirklichetwas Neues zu finden bzw. auch, sich selberneu zu finden! Ohne diese permanente Ich-Erneuerung, Ich-Findung geht möglicher-weise die Menschenwürde verloren.Vielleichtist das die Schwelle? Oder die zweifacheSchwelle, oder die hundertfache?

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Einleitung Schmelzer: Sehr geehrte Damen undHerren, zum Podiumsgespräch über dasThema „Anthroposophie zur Zeit des Natio-nalsozialismus“ möchte ich Sie sehr herzlichbegrüßen. Mein Name ist Albert Schmelzer,ich bin in der Waldorflehrer-Ausbildung inMannheim tätig.Besonders begrüßen möchte ich dieGesprächsteilnehmer auf dem Podium. Da istzunächst Frau Oltmann, Pfarrerin der Chris-tengemeinschaft in Berlin und Dozentin amPriesterseminar in Stuttgart. Frau Oltmannhat sich mit der apokalyptischen Dimensiondes 20. Jahrhunderts und dem Widerstandgegen den Nationalsozialismus beschäftigt.Dann möchte ich Herrn Bodo von Platobegrüßen, er ist Mitglied des Vorstandes derAnthroposophischen Gesellschaft am Goe-theanum und hat zusammen mit Götz Dei-mann, Christoph Lindenberg und Karl-MartinDietz die Forschungsstelle Kulturimpuls zurErforschung der Geschichte der anthroposo-phischen Bewegung aufgebaut und bis 2001geleitet; in diesem Kontext hat er verschiedeneAspekte unserer Thematik bearbeitet.Mir zur Rechten sitzt Herr Michael Rißmann,er ist Historiker und hat die viel beachteteStudie „Hitlers Gott“ vorgelegt, in welcher erdie religiösen Dimensionen des Nationalsozi-alismus aufzeigt.Schließlich begrüße ich Herrn Uwe Werner,Archivar am Goetheanum und Autor desumfangreichen Buchs „Anthroposophen inder Zeit des Nationalsozialismus“; in jüngsterZeit hat er zudem die Studie „Rudolf Steinerzu Individuum und Rasse“ veröffentlicht.Das Gespräch, das wir vorhaben, möchte soetwas sein wie eine gemeinsame Bewusst-seinsbildung: Wir möchten uns Rechenschaftgeben über die Stellung der Anthroposophieund das Wirken von Anthroposophen in derNS-Zeit – nicht im Sinne einer besserwisseri-schen Bewertung, schon gar nicht einer Beur-teilung oder Verurteilung, aber doch im Sinneeiner Schärfung der Urteilsfähigkeit.Die erste Frage würde ich gerne an alle geben:Wie würden Sie aus der Distanz, die wir jaheute haben, dieses Phänomen des National-sozialismus im Verhältnis zur Anthroposophiecharakterisieren?

v. Plato: Das Interessante an jeder Geschichteund ihrem Verständnis ist, dass wir unmittel-bar in ihren Folgen leben. Vergangenheit istniemals abgeschlossen, ihre Folgen reichen –faktisch und aufgrund ihrer Reflexion – in dieGegenwart und prägen sie. Jede Gegenwartbeurteilt, wertet und versteht das ihr Vorange-gangene neu und so wird die Vergangenheitheute eine andere und hat noch eine Zukunft

vor sich, die sie wieder anders sehen wird, alssie es zum Zeitpunkt des Geschehens und zujenem der gegenwärtigen Reflexion war.Gegenwart ist in diesem Sinne ein besondererBewusstseinsmoment, in dem Vergangenheitund Zukunft sich berühren und im mensch-lichen Bewusstsein gestaltet werden. In demgegenwärtigen Verstehen einer Vergangenheitzeigt sich nicht nur diese Vergangenheit voneiner bestimmten Seite, sondern auch unserheutiger Verständnishorizont. Damit charak-terisiert die Betrachtung der Vergangenheit –umgekehrt wie erwartet – immer auch unsereGegenwart. In diesem Sinne ist es besonderserfreulich, dass hier in Weimar bei einerTagung der Anthroposophischen Gesellschaftzum 150. Geburtstag Rudolf Steiners erneutdie Frage nach der Anthroposophie in einerbesonders schweren Zeit, in der Zeit desNationalsozialismus, gestellt wird. Es ist eineGelegenheit, einen Beitrag zum Verständnisder Anthroposophie in unserer Gegenwart zuleisten.Das Verhältnis zwischen Gegenwart, Vergan-genheit und Zukunft war eines der wichtigenInstrumente in der nationalsozialistischen Ide-ologie und Propaganda. Allerdings in sehr ein-facher Form. Es gibt kaum große Reden promi-nenter Nazis, insbesondere Hitlers, in der fol-gende Grundstruktur fehlte: Der Blick in dieVergangenheit zeigt sie immer heroisch, groß,mythisch, schildert die Gegenwart als Jammer-tal, als in jeder Hinsicht schwierig und verheißteine große völkische Zukunft in mythischenBildern. Immer dieser Dreischritt. Er ist Pro-gramm. Die Nazis knüpften hier an ein ele-mentares Bedürfnis an, denn dieser Dreischrittentspricht einem ganz natürlichen Empfinden,einem einfachen Eindruck und einer tiefenSehnsucht: Früher war alles besser, heute istalles schwierig und morgen wird alles wiederbesser werden. Der Zeit als einem fundamen-talen Bewusstseinsphänomen und dem sehrvereinfachten Umgang damit kam im Natio-nalsozialismus wesentliche Bedeutung zu.Auch in der Anthroposophie fällt auf, dass dieDreiheit Vergangenheit, Gegenwart undZukunft eine zentrale Rolle spielt, dass unserEingeschriebensein in die Zeit bestimmendist. Anthroposophie bietet große und weitePerspektiven in die Vergangenheit, verleihtdem gegenwärtigen Augenblick und demHeute weitreichende Bedeutung und entwi-ckelt mächtige, differenzierte Aussichten fürdie Zukunft. Dabei geht es nicht nur um deneinzelnen Menschen, sondern um die ganzeMenschheit.Hier liegt eine Verwandtschaft. Keine Ver-wandtschaft im Wesen des Nationalsozia-lismus und der Anthroposophie, aber eine

Verwandtschaft in der Art, mit Bewusstseinund bestimmenden Phänomenen dermenschlichen Existenz umzugehen, ihnenweitreichende Bedeutung einzuräumen.Im Hintergrund dieser Gemeinsamkeit, diezunächst recht allgemein erscheinen mag, zuallgemein jedenfalls, um hier als bemerkens-werte Parallele zwischen Anthroposophie undNationalsozialismus angeführt zu werden,sehe ich einen weiteren Punkt: Ich möchteihn die anthropologische Disposition nennen.Es gibt eine bestimmte anthropologische Dis-position insbesondere in Mitteleuropa, insbe-sondere in der deutschen Kultur, die den deut-schen Faschismus so unverhältnismäßig wirk-samer gemacht hat, als die anderen europäi-schen Faschismen. Der Faschismus war jabekanntlich kein deutsches Phänomen, er warein europäisches Phänomen, er kam aber inDeutschland zu dieser ungleich verheerendenAuswirkung. Dem liegt eine besondere Dispo-sition zugrunde und dieselbe anthropologi-sche Disposition ist Voraussetzung für einInteresse an der Anthroposophie. Diese Dis-position besteht darin, dass viele eine tiefeSehnsucht hatten – und sie werden jetzt daserste Motiv wiederfinden – nach dem, was imLaufe der Säkularisierung, im Laufe der Ent-wicklung der Aufklärung und Ratio verlorengegangen war, eine tiefe Sehnsucht nach Bil-dern, nach mythischem Verstehen der Welt,des Lebens, der Gegenwart. Unsere aufge-wachte Rationalität verhinderte immer mehrein Verständnis, das tieferen Schichten unsererExistenz Nahrung gibt. Aufklärung und Fort-schrittsglaube machten uns diesseitig hand-lungsfähiger, ließen aber die Seele verarmen.Die anthropologische Disposition, die für dieAnthroposophie wie auch für den National-sozialismus – ja für alle Systeme oder Versu-che, die den Menschen als Ganzen anspre-chen, beanspruchen oder verstehen wollen –von Bedeutung ist, besteht darin, dass einBruch im Menschen vorgefallen ist. DieBruchstelle ist unser Leben in einer diesseitsorientierten Ratio, in einem rationellen Zugriffauf Mensch und Welt bei gleichzeitig unbe-friedigter Sehnsucht im Herzen nach einerumfassenden Welt- und Menschenauffas-sung, die nicht im abschließenden, totenBegriff erklärt, aber über das Bild bis in dieKräfte des Lebens Verständnis schafft.Anthroposophie bietet eine neue Verständi-gungsmöglichkeit zwischen diesen beidenPolen, zwischen Kopf einerseits und Herz undWillen andererseits. Ebenso der Nationalsozi-alismus – allerdings im pervertierten Gegen-bild. Er setzte dort an, wo die individuelle undgesellschaftliche Lebenswirklichkeit ein Defi-zit gebildet hatte. Mit instinktiver Präzision

PodiumsgesprächAnthroposophie in der Zeit des Nationalsozialismus

Mechtild Oltmann, Bodo von Plato, Michael Rißmann, Uwe WernerGesprächsleitung: Albert Schmelzer

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entwarfen die Nationalsozialisten ein Zerrbilddieser möglichen und nötigen neuen Verstän-digung zwischen Begriff und Leben, indem siemoderne technokratische Diesseitsorientie-rung mit einer imposanten Neuauflage altermythischer Bilder verbanden.8

Oltmann: Es fällt mir seit langem in Diskussio-nen über unser Thema auf, dass – jenseitsjeder Bemühung um Objektivität der Urteile –hier leicht und sicher auch berechtigt dereigene biografische Hintergrund stark mit-wirkt. Da ist der Unterschied groß zwischensolchen Menschen, die vor oder bis zum Aus-bruch des 2. Weltkrieges geboren sind, unddenen, die erst später auf die Erde kamen.Man kann sich fragen, wie stark die Nachwir-kung dessen sein muss, was in der späterenZeit einer Seele „unterwegs“ zur Erde begeg-net ist: Gefallene, Verstorbene, Ermordete inschier unfassbarer Zahl. Natürlich prägt dasnicht nur den Blick auf eigenes Schicksal, son-dern auch die Beurteilungen und das ganzeLebensgefüge der Nachkommenden.Seit vielen Jahren bemühe ich mich, nach dengeistigen Hintergründen des Geschehens die-ser Zeit immer neu zu fragen. Dazu gehörtauch der Mut, das Ganze in einen Zusammen-hang zu denken, drei Ereignisse, die aufeinan-der bezogen sein könnten und die nacheinan-der im 20. Jahrhundert eingetreten sind.Das erste ist, was Steiner „die Wiederkunftdes Christus in der ätherischen Welt“ nannte,deren Beginn ihm ab 1909 wahrnehmbarwurde. Zweitens dann die Entfaltung derAnthroposophie, die stark beeinflusst wordenist von diesem zuerst genannten Vorgang.Auf solche zentralen Dinge, beide angetreten,die Welt zu verändern, musste auf der Erdewohl mit Kampf reagiert werden. So erfolgtedas Dritte, von dem Steiner im Herbst 1924,beides zusammenfassend, voraussagte: dassdas neue Christusgeschehen erst dann vonden Menschen richtig erfasst werden könne,wenn sie fertig geworden sind mit der Begeg-nung mit dem „Tier“, das 1933 aufsteigenwird. (Apokal. 13)Diese drei aufeinander beziehbaren Ereig-nisse legen vielleicht nahe, dass es zwischenihnen „gegensätzliche Zusammenhänge“geben kann. Der Widersacher beherrscht dieKunst der Nachahmung perfekt.Mit einiger Sensibilität ist das sogar in mei-nem Arbeitsgebiet erlebbar, dass die Wahrheitnachgeahmt worden ist: innerhalb des Kultushabe ich vom „Führer“ zu sprechen oder ichnehme plötzlich an mir selbst wahr, dass ichkultisch in schwarz-weiss-rot gekleidet bin.Geistige Urbilder, die auch im Kultus leben,wurden missbraucht.Das okkulte Wirken der Nazis ist bekannt,gerade auch in ihren Zeichen, Farben undSymbolen, der eigentliche „Trick“ dabei ist,die Sache einfach umzudrehen, wie z.B. das

Hakenkreuz, ursprünglich und anders konfi-guriert als Sonnenrad verehrt wurde, alsSwastika. Das Tier aus dem Abgrund ist derSonnendämon.Wie schärft man, nach diesen Erfahrungendes 20. Jahrhunderts, jetzt seine Urteilsfähig-keit so, dass sie die Phänomene in der Gegen-wart durchschauen und sie geistig so durch-dringen kann und vor solchen verheerendenIrrtümern schützt?

Rißmann: Herr Schmelzer, Sie hatten darumgebeten, das Phänomen des Nationalsozia-lismus zu umreißen und zu charakterisieren,auch in seinem Verhältnis zur Anthroposophie.Das ist nicht ganz einfach, weil es den Ant-wortenden zwingt, den Nationalsozialismusgewissermaßen in einem Bild zu verdichten, ineiner Formel zusammenzufassen, auf denPunkt zu bringen. Und das ist außerordentlichschwierig. Mein Part hier in der Runde wirdein bisschen der sein – das ist auch verabredet–, dass ich sehr stark die Perspektive der aka-demisch-universitären Geschichtsforschungeinzubringen versuche. Die Geschichtsfor-schung hat in den letzten Jahrzehnten unge-heuren Forscherfleiß in den Versuch investiert,die NS-Zeit zu verstehen. Dabei zeichnen sichbestimmte Entwicklungen ab, die sehr interes-sant sind.Es gab eine erste Phase in den 50er und 60erJahren, in der man stark betonte, dass dasdeutsche Volk von dem Dämon Hitler und sei-nen suggestiven Methoden gewissermaßenverführt worden sei. Man delegierte also dieVerantwortung an die Akteure des Regimes.Dann kam, ab 1968 vor allem, eine zweitePhase, in der man versuchte, die NS-Zeit insehr abstrakte Modelle zu fassen. Das war dieZeit, in der man über Totalitarismus- und überFaschismusmodelle diskutierte, in der manpolitologische Kategorien an die NS-Zeit her-anführte. Das war einerseits sehr interessant,andererseits manchmal auch sehr blutleerund sehr abstrakt.Und dann kam ab 1990 eine dritte Phase, diebis heute andauert. Es handelt sich um einePhase, in der immer weniger Zeitzeugen amLeben sind und in der darum auch derSchuldvorwurf an die Generation der Väterkeine so große Rolle mehr spielt. Seit 1990hat sich die Forschung wieder stärker daraufkonzentriert, was der Nationalsozialismus imVerlauf einzelner Biographien bedeutete.Man ging nicht mehr nur von einem Modellaus, von einer umfassenden Erklärung, son-dern untersuchte stärker, wie sich bestimmtePersönlichkeiten, aber auch gesellschaftlicheGruppen, die Frontsoldaten zum Beispiel, dieBevölkerung eines bestimmten kleinen Ortes,die Angehörigen einer bestimmten Organisa-tion zum Nationalsozialismus verhielten.Und da scheint sich mir ein Weg abzuzeich-nen, der vielleicht in Richtung einer Antwortführt. Wenn es ungenügend ist, „den“ Natio-nalsozialismus zu erforschen, dann ist es viel-leicht auch falsch, „die“ Anthroposophie inder NS-Zeit zu untersuchen. Vielleicht müs-

ste man sich zunächst einmal darauf konzen-trieren, was ein Herr Müller, eine FrauSchmidt, wer auch immer, in dieser Zeitgemacht haben. Wie sie sich dem NS-Systemgegenüber positioniert haben, wie sie ausihrer Weltanschauung, aus ihrer Biographieheraus auf dieses Phänomen zugegangensind. Mein Interesse gilt also der Anthroposo-phie und dem Nationalsozialismus in ihrenAuswirkungen in einzelnen zeitgenössischenBiographien.

Werner: Ich möchte zunächst auf den Aspekteingehen, inwiefern wir in der Anthroposo-phie oder sagen wir einmal bei Steiner selbstetwas auffinden können, was uns das Phäno-men Nationalsozialismus erläutert, erklärt,auf jeden Fall beleuchtet.Mir hat ein Begriff geholfen, den Rudolf Stei-ner 1910 entwickelte, und zwar der der „Hei-matlosigkeit“. Am 17. Juni 1910, also heutevor 101 Jahren, hielt Rudolf Steiner in Christi-ania (Oslo) den letzten Vortrag des Zyklusüber die Mission einzelner Volksseelen.Dieser Zyklus ist so, dass heute ein KritikerSteiners, der etwas auf sich hält, diesen immerals eine Argumentenquelle für Vorwürfe desRassismus gegen Steiner nutzt. Ich lese ihnaber gerade umgekehrt: Als Zeugnis einerdezidiert antirassistischen Einstellung.Steiner beschreibt dort: In frühen Zeiten dernordisch-germanischen Völker war derjenigeeben der Führer – ich sage jetzt dieses Wort –dieses Stammes oder dieses Volkes, der zuvordurch bestimmte Einweihungsgrade gegan-gen war. Und ein vierter Einweihungsgradwar der, sein Volk wirklich zu verstehen, dasheisst, dessen Mission im Menschheitsganzenzu verstehen.In dem Moment, in dem er diese Erkenntnisüber sein Volk erreichte, war er über denunmittelbar determinierenden Vererbungszu-sammenhang mit seinem Volk hinausgewach-sen und daher fähig, sein Volk zu leiten. Erwurde, so nennt es Steiner, ein „Heimatlo-ser“.Für mich ist es so, dass dieses Bild für dasspricht, was im Nationalsozialismus, jeden-falls aus dieser Perspektive, sich realisierte wieein Rückfall, ein Atavismus, in diese Zeit.Steiner sagt dazu, dass das heute von beson-derer Bedeutung ist. Eigentlich sind wir alleals Menschen unserer Zeit bestimmt, in die-sem Sinne „heimatlos“ zu werden. Wir sindnur insofern Mensch heute, wenn wir jederdas sind, was damals der Führer des Volkeswar, die Führereigenschaft liegt heute beijedem einzelnen gegenüber sich selbst.Und dazu fügt er natürlich hinzu, dass es dar-auf ankommt, die Heimatlosigkeit nicht alsWegschieben dessen, zu dem man als Volkgehört, zu betrachten, sondern zu einer soge-nannten Selbsterkenntnis des Volkes durchsich selbst zu kommen, die mich als Individu-um in diesem Volke erkennen lässt, gleichzei-tig aber mir eine Distanz zum Volke ermög-licht, so dass ich auf der anderen Seite mitdiesem auch wieder im Menschheitsganzen

8 Bodo v. Plato in Die Drei 11/1997: „Der Nationalsozialismusund das Janushaupt der Neuzeit – von der anthropologischenDisposition zur Bewusstseinsseele“

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sinnvoll umgehen kann. Das, was Steiner fürdie ersten Zeiten in diesen Einweihungsmög-lichkeiten für die Führer der Völker ausführt, –und er meint es nicht nur für nordisch-germa-nische Völker –, er hat es auch für den Perserausgeführt, das war wohl überhaupt Mensch-heitszustand damals. Steiner nannte das kon-struktiv, er meinte damit, dass das in derdamaligen Zeit eben konstruktiv war.Wenn – und damit spricht er aus, was fürmich ein Licht auf diese Zeit des Nationalso-zialismus wirft, wenn es heute wieder sowird, dann kann es nur zerstörend, destruk-tiv wirken: Gesellschaftliche Ideale ausBlutszusammenhängen zur Praxis zumachen, gehört heute zum Schlimmsten,was passieren kann.Und was geschehen ist in diesem letzten Jahr-hundert ist ein Ereignis, das in diesem Sinnevon Steiner vorgeahnt wurde, ich weiß nichtin welchem Ausmaß, aber vorgeahnt in dieserBeschreibung der Nichtbeachtung der neuenmodernen Heimatlosigkeit, die uns eigentlichmit jedem Menschen auf der Erde verbindet.Aber es bedeutet auch, dass die Herausforde-rung, heimatlos zu sein, heute viel größer ist,als in dem Moment, wo Steiner das ausführte.Denn das 20. Jahrhundert ist ja geschehen. Ichbin auch Deutscher von der Geburt her unddamit habe ich zu tun.Und damit hat jeder von uns zu tun zusätzlichzu dem, was zu dem Zeitpunkt 1910 schon sowar. 1918 hat Steiner nochmals diese Vorträgeselbst redigiert und herausgegeben undgesagt, das sei notwendig nach dem Welt-krieg. Denn eigentlich ist es deutlich, dass er1910 die Unterschiede zwischen den Völkern,die Besonderheiten, die Charaktere der ein-zelnen Völker deswegen darstellen wollte,damit jeder von uns sich mit diesen Unter-schieden erkenntnismäßig verbindet undnicht für sich instrumentalisiert, so dass erechter „Heimatloser“ wird, das heißt mit denanderen Völkern auch zusammen sein kann,also Brücken schlagen kann.Eine nächste kommentierte Ausgabe dieser„Mission einzelner Volksseelen“ steht übri-gens unmittelbar bevor in den nächstenMonaten.Das ist ein Einschnitt, mit dem ich mich sobeschäftigen konnte, dass ich mich dem Phä-nomen Nationalsozialismus nähern konnteals Deutscher.

Schmelzer: Vielen Dank, ich denke, Sie habenein erstes Bild entwickelt, aus dem sich Fol-gendes ergibt: Der Nationalsozialismus warein grandioser Atavismus, ein Gegenbild zurAnthroposophie und damit doch in einemBezug zu ihr stehend.Nun ist es ja so, dass außerhalb der anthropo-sophischen Bewegung noch eine andere Deu-tung verfolgt wird, die eben sagt, die anthro-posophische Bewegung habe den Nationalso-zialismus direkt vorbereitet, sie sei Teil dervölkischen Bewegung.Herr Zander, ich nehme jetzt einmal diesenKritiker heraus, hat 2001 – inzwischen ist er

wohl etwas davon abgerückt – gesagt dieAnthroposophie gehöre „zum intellektuellenHintergrund und Überbau der deutschen Tra-gödie“, weil sie eben Teil der völkischenBewegung sei. Wie würden Sie, Herr Riss-mann, diese Äußerung beurteilen?

Rißmann: Vielleicht eingangs zunächst einmalein kurzer Versuch, das Phänomen der völki-schen Bewegung kurz zu beschreiben. DieForschung versteht unter „völkischer Bewe-gung“ die unendlich vielen Gruppierungen,Parteien, Sekten, Zeitschriften, Einzelpersön-lichkeiten im Kaiserreich und noch in derWeimarer Republik, die rassistische, antisemi-tische und nationalistische Positionen vertra-ten. Insofern ist die völkische Bewegung, daist sich die Forschung ganz einig, auf jedenFall eine der stärksten ideengeschichtlichenStröme, die in den Nationalsozialismus hineinführen, wenngleich man beides nicht gleich-setzen kann. Hitler hat sich von manchen Tra-ditionen der völkischen Bewegung, vor allemvon dem dort sehr verbreiteten Germanen-kult, deutlich abgesetzt.Ihre Frage war, wie sich die Anthroposophiezur völkischen Bewegung verhält: Gehört sieirgendwie dazu? Gibt es Überlappungen inRandgebieten? In der Publizistik ist immerwieder die These vertreten worden, dieAnthroposophie sei Teil der völkischen Bewe-gung gewesen, ich denke da an Jutta Dith-furths „Feuer in die Herzen“ und vergleichba-re Publikationen. Dann hat sich die akademi-sche Forschung der Frage angenommen; Siehatten Helmut Zander erwähnt. Und seitetwa 10 Jahren wird über diese Frage außeror-dentlich intensiv geforscht, und zwar sowohlan den Universitäten als auch im anthroposo-phischen Spektrum. Das erstaunliche Ergeb-nis ist für mich, dass am Ende dieses Prozes-ses beide Seiten – die universitäre wie dieanthroposophische Forschung – überwiegenddie Einschätzung vertreten, dass die Anthro-posophie nicht zum völkischen Spektrumdazugehört. Das war ursprünglich nicht so zuerwarten.Warum gehört sie nicht dazu? Sie gehört des-halb nicht dazu, weil Steiner in einer Reihevon Fragen, die für die völkische Bewegungganz zentral waren, Positionen vertreten hat,die ein völkischer Agitator so niemals akzep-tiert hätte.Zum einen ist das Thema „Rassen“ zu nen-nen. Es gibt bei Steiner einen Rassendiskurs,Sie hatten eben ja auch darauf hingewiesen.Allerdings würde ein Vertreter des völkischenSpektrums diesen Diskurs anders führen. Füreinen Völkischen war es völlig klar, dass dieRasse die zentrale Größe in der ganzenMenschheitsgeschichte ist. Etwas, was immerda war, was immer bleiben wird, was dengeschichtlichen Prozess vorantreibt. Steinerdagegen macht sehr deutlich, dass er derMenschheit die Aufgabe zuspricht, sich vondiesen Rassebindungen zu lösen und zuetwas Neuem vorzustoßen. Diese Überwin-dung bereits der Kategorie „Rasse“ wäre für

einen Völkischen völlig unerträglich gewesen.Ähnlich verhält es sich beim Thema „Antise-

mitismus“. Für einen Völkischen war es ganzklar, dass „Juden ein Übel sind, eine negativeKraft in der Geschichte, die schon immer reindestruktiv“ gewirkt hat. Steiner hingegen hatdarauf hingewiesen, dass das Judentum einebestimmte kulturelle Aufgabe hat, und erspricht ihm, vor allem auch der Gestalt desMoses, eine ganz zentrale und menschheits-geschichtlich wichtige Funktion zu. Ein Völki-scher hingegen hätte nicht akzeptiert, dassdas Judentum überhaupt einmal eine Aufga-be, einen Sinn gehabt hätte.Und im Bereich „Nationalismus“, also derdritten Säule der völkischen Bewegung, ist esja sehr eindeutig, dass Steiner sich immerwieder und sehr frühzeitig von nationalisti-schen Parolen distanziert hat. Die Hochschät-zung und die Wertschätzung der deutschenKultur, die man bei Steiner findet, hat einenvöllig anderen Charakter als der sehr vulgäre,aggressiv gegen andere Völker gerichteteNationalismus, wie man ihn bei den Völki-schen findet.Die Frage der Forschung, ob Anthroposophieund völkische Bewegung verwandt sind, istzunächst einmal legitim, da sowohl die Völki-schen als auch die Anthroposophie zum alter-nativkulturellen Milieu der Weimarer Zeitzählten. In diesem alternativkulturellenMilieu, zu dem auch die Lebensreformbewe-gung und viele andere Strömungen gehörten,gab es natürlich viele Verflechtungen, diezuletzt intensiv untersucht worden sind. Imanthroposophischen Spektrum gab es in denletzten Jahren eine Reihe solcher Studien, diesich mit den Beziehungen von Anthroposo-phie und völkischer Bewegung befasst haben,Lorenzo Ravaglis Monographie „Hammerund Hakenkreuz“ zum Beispiel, aber auch inder akademischen Forschung, wo vor allemHelmut Zanders zweibändige Monographiezur Geschichte der Anthroposophie zu nen-nen ist. In diesem Werk vertritt Zander, imGegensatz zu früheren Studien, nicht mehrdie These, dass die Anthroposophie dem völ-kischen Rassismus zuzuordnen ist. Er distan-ziert sich sogar von dieser These in einer Fuß-note und verweist zustimmend auf denanthroposophischen Publizisten Ralph Son-nenberg.9 Auch ein wichtiger Vertreter derakademischen Forschung vertritt somit dieAuffassung, dass ein Rassendiskurs, wie manihn bei vielen Denkern dieser Zeit findet,noch nicht zwingend bedeutet, dass jemandein völkischer Rassist ist.Ich glaube, die Diskussion in den letzten Jah-ren war sehr fruchtbar und hat an einen Punktgeführt, wo man jetzt wirklich insgesamt kla-rer sieht.

Werner: Ohne die Naziherrschaft wären dieheutigen Rassismusvorwürfe gegen Steineruninteressant, d. h. niemand würde sich die

9 Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Band 1. S.632. Anm. 348

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Mühe machen, diese vorzubringen. Die ent-sprechenden Autoren interessieren sichoffensichtlich nur insofern für Steiner, als sieihn in die Nähe völkisch-rassistischerAnschauungen bringen wollen, um ihn alsVordenker der Nazis zu brandmarken. Ichhabe mir Gedanken darüber gemacht, wie esdenn überhaupt kommt, dass man Steinerzum Beispiel des Rassismus bezichtigenkonnte. Das war mir zunächst einmal vor 15Jahren vollkommen fremd. Und das gehtIhnen vielleicht auch so: Wie kann man nur!Und mir ist inzwischen deutlich geworden,im Durchgang durch die Literatur dieserAutoren, dazu gehören z.B. Peter Bierl, Petrusvan der Let, Helmut Zander und neuerdingsauch Jana Husmann an der Berliner Hum-boldt Universität, mit einer Dissertation,ebenso Peter Staudenmaier in den USA, miteiner Dissertation über Anthroposophie alsBeispiel für den Zusammenhang zwischenEsoterik und Faschismus. Sie ist 2010 imInternet erschienen, aber noch nicht alsBuch.Mir ist aufgefallen, dass keiner von diesenAutoren jemals den Begriff des Rassismusirgendwie definierte oder charakterisierteoder schreibt, was er denn als Rassismus ver-steht. Weshalb ist das so? Es ist die Frage, obdas bewusst oder unbewusst geschieht.Diese Autoren bezeichnen als Rassismus,wenn jemand über Unterschiede zwischenRassen und Völkern spricht.Weitere gedankliche Klärungen werden dabeinicht vorgenommen. Man kann diesen immerwieder herangezogenen Zyklus „Die Missioneinzelner Volksseelen“ wie gesagt auch voll-kommen anders lesen. Was fehlt denn da? Esfehlt dasjenige, was eigentlich eine Wahrneh-mung der Intentionen und der StimmungSteiners erkennt, dem Rechnung zu tragen.Wenn man darauf schaut, wie Steiner überUnterschiede zwischen Völkern spricht.

Und ich habe den Eindruck, ich sage das jetztein bisschen scharf, thesenartig, dass die Artder Wissenschaftlichkeit, die immer noch inden sogenannten Geisteswissenschaftenherrscht, eine ist, die mehr oder weniger dieMöglichkeit der Empathie, den Blick auf diehier gemeinte wesentliche Stimmung undGesinnung, ausschließt.Denn ich glaube, man kann an Steiner nurherankommen, wenn man auch eine ArtEmpathie übt. Und es ist die Angst vor Sub-jektivität, die einen abhält, Empathie zu üben.Dabei ist, und das ist gestern auch gesagtworden, Empathie überhaupt nicht etwas,was einen subjektiv werden lässt. Aber diesenSchritt haben die Geisteswissenschaften ebenbisher nicht getan.Die kritischen Autoren weichen der Frage aus,was die eigentliche Intention Steiners ist,durch die Abwesenheit von Empathie.Ich hab das mal so bei mir zusammengefasst:Sie reden das Herz weg. Denn bei Steiner hatman die Empathie mit Völkern, mit Rassen,die er beschreibt.Also wir haben da ein Phänomen, das dieGesinnung, auf die es ankommt, nichtberücksichtigt. Und wenn wir die Gesinnungnicht berücksichtigen, dann kann man allesmögliche herausziehen, mit zehn Zitaten hatman einen „rassistischen Steiner“.Das ist für mich die Erklärung dafür, warum esüberhaupt zu den Rassismusvorwürfen gekom-men ist, ob sie nun bewusst gewollt sind, ausirgend einer Antipathie oder sozusagen wissen-schaftlich begründet, das ist eine andere Frage.Ich meine, diese Diskussion zeigt, dass die Artder Wissenschaft, die getrieben wird, einenSchritt weiterkommen müsste, um überhauptzu verstehen, was Steiner intendiert hat indieser Richtung.

Schmelzer: Ich denke, Ihre Ansicht ist deutlichgeworden, und die lautet, dass sich Anthropo-

sophie nicht unter die völkischen Bewegun-gen rechnen lässt.Ich würde dann gerne die Thematik weiter-führen hin zum Zeitpunkt der Machtergrei-fung. Denn da taucht etwas auf was bedachtwerden muss.Hans Büchenbacher war damals Vorsitzenderder Anthroposophischen Gesellschaft inDeutschland. Er berichtet über das Jahr 1933,dass der Landesvorstand einstimmig gegenden Nationalsozialismus eingestellt war, aberdann sagt er, bezogen auf die Mitgliedschaft,ich zitiere: „… dass 1933 ungefähr zwei Drit-tel der Mitglieder mehr oder weniger positivzum Nationalsozialismus sich orientierten.“Ich würde gerne Herrn von Plato und viel-leicht auch Frau Oltmann fragen, wie dasihrer Ansicht nach zu erklären ist.

v. Plato: Geschichte und ihre angemesseneBeurteilung hat ja sehr viel mit Gefühl zu tun,die notwendige Gefühlsnähe sachgemäßerErkenntnis wird im geschichtlichen Verstehenbesonders merklich. Es ist wie mit der Wahr-heit, die sich nicht allein der – kritischen –Erkenntnis erschließt, denn letztlich beruhtdas, was wir für wahr halten, auf einem Wahr-heitsgefühl. Ich erinnere noch recht genauden Moment, als ich zum ersten Mal dieseQuelle kennen lernte, in der Hans Büchenba-cher diese Einschätzung über die überwie-gend braune Mitgliederschaft der Anthropo-sophischen Gesellschaft schildert. Ich warerschüttert und fühlte: Das stimmt und esstimmt überhaupt nicht! Gerne möchte ichversuchen, das verständlich zu machen.Es stimmt, denn für Anthroposophie interes-sierten sich insbesondere Menschen, die sichnicht in die Gegenwart der Weimarer Repu-blik finden konnten, die heimatlosen Seelen,wie Uwe Werner sie eben nannte. Ein Nicht-Einverstanden-Sein mit den gegebenengesamtgesellschaftlichen Verhältnissen cha-

Uwe Werner, Michael Rißmann, Albert Schmelzer, Mechtild Oltmann, Bodo von Plato,

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rakterisierte damals – wie übrigens wohl auchheute – die Mehrheit der Anthroposophen.Und der Nationalsozialismus hat entschiedengebrochen mit der Weimarer Gegenwart undeine neue Gegenwart an die Stelle gesetzt, dieangeblich aus einer tiefen Verbindung vonVergangenheit und Zukunft geschöpft war,eine Gegenwart, die aus großen, einfachenPerspektiven lebte. Und das in einer radikalenForm. Zugleich wurden scheinbar unlösbareProbleme gelöst, die jedem vor Augen stan-den – die Arbeitslosen beispielsweise ver-schwanden. Eine neue zuversichtliche Stim-mung und konkrete Lösungswege wurdensichtbar. Das war überzeugend für eine sehrgroße Masse – und wie wir wissen sogar fürviele nachdenkende, gebildete oder kritischeMenschen, die erst später, oft erst nach 1939zu Gegnern des Nationalsozialismus wurden.Also nicht nur für Anthroposophen, sondernüberhaupt scheint mir folgender Griff derNazis die für uns Nachgeborene schwer nach-zuvollziehende Tatsache verständlicher zumachen, warum so viele den Nazis auf denLeim gegangen sind. Sie machten Schluss mitdem scheinbar fruchtlosen Debattieren, han-delten, gaben Bilder, Identität und jedem sei-nen Platz und man sah: es funktioniert! DieNazis beendeten den abwägenden Diskurs,die ermittelnde Diskussion, auf die nicht nurjede Demokratie, sondern jede mündigeGesellschaft und alle reflektierte Wahrheits-findung gründet. Hier waren Anthroposo-phen anfällig. Möglicherweise weil sie in demGefühl lebten, Wahrheit und Wirklichkeitdurch die Offenbarungen der Geisteswissen-schaft zu erhalten, also muss man nicht langetasten, suchen, diskutieren. Sicherlich kennenund verstehen Sie das Gefühl: Bei aller Liebezum ermittelnden Erkenntnisgespräch – dieeigentliche Wahrheit gibt sich doch auf ande-ren Wegen kund. Aus diesem Gefühl entstehtkeine ausgeprägte Diskursaufgeschlossenheit.Man freut sich vielmehr, wenn jemand sagt,wo es lang geht. Ich glaube das ist einer derGründe, warum Büchenbacher zu recht ver-mutete, die Mehrheit der Anthroposophen seibraun.Die Vermutung Büchenbachers stimmt aber indem Moment faktisch nicht, in dem es ernstwurde mit dem Bekenntnis zum Nationalso-zialismus. Da kann man diese Quelle nichtbestätigen. Wir haben ja im Rahmen derNationalsozialismusforschung und der Arbeitan dem Buch von Uwe Werner in der For-schungsstelle Kulturimpuls auch eine MengeBiographien untersucht, und haben da gese-hen: Ja, in einem ersten Stimmungsbild würdeman sagen, dass da bei einigen Anthroposo-phen eine Affinität zum Nationalsozialismusvorhanden gewesen sei. Der Eindruck ergabsich vielleicht auch aus dem Fehlen klarerStellungnahmen und Aktionen gegen dasRegime. Schauten wir aber genauer in die ein-zelnen Biographien, entdeckten wir Haltun-gen, Entscheidungen, Aktivitäten, die demersten Eindruck widersprechen. Kein auffälli-ger oder militanter Widerstand, aber stille,

wachsende Ablehnung der totalitären und vorallem dann kriegerischen und menschenver-achtenden Signatur des Nationalsozialismus.Inneres Exil gegen die Nazis und der Versuch,die eigene Weltauffassung mit einem entspre-chenden Engagement durchtragen zu kön-nen, ist wohl die sachgerechte Beschreibungfür die Haltung der meisten Mitglieder derAnthroposophischen Gesellschaft. Vieledavon haben wir in dem Buch „Anthroposo-phie im 20. Jahrhundert – ein Kulturimpuls inbiographischen Portraits“ 2003 und im Inter-net veröffentlicht.10 Büchenbachers Auskunftlässt sich weder durch Zahlen, Parteimitglied-schaft, etc. noch durch andere Quellen bestä-tigen. Wir haben gesucht – und ich sage dasnicht, um Anthroposophen rein zu waschenoder zu verteidigen, weil ich gerne möchte,dass sie nicht braun wären – was natürlichauch stimmt. Sie waren es wohl tatsächlichnicht.Aber dennoch glaube ich, dass in Büchenba-chers Aussage viel von der Ambivalenz zumTragen kommt, die überhaupt das Verhältnisder Deutschen zum Nationalsozialismuskennzeichnet. Ganz anders als zum Beispieldas Verhältnis der Russen zum Stalinismus.Der Nationalsozialismus realisierte die insGegenbild verzerrte Sehnsucht der Deut-schen nach einer Wirklichkeit, die tief inmythischer Vergangenheit verwurzelt ist undzugleich jeder Klarheit der Vernunft offen ist,während in der UdSSR offensichtlich war,dass der stalinistische Totalitarismus nichtSache des Volkes war. Das lag bei den Deut-schen und ihrem Totalitarismus viel kompli-zierter. Ich hoffe, wir kommen in unseremGespräch noch auf die Frage des Widerstan-des, denn da werden wir ähnliche Schwierig-keiten haben, wenn wir fragen, ob und wieeigentlich Anthroposophen Widerstandgeleistet haben.

Oltmann: Zum Motiv der Ambivalenz könnteman hinzufügen, dass die Verführung, die vonder Macht des Bösen ausgeht, sehr genauweiß, wo sie anknüpfen muss. Da kamen indieser Zeit Menschen auf der Erde an, die inihrem „Gepäck“ aus dem Leben vor derGeburt herstammende Ideale mitgebrachthatten, auch solche, die sie die Anthroposo-phie suchen ließen natürlich. Und auf einmaltauchte an vielen Stellen eine Sehnsucht nachFührern auf, auch auf den Wegen, die„Erkenntnisse der höheren Welten“ suchten.Dann wird ihnen in ihrer Jugend dem IdealÄhnliches entgegengebracht, eine Führung,die in den Abgrund statt auf den Berg führte.Es ist sogar einigen der späteren Widerstands-kämpfer passiert, die ganz am Anfang vorüber-gehend auch darauf hereinfielen, bis sie dieTäuschung durchschauten. Jugendlichen Idea-lismus für die eigene Macht auszunutzen, istwohl eine besondere Spezialität Luzifers. Auchdas anthroposophische Potential an einem sol-chen Idealismus war und ist sehr groß!

Die Bilder, welche man auf die Erde mitbringt,sind eben deutungsfrei, sie tragen keineErklärungen an sich, nur auf der Erde, imBereich der Freiheit, ist Urteilsfähigkeit zuerlernen.

Schmelzer: Ich würde gerne diese Frage auchnoch an Herrn Rissmann geben, und einenweiteren Aspekt dazu stellen: Könnte es nichtauch sein, dass die Dreigliederungsbewe-gung, mit ihrem demokratischen Gedanken-gut, mit diesem freien Kulturleben, dass dasnicht wirklich rezipiert worden ist in deranthroposophischen Bewegung und dassauch die Brücke zur Arbeiterschaft nicht starkgenug geschlagen worden ist? Denn es warenja die Arbeiter, vielfach Angehörige der Kom-munistischen Partei, der Sozialdemokrati-schen Partei, die in deutlicher Oppositionstanden und als erste verfolgt wurden vomNationalsozialismus.

Rißmann: Das Zitat von Herrn Büchenbacherlautete, glaube ich so, dass er gesagt hatte, dieZweigmitglieder stünden der NS-Bewegungaufgeschlossen gegenüber. Er sagte nicht, esseien Nazis, sondern er sagte, sie stünden derNS-Bewegung aufgeschlossen gegenüber.Diese Haltung ist, meine ich, durchaus typischfür große Teile der deutschen Bevölkerung imZeithorizont 1932/33.In dieser Zeit findet man in der bürgerlichenMittelschicht, vor allem auch in der akade-misch gebildeten bürgerlichen Mittelschicht,sehr häufig eine insgesamt aufgeschlosseneHaltung gegenüber der NS-Bewegung. Manhielt sie zwar für etwas vulgär, etwa die Art,wie die SA auftrat öffentlich, aber man identi-fizierte sich mit vielen ihrer Ziele: NationaleErneuerung, Schluss mit der Schande von Ver-sailles und der Kriegsschuldlüge – ich sprechejetzt bewusst in den Worten der Zeit. Mit die-sen Zielen konnten sich damals weite Kreiseder bürgerlichen, gebildeten Mittelschichtidentifizieren, also letztendlich ein Milieu, dasman als konservativ, als national-konservativbezeichnen kann. Dort sah man die NS-Bewegung als Stärkung des nationalenGedankens. Aus dieser Haltung heraus hatman dann ja auch den Versuch unternommen,1933 ein Kabinett zu bilden, in das die NS-Bewegung eingebunden wurde, aus der nai-ven Haltung heraus, man werde die National-sozialisten dann schon zähmen und sie unterKontrolle halten. Man hat nicht erkannt, wel-che Dynamik sich da sehr schnell entwickelnwürdeDie anthroposophische Bewegung hat sich,soweit ich das überschaue, in den 20er Jahreneher als eine apolitische Bewegung verstan-den, die kulturelle, geistige Interessen ver-folgt, sich aber nicht in die Tagespolitik ein-mischt. Sie war aber sicherlich in ihrem Mit-gliederpool eher dem eben skizzierten bil-dungsbürgerlichen Milieu zuzurechnen. Undinsofern hätte es mich fast überrascht, wennes in der anthroposophischen Bewegung 1933keine Affinität zu solchen konservativen Hal-10 www.Kulturimpuls.org

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tungen gegeben hätte, die dann auch dazuführen konnten, dass man das Phänomen desNationalsozialismus zunächst einmal begrüß-te.Die Nähe der Anthroposophie zur deutschenKultur und zu bestimmten Strömungen derdeutschen Kultur ist ja in dieser Zeit innerhalbder Anthroposophischen Gesellschaft sehrstark gepflegt worden, wenn ich das richtigeinschätze. Aber da ist Herr Werner wahr-scheinlich der kompetentere Ansprechpart-ner.

Schmelzer: Ja, und ich würde Herrn Wernergern eine weitere Frage mitgeben: Gab esAnthroposophen, die Hitler direkt positiv ein-geschätzt haben?

Werner: Ja, es sind aber doch zwei verschiede-ne Fragen, die sich da auftun. Ich denke Siewissen, dass Steiner den Vertrag von Versaillesauch als Katastrophe betrachtete, also dieZuschiebung der Schuldfrage ausschließlichzum deutschen Volk. Und deswegen, daswurde ja eben auch erwähnt, lebte eine ArtSympathie unter Anthroposophen: Hitler willja auch diese Schuld, diese „Schande von Ver-sailles“ wiedergutmachen, oder wie man dasnennen will.Ich möchte nur erwähnen, dass die Anthropo-sophen da wohl Steiner missverstandenhaben – und bitte, das ist überhaupt nichtirgendwie abschätzig gemeint –, nur dass manverstehen kann, wie Vorgänge in dieser Zeitauch sein konnten: Eigentlich meinte Steiner,die Katastrophe von Versailles ist, dassdadurch Revanchelüste auftreten werden, diezu einem neuen katastrophalen Konflikt füh-ren werden. Das war eindeutig bei Steiner.Aber das war nicht eindeutig bei den Anthro-posophen. Es gab eigentlich gar keinenGrund, dem Nationalsozialismus deswegenbesonders sympathisch gegenüberzustehen.Aber das sage ich natürlich aus der Perspekti-ve von 80 – 90 Jahren später.Nur sind eben solche Missverständnisse auf-getreten, die, damit möchte ich auf die zweiteFrage eingehen, dazu führten, dass einigeAnthroposophen sich direkt positiv zu Hitlerstellten und das auch ausgedrückt haben. Dasist jetzt bitte nicht als bequeme Kritik zu ver-stehen. Ich weiß gar nicht, wie ich mich ver-halten hätte, ich wäre wahrscheinlich auchbegeistert gewesen.Aber wie da „anthroposophisch“ argumen-tiert wurde, das ist wichtig. Oft nur, weil manirgend etwas sympathisch fand. Dabei darf icherwähnen, dass die Recherchen über Perso-nen und Menschen, die als Anthroposophenin irgendeine Parteiorganisation oder die Par-tei selbst eingetreten sind, nicht mehr als 34Namen ergeben haben. Diese Erkenntnis ver-danken wir mit Peter Staudenmaier übrigenseinem der schärfsten Ankläger Steiners.Er hat das recherchiert, viel weiter und detail-lierter als ich das vor 20 Jahren tun konnte,weil die Archive wesentlich besser zugänglichsind.

Vielleicht findet man außer diesen 34 Namennoch weitere Menschen, die als erklärteAnthroposophen in irgendeine Parteiorgani-sation eingetreten sind. Man müsste untersu-chen, welches ihre Motive waren, ob Oppor-tunismus oder wirkliche Sympathie vorlagusw. Und dann wäre diese Zahl ins Verhältniszu setzen zu den etwa 8.000 Mitgliedern derAnthroposophischen Gesellschaft inDeutschland in jener Zeit.Bei einzelnen kann man es ideologisch oderweltanschaulich deuten. Da gibt es z.B.jemanden, vielleicht sollte ich den Namengar nicht nennen, der 1933 in seiner Auto-biographie – die übrigens als Typoskript auchin der Bibliothek am Goetheanum steht –folgendes schreibt: „Für Hitlers augenblickli-che Aufgabe, die Kriegsschuld Deutschlandsund damit die ganze verlogene heutige Poli-tik nieder zu brechen, ist das nicht so nötig,an was er vorbeigeht.“ – An was er vorbei-geht, meint hier die Brutalitäten der SA –„Dafür war nur nötig, die Deutschen ineinem volksmäßigen, starken Selbstgefühlzusammenzufassen. Das hat er getan und esist ihm gelungen, wie gesagt, weil der Volks-geist hinter ihm steht und schiebt. So hat erwohl das deutsche Volk vor der Auflösunggerettet und damit Michael den Körperbewahrt, den er braucht, um in die Erden-menschheit wirken zu können.“ So weit dieeine Seite. Und meines Erachtens liegt hierdeutlich eine Verwechslung von Hitlers Art,Deutschtum zu betrachten, und Steiners Art,Deutschtum zu betrachten, vor.Andererseits kommt Alfred Meebold, um denes sich handelt, aber auch zu einer anderenAnsicht: „Die eigentliche Absicht Michaels,die Mission des deutschen Geistes, die Fichte,Goethe, Schiller, und viele andere vertratenund meinten, die Rudolf Steiner zum Tages-licht herausgearbeitet hat vom bloßen Erah-nen und Erfühlen, lässt sich nicht mit Blutma-terialismus begründen. Sie erfordert eine klareErfassung der geistigen ,Ichwesenheit’“.Allerdings erläutert er nicht, was er unter Hit-lers „Ichwesenheit“ verstehen würde.So äußerte sich 1933, also noch in derAnfangszeit ein angesehener Anthroposoph.Er wandert dann fünf Jahre später aus.Darin – möchte ich noch bemerken – gibt esaus meiner Sicht verschiedene Irrtümer. Alsodass Michael aus der Sicht Steiners einenVolkskörper braucht, ist für mich äusserstfraglich. Und ob Michael überhaupt Volksgeistdes deutschen Volkes ist, ist für mich nichtweniger einfach zu beantworten. DieserAutor, sehr angesehen, befreundet mit RudolfSteiner, befreundet über Jahrzehnte, hat dasjedenfalls so interpretiert.Daraus wird verständlich, warum er, zumin-dest zunächst, diese sogenannte Erneuer-ungsbewegung begrüßt hat. Aber dahintersteht schließlich der Begriff des „Deutsch-tums“ bei Steiner. Und der ist eigentlich ganzanders. Er geht in die Richtung dessen, wasich zu Anfang über die Mission „einzelnerVolksseelen“ angedeutet habe.

Schmelzer: Vielleicht kann ich ergänzen, dassHerr Werner aus seinem eigenen Buch zitierthat, also Uwe Werner, „Rudolf Steiner zuIndividuum und Rasse“, das vor kurzemerschienen ist.

Werner: Das Zitat ist aus Erinnerungen vonAlfred Meebold. Die sind in mancher Hinsichtaußerordenlich interessant, denn er war einaußerordentlich interessanter Mensch. Ichglaube er ist 90 Jahre alt geworden. Er hat vielaufgebaut in Neuseeland und hat zuvor inHeidenheim gelebt und viel fruchtbaresanthroposophisches Leben gepflegt. Dasmöchte ich noch hinzufügen, damit man nichtnur eine einseitige Sicht auf diesen Menschenhat. Andere, meine ich, hatten ähnliche Moti-ve, so dass er beispielhaft für manche andereist, die in der ersten Zeit Hitler guthießen oderbegrüßten.

Schmelzer: Wir haben über eine gewisse Nähemancher Anthroposophen zum Nationalsozi-alismus gesprochen. Das fordert sozusagendie Gegenfrage, die ich gerne Herrn v. Platostellen würde:Gab es Anthroposophen der damaligen Zeit,die von vornherein diesen Nationalsozialismusund auch Hitler durchschaut haben, auch indieser ganzen Dimension, in der sie aufgetre-ten sind? Und dazu: Welche Fähigkeiten hattendiese Menschen?

v. Plato: Sie hatten selber schon den Vorstandder damaligen deutschen AnthroposophischenGesellschaft erwähnt, die dann im November1935 von den Nazis verboten worden ist. Beiden leitenden Persönlichkeiten der anthropo-sophischen Arbeit in Deutschland war einrecht klares Bewusstsein darüber ausgebildet,dass es mit Hitler und der nationalsozialisti-schen Bewegung nichts Gutes auf sich hat. ImHinblick auf die biografische Fragestellung istsicherlich die sehr frühe Erkenntnis und Ein-schätzung von Albert Steffen am bemerkens-wertesten und am interessantesten. AlbertSteffen, der 1984 geborene schweizerischeDichter, hat seit Anfang des 20. Jahrhundertsmit Rudolf Steiner zusammengearbeitet, istdann 1923 /24 bei der Begründung der Allge-meinen Anthroposophischen Gesellschaft inihren Vorstand berufen worden und war nachSteiners Tod über fast 40 Jahre Vorsitzender derGesellschaft am Goetheanum. Er hat mit sei-nen ausgebreiteten menschlichen, sozialenund politischen Interessen die ganze Entwick-lung in Deutschland genau verfolgt und auchkünstlerisch verarbeitet. In den frühen 30erJahren, noch vor der Machtergreifung, bringt erein Drama heraus, „Der Sturz des Antichrist“,in dem er wie bei vielen seiner dramatischenWerke drei Ebenen der Betrachtung verwebt:Erstens die Auseinandersetzung mit seinerjeweiligen Gegenwart, in der er versucht, einBild von der Zeit zu zeichnen und darin tieferespirituelle Schichten zu erfassen; zweitens dieAuseinandersetzung mit Problemen innerhalbder Anthroposophischen Gesellschaft; und

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schließlich drittens den Aspekt der individuel-len, geistigen Entwicklungsmöglichkeiten, dieman an diesen Ereignissen gewinnen kann.Besonders im Sturz des Antichrist, aber auch ineiner Reihe von Aufsätzen – er hat damals fastjede Woche einen Aufsatz, einen Leitartikel inder Zeitschrift „Das Goetheanum“ geschrie-ben – und ganz ungeschminkt in seinen Tage-büchern wird deutlich, wie er die verschiede-nen Schichten des Zustandekommens und diegeistig-menschliche Unmöglichkeit des Natio-nalsozialismus versteht. Er schildert sie in sei-nen veröffentlichten Arbeiten meistens indi-rekt und verdeckt, weil er schon früh ahnte,dass dieses Regime zur Macht kommen würde.Deutschland war damals das anthroposo-phisch wichtigste Land und es war politischeVorsicht, sich nicht zu radikal und offenkundiggegen den Nationalsozialismus zu stellen, umnicht den Mitgliedern der Gesellschaft inDeutschland das Leben und Überleben schwerzu machen. Im Falle Albert Steffens sieht mansehr deutlich, wie die künstlerisch-dichterischeSensibilität und die anthroposophische Erfah-rung ihn einerseits dazu befähigten, denNationalsozialismus ohne Umwege als dämo-nisch und menschenverachtend zu identifizie-ren, und ihn andererseits befähigten, in einerArt unzweideutig zu sprechen, die jeder hörenkann, der hören will, die aber niemand hörenmuss, der nicht mag. Albert Steffen ist zweifel-los einer der maßgeblichen Früherkenner,wenn wir das so nennen wollen.Als zweites Beispiel möchte ich Ita Wegman(1876-1943) nennen, die bis 1935 ebenfalls imVorstand der Allgemeinen Anthroposophi-schen Gesellschaft am Goetheanum wirkteund nicht nur als Mitbegründerin der Anthro-posophischen Medizin zu den prägenden Per-sönlichkeiten der Anthroposophie zählt. Indem hier in Rede stehenden Sinne stand sie

unmittelbar an Steffens Seite. Aus ganz ande-ren Hintergründen, Motiven und mit ganzanderen Möglichkeiten handelte sie nichtminder klar und wirksam. Bei ihr ist vor allembemerkenswert, wie sie in ihrem weltweitenund sozial engagierten Netzwerk der Bezie-hungen, Freundschafts- und Gesprächsver-bindungen schon sehr früh Maßnahmenergriff, um die anthroposophische Arbeit undBewegung vor allem außerhalb Deutschlands,ja im außereuropäischen Raum zu verankern,damit sie ihre bevorstehende Unterdrückungin Europa überleben könne und einmal, wenndieser Alptraum vorüber sein würde, dieanthroposophische Arbeit auch in ihren Kern-oder Entstehungsländern weiter geführt wer-den kann. Ihre Erkenntnis und ihr dezidierterEinsatz kommen, wenn ich das richtig sehe,ganz aus einer anthroposophisch geschulten,praktischen und immer die wirksame Hand-lung im Sinn tragenden Intuition. Diese Intu-itionsfähigkeit gibt ihr eine unmittelbareUrteilsfähigkeit für das mitteleuropäischeFaschismus-Phänomen, seine Gefahren undseine Gegenbildlichkeit zur Anthroposophie.Sicherlich beschleunigten und bestätigtenihre vielen Gespräche und Korrespondenzenmit ihren Vertrauten und Mitarbeitenden inaller Welt ihre Ahnungen und Einsichten. Wirkönnen uns heute, glaube ich, kaum vorstel-len, welche Lähmung es für die Entwicklungder Anthroposophie nach 1945/46 bedeutethätte, wenn diese Exilbewegung aus Mitteleu-ropa nach England, Skandinavien, in die USA,nach Südafrika oder Südamerika in den 30erund frühen 40er Jahren nicht in dem Maßestattgefunden hätte, wie es nicht zuletzt durchdie klare Urteilsbildung und Ratschläge ItaWegmans der Fall gewesen ist.Also das sind sicherlich zwei in ihrer Eindeu-tigkeit, Wirksamkeit und Unterschiedlichkeit

besonders markante Beispiele für ein frühesDurchschauen des Nationalsozialismus undeines vorsichtigen und wirkungsvollenUmgangs mit dieser Erkenntnis.

Oltmann: Es waren einzelne Menschen, dieunmittelbar und sofort erkannt haben, worumes sich hier handelte. Diese Kraft, sich wedertäuschen noch faszinieren zu lassen, sondernnüchtern die Verhältnisse durchschauen zukönnen, ist das Einzige, was im kleinen undgroßen Kampf, im Geisteskampf, hilft. In denMysteriendramen kommt das deutlich heraus.Unter diesen Einzelnen werden hier sichernoch solche genannt werden, die Anthropo-sophen waren. Die Anthroposophie trägtnämlich in ganz besonderer und hervorragen-der Weise die Möglichkeit in sich, das Ich zustärken, von dem die Sicherheit in Beurteilun-gen ausgeht.Wieder ist das Gegenteil von dieser Dynamikzu erkennen, wie negativ aufeinander bezo-gen: Neben der Macht zu täuschen, hat das„Tier aus dem Abgrund“ noch eine zweiteAbsicht, deren Gelingen auch an den Nach-wirkungen bei Kriegsende deutlich wird: Esist die Macht, von sich selbst besessen zumachen, sich als Ersatz-Ich zu etablieren undzu sagen: Du bist nichts. Dann in völlige gei-stige Unfreiheit zu führen, welche die Aussa-ge möglich macht: Ich habe ja nur Befehleausgeführt. Eine vorübergehende Totalverab-schiedung vom eigenen Ich ohne jede Eigen-verantwortung.Mit der Nachwirkung meine ich, wie furcht-bar schamvoll nach Kriegsende dann bei vie-len das allmähliche oder plötzliche Erwachengewirkt hat, als die Kulissen der Fremdaus-stattung mit einer fremden Macht gefallenwaren. Auch Scham ist eine Ich-Resonanz. Ichmöchte es noch einmal wiederholen, dass dieAnthroposophie genau das Gegenteil voneiner solchen Katastrophe intentionalisiert.

Schmelzer: Zu diesem Aspekt ist die andereSeite dazu zu stellen, dass eben gegen diesesTier, von dem Sie eben gesprochen haben,eine bestimmte Art von Urteilsfähigkeit offen-sichtlich immun macht.Und das ist bei Albert Steffen besonders ein-dringlich, dieses Verarbeiten der Zeitereig-nisse in einer meditativen Weise.Man kann dies an den Tagebüchern sehen, woer fast täglich notiert, was politisch geschehenist, aber dieses Geschehen in eine größereDimension hinein stellt.Diese wache Zeitgenossenschaft ist schonsehr beeindruckend.Ähnlich bei Rudolf Steiner, der ja 1923 nachdem Hitler-Putsch gesagt hat: „Wenn dieseGesellschaft sich durchsetzt, bringt dies fürMitteleuropa eine große Verheerung.“ Undder seine Wohnung in Berlin augenblicklichgekündigt hat. Da liegt das Element einerganz klaren Urteilsfähigkeit im Bewerten derZeitereignisse vor. Nach der Machtergreifungkam dann bald das Verbot der Anthroposo-phischen Gesellschaft, dann die VerfolgungProf. Georg Schumacher, Renate Schiller

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der verschiedenen anthroposophischen Initi-ativen, auch die Waldorfschulen wurden nachund nach geschlossen.Damit sind wir beim Thema der verschiede-nen Wirkensfelder innerhalb der Anthroposo-phie, das wir nur ganz kurz streifen können.Herr Werner, sind in diesem Zusammenhangbesonders markante Beispiele zu nennen vonvielleicht taktischer Kooperation, von Kom-promissen, bei denen man eine Linie über-schritten oder vielleicht auch sehr geschickteingehalten hat?

Werner: Ich möchte dem hinzufügen, dassAlbert Steffen in seinem Tagebuch der erstenMonate 1933 viel verzeichnete, aus dem deut-lich hervorgeht, wie klar er gesehen hat.Er konnte nur, weil er die deutsche Mitglieder-schaft schützen wollte, nicht in dem Sinneklar öffentlich auftreten. Alles ist bei ihm danndichterisch verwandelt worden. Aber in sei-nem Tagebuch steht das sozusagen brutaldeutlich drinnen. Auch die Erwähnung, dassda etwas Dämonisches vorliegt, das überwun-den werden muss, bevor der ätherische Chris-tus erkannt wird. So habe ich ihn verstanden.In aller Kürze kann vielleicht auf drei Varian-ten hingewiesen werden: eine Variante ist derRat Ita Wegmans, dass die heilpädagogischenEinrichtungen in Deutschland sich nichtorganisieren sollten, sondern jede für sicharbeiten, abwarten, oder ins Exil gehen. Daswar Ita Wegmans Sicht.Das andere Extrem vertrat Erhard Bartsch, dersich Büchenbacher gegenüber äußerte:„Wenn man wirklich michaelischen Geist hat,tritt man an die Seite von Adolf Hitler.“ Dasist allerdings eine Bemerkung, die lediglichvon Hans Büchenbacher wiedergegeben wirdund offenbar aus der gleichen Stimmung wiebei Meebold rührte.Er meinte auch, dass die biologisch-dynami-schen Landwirte sich organisieren müssten.Durch einen Reichsverband seien sie starkund könnten gegenüber den Herrschafts-mächtigen kraftvoll auftreten. Das war einesseiner Motive, welches er auch umsetzte. Erlud alle ein auf seinen Hof Marienhöhe beiBerlin und sorgte für einen eifrigen Besucher-strom von Partei und Regierungsvertretern.Als die Düngemittelindustrie gegen die biolo-gisch-dynamische Landwirtschaft vorgehenwollte, bemühte Bartsch das Argument derpolitisch gewollten Autarkie, da die biolo-gisch-dynamische Landwirtschaft auf die Ein-fuhr von Düngemitteln verzichten könne. Dasführte zu der Illusion, dass die biologisch-dynamische Landwirtschaft zu einer staatlichgeförderten, allgemein applizierten Landwirt-schaft werden könne und so ihren Durch-bruch schaffen werde. Er übersah dabei, dassdie biologisch-dynamische Landwirtschaftkeine nationale Angelegenheit werden dürfe,wenn sie in der richtigen Weise in der Weltleben sollte.Das war die Versuchung, in die Erhard Bartschmit seinem Missionseifer geriet.Ich kann das auch deswegen ganz frei sagen,

weil er nach dem Krieg Fritz Götte, einem derdamals leitenden Vertreter der Weleda Betrie-be, ganz eindeutig erklärte, dass er sich geirrthabe. Das ist bei ihm gleichfalls eingetreten.Zwischen diesen beiden Extremen liegt dasVerhalten der Waldorfschulen, das komplexist. Da ist einerseits der Wille zu beobachten,sich ebenfalls zu organisieren, und anderer-seits setzt man auf die Autonomie der ein-zelnen Einrichtungen. Es ist ein komplexerVorgang, den man nicht vereinfachen sollte.Aber ich möchte betonen, dass man gegen-über keinem der zahlreichen Menschen,denen ich in meiner Forschung innerhalbder Waldorfschulbewegung begegnet bin,keinem einzigen nachsagen könnte, er wäretatsächlich nazifreundlich gewesen. Immerging es um Versuche zu überleben. Häufiggab es den weisheitsvollen Entschluss, lieberselbst zu schließen bevor man geschlossenwurde. Einige Schulen wie Hamburg-Altonaoder Berlin haben sich so entschieden.Andere machten so lange weiter, wie esging. Das waren z.B. Stuttgart und Ham-burg-Wandsbek. Aber es gab auch den Ein-satz von Elisabeth Klein, die ich selbst nochals Lehrerin nach dem Krieg erlebt habe. Siewird immer verdächtigt, nazifreundlichgewesen zu sein. Sie ist aber einfach zu allenLeuten hingegangen mit der Losung: wirmüssen miteinander sprechen, dann gibt eseine Lösung.Sie hatte die Gabe, andere, also auch Regie-rungsbeamte, Nazis und so weiter – niemalsHess selbst, sondern Alfred Leitgen einen sei-ner Privatsekretäre –, so zu begeistern von deranthroposophischen Pädagogik, dass die sichdafür einsetzten. Und vieles war dann nochmöglich. Keinesfalls hat sie sich um die Mit-gliedschaft in einer NS-Organisation bewor-ben.Aber so in der Art ging das vor sich, weil selbstdie Naziverwaltung kein einheitlicher Blockwar. Das war eine Polykratie, wo man aufeiner Seite weiterkommen konnte und auf deranderen sofort blockiert war. Und noch eineandere Sache möchte ich sagen, dass dasWeiterkommen der anthroposophisch orien-tierten Organisationen in der NS-Zeit nurdadurch möglich war, dass sie als Organisa-tionen nicht zur anthroposophischen Gesell-schaft gehörten. Dadurch konnte rechtlichnichts gegen sie gemacht werden. Die schein-bare Wahrung des Rechts gehörte zu den Täu-schungsmethoden der Nazis.Aber das sind Einzelschicksale von Institutio-nen und von Menschen, die ich in manchenFällen außerordentlich bewundere in jederihrer Phasen.

Schmelzer: Es ist eben angesprochen wordendas Thema des Widerstandes, der sich jabesonders im Krieg formiert hat. Frau Olt-mann, was ist die moralische Qualität desWiderstandes gegen den Nationalsozialismusgewesen? Und: Gab es Widerstand auchinnerhalb der anthroposophischen Bewe-gung?

Oltmann: Bevor wir dazu kommen, möchte ichgern noch ein Motiv nennen, das in diesesGespräch wohl auch gehört, nämlich ein Bei-spiel erzählen, wie umgekehrt Anthroposo-phen als mächtigste Feinde der Nazis erkanntwurden.Als die Christengemeinschaft am 9. Juni 1941verboten wurde, gab es einige Vorgespräche.Aus einem solchen Gespräch zwischen demMarineoffizier Hans Erdmenger mit ReinhardHeydrich, Chef des Reichssicherheitshaupt-amtes in Berlin, ist folgendes Zitat erhalten vomEnde Mai. Heydrich sagte zu Erdmenger: „Wirwerden das Christentum aus der Welt schaf-fen. Nach dem Kriege wird der Führer selbstdie religiöse Frage neu regeln. Die christlichenKirchen noch länger zu verfolgen, ist unnötig,denn sie werden allein für ihren Untergangsorgen. Die Christengemeinschaft jedochkönnte in der Zukunft zu großer Bedeutunggelangen und dem Christentum eine neueStütze geben. Wir würden uns selbst die größ-ten Schwierigkeiten bereiten, wenn wir sienicht jetzt mit energischem Griff erledigten.“11

Das andere Beispiel dafür, dass ein Erkennenstattgefunden hat, kommt aus einer anderenRichtung. Es kann übrigens auffallen, wie vieleMenschen unter denen, die aktiven Wider-stand leisteten, bekennende Christen waren:die Geschwister Scholl und ihr Umkreis, Clausv. Stauffenberg, Alfred Delp, Dietrich Bonhoef-fer, Helmut James v. Moltke u.a.Im Schicksal Moltkes gibt es einen hochbesonderen Augenblick, den er in seinemletzten Brief vom 11. Januar 1945 an seineFrau Freya schilderte. Da standen sich Freislerund Moltke gegenüber und Moltke bemerktemit einer scharfen Hellsichtigkeit, dass sichhier zwei Menschen gleichzeitig durch unddurch erkannten in dem, was sie im Innerstenwaren. „Ich weiß nicht, ob die Umsitzendendas alles mitbekommen haben, denn es warwie eine Art Dialog – ein geistiger, zwischenFreisler und mir, denn Worte konnte ich nichtviele machen – bei dem wir uns durch unddurch erkannten. Von der ganzen Bande hatnur Freisler mich erkannt, und von der gan-zen Bande ist auch er der einzige, der weiß,weswegen er mich umbringen muss … Wirhaben sozusagen im luftleeren Raum mitein-ander gesprochen.“ Es klingt so, als habe hierder eine an dem anderen die gesamte jeweili-ge Geistigkeit wahrgenommen, dass sich„Mächte“ gegenüber standen. Das Ganze mitvollkommener Furchtlosigkeit! Das war derKampf, um den es ging.

Schmelzer: Wir kommen zu unserer letztenRunde. Ich möchte jetzt alle bitten, zu einerFrage zu sprechen, die uns sicher weiterbeschäftigen muss: Welche Erkenntnisse las-sen sich aus der besprochenen Thematik fürdie Weiterentwicklung der anthroposophi-schen Bewegung gewinnen? Welche Urteils-formen sind zu entwickeln?

11 Uwe Werner, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozia-lismus, München 1999, S. 308

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v. Plato: Vielen Dank, dass Sie gerade diese indie Zukunft weisende Abschlussfrage stellen.Ich möchte gerne an das von Mechthild Olt-mann geschilderte Ereignis, das wohl zu denzentralen historischen Ereignissen des20.Jahrhunderts zählt, anschließen. An diesesEreignis, als sich Helmuth James von Moltke(1907-1945) und Roland Freisler (1893-1945)im Januar 1945 im Volksgerichtshof in Berlingegenüber standen und sich wechselseitigerkannten.In dieser Szene, die Frau Oltmann geschil-dert hat, wie auch in dem Prozess gegenAlfred Delp (1907-1945), geht es für Freislerum die Auseinandersetzung des Nationalso-zialismus mit dem Christentum schlechthin.Freisler hatte erkannt, dass Moltke nicht alsBeteiligter von Attentatsplänen gegen Hitler,nicht als Großgrundbesitzer, Adeliger oderProtestant, sondern als Christ vor ihm stand.In diesem Zusammenhang sagte RolandFreisler zu Helmuth James von Moltke: „Nurin einem sind das Christentum und wirgleich: Wir fordern den ganzen Menschen!“So verstand Freisler das Christentum, nichtaber Moltke, obwohl er als ganzer MenschChrist war.12

Noch bevor ich die Moltke-Freisler-Ausein-andersetzung kennen lernte, habe ich das-selbe Motiv in einem Interview zur Anthro-posophie in der Zeit des Nationalsozialismuserlebt. Es war in einem Gespräch mit demErbprinzen Georg Moritz von Sachsen-Altenburg (1900-1991), der einige Jahre inder NS-Zeit mit Siegfried Pickert (1898-2002) das Schloss Hamborn bei Paderbornals anthroposophisch-heilpädagogische Ein-richtung leitete. Und ich sehe den Erbprin-zen heute noch vor mir – es war nicht langevor seinem Tod, er war schon bettlägerig undphysisch sehr schwach, geistig aber hellwachund klar –, wie er mir die Geschichte erzähl-te, als er von den Gestapo-Inquisitoren ver-nommen wurde und schließlich mit Wider-streben hören musste, dass Nationalsozia-lismus und Anthroposophie eines gemein-sam hätten, dass sie nämlich den ganzenMenschen forderten.13Nicht zuletzt aus der Auseinandersetzungmit der Anthroposophie in der Zeit desNationalsozialismus ist mir deutlich gewor-den, dass in dem Moment, in dem Anthro-posophie in einem Sinne verstanden undgelebt wird, „die den ganzen Menschen for-dert“, sie dem Nationalsozialismus, ja jederForm des Totalitarismus verwandt wird undsich damit in ihr Gegenbild verkehrt. Aberheißt das, man sollte sie nur halbherzig auf-nehmen, immer in sicherem Abstand blei-ben, sich nicht existentiell verbinden? Hierkomme ich wieder zu meinem ersten Votumzurück, zu der anthropologischen Frage. Dieganze Herausforderung der Bewusstseins-

seele im Gegensatz zur Empfindungs- undVerstandesseele liegt vielleicht in der Grat-wanderung zwischen wirklicher Verbindungund wirklicher Distanz, ja mehr noch: inihrer Durchdringung. Ist das vorstellbar:Sich wirklich mit etwas oder jemandem zuverbinden, sich ganz einzulassen und dochfrei zu bleiben, ja gerade dadurch frei zuwerden? Wo innere Distanz und existentiel-le Verbindung keine Gegensätze mehr sind,aber einander ermöglichen, beginnt eineSeelenhaltung, aus der die anthroposophi-sche Bewegung sich kräftig in die Zukunftentwickeln kann und kein TotalitarismusPlatz hat.

Oltmann: Ich habe mein Schlusswort schongesprochen.

Rißmann: Ich denke, das Beispiel Anthropo-sophie – und es gibt viele andere Beispiele inden 20er Jahren – zeigt, dass es sehr gefähr-lich sein kann, sich in der Illusion zu wiegen,dass man unpolitisch sei, dass man sichsozusagen in die Idylle des nur kulturellen,des nur esoterischen, des nur religiösenRaums zurückziehen und alles andere aus-blenden könne.Das 20. Jahrhundert – das kann man als aka-demischer Geschichtsforscher sagen undwohl auch, habe ich den Eindruck, als Anthro-posoph – ist ein Jahrhundert, das einen zurAussage auch zwingt. Und die Verweigerungdieses Bekenntnisses, der Rückzug in diebequeme Idylle einer sehr bequemen,beschaulichen, vergangenheitsorientiertenBetrachtung der Kultur kann dann dazu füh-ren, dass man vereinnahmt wird. Also: Wach-samkeit gegenüber der Sphäre des Politi-schen!

Werner: Auf der Hinfahrt hatte ich auf meinenZug zu warten. Auf der Raucherinsel standmit mir ein Rechtsanwalt, 62 Jahre alt, underzählte, er fahre nach Eisenach. Dort sei dasTreffen einer Burschenschaft, der er seit sei-nem Studium angehöre.Es werde da verhandelt, ob ein türkischstäm-miger Deutscher aufgenommen werden solle.Und er war empört darüber, dass das über-haupt als Frage aufgekommen war.Zwei Tage später habe ich gelesen, dass derAspirant aufgenommen wurde und dass diesals Sensation bezeichnet wurde. Mich hatbewegt, dass das heute nach wie vor eineFrage sein kann, wie mein Verhältnis zu mei-ner Herkunft – nicht nur Rasse und Volk –,sondern auch bereits Familie, Heimat usw. ist.Es erscheint mir von Bedeutung, dass diesesDeutschsein offenbar nach wie vor nichtunproblematisch ist. Ein gesundes Verhältnisdazu zu gewinnen, scheint nach wie vor einsteiniger Weg zu sein. Es ist gar nicht soselbstverständlich, „heimatlos“ zu werden.Und das bringt mich zu dem Gedanken, waszukünftige Gemeinschaftsbildung seinkann. Ist das etwa bereits gelöst? Sind dieGemeinschaften, in denen ich mich befinde

auch diejenigen, die ich will? Was bewegtmich, Gruppierungen zu bilden, die meinenindividuell berechtigten Freiheitsdrang nichtin falscher Weise begrenzen? Ist das mög-lich, Gemeinschaften zu haben, in denenkein Widerspruch ist zwischen Angehörig-keit zu der Gemeinschaft und Selbstsein, sowie ich bin, so wie ich sein will und werde?Das ist eine Gestaltungsfrage, die sich auchin der lebendig veranlagten anthroposophi-schen Gesellschaft immer wieder stellt, derich ja gerne angehöre.

Schmelzer: Ich möchte mich bei allenGesprächsteilnehmern sehr herzlich bedan-ken, bei Ihnen bedanken, dass Sie so intensivzugehört haben. Ich denke, wir werden man-ches mitnehmen und vielleicht in eine Sphäredes Schweigens überführen.Natürlich wird jeder auch mit dieser Frageumgehen: Wie hättest du dich selbst verhal-ten? Aber vielleicht ist eine andere Fragegenauso wichtig: Ist es eigentlich so, dass wirheute individuell, aber auch als anthroposo-phische Bewegung den Herausforderungen,die die Zeit stellt, wirklich voll und ganzgerecht werden? Da würde ich gerneanknüpfen an das, was Herr Rissmann emp-fohlen hat, nicht einen Rückzug in eine nurkulturelle Sphäre zu machen, sondern Auf-merksamkeit zu entwickeln für das Politi-sche. In diesem Zusammenhang möchte ichabschließen mit einem Wort von Rudolf Stei-ner, das sehr wenig bekannt ist und aus derDreigliederungszeit stammt. Damals war esso, dass ein Rückhalt für die Dreigliede-rungsbewegung gesucht wurde und es gabim Januar 1919 ein Gespräch zwischenRudolf Steiner, Emil Molt, Hans Kühn undRoman Boos. Man fragte sich, wer einen sol-chen Rückhalt bilden könnte. Darauf sagteEmil Molt: „Die Anthroposophische Gesell-schaft ist dazu nicht geeignet, sie soll sich janicht mit Politik befassen.“ Rudolf Steiner:„Wieso, wer sagt das?“ Kühn, Molt, Boos,unisono: „Der Statutenentwurf.“ RudolfSteiner: „Dieser ist ja von 1911 und außer-dem durch den Krieg längst ausgelöscht. DieAnthroposophische Gesellschaft kann sichruhig mit Politik befassen, ich rede ja auchimmer von Politik.“ Völlig überrascht HansKühn: „Könnte sich die Gesellschaft als Par-tei betätigen?“ Rudolf Steiner: „Sie ist keinVerein, nur eine Gesellschaft. Der Einzelnehat volle Freiheit. Man braucht für eine Par-tei nicht diesen Namen ,AnthroposophischeGesellschaft’ zu wählen. Es müssten auchNicht -Anthroposophen als Angehörige auf-genommen werden.“ Diese Worte sind,meine ich, ein erschütternder Appell, sichaus anthroposophischer Perspektive nichtnur mit wissenschaftlichen, künstlerischenund religiösen Fragen auseinanderzusetzen,sondern auch mit politischen.Und die Bemühung, dazu immer wieder dieKraft aufzubringen, ergibt sich aus meinerSicht als Konsequenz aus dem, was wir hierbesprochen haben.Vielen Dank.

12 Helmuth James von Moltke, Im Land der Gottlosen, Tagebuchund Briefe aus der Haft 1944/45, München 2009; Brief vom10./11.1.1945, S. 33913 Schloss Hamborn im Nationalsozialismus. Ein Streiflicht. In:Konturen 2, Heidelberg, Menon, 1991, S. 83-91

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Rudolf Steiner – es gibt so vieles zu ihm zusagen! Und doch möchte man das Wort zuihm, die Rede über ihn kondensieren, dass siewesentlich sei, dass sie ihn enthalte, dass sieihm und seinem Werk gerecht werde.Ein bloßer Rückblick könnte das nicht leisten.Er würde sich in der Vergangenheit aufhaltenund Verdienste, Erfolge, Krisen und Misslun-genes aufzählen – Menschliches vernachlässi-gen und Größe zu malen versuchen. Daswürde ihm nicht gerecht. Er würde Momentefesthalten, Erinnerungen beschreiben und ihnin das Gewesene bannen.Marc Aurel notierte in seinen Selbstbetrach-tungen: „Denke daran, auch wenn du drei-tausend Jahre oder zehnmal so lange lebst,niemand verliert ein anderes Leben als dasje-nige, das er lebt, und er lebt kein anderes alsdas, was er verliert. Weder die Vergangenheitnoch das Zukünftige kann man verlieren. Wiesollte jemandem genommen werden, was ernicht hat? Nur der gegenwärtige Augenblickkann verloren gehen. Nur ihn allein besitztman. Man kann nicht verlieren, was mannicht besitzt.“14

Der gedenkende Blick wird Rudolf Steiner nurgerecht, wenn er den wirkenden, gegenwärti-gen, den augenblicklichen Steiner erfasst. ImAugenblick schmilzt zusammen, was von derVergangenheit her vorbereitet ist und aus derZukunft latent sich nähert. Seine Wirklichkeiterfüllt sich erst im je gegenwärtigen Vollzug.Diese Wirklichkeit suchen wir in Zusammen-hang mit Rudolf Steiner. Fortwährend erlebenwir an ihm diese Wirklichkeit. Er ist einMensch, der bis heute keine Gleichgültigkeithervorruft. Immer entzündet sich etwas anihm, bildet sich Aktuelles in der Begegnung.Einige fühlen sich angeregt, andere suchenRat, dritte reagieren verärgert. Immer aberwird Rudolf Steiner mit Wesentlichem in Ver-bindung gebracht. Man sucht die Begegnungmit ihm im Zusammenhang von Lebens- undSinnfragen.Seine eigene Lebensform und Konstitutionwar ungewöhnlich. Mit der Hochtechnologieseiner Zeit – Eisenbahn, Telegraphie – durchdas berufliche Umfeld des Vaters vertraut, warund blieb er für geistige Wahrnehmungenoffen, auch in einem Lebensalter, in demandere sich von der betörenden Gewalt äuße-rer Sinneseindrücke fesseln lassen.Eine erste grundlegende Prägung seinesBewusstseins kann auf das achte Lebensjahrdatiert werden. Im Wartesaal des Bahnhofsvon Neudörfl hatte er eine Begegnung miteiner Verstorbenen. Seit dieser Zeit wurdenihm Erlebnisse bewusst, „in denen sichdurchaus diejenigen Welten offenbarten, ausdenen nicht nur die äußeren Bäume, die

äußeren Berge zu der Seele des Menschensprechen, sondern auch jene Welten, die hin-ter diesen sind“, und er lebte „mit den Gei-stern der Natur, … mit den schaffendenWesenheiten hinter den Dingen.“15

Aus seiner Autobiographie geht eine zweiteentscheidende Bewusstseinsprägung aus dem36. Lebensjahr hervor.„Das Erfahren von dem, was in der geistigenWelt erlebt werden kann, war mir immer eineSelbstverständlichkeit; das wahrnehmendeErfassen der Sinneswelt bot mir die größtenSchwierigkeiten. … Ich wurde gewahr, daßich einen menschlichen Lebensumschwungin einem viel spätern Lebensabschnitt erlebteals andere.“Ideenleben und Sinnesleben mischen sich beiRudolf Steiner nicht in einem solchen Maßeund zu einem so frühen Zeitpunkt, wie dasgewöhnlich im Menschenleben geschieht.Dadurch wurde weder das Ideen- durch dasSinnesleben korrumpiert, noch umgekehrtdas Sinnes- durch das Ideenleben.„Das von allem Subjektiven in der Seele freie,objektive Sich-Gegenüberstellen der Sinnes-welt offenbarte etwas, worüber eine geistigeAnschauung nichts zu sagen hatte“ und imErkennen war „der Gegenpol da, um das Gei-stige in seiner vollen Eigenart, unvermischtmit dem Sinnlichen, zu würdigen.“16

Die Stellung des Menschen im Weltganzen,im sich ergänzenden Gegensatz von geisti-gem Leben und Sinneswelt zu bestimmen,wurde zu einem zentralen Punkt seinesLebenswerkes. In der sinnlichen Anschauungleuchtet das Rätsel der Welt auf und im Men-schen selbst liegt dessen Lösung durch einewirklichkeitsgemäße Erkenntnis. Die Welt istalso ohne den Beitrag des Menschen nichtfertig und nicht vollständig.Jeweils neu, aktuell und gegenwärtigbestimmte Rudolf Steiner durch die Idee desErkennens den Menschen „zum Mitschöpferan der Welt selbst, … nicht zum Nachschaffervon etwas, das auch aus der Welt wegbleibenkönnte, ohne daß diese unvollendet wäre.“17

Trotz der Geselligkeit, die ihn auszeichnete,und der intensiven Vernetzung mit unter-schiedlichsten Charakteren und Strömungen,erlebte Rudolf Steiner Einsamkeiten, die biszu der nicht auszuschließenden Konsequenzdes Verstummen-Müssens reichten.Ausnahmen waren nicht allzu häufig. GroßeFrauengestalten leisteten zuweilen jeneUnterstützung, die für das Weitergehen wich-tig war. Rosa Mayreder ist eine solche Gestalt.Am 14. Dezember schickt er ihr ein Exemplarseiner druckfrischen „Philosophie der Frei-

heit“ und schreibt: „Ich gestehe Ihnen ganzoffen, daß ich an vielen Stellen meines Buchesmit dem Gedanken schrieb: Was werden Siedazu sagen?“18

Die so Angesprochene – Dichterin und Frau-enrechtlerin – liest darin Passagen über „Indi-vidualität und Gattung“, die feststellen, dass

Zum 150. Geburtsjahr Rudolf SteinersHartwig Schiller

14 Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, Leipzig 1987, eigene Über-setzung

15 Rudolf Steiner, Autobiographischer Vortrag, Berlin 4. Februar1913, in: Beiträge zur Gesamtausgabe Nr. 83/84, Dornach 198416 Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28, S. 316f., Dornach200017 ebda., S. 320 18 Rudolf Steiner, Briefe II, S. 198, GA39, Dornach

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t28

Männer und Frauen fast immer zuvielGeschlechtszugehörigkeit und zuwenig vondem Individuellen ihres Gegenüber sehen.Die Rolle der Frau werde nach abstrakten Vor-stellungen ihrer „natürlichen Aufgaben undBedürfnisse“ statt nach ihren „individuellenFähigkeiten und Neigungen“ beschrieben.„Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann,das überlasse man der Frau zu beurteilen.“19

Sie revanchiert sich in der freundlichstenWeise, indem sie das Werk als einzigartig „anKlarheit und Schärfe des Gedankens in derganzen philosophischen Literatur“ erklärt. Siehabe „alles Große und Bedeutende verwirk-licht gefunden, das [sie] von [seinem] Geisterwartete.“20

Ebensolche Unterstützung fand Rudolf Stei-ner in Anna Eunike, Marie von Sivers, ItaWegman und vielen anderen. Freundschaft imgeistigen Streben, über Klassen-, Stände- undGeschlechterschranken hinweg war das neueArbeitsverfahren, das als Methode des ethi-schen Individualismus eingeführt wurde.Dieses Prinzip wurde erprobt mit der Avant-garde des aufziehenden zwanzigsten Jahr-hunderts, um „ein neues geistiges Licht derMenschheit [zu] bringen“, – immer als Ver-such, inneres Ideenlicht und äußere Erschei-nung zu vereinigen, bürgerliche Doppelmoralund Auseinanderklaffen von Erscheinung undWirklichkeit zu überwinden.Anthroposophische Bewegung konnte dieserImpuls durch seine unmittelbare Gegenwärtig-keit werden. Die beteiligten Menschen ver-pflichteten sich ihm in ungeteilter Zuwendung.Dadurch konnte eine Brücke aus der Zukunftin ihre Gegenwärtigkeit gebaut werden.Die Welt hat sich daran gewöhnt, die Waldorf-pädagogik als Speerspitze der zivilisatori-schen Erneuerung durch Anthroposophie zusehen. Sicherlich tut das anderen Unterneh-mungen wie dem anthroposophisch erweiter-ten Heilwesen, verschiedenen Kunstimpulsen

oder der Architektur Unrecht. Gegenwärtigaber hat eine weitere Initiative allen anderenden Rang abgelaufen. Ich kann mich noch gutan meine Kindheit erinnern, in der jene Kun-den mitleidig belächelt wurden, die für etwaskleinere, etwas verschrumpeltere und flecki-gere Äpfel bereit waren, mehr Geld auszuge-ben als für jene Hochglanzprodukte aus ga-rantiert chemisch forciertem Anbau. DieMarke hieß schon damals „Demeter“ und dieProduktionsweise „biologisch-dynamisch“.Heute belächelt das niemand mehr. Undkürzlich hat der „landwirtschaftliche Kurs“von Koberwitz sogar in großem Stil die Weltverändert. Er hat überdies eine Wahl gewon-nen und Regierungen zu nicht für möglichgehaltenen Kehrtwendungen bewogen. In diePolitik ist für einen Augenblick ein Hauch vonethischem Individualismus eingezogen.In der Wahlnacht vom 27. März 2011 wurdendie Wähler in Baden-Württemberg zunächstnoch von den Verlierern verdächtigt, ihrStimmrecht nach Japan vergeben zu haben.Innerhalb weniger Tage trat jedoch ein großerUmschwung ein. Fukushima löste einenSchock aus, der auch den HartgesottenstenGrenzen setzte. Aber ohne ein über Jahrzehn-te gebildetes ökologisches Bewusstsein hätte esnicht so schnell und entschieden zu einempositiven Umdenken kommen können. Esführt ein direkter Weg von der ökologischenWende der Gegenwart zu den Pfingsttagenvon Koberwitz im Jahr 1924. Die moralischeSubstanz, aus der neue, zukunftsoffene Hand-lungen geboren werden, fand in Koberwitz denihr notwendigen Brückenkopf. Seitdembesteht eine latente Möglichkeit, alte Schöp-fung und Menschentaten zu versöhnen.Als Rudolf Steiner das Goetheanum errichte-te, gab er dem Grundgedanken der Anthro-posophie architektonisch-künstlerischenAusdruck. „Das Prinzip unseres Baues ist daseines Gugelhupftopfes. … Es kommt nicht aufden Topf an, sondern es kommt auf denKuchen an, dass der eine richtige Formbekommt und in der richtigen Weise drinnengedeiht. … So kommt es bei unserem Bau

auch nicht darauf an, was die Umgebung ist,sondern auf das, was darinnen ist. Und darin-nen werden sein die Gefühle und Gedankenderer, die im Bau darinnen sind. … Die Form,die muss so sein, dass das Richtige darinnengedacht, gefühlt und empfunden wird.“21

Inneres und Äußeres werden wesensgleich;Form ohne Geist ist nichtig, Geist ohne Formtatenlos22, überall und mannigfaltig wird mitEntschiedenheit der Grundimpuls derAnthroposophie sichtbar, erfahrbar. Als derGoetheanumbau ein zweites Mal errichtetwerden muss, da werden nicht die alten For-men wiederholt, sondern eine neue Schöp-fung gewagt.Wir wollen diesen Impuls Rudolf Steiners inuns tragen und wir danken ihm für sein Werkin diesem gegenwärtigen Sinne. Er kommt ineinem Spruch zum Ausdruck, den er am Endeeines öffentlichen Vortrages im Zusammen-hang mit der Waldorfschulgründung in Stutt-gart sprach:

„Suchet das wirklich praktische materielleLeben,Aber suchet es so, dass es euch nicht betäubtüber den Geist, der in ihm wirksam ist.Suchet den Geist,Aber suchet ihn nicht in übersinnlicher Wol-lust, aus übersinnlichem Egoismus,Sondern suchet ihn,Weil ihr ihn selbstlos im praktischen Leben, inder materiellen Welt anwenden wollt.

Wendet an den alten Grundsatz:«Geist ist niemals ohne Materie, Materie nie-mals ohne Geist» in der Art, dass ihr sagt:Wir wollen alles Materielle im Lichte desGeistes tun.Und wir wollen das Licht des Geistes sosuchen,Dass es uns Wärme entwickele für unserpraktisches Tun.

Der Geist, der von uns in die Materie geführtwird,Die Materie, die von uns bearbeitet wird biszu ihrer Offenbarung,Durch die sie den Geist aus sich selber her-austreibt;Die Materie, die von uns den Geist offenbarterhält,Der Geist, der von uns an die Materie heran-getrieben wird,Die bilden dasjenige lebendige Sein,Welches die Menschheit zum wirklichen Fort-schritt bringen kann,Zu demjenigen Fortschritt, der von denBesten in den tiefsten Untergründen derGegenwartsseelen nur ersehnt werdenkann.23

19 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, S. 238f., GA 4,Dornach 199520 Rosa Mayreder, 5.4.1894, in: Rudolf Steiner, Briefe II, S.210

21 Rudolf Steiner, Der Zusammenhang des Menschen mit derelementarischen Welt, GA 158, S. 127f., Dornach 199322 Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höherenWelten, GA 10, S.110, Dornach 199223 Rudolf Steiner, Übersinnliche Erkenntnis und sozial-pädago-gische Lebenskraft, 24.9.1919, in: Idee und Praxis der Waldorf-schule, GA 297, S. 116f., Dornach 1998

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Lin: Ich möchte Sie sehr herzlich begrüßen zuder nächsten Einheit, die wir vielleicht als einVerdichtungsmoment dieses Festaktes verste-hen können, denn wir sind durch die wunder-baren Beiträge heute morgen mittendrin inunserer Thematik: „Wirkung Anthroposo-phie“.Begrüßen möchte ich auch meine Gesprächs-partner auf der Bühne.Ute Craemer wurde in Weimar geboren undist vor allem bekannt durch ihr soziales Enga-gement mit der Gründung der FavelaarbeitMonte Azul (São Paulo) und der Alliancefor-childhood in Lateinamerika, Japan und Neu-seeland. Wir werden später etwas mehr ausihrer Biographie erfahren.Dimitri hat sich durch seine Aufführung sel-ber vorgestellt. Ich möchte nur ergänzen,dass er im Tessin in der Schweiz geborenwurde, mit Anthroposophie durch das Eltern-haus vertraut war, dann ab der 10. KlasseWaldorfschüler gewesen ist und das Lebenim Umfeld der Anthroposophie weitergepflegt hat.Seit 50 Jahren ist er mit Soloprogrammenunterwegs, hat im Tessin eine Schule und dieKompanie Dimitri gegründet.Wolfgang Gutberlet ist im Umkreis Fuldasgeboren, ist relativ früh in das väterlicheUnternehmen eingestiegen und hat danndessen Leitung übernommen.Herr Gutberlet, im Jahre 2005 waren SieUnternehmer des Jahres und haben unteranderem diese Auszeichnung bekommen imBlick auf die hohe Qualität der Ausbildungder Lehrlinge und der Mitarbeiter in Ihrentegut…-Märkten. Es war eine Auszeichnungauch für Sie als ethischer Unternehmer.Und damit wären wir beim Anlass, beimThema des Gesprächs, das wir hier miteinan-der führen wollen: „Wirkung Anthroposo-phie“.Frau Oltmann hat gestern das Bild von derBugwelle in einem anderen Zusammenhanggeprägt, die nämlich entsteht, bevor man eineSchwelle berührt. Das muss ja nun nichtimmer dramatisch sein, das kann auch ganzpositiv sein, z.B. wenn man Anthroposophiebegegnet, das ist meine Erfahrung aus vielenGesprächen. Dann ist das auch eine Schwel-lenbegegnung, aus der man etwas mitnimmt.Und vielleicht können wir uns darüber aus-tauschen, wie das für uns biographisch war.Darf ich an die Herren weiterreichen?

Gutberlet: Also, wie war das biographisch?Mit dreißig Jahren – das habe ich aber nach-her erst festgestellt, nachdem ich etwas tiefereingedrungen war in diese ganzen anthropo-sophischen Fragestellungen und auch die

Bedeutung der Rhythmen – bin ich eingela-den worden von einem Rotary Club in Fulda,der mich aufnehmen wollte. Zuvor wollte ichdessen Menschen kennenlernen, auch wennes ein ehrwürdiger Club war. So wurde ichvon diesem Club mit meiner Frau in das Hof-gut Sassen – die Lebensgemeinschaft Sassenwurde von diesem Club besucht, um dieOberuferer Weihnachtsspiele dort zu sehen –eingeladen, um die Mitglieder kennen zu ler-nen.Interessanterweise haben mich die Menschenin Sassen mehr interessiert als die Rotarier,weil dort zwischen den Menschen und zu denBetreuten hin eine Art und Weise der Begeg-nung herrschte, die uns tief beeindruckte.Sodann habe ich ein Bild gesehen an derWand und gefragt: Wer ist das? Man hat mirgesagt, es sei Rudolf Steiner.Zuhause habe ich „Rudolf Steiner“ im Lexi-kon nachgeschlagen. Am nächsten Tagbestellte ich in der Buchhandlung eineGesamtausgabe von Rudolf Steiner. Das sollIhnen zeigen, wie naiv ich gewesen bin in die-ser Hinsicht.Die Buchhandlung hat glücklicherweise spä-ter nachgefragt, ob ich das ernst gemeinthabe. Daraufhin wählte ich eine andere Stra-tegie und bin öfters nach Sassen gefahren,um mit Herrn Eisenmeier und Herrn Heck-manns Gespräche zu führen. Ich wollte wis-sen, wie ich mich den Ideen nähern könne?Das war eine sehr lehrreiche Zeit. DieseIdeen sind auf eine sehr gute christlicheGrundlage getroffen, die in meinem Eltern-hause gelegt wurde. Insbesondere durchmeinen Vater, der auch eine ganz ernsthafte,echte Beziehung zu den Menschen imUnternehmen hatte und es aus einem gro-ßen Verantwortungsbewusstsein nie sogeführt hatte, als ob es ihm gehören würde,sondern immer, als ob er es verwalte.Ich glaube, dass es wichtig ist, in welcherPhase oder auf welche Vorbereitung so einGedankengut trifft. Es war für mich eine star-ke Erneuerung des Christlichen.

Dimitri: Also ich bin ein anthroposophischerAnalphabet, ich weiß nicht viel, ich habe nurso ein Gefühl, dass es etwas Gutes ist. Esstimmt auch, dass ich in einer Waldorfschule,das heißt Steiner-Schule war. Aber nur einJahr. Und es stimmt auch, dass einige meinerKinder in die Steiner-Schule gingen, aber esgab damals im Tessin noch gar keine. Zwei derKinder konnten eine Weile lang in der deut-schen Schweiz in die Steiner-Schule. Aber eshat keines die ganze Schule absolviert. Daswaren eben Probleme geographischer Art.Jetzt gibt es zwei Steiner-Schulen im Tessin –

wunderbar also. Meine Enkelin ging dort indie Schule.Meinen Bezug zur Anthroposophie habe icheigentlich mit der Muttermilch schon mitbe-kommen, denn meine Mutter hat sich sehr fürdie Anthroposophie interessiert. Aber wenndann die Leute fragten, „Ja sind Sie dennAnthroposophin?“, dann hat sie gesagt:„Nein. Nein, ich interessiere mich nur.“ Alsosie wollte nie, sagen wir mal, als Anthropo-tante gelten.Zu meinen Kindheitserinnerungen gehörendie vielen Menschen, die ein und aus gingenin Ascona, wo ich geboren und aufgewachsenbin. Unter anderem kam regelmäßig ein wun-derbarer Mann zu uns in die Ferien, HansAhrenson, der sich jahrelang um den Nach-lass in Dornach gekümmert hat. Und das warein lieber Freund von meinem Vater. Ich habeals Bub diese Gespräche gehört und da tauch-ten immer wieder Worte wie „Dornach“ und„Anthroposophie“ und „geistig“ auf. Ich habeüberhaupt nicht gewusst, worum es ging, aberes war spannend.Ich habe ja vielleicht nur ein Zehntausendstelgelesen von dem, was Steiner geschriebenhat. Aber das hat mir schon sehr viel geholfenin meinem Leben. Immer wenn ich vergleichemit anderen Philosophen, die ich manchmallese oder anfange zu lesen, komme ich wiederauf Steiner zurück, weil er am besten erklärtund auf alle meine Fragen am besten antwor-tet. Und das ist eigentlich meine bescheideneErfahrung.

Lin: Vielen Dank. Frau Craemer, Sie hattenuns schon bei Ihrer Ansprache im Festakteinen tiefen Blick gewährt in Ihre ganz per-sönliche Beziehung zu Rudolf Steiner. Aufdiesen einen Moment möchte ich gern spä-ter noch zurück kommen. Zunächst habe ichmit Blick auf Ihre Biographie – jedenfalls sowie sie im Internet zu finden ist – eine ande-re Frage: Es wird beschrieben, dass Sie durch Kindheitund Kriegserlebnisse einen starken Zugangzum Globalen, zum Weltweiten gehabthaben, da Sie in verschiedenen Ländern undmit vielen Sprachen groß geworden sind. Siesind dann sehr früh zu einem „Sozialen Jahr“nach Brasilien gegangen. Nach Ihrer Rück-kehr haben Sie dann hier, so wird es beschrie-ben, die Pädagogik Rudolf Steiners schätzengelernt, haben Ihre Ausbildung gemacht undsind dann zurück gegangen. Und das scheintmir so ein Moment zu sein, über den wirheute sprechen: „Wirkung Anthroposophie“ –mit einem neuen Impuls den eigenenLebensfaden vertiefen. Möchten Sie dazunoch etwas sagen?

PodiumsgesprächWirkung Anthroposophie

Ute Craemer, Dimitri, Wolfgang GutberletGesprächsleitung: Susanne Lin

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t30

Craemer: Ich glaube, im Internet steht dasschon richtig, aber auch nicht ganz richtignatürlich.Sie sprachen vorher von der Bugwelle. Bei mirkann man vielleicht eher sagen, dass dasLeben mich immer in ziemliche Turbulenzengebracht hat und die Anthroposophie mireigentlich die Kraft gegeben hat, diese Turbu-lenzen in eine richtige Richtung zu bringenoder sie auch zu verkraften. Zum Beispielheute: Was meinen Sie, wie ich um 6 Uhrmorgens aufgewacht bin in einer Bugwelle,weil ich mir vorstellte, ich müsste jetzt hiersitzen – furchtbar, dieser Gedanke allein!

Lin: Wir saßen zu zweit in dieser Welle, dakann ich Sie nur beruhigen …

Craemer: Genau, Gott sei Dank gab es dannschon um 7 Uhr Kaffee und da dachte ich:Und das ist jetzt das Wichtige, dass man in derBugwelle aus Erfahrung weiß, dass man Mutund Vertrauen braucht.Das habe ich im Laufe des Lebens gelernt unddie Anthroposophie hat das sozusagen bestä-tigt durch die Vorträge von Rudolf Steiner,oder auch anderer Anthroposophen, die mirin Brasilien diesen Einblick gewährt haben:man braucht Mut und Vertrauen – erst einmalVertrauen, dass es ja auch wieder Abend wird,da ist ja dann auch alles vorbei! Sie wissen garnicht wie toll und gleichzeitig furchterregenddas für mich ist, dieses Vertrauen, das Men-schen in der ganzen Welt in mich legen, dassich vielleicht etwas bewegen könne. Immerwenn irgend jemand mich darum bittet, z.B.einen Vortrag zu halten, dann tue ich das, weilich weiß, das ist wichtig für mich und es kannvielleicht auch wichtig sein für andere Men-schen. Vielleicht. Ich wollte damit sagen, dassdas Leben schon als Kind, als ich in zwölf ver-schiedenen Schulen war, in vier verschiede-nen Sprachen, mich immer rumgewirbelt hat.Später in Brasilien auch in verschiedensterWeise, was ich vorhin schon angedeutet habe:Überfälle, Schusswaffen usw.. Diese Dinge,die man in Brasilien erlebt, in der Großstadtmit 20 Millionen Einwohnern, erlebte ich undmerkte immer wieder, das hat alles einenSinn. Das verdanke ich der Anthroposophieund einem in der Kindheit gepflegten Urver-trauen.Was Sie vorhin sagten, dass Brasilien eigent-lich das Ausschlaggebende war für mich, umdie Anthroposophie für mich selbst zu entde-cken, das stimmt. Es ist nämlich so, dass meinVater und Großvater schon Anthroposophenwaren. Aber dadurch, dass ich eben nicht inder Waldorfschule, nicht in der Christenge-meinschaft war, durch diese langjährigenAuslandsaufenthalte, bei denen es eben keineWaldorfschule gab, war das für mich nicht sopräsent. Ich wußte, dass Anthroposophie exis-tiert, aber sie war nicht erlebbar.Dadurch, dass ich jetzt in Brasilien in diesenElendsvierteln mit Kindern arbeite, habe ichgemerkt: Ja, da ist ja diese wunderbare Wal-dorfpädagogik. Und die kann man studieren

in Stuttgart. Daraufhin habe ich das Seminarabsolviert und erst einmal die Anthroposo-phie kennen gelernt über die Waldorfpädago-gik. Auch merkte ich, dass die Anthroposo-phie etwas ist, das in allen Einzelheiten desLebens und allen Einzelheiten der Geschichteeinen Zusammenhang bringt, und dassdadurch eben Sinn geschaffen wird.

Lin: Vielen Dank. Wir sind vorhin schon durchdie ersten Worte Hartwig Schillers eingeführtworden, eingestimmt worden, in dasjenige,was sich am heutigen Vormittag hier gestaltet,der ein Stück weit vielleicht das Herz unsererVeranstaltung ist. Mit den ersten Worten vonHartwig Schiller war das Thema „Menschlich-keit“ im Raum im Sinne von etwas Urmensch-lichem, ganz biografisch für einen selber, inso-fern man etwas geschenkt bekommt, womitman im Leben bestehen kann.Wir haben durch Sie vertreten eigentlich dieseBereiche des Menschen, des Menschseins: dasSoziale, Therapeutische, alles das, was Wirt-schaft und Unternehmertum heute bedeutet,und die Kunst.Die Kunst, die uns unmittelbar in das allge-mein Menschliche führt, findet eine besonde-re Ausprägung in Ihrer Kunst, Dimitri, dennein Clown ist ja immer auch ein bisschenSpiegel für den Menschen. Aber Spiegel kannja nur sein – und dieses Thema wurde bereitsin früheren Beiträgen behandelt –, wer aufeiner ganz hohen subtilen Art dieses Wahr-nehmen am anderen Menschen übt. Und dasandere Element, das die Kunst auszeichnet,ist, dass die Kunst etwas in uns wach hält,oder uns hilft, uns einen Zugang zu verschaf-fen zu dem im besten Sinne „Kind sein“, die-ser unerschöpfliche Quell des sich Erneuernsund Verjüngens und fantasieschöpferisch tätigSeienden.Und so möchte ich auf eine nächste Ebene inunserem Gespräch kommen, indem wir aufunsere Tätigkeits-und Lebensfelder blicken,wo wir die Wirksamkeit der Anthroposophieheute entdecken. Man sagt heute, Anthropo-sophie ist in der Welt, sie gehört der Welt nachüber 100 Jahren. Aber jeder von Ihnen, vonuns, ist in einer ganz unmittelbaren Weise jaauch tätig, impulsierend darin. Und vielleichtdarf ich Sie, Herr Gutberlet, an dieser Stellebitten, dazu noch etwas beizutragen.

Gutberlet: Ja, Sie haben das ja angesprochen.Als ich angefangen habe, mich mit RudolfSteiner zu beschäftigen, kam es bald so, dassich zusammen mit einem befreundeten Ehe-paar die Theosophie gelesen habe. Wir habengemeinsam gelesen und darüber gesprochen.Ich erwähnte ja bereits, dass, ich von einemganz christlichen Hintergrund her kam. Mirbegegnete ein ganz philosophischer RudolfSteiner: Es ging ständig um Begriffe.Es war interessant, dass ich immer etwas tiefChristliches gefunden habe, in dem, was wirlasen. Mein Freund stieß eigentlich immer aufetwas Philosophisches, so dass ich sehr schöndiese zwei Seiten erlebt habe und sich für

mich das Christentum von einer weiterenSeite erschlossen hat. Ich habe einen völliganderen Blick darauf bekommen. Vieles habeich überhaupt erst verstanden durch dieBeschäftigung mit der Anthroposophie.Vieleshabe ich überhaupt erst mit seinen im Hinter-grund wirkenden Kräften verstanden. Vorherwar ich in Bezug darauf ziemlich blind undformalistisch.Schließlich gibt es noch einen dritten RudolfSteiner und den finde ich so schön bei Dimitri.Bei mir ist er nicht so sehr veranlagt, weshalbich üben muss, ihn zu entdecken: Das ist derheitere Rudolf Steiner.Dieser heitere Rudolf Steiner, der viel Sinn fürHumor hatte und dieses spielerische Elementimmer wieder hereingebracht hat.Ich habe ja die Anthroposophie sozusagen amLeben kennengelernt, an den Menschen,nicht im Buch. Ich habe gesehen, dass esMenschen gibt, die sich anders verhalten.Vonden Menschen aus bin ich erst auf die Theoriegekommen.Ich glaube, man muss diese drei Rudolf Stei-ner sehen. Den einen habe ich sozusagengesucht, weil ich versuchte weiterzukommenin meinem Christentum. Der andere hat mirsehr viel geholfen und meine Veranlagungzum Denken, auch zum mathematischenDenken, angesprochen. Dabei hatte ich amAnfang große Schwierigkeiten. Ich habeimmer die Begriffe rausgeschrieben undgedacht: „Der ist ja komisch, der verwendetständig unterschiedliche Begriffe für die glei-che Sache, der bringt mich völlig durcheinan-der.“ Ich hab das einfach nicht in meinenMatrizen systematisieren können, was michetwas unzufrieden gestimmt hat. So habe ichmir gesagt, Steiner irrt sich sicherlich auchgelegentlich. Das gab mir auch eine gewisseFreiheit in diesem Studium, so dass ich mirsagte, ich gehe jetzt einmal davon aus, dass esda auch Irrtum gibt. Dieses Vorgehen hat mirerlaubt, selbst weiterdenken zu können. Daswar für mich eine große Hilfe. Jetzt weiß ichnicht, ob ich Ihre Frage beantwortet habe. Eswar mir die Frage ein Anliegen: Was wandeltsich eigentlich in einem? Diese anthroposo-phische Idee oder Gedanken von Rudolf Stei-ner treffen ja jeden in einer anderen Situa-tion.Bei mir war es so, dass ich, 2-3 Jahre nachdemich der Anthroposophie begegnet war, eintiefgreifendes Erlebnis hatte: Ich wurde ent-führt, wurde acht Tage gefangen gehalten unddann über Lösegeld wieder frei gelassen. Esging alles gut aus, aber es sind doch irgendwievertiefende Impulse und ein Erlebnis, wieman in einer solchen Situation Verbindungzueinander halten kann, ohne miteinanderkommunizieren zu können – jedenfalls aufdie übliche Art und Weise.Dann glaube ich, ist es ganz wichtig, wemman in so einer Entwicklung begegnet.Götz Werner bin ich zum Beispiel am Flugha-fen in Kopenhagen begegnet und wir habenfestgestellt, dass wir beide die Kinder in derWaldorfschule haben.

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t 31

Über diese Feststellung hinaus haben wir unsvorgenommen, darüber einmal zu sprechen.Wir hatten beide den gleichen Beruf – sozusa-gen die gleiche Lebensaufgabe, und beide dieKinder in der Waldorfschule.Daraus ist ein langes Gespräch entstanden,ein immer wieder rhythmisch gepflegtesGespräch. Es sind später noch viele andereMenschen dazugekommen.Jetzt höre ich erst einmal auf an dieser Stelle.

Lin: Ich würde da gerne noch einen Momentverweilen und noch Mal nachhaken. Was hießdas dann für Sie als Unternehmer? Oder nochdeutlicher gefragt mit Blick in die Gegenwart– Wirkung Anthroposophie –: Was erlebenSie, wo ist da Ihr Einsatz als Unternehmer,was treibt Sie? Und „treiben“ meine ich imdoppelten Sinne: Einmal, was Sie gerne fürihr Unternehmen möchten, aber – wie ich dasverstehe – sind Sie in ständiger Korrespon-denz auch mit der Welt, mit der Umwelt, wasbraucht die Welt? Also, in welchem Dialogstehen wir da. Ist die Frage deutlich?

Gutberlet: Ja, bei mir war es so, dass ich, nochbevor ich die Anthroposophie kennen lernte,mir ein Leitbild geschrieben habe, als ich inunser Unternehmen eingetreten bin. Ich woll-te wissen, ob das Ganze Sinn macht für dasUnternehmen und für mich oder in welchenFällen es Sinn macht.Später habe ich viel besser verstanden, wasich da getan habe. Es ist immer, so glaube ich,schon vorher eine Ahnung da, aber manerkennt es erst später, kann es dann ausspre-chen, wenn es bewusst wird.Ich hatte schon während der Schulzeit unddes Studiums angefangen, mich mit der Kapi-talfrage zu beschäftigen und zu fragen: Wiegeht man mit Kapital um?Als ich angefangen hatte zu führen, schlosssich die zweite Frage daran an: Wie geht manmit Menschen um? Wie bildet man eineGemeinschaft, eine Arbeitsgemeinschaft?Als das abgeschlossen war, habe ich mir dieFrage gestellt: Was verkaufen wir eigentlich?Was ist eigentlich die Ware? In dieser Zeit haben wir angefangen über bio-logisch-dynamische oder biologische Lebens-mittel zu sprechen. Ich habe die Frage an GötzWerner herangetragen, weil ich etwas anderes

in die Welt bringen wollte an Lebensmitteln:Hast Du eine Idee? Und so haben wir dannzusammen mit Götz Rehn weiter an dieserFrage gearbeitet.Heute kenne ich die Wandtafelzeichnungenvon Rudolf Steiner vom 11.08.1919 über Kapi-tal, Arbeit, Ware, aber damals waren sie mirunbekannt. Heute kann ich es deshalb vielbesser erklären.Das Wesentliche, was die Anthroposophie,was Rudolf Steiner uns mitgegeben hat, ist dieHerausforderung, zu erkennen, was wir tun,und es nicht ahnungslos zu tun.

Lin: Vielen Dank. Dimitri, Sie wollten bereitsmit sieben Jahren Clown werden.Wenn wir jetzt bewegen, was ist das, wassozusagen dazu kommt durch die Begegnungmit Anthroposophie, egal jetzt ob empfin-dungsmäßig oder ob durch eine scharfeBegriffsbildung – ist Ihnen da etwas begegnetin ihrem Unterwegs-Sein mit Ihrer sehr eige-nen Kunst in der Begegnung mit den Men-schen? Und hat das Sie vielleicht feinfühliggemacht für das, was jetzt dran ist, in dem wasSie an Programmen entwickeln? Das wäre dieeine Frage. Und dann die andere Frage: Sietreten ja vor extrem unterschiedlichem Publi-kum auf – wie ist es Ihnen gestern Abendergangen?

Dimitri: Es sind grundsätzlich zwei Fragen, dasist schon genug für mich. Also gestern ist esmir sehr gut ergangen. Ich habe überhauptimmer festgestellt, dass ich in Waldorfschulen,wo ich ja auch oft auftrete, oder bei ähnlichenGelegenheiten wie hier zum Beispiel, einwunderschönes Publikum habe, das schnellreagiert und gerne lacht. Und ich habe erstviel später in meinem Leben entdeckt warum,und das möchte ich Ihnen gerne erzählen.Es stimmt, dass ich mit sieben Jahren Clownwerden wollte und dieses Ziel seither verfol-ge. Ich möchte immer noch gerne ein bessererClown werden.Wenn ich heute junge Menschen sehe, diekein Ziel haben, keine Idee, was sie malmachen möchten, dann macht mich das ofttraurig und ich denke, es sind arme Men-schen.Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass meinBeruf sehr seltsam und besonders ist. Die

Leute mögen uns Clowns. Warum? Weil dieLeute gerne lachen. Das ist normal, jederMensch lacht gern. Aber ich habe im Laufemeiner Karriere, wenn man so sagen darf,festgestellt, dass unser Beruf eigentlich immerein bisschen niedriger bewertet wird als zumBeispiel das Drama oder ein Symphoniekon-zert. Die Clownerie, der Zirkus, das ist zwarsehr lustig, da geht man gerne hin, aber ist esdenn auch kulturell so hochstehend wie? –Tja.Während meiner Tourneen habe ich festgestellt,dass zum Beispiel in Japan das Kyogen, daskomische Theater, den gleichen Stellenwert hatwie das Nô oder andere Theaterformen.Ein großes Erlebnis war für mich deshalb, alsvor ein paar Jahren Dario Fo, der bekannteitalienische Komiker und Autor, den Nobel-preis bekommen hat. Da hat sich meineBrust geschwellt, ich dachte: Ah, endlich einKomiker, ein Narr, der den Nobelpreisbekommt.Aber ein noch größeres Erlebnis war es, als ichin Dornach bei dem Christus, den Steiner inHolz gestaltet hat, oben links den Weltenhu-mor entdeckt habe, der hat ja einen zentralenPlatz da oben, der Weltenhumor, da hat sichmeine Brust noch mehr geschwellt, weil ichdachte, also sogar der große weise PhilosophSteiner hat dem Humor einen so prominen-ten Platz eingeräumt.Und dann hab ich auch mal von Freundendas dicke Buch bekommen, alle diesehumorvollen Aussprüche und Situationen,die Steiner erlebt oder geäußert hat. Dasfand ich wunderbar. Und seither ist eseigentlich für mich eine Art Barometer.Wenn ich einen gescheiten Mann, einegescheite Frau oder einen Philosophen oderWissenschaftler sehe, mache ich einen klei-nen Test: Hat er oder sie Humor? Wenn ja,dann ist alles o.k.

Lin: Sie haben gerade diesen Weltenhumorangesprochen, danach ist meine nächsteFrage ausgerichtet. Wenn wir ein bisschenzusammenfassen, was wir hier mit dieserTagung bereits alles angesprochen haben undauch noch ansprechen werden, dann erlau-ben Sie mir dieses Bild, ich hoffe, Sie könnenverstehen, was ich damit ausdrücken möchte:mir ist das Bild gekommen, dass eigentlichdie Darstellung der Gruppe wie in einerunermesslichen Konzentration das alleszusammenfasst, worüber wir hier sprechen,um was wir hier ringen – um was wir hier rin-gen besonders, wenn wir in die Zukunftgehen. Wir wollen ja „Wirkung Anthroposo-phie“ mit einem weiten Wurf in die Zukunftdenken können und suchen zu verstehen,was da aus der Zukunft heraus von unsgewollt wird. Dieser Aufgabe, diesem Ringenwollen wir uns stellen, das ja in jedem einzel-nen von uns stattfindet, aber auch, wenn wiruns hier gemeinsam austauschen. Und danngibt es da diesen Weltenhumor – ich mussgestehen, da stehe ich innerlich staunend,fragend davor …

Anthroposophie Weltweit • Mit te i lungen Deutschland, Sonderhef t32

Vielleicht ist die Frage zu intim, aber ich ver-mute doch, dass Sie sich damit beschäftigthaben: Sind Sie diesem Geheimnis ein Stückweit näher gekommen?

Dimitri: Ich glaube, ich bin dem schon ein bis-schen auf die Spur gekommen. Weil ichdenke, dass der Humor und das Lachen soetwas Reines, etwas Schönes, etwas Gutes ist.Natürlich, es gibt so viele Schattierungen vonLachen, es gibt auch ein böses Lachen, einsadistisches Lachen usw. Aber der richtigeHumor ist immer edel, ist immer unschuldig.Und ich glaube, ohne Herz, ohne Gefühl wirdes keinen Humor geben und man kann auchnicht lachen. Durch das Lachen fühlt mansich wohl, der Humor ist notwendig.Ich meine, warum hat Shakespeare in seinentragischsten Dramen immer irgendeinenTotengräber oder einen Narren, der das Publi-kum wieder ein bisschen auflockert und wie-der zum Lachen bringt?Warum gibt es bei tibetischen Ritualen, einerArt Messen, immer einen Komiker, der dieGötter parodiert? Damit die Leute wieder ein-mal ein bisschen lachen können.Man hat durch den Humor einen anderenBlick auf die Welt, auf das Geschehen, auf dasLeben, auf das eigene Schicksal. Und jetztweiß ich nichts mehr.

Lin: „Wirkung Anthroposophie“ – da habenSie, Frau Craemer, ein großes Thema vorge-geben, indem Sie berichtet haben – und dasfand ich sehr berührend, dass Sie uns daranhaben Teil nehmen lassen in dieser großenRunde –, Ihr ureigenes Erlebnis im Sterbe-zimmer Rudolf Steiners, wo Sie, wenn ichdas richtig wiedergebe, gespürt haben die-ses unermessliche Leid, das Rudolf Steinerin seiner Biographie auf sich genommenhat.Leid auch für die Menschheit. Da sind wir wie-der bei dem Menschheitlichen, weil er – sohaben sie das ausgeführt – wusste was esbedeutet, wenn seine Versuche, Anregungen zugeben in die Kultur hinein, also Kultur schaf-fend im weitesten Sinne zu sein, auf allen uner-messlichen Gebieten, wo er sich eingearbeitethat, wo er ein stückweit Experte geworden ist,ohne eine akademische Ausbildung vorweisenzu können, nicht aufgegriffen werden.Und so würde ich gerne noch einen Blick indie Zukunft werfen, in der uns verbleibendenZeit. Was heißt das für uns, was fordert dieZeit von uns heute, wenn wir sagen: Anthro-posophie ist in der Welt. Das könnte bedeu-ten: Ich kann mich hier jetzt endlich ent-spannt zurücklehnen und sagen, es istgeschehen und was jetzt weiter damit pas-siert, ist nicht mehr in meiner Hand.

Und doch kommen wir hier als Anthroposo-phische Gesellschaft zusammen. Und eineliebe Freundin von mir aus Stuttgart wirdnicht müde, uns zu zitieren: „Für die Pflegeder Anthroposophie braucht es die Anthropo-sophische Gesellschaft“. Insofern möchte ichdie Frage vertiefen und an uns richten:Wessen bedarf es, um das, was von RudolfSteiner in die Welt gegeben wurde, alsAnthroposophie der Welt geschenkt wurde,fruchtbar zu machen? Was ist jetzt unsereAufgabe? Wie müssen wir es verwandeln?Wie müssen wir es greifen? Jeder für sich, dawo er steht. Und ich möchte Sie fragen, FrauCraemer, ob Sie da aus Ihrer Wahrnehmung,aus Ihrem reichen Schatz im sozialen Tun,etwas ablauschen konnten?

Craemer: Ich wollte eigentlich darauf eingehen,was Sie gesagt hatten, nämlich, dass manbestimmte Wahrnehmungen, bestimmteErlebnisse hat im Leben, dass man auch gewis-se Intuitionen hat, wie man handeln kann, unddass man dann über die Anthroposophie, dankder Anthroposophie sozusagen, bewusster dasmachen kann, was man eigentlich sowiesoschon macht. Ich werde das ein bisschen erklä-ren. Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstan-den habe.Vom Leben ausgehend.Also bei mir ist es so, das Wichtigste ist derMensch. Nicht der Anthropos, erst mal derMensch.Ich habe schon seit ich Jugendliche wargemerkt, dass im Menschen mehr steckt alsdas, was man äußerlich sieht. Und dass es daetwas gibt, was man entfaltet, wie das heuteHerr Schiller sagte, entwickelt, entfaltet.Das ist vorhanden, aber es ist da nur alsSamen, als Keim, und da bräuchte man Was-ser, Luft, Sonne, die Menschen, um diesesPotential zu entfalten.Das habe ich immer schon gespürt. Und alsich anfing in den Favelas, den brasilianischenArmenvierteln, zu arbeiten, da war das dasWichtigste: Diese Talente, diese Begabungen,die total verschüttet waren in der Favela, zufördern, dass sie wachsen, dass sie sich entwi-ckeln, entfalten können. So, wie das ja bei mirauch der Fall war. Ich habe mich immergefragt, warum hatte ich Möglichkeiten, michzu entwickeln, und warum gibt es Kinder, dieschon sozusagen von der Geburt an behindertwerden, das zu verwirklichen, was in ihnensteckt. Das war die Grundfrage.Dann fing ich an in den Favelas zu arbeiten, eshat sich da so viel entwickelt: Kindertages-stätten, Kulturzentren, Lehrwerkstätten,Gesundheitsposten usw. Da merkte ichimmer mehr, dass die Anthroposophie etwasWichtiges ist, und dass ich mich auch zu derAnthroposophie bekennen muss, Mitgliedwerde in der Anthroposophischen Gesell-schaft. Ich hatte das Gefühl, es ist ungerecht,wenn man sich jetzt nicht offiziell auch damitverbindet, mit den Gesellschaftsfragen.Die Intuitionen, die ich hatte, wie man han-deln muss, die wurden Dank dem Gedanken-gut der Anthroposophie bestätigt.

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Zum Beispiel: Wir haben sehr viele Freiwillige,wir haben Freiwillige aus 37 Ländern, bis jetzthauptsächlich aus Europa und Japan.Man merkt an diesen Jugendlichen, dass einWille da ist, etwas zu tun für die Welt. Und ichhabe das viel besser verstanden, als ich beiRudolf Steiner in dem Vortrag „Wie wirkt derEngel im Astralleib?“ von diesen drei Bildernlas. Eines dieser Bilder ist, dass kein Menschim Leben zufrieden, glücklich sein kann,wenn der andere neben ihm unglücklich ist.Und das „Neben-ihm“ das ist eben nicht nurder Nächste, der Allernächste, sondern„neben ihm“ in der heutigen Welt heißt: dieganze Welt. Diesen Impuls merkt man bei denjungen Menschen. Wenn man das erstmalgemerkt hat und weiß, dass das ein wichtigerImpuls ist, der von der geistigen Welt kommt,dann kann man das auch fördern und überdie Dinge hinwegsehen oder nicht so ernstnehmen, die natürlich auch mit den Jugend-lichen kommen. Es sind ja nicht alle nur sobrav, die machen auch manchmal Schwierig-keiten!Das ist das erste Bild.Das zweite Bild spricht von der Beziehung derMenschen untereinander. Sie haben eineganz normale Beziehung zum Beispiel zubehinderten Kindern. Oder eben zu Kindern,die in der Favela leben und manchmal Rotz-nasen haben. Oder zu den Erwachsenenauch. Dass Sie eine Beziehung haben vongleich zu gleich und nicht von oben nachunten das fand ich sehr interessant, weil die-ses zweite Bild in diesem Vortrag heißt, dassdie Begegnung von einem Menschen zumandern eine Begegnung sein kann, die wie einSakrament ist. Also, dass jeder Menschen einGefühl dafür entwickelt, dass der andereMensch ein göttliches Wesen ist. Dass in demanderen Menschen ein göttlicher Keim wirkt.Das ist anders als in meiner Generation, glau-be ich, weil ich musste mir das erwerben imLaufe der Zeit. Bei den Jugendlichen ist es da,da ist es gegeben.Natürlich, wie jeder Samen muss es entwi-ckelt werden. Und dadurch ist es auch sointeressant, wenn Jugendliche kommen in dieFavela und das sozusagen auf sie zukommt,und sie es dann stärker noch merken.Ich wollte eigentlich damit sagen, dass vieleDinge, dadurch dass man eben die Anthropo-sophie kennen gelernt hat, klarer werden,bewusster werden, und dadurch kann manauch wiederum besser handeln. Im Laufe derZeit wird man toleranter, viel toleranter, vielvertrauensvoller, das Leben hat einen Sinn,auch die Menschheitsentwicklung machteinen Sinn – selbst so schreckliche Dinge, wiewir sie gestern gehört haben, von Buchen-wald, vom Nationalsozialismus. Und nichtnur in der Vergangenheit, sondern, wie siehtdas in der Zukunft aus? Gibt es da Tendenzen,die ganz ähnlich sind, wie das, was hier inDeutschland so ganz klar zum Vorscheinkam? Von Brasilien kann ich das sagen, da gibtes gewisse Tendenzen bei bestimmten Grup-pen, die ähnliche Miss-Ideen haben.

Lin: Habe ich recht wahrgenommen, dass Siegerne etwas dazu sagen wollten, Herr Gut-berlet?

Gutberlet: Ich würde das gerne etwas aufgrei-fen. Es war Ihre Frage: Was bedeutet das jetztalles für die Zukunft?Es ist so: Wenn man in so einem Unterneh-men arbeitet und viele Menschen mit einemzusammenarbeiten, dass dann um einenherum ein Kreis entsteht und man entdeckt,dass eine ganze Menge gleichgesinnter Men-schen inzwischen vorhanden sind.Doch was heißt das für die Zukunft, für dieZukunft der Anthroposophischen Gesell-schaft?Ich bin ein bisschen weit weg von Dornach.Da ich so spät erst eingestiegen bin, habe ichkeine so typische Entwicklung im Rahmender anthroposophischen Bewegung, nicht soviele Freunde und Verwandte dabei, wie ichdas manchmal bei anderen erlebt habe. Ichhabe niemanden vorher gekannt, der sichdazu gerechnet hat, nur wenige waren emo-tional verwoben.Ich glaube auch, so ein Unternehmen hateigentlich in diesem Zusammenhang eineAufgabe. Rudolf Steiner hat ja einiges deutlichgesagt zur Zukunft. Es besteht freilich immerdie Gefahr, dass wir bei ihm nur das lesen,was uns gefällt und was zu uns passt. Aber erhat ja doch einige wichtige Dinge für dieZukunft gesagt.Er sagte auch, so ein Unternehmen sei eigent-lich nichts anderes, als ein Ausbildungsplatz.Der ganze andere „Kram“, den wir da somachen, sei eigentlich belanglos im Verhältniszu dem, was an Menschheitsentwicklungstattfindet.Das heißt meines Erachtens für die Zukunft,dass wir als Anthroposophische GesellschaftInseln bilden müssen. Wir müssen Inseln bil-den – Lievegoed hat das mal so eindrucksvollgesagt –, auf denen sich die Eingeweihten inder nächsten Zeit bewegen können. Dennman kann sein Haupt – wie früher bei denAposteln – eigentlich nur dahin legen, woein paar Menschen sind, die einen nichtgleich angreifen. Diese Ruheplätze brauchtes.Wir müssen zusehen, dass sich in unsererganzen Welt Inseln bilden, wo etwas passie-ren kann und wo Menschen von Insel zu Inselgehen können, um diese zu verbinden. Dennwir werden es in der zukünftigen Welt nichtsystemgeführt hinbekommen. Die Systemewerden alle kaputtgehen. Was wir brauchensind Menschen, denen wir vertrauen.Diese Vertrauensräume müssen wir schaffen!Das ist unsere Aufgabe in der Anthroposophi-schen Gesellschaft. Das kann recht formlosgeschehen, denn alle Form ruft die Widersa-cher hervor, das hat Rudolf Steiner eindrucks-voll erfahren müssen. Sobald es eine sichtba-re Form gewinnt, ist auch die gesamte Gegen-seite da.Ich glaube, das wird unsere zukünftige Aufga-be sein. Was wir von der Anthroposophie ler-

nen können, ist: Egal was wir machen, keineAngst zu haben. Mit Angst kann ich nichtmehr denken und ich muss alles denken kön-nen. Das heißt, wir dürfen keine Angst haben.

Lin: Vielen Dank. Möchten auch Sie, Dimitri,zu dieser Thematik etwas hinzufügen?

Dimitri: Im Zusammenhang mit diesem Jubi-läum, 150 Jahre Rudolf Steiner, hört manimmer wieder auch negative Stimmen, die dieAnthroposophie fast ein bisschen ins Lächerli-che ziehen wollen, und das macht mich trau-rig. Ich probiere das dann zu verteidigen, dannmerke ich, ich weiß zu wenig, ich bin zu weniginformiert, ich kann nicht schlagfertig debat-tieren. Dazu ein Beispiel: Es gibt Menschen,die denken, Anthroposophie wäre Angelegen-heit einer Sekte. Dann studiere ich – eineSekte, das ist ja furchtbar, das ist etwas, wasden Menschen nicht frei lässt, genau dasGegenteil von Anthroposophie. Dann ärgereich mich. Warum antwortet die Anthroposo-phische Gesellschaft nicht auf diese furchtba-ren Artikel in den Zeitungen? Dann wiederumsage ich mir, warum soll man überhaupt ant-worten, das ist ja so doof, so dumm und falsch– aber vielleicht können Sie mir da antworten.

Lin: Also, ich weiß nicht, ob ich wirklich dieseFrage beantworten kann, Dimitri. Aber ausErfahrung weiß ich, dass wenn man sich auf soeinen Diskussionsboden einlässt, man manch-mal kein Ende mehr herbeiführen kann. Es gibteinfach Überzeugungstäter oder Menschen,die wollen das einfach in die Welt setzen. Unddann ist es mit einem Brief nicht getan.Ich möchte zum Ende kommen und mich beimeinen drei Gesprächspartnern sehr herzlichbedanken, dass sie hier mit mir in dieser Bug-welle saßen heute.Ich möchte als Resümee mitnehmen – unddenke, da darf ich für alle sprechen –, dass esdarum geht, diese Inseln der Menschlichkeitzu pflegen, zu gestalten, eben nicht gestaltenin Formalismen, sondern – und das klang ja invielen Beiträgen an, in denen die Frage war:Wo ist das Ich heute? – wach zu sein dafür, wosich diese neuen Gemeinschaften finden. Daswollen wir mitnehmen aus diesem besonde-ren Vormittag, dahin wo ein jeder in der Weltsteht und wirkt. Und ich wünsche uns allenhier jetzt als Abschluss dieses Festaktes, dasswir uns treffen auf diesen Inseln und unswiedererkennen auf diesen Inseln und bedan-ke mich für Ihre Geduld, für das Zuhören.

Craemer: Ich wollte nur etwas sagen über dieInseln. Bei diesen Inseln brauchen wir sehrviele Boote, in denen Menschen sitzen undrudern, sonst ist man zu sehr auf der Inselnach innen gerichtet. Deswegen sehe ich dieWelt oft mit vielen, vielen Lichtpunkten, dieausstrahlen und die ineinander übergehenund Farben bilden. Das wollte ich zumSchluss noch sagen.

Lin: Ich danke Ihnen für das schöne Gespräch.

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Hartwig Schiller: Die Teilnehmer des abschlie-ßenden Gespräches sind eigentlich alleEurythmisten, zwei von ihnen wissen es aller-dings gut zu verbergen. Nur bei Gioia Falk istdas eindeutig. Sie steht von Ihnen aus gese-hen links, ist Eurythmistin von Beruf und hatbei der Einstudierung der Mysteriendramenleitend mitgearbeitet. An vielen Orten hat sieüber diese Arbeit berichtet.In der Mitte steht Anna Maria Martini, die wirbei einem Besuch im Arbeitszentrum Ostkennen gelernt haben. Schnell hatten wir denEindruck, sie in die überregionale Verantwor-tung einbeziehen zu sollen. Sie ist Religions-wissenschaftlerin, demnächst promoviert undwird uns dadurch in Zukunft auch akade-misch schmücken.Ich bin Hartwig Schiller und darf an diesememanzipatorischen Meilenstein teilnehmen,der von zwei Kolleginnen und einem Kolle-gen gebildet wird. Gioia Falk hat übernom-men, in das Gespräch einzuleiten.

Gioia Falk: Unser Thema lautet „DimensionMensch – Potential Anthroposophie“, wobeidie Dimension Mensch durch einen Gedan-kenstrich mit dem Potential Anthroposophieverbunden ist. Die Verbindung ist also offen,eine reale Möglichkeit. Dieses Offene habenwir während dieser Tage in vielfältigen Beiträ-gen erlebt – auch wie es sich füllte undmenschliches Potential wirksam wurde. EineGemeinschaft, die sich auf das einzelne Indi-viduum stützt, wird sich immer wieder zu fra-gen haben, wie sie selbst sein will. Wie vielStruktur verträgt sie, wie viel Unstrukturier-tes? Das Bewusstsein dieses Verhältnisses isteine wichtige Voraussetzung für die Entfal-tung von Potential, wie es hier zur Geltunggekommen ist.Ich habe wohltuend erlebt, wie von den ein-zelnen Trios etwas vorbereitet worden ist, dasdurch sein improvisatorisches Moment eineEinladung zum Teilnehmen aussprach und imZusammenhang mit dem Plenum weiterwuchs. Das führte zu einer Steigerung undKulmination der verschiedenen thematischenStränge. So entstand ein Fest verschiedenerDarbietungen ideellen und künstlerischenLebens als Ausdruck dieses Bemühens. Dar-aus entsteht die Frage, wie es weitergehenkann. Was waren die Voraussetzungen für dasGelingen? Welche Prozesse gingen voraus?Menschen sind aus freien Stücken zusammen-gekommen, um etwas mitzuteilen, ein Gesche-hen vorzubereiten, das schließlich real wurde.Entscheidend ist die Vorbereitung. Dabei gibtes Schwierigkeiten zu überwinden, neueIdeen werden geboren; oft gibt es keinenFortschritt ohne Anstrengung und Krise.Mir ist in krisenhaften Momenten meinesLebens die Welt der Märchen vertraut gewor-den. Das ist deshalb erstaunlich, weil Mär-

chen einem zunächst recht unkonkreterscheinen können. Sie spielen in einer Fabel-schicht. Aber gerade die war für meine Pro-bleme stets am konkretesten. Ich warerstaunt, dass die Dramaturgie der MärchenVorgänge verdeutlicht, die den Alltag von sei-ner Äußerlichkeit befreien. Etwas gerinnt zueiner Geste, einem Motiv und kann Schlüsselwerden zum Leben. Das Wesentliche wirdfreigesetzt. Das hat mir zu Hoffen gegeben.Diese Dichte, die weder eng noch gepresst,sondern die scheinbar ganz einfache Kon-struktion eines Märchens ist, setzt ein anderesBewusstsein voraus. Wo ist der Quell einer sogroßen Weisheit? Ihre Tiefe spricht sich insparsamen Bildern und Gesten aus.Dieses tiefe, weisere Bewusstsein fand ichspäter in neuer Form in den Mysteriendramenvon Rudolf Steiner wieder. Am ersten Abendwar eine Auswahl von Szenen sichtbar, die insich, aber auch in ihrer Bilderfolge eine außer-gewöhnliche Dialogform enthielten.Dabei handelte es sich nicht allein um kleineLebensabschnitte oder –fragen, sondern auchum große Zusammenhänge. Das Drama ver-folgt in unerhörter Verdichtung die Spur:„Woher komme ich? Wohin gehe ich?“Aus weiter Vergangenheit bis in die Gegen-wart wird eine gewaltige Zeitenfolge geschaf-fen. Zurückliegendes wird begriffen und ver-arbeitet. Dann jedoch tritt ein Umschlags-punkt ein und signalisiert: Diese Zeitenfolgehält inne; es findet eine Übergabe statt, an derdas Geschöpf Mensch zum Schöpfer wird.Heute ist dieser Umschlagspunkt ein Punkt,der Verb und Ort zugleich ist. Eben jetzt undhier findet das statt – ständig. Ich war glück-lich, als ich von dieser Verwandlung einesRaumes in ein Wendemoment hörte, einSchwellenmoment, wie es genannt wurde.Dabei dynamisiert sich der Raum. Er geht mitmir mit. Immer habe ich „Umschlagsplatz“,und doch bin ich in der jetzigen Inkarnationan einem einmaligen Umschlagsplatz. Denndie zweite Hälfte der fünften Kulturepochehat eine besondere Signatur. In ihr kann daseinst von der Schöpfung erhaltene Geschenkzum Werkzeug werden; wir bekommen dieMöglichkeit, selber zu wirken. Werkzeugwerden kann alles, was wir erhalten haben:Gedanken, Gefühle, Taten. Es kann sowohlWerkzeug als auch Organ werden, Wahrneh-mungsorgan, indem wir sagen: „Ich nehmeauf“, und Tätigkeitsorgan, indem wir sagen:„Ich handle, ich gestalte“.Bezüglich der Frage, wie man mit diesemUmwandlungsprozess leben kann, machtRudolf Steiner darauf aufmerksam, wie sichdieses Neue in seiner Wirkung zeigt. DerMensch bemerkt die Fähigkeit zur Verantwor-tung. Denn kein Gedanke, den ich denke, ist inmir abgeschlossen, er ist in der Welt wirksam.Ist da schon eine Wirkung, wie eine Tat, wenn

ich gesprochen habe, positiv oder negativ?Sofort! Ist schon eine Realität, wenn ichfühle? Längst!Erwachen wir in dieser Wirklichkeit, findenwir uns in unmittelbarer Nähe zur Schöpfer-welt. Sie wartet darauf, dass wir dieses „Amt“in Freiheit übernehmen. Amt bedeutet hiernicht organisierende Verwaltung, sondern Ver-antwortung für die von mir geschöpftenGedanken und Gefühle, weil sie in der Weltspirituell wirksam werden. Erfahren wir die-sen Gestaltungsprozess als Wirklichkeit, kön-nen wir uns in jedem Moment als„Umschlagskünstler“ erleben.

Anna Maria Martini: Dimension Anthroposo-phie – Potential Mensch, so herum könnteman das Thema auch formulieren. Ich habeviel mit Philosophie zu tun und diverse Ver-gleiche vor Augen zwischen philosophischenTheorien, Weltanschauungen und Gedanken-gebäuden. Daher muss ich sagen, dass mirkeine Weltanschauung (mal unabhängig vonden Religionen), keine Philosophie bekanntist, die so stark in dem bereits wunderbarbeschriebenen Maße oder Verhältnis men-schenbildend ist, oder besser: sein kann, wiedie Anthroposophie. Anthroposophie gehtüber bloße Theorie oder gewöhnliche Wissen-schaft hinaus, indem sie die Möglichkeit zueiner wirklichen Menschenbildung in mehr-facher Hinsicht enthält.Es gibt keine Philosophie, die ähnlich stark indie Konstitution des Menschen bildend undwirksam eingreifen kann wie die Anthroposo-phie, vorausgesetzt man lässt es zu und lässtsie an sich selbst, an der eigenen Seele, wirk-sam werden. In der relativ kurzen Erfahrung,die ich bisher habe – das ist trotz eines Auf-wachsens mit Anthroposophie von Kindheits-tagen an tatsächlich noch nicht besonders viel–, konnte ich das selbst erleben und die Wahr-heit dieser Tatsache feststellen.Ich kann auch an anderen Menschen, mitdenen ich zu tun habe, erleben, was Anthro-posophie machen kann, so wie ich Anthropo-sophie an mir etwas machen lassen kann,wenn sie wirken darf, wenn das zugelassenwird.Ganz einfache Beispiele sind vom Denken herzu beschreiben, zu nennen: Ich kann überbestimmte Menschen oder Dinge so oder sodenken über längere Zeit und kann dannbestimmte Empfindungen, Gefühle, Willens-akte daran knüpfen. Auf diese Weise gestalteich – oft ohne es mir wirklich bewusst zumachen – meine Umwelt und mein sozialesUmfeld. Ich erlebe vieles vielleicht als vonaußen auf mich zukommend, obwohl ich esdoch selbst bin, die da über das eigene Den-ken Wirkungen ausgelöst hat, die sich mirnun im Nachhinein – gleichsam als Spiegelmeines eigenen Denkens – zeigen und mir

Dimension Mensch – Potential AnthroposophieGioia Falk, Anna Martini, Hartwig Schiller

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von neuem begegnen. Aber das scheinbarNeue, von außen Kommende bin auch ichselbst. Viele Theorien oder Philosophien ken-nen das auch, aber es gibt nirgendwo diesesPotential, eine Art des Denkens auszubilden,wie das die Anthroposophie anbietet, geradeauch, um sich das eben beschriebene Phäno-men bewusst zu machen und damit zu arbei-ten.Es ist ein großes Geschenk, das ist angespro-chen worden, und das sehe ich und das erle-be ich tatsächlich tagtäglich. Das ist beispiels-weise der Gedanke von Reinkarnation undKarma. Dieser wirkt so weit ins Leben hinein,so erlebe ich das, dass daraus eine ArtLebenssicherheit, eine innere Ruhe, aber auchFreude entstehen kann. Und das ist zunächsteinmal ein individueller Prozess, der sich abersehr wohl im Sozialen, in der Gemeinschaftauswirken kann.Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ichhalte deshalb in jedem Falle die Anthroposo-phie für die zukünftigste Geisteswissen-schaft überhaupt, das ist erlebbar, fühlbar,auch eben im Vergleich mit anderen Inhalten,die ich ja nun über die Universität sehr starkerlebe.Der Zugang zur Anthroposophie in ihrerZukünftigkeit ist selbstverständlich auch einanderer, als wenn ich mir nur Theorie aneig-nete, als wenn ich mir bloß Inhalte als Vor-stellungen aneignete, die keinerlei realeWirksamkeit auf mein gesamtes menschli-ches Dasein haben würden. Philosophien alsrein theoretische Gedankengebäude kannich auswendig lernen oder auch nur repro-duzieren – und später wieder vergessen. Beider Anthroposophie ist das nicht so ganzeinfach, weil hier schon von vornherein einganz anderer Anspruch besteht. Die Anthro-posophie und ihre Inhalte sind selbst wesen-haft-substantiellen Charakters, weil sie nichtbloßen Vorstellungen entstammen, sondernaus geistiger Anschauung gewonnen sind.Sie können also auch nicht nur auf theoreti-schem Felde angeeignet werden. Das würdeihrem Wahrheitsgehalt nicht gerecht werden– die gesamte Innenseite des WesensAnthroposophie würde ausgeblendet (so wiewenn man den Halbmond nur als halbeScheibe sähe, obwohl er doch rund ist). Ichhatte schon angedeutet, dass ich Anthropo-sophie viel mehr zulassen muss, so erlebe iches an mir selber zumindest, dass ich vielmehr einen Gestus des Empfangens habenmuss, um etwas mit mir geschehen zu las-sen.Insofern ist die Anthroposophie auf Zukunfthin angelegt und sie kommt mir zugleich ausder Zukunft entgegen. Ich bin gespannt, wassich daraus entwickelt und wie sich daranauch die Gemeinschaft weiter entwickelt oderletztlich überhaupt entsteht.

Gioia Falk: Das gibt mir Gelegenheit noch ein-mal an die Bemerkungen über die Märchenanzuschließen. Häufig geben sie komplexeInhalte in einfacher Gestik wieder.

Beispielsweise begegnet uns die Situationdes Offenen mit der „Geste des Offenhal-tens“. Da wird der Entschluss gefasst, sichtrotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten ineinen bestimmten Zeit- und Erlebnisraumzu begeben. Altes rückt da in die Ferne undNeues ist noch nicht in bestimmter Formoder klarem Inhalt sichtbar. Diesen Leer-raum muss der Held unerschrocken betre-ten, ganz von sich absehen. Einmal eingetre-ten, muss er auch die Vorstellung von Zeit-abläufen verklingen lassen. Denn oft stelltsich nicht sogleich etwas ein. Es entstehteine Spannung bis hin zum Druck, die derHeld aushalten muss.Diese Geste des untergehenden Alten undnoch nicht vorhandenen Neuen ist eine Stim-mung, die sich durch alle Mysteriendramenhindurchzieht. Sie kann in jeder Szene gefun-den werden. Beispielhaft möchte ich auf dieSzene vom 1. Drama, 4. Bild zu sprechenkommen, in der zwei Doktoren im Gesprächmit der in dieser Szene rätselvollen Gestaltder anderen Maria sind. Johannes erlebt dasGeschehen in einem erweiterten Bewusst-seinszustand. Wie wird gesprochen?Die beiden Herren sind voller Fragen und ver-meintlichem Wissen über die Natur. Siemöchten das Leben tiefer ergründen. Maria,als andere Gestalt, findet sich hingegen ganzim Leben und versucht dieses den beidenzugänglich zu machen. Das ist ihr in der Spra-che der beiden Gelehrten jedoch nicht mög-lich.Diejenige, der es anscheinend schwerfällt sichin den Denkmustern der Gelehrten sprachlichauszudrücken, soll also antworten und diebeiden Antwort Suchenden bringen schnellihre eigenen Urteile und Standpunkte.Rudolf Steiner gibt für diese Szene eine

Regieangabe. Jedesmal, bevor das rätselvolleWesen spricht, soll eine Musik erklingen.Dafür gibt er eine bestimmte Melodiefolge anund danach spricht sie. – Die andere Mariawird also mit einer Frage bestürmt, es erklingtMusik und dann erst antwortet sie. – Für heu-tige Regisseure ist das ein Graus, da währendder Musik die Frage in Vergessenheit gerätund außerdem die Szene verschleppt wird.Wie kann dabei Zug in die Dramatik kom-men? Wäre es nicht für die heutigen Sehge-wohnheiten angebrachter, die Musik wegzu-lassen? Während der Probenarbeit haben wir uns mitdieser Frage beschäftigt. Dabei ergab sich,dass durch die Musik nicht nur etwas verlo-rengeht, sondern anderes erst entsteht.Während der anhaltenden musikalischenWeise mussten die Fragenden sich gedulden,auf die Antwort warten, wurden durch dasrätselvolle Geschehen verunsichert. Was istdie Folge? Die Spannung steigt, schlägt aberum. Etwas beginnt sich zu öffnen und jetztendlich redet dieses Wesen zu Ohren, die sichinzwischen bereitet haben. – Stellen Sie sichvor, dieses Wesen hätte sofort geantwortet.Das hätte eher einer Diskussion entsprochen.In dieser Szene wird durch Musik eingegrif-fen, so dass ein Umschwung vorbereitet wird.Ein innerer Raum entsteht, kann Ort einesUmschwungs werden.

Hartwig Schiller: Anna Maria Martini hat dasThema eben neu arrangiert und gesagt:„Dimension Anthroposophie – PotentialMensch“. Frau Falk sprach von verschiedenen„Werkzeugen“. Ich möchte an eine ÄußerungBodo von Platos aus dem Gespräch über„Anthroposophen in der Zeit des Nationalso-zialismus“ erinnern. Er forderte dazu auf,

Gioia Falk, Anna Martini, Hartwig Schiller

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nicht abstrakt zwischen den Zeitdimensionenzu trennen, nicht so zu tun, als ob man Ver-gangenheit, Gegenwart und Zukunft vonein-ander isolieren könne.Daher würde ich gern der Frage nach demRaum, bzw. den Zwischenräumen nachgehen,die für die Entwicklung des Menschen wichtigsind und in denen er die Dimension seinesMenschseins zu realisieren versucht oder dasPotential der Anthroposophie wirklich macht.Programmatische Formulierungen gelingen daleicht, rhetorisch ist jedoch nichts zu machen.Wo steckt das wirkliche Zukunftspotential?Da lässt sich an die zuletzt gestellte Fragenach dem Zwischenraum in der Musikanschließen. Die muss übrigens auch erstmalgefunden, bestimmt, komponiert werden. Siefällt ja nicht einfach vom Himmel. Zumindestmuss sie aufgefangen werden.Dabei kann ich mir eine selbstkritischeBemerkung im gesellschaftlichen Zusammen-hang nicht verkneifen. In einer der erstenAufführungen der Neuinszenierungen hatteich einen guten Platz etwa in der fünftenReihe bekommen. Hinter mir pfiff, rauschteund hustete es, dass es nicht einfach war, sichauf das Geschehen auf der Bühne zu konzen-trieren. Zwischendrin immer wieder Störge-räusche von Hörgeräten, schlecht eingestell-ter Infrarotverstärkung. Auch wurde fleißigkommentiert: „Das ist ja gar keine Sprachge-staltung.“ „Können die nicht deutlicher spre-chen?“ „Was ist aus den RegieanweisungenRudolf Steiners geworden? Wissen die nicht,dass man sich auf der Bühne nicht umdrehenund den Rücken zum Publikum wendendarf?“Wie soll bei solcher Haltung Raum entstehen,der die Begegnung mit einer Neuinszenie-rung zulässt? Diese Raumverschließung hatteihren Grund auch nicht etwa darin, dass tat-sächlich keine Sprachgestaltung wahrnehm-bar war, sondern lag schlicht und einfach anden schlecht eingestellten Hörgeräten. DieKommentatoren hörten gar nichts, hattenaber ganz scharfe Urteile über ihre verfremde-ten Wahrnehmungen. Das wirkt dann manch-mal bitter und fanatisch.Also: wie ist der gesuchte Raum beschaffen?Wenn wir den Potentialen des Menschseinsund der Anthroposophie nachgehen wollen,dann kommt es auf gewisse Bedingungenoder Voraussetzungen an. Schon unsere Spra-che kann da etwas verhindern oder ermög-lichen. Was ist gemeint, wenn wir formulie-ren, dass „wir Zukunft ermöglichen wollen“?Das klingt schon recht zwingend. Statt„Zukunft zu ermöglichen“ könnte man ver-suchsweise sagen, dass man „Zukunft zulas-sen“, jedenfalls „nicht verhindern“ möchte.Zukunft erzwingen kann man eigentlichnicht. Was man da an Plänen schmiedet oderals Zukunft anvisiert, entpuppt sich hinterherals etwas ganz anderes als das Erwartete. Unddas Erwartete ist ohnehin eine hochgerechne-te Vergangenheit.In der Allgemeinen Menschenkunde zeigtRudolf Steiner, wie der Mensch als vorstellen-

des, denkendes, erkennendes Wesen zurück-schaut, wenn er Dinge betrachtet, dass erimmer gleichsam auf Bilder blickt. Bilder kannman anschauen. Dabei ist nicht entscheidend,ob das eine Wirklichkeit ist, die man anschaut.Jedenfalls ist es ein Bild und damit etwasGewordenes, es ist schon da, es enthält eineVergangenheit.Anschließend deutet Steiner auf den Willenund macht klar, dass in ihm etwas Zukünfti-ges auftritt, das er mit einem HinweiswortKeim nennt. Ein Keim zeichnet sich dadurchaus, dass in ihm vieles noch nicht sichtbar,noch nicht geworden ist. Er lässt vieles ver-hüllt, was in der Entfaltung möglich ist. Willman zu seiner Entfaltung beitragen, mussman einen geeigneten Entwicklungsraumschaffen.Damit sind wir bei der Werkzeugfrage: Wiekann ich Entwicklungsraum schaffen? Dashat etwas zu tun mit Zulassen, mit Zulassenkönnen. Allerdings kommt es nicht zustande,indem man die Hände in den Schoß legt. Eshandelt sich nicht um ein passives Zulassenkönnen. Aber was ist das? Das möchte ich gern am Beispiel einergeschichtlichen Gestalt kurz andeuten. Ichhabe sie einmal in den deutschen Mitteilun-gen erwähnt und erhielt daraufhin einenempörten Leserbrief. Hoffentlich passiert dasjetzt nicht wieder. Es geht um einen Protago-nisten meiner Jugend, einen Zeitgenossen,inzwischen verstorben, aber noch ganz in derZeitgeschichte präsent. Während meinerKindheit belferte seine Stimme zuweilen ausdem Radio. Sie hatte etwas Ätzendes, wargebrochen, hart, krächzend, oft außer sich,sächselnd schreiend. Sie musste einem auffal-len.Später, in der Jugendzeit, habe ich mich fürdiesen Kerl interessiert. Es existiertenumfangreiche Sammlungen von ihm mit Zita-ten aus dem Bundestag. „Wer raus geht, mussauch wieder rein kommen.“, ist ein solchesZitat. Das rief er der konservativen Fraktionzu, als diese im Zusammenhang der Ostver-träge geschlossen den Plenarsaal verließ.„Wer raus geht, muss auch wieder rein kom-men“ – wurde für mich ein Leitsatz als Wal-dorflehrer. Er verhinderte, verärgert oderbeleidigt Konferenzen zu verlassen.Um Herbert Wehners Lebensgeschichte habeich mich bemüht, weil ich in meiner Kindheitvon lauter solchen Menschen umgeben war.Nach Nationalsozialismus und Weltkrieg ver-letzte, verwundete, blutende Menschen; ausoffenen Wunden, permanent blutend, daswaren meine Erzieher, das waren meine Leh-rer. Das Tragische und Bittere dieser Wundenwar, dass sie ein sorgfältig verstecktesGeheimnis enthielten, selbst zugefügt waren.Die Welt war voll solcher Menschen, dienahm ich in meiner Umgebung wahr, unddeshalb habe ich mich für Wehners Lebeninteressiert, wie dieser Mensch geworden ist.Er war als junger Mensch Marxist, Terrorist,Dresdner, hoch begabt, künstlerisch interes-siert, hatte sogar ideelle Begegnungen theo-

sophischer, anthroposophischer Art. Auch warer Idealist, hielt diesen Idealismus angesichtsder Lebenswirklichkeit für unpassend undentschloss sich zur Gewalt. Er spielte Mund-harmonika, das Musikinstrument der armenLeute, er spielte sie noch als Bundestagsabge-ordneter und Bundesminister und unterhieltzuweilen hochrangige Delegationen damit.Wehner war ein schrecklicher Mensch und einMensch, der einem schrecklich Leid tunkonnte. Etwas Bestimmtes hat ihn gerettet.Das geschah am Umschlagspunkt seinesLebens, an dem er etwas tat, das er mit sei-nem Menschsein nicht vereinbaren konnte.Wehner reiste vor dem Krieg als kommunisti-scher Agent durch Deutschland. Immer wie-der konnte er sich der Festnahme entziehen,war ein umsichtiger, kaltblütiger Agent underreichte schließlich das russische Exil, wo erin Moskau im berüchtigten Hotel Lux wohn-te. Die dort Untergebrachten wurden im Zugeder stalinistischen Säuberungen ständigenVerhören unterzogen. Überleben konnte danur, wer seinen Befragern etwas anbot, das fürandere verfänglich war. Er musste vor Intrigenanderer Exilanten auf der Hut sein und sichselbst zu verteidigen wissen. Denunzierenund denunziert werden, war das Gesetz die-ser Hölle. Wer sie überlebte, war schuldiggeworden. Wehner überlebte nicht nur, son-dern erreichte sogar, dass er auf dem Wegüber Schweden als Saboteur nach Deutsch-land geschickt wurde. Kaum in Schwedenangekommen, ließ sich der Mann, der sich soerfolgreich allen Zugriffen der Gestapo entzo-gen hatte, jedoch festnehmen und überdauer-te den Krieg in schwedischen Gefängnissen.In Moskau galt er seitdem als Verräter. Als erwieder frei kam, hatte er seine Weltauffassungdurchgreifend verändert. Allerdings trauteihm auch die politische Klasse in seiner neuenwestdeutschen Heimat nicht.Überlebt hatte er um den Preis des Verrats.Das durfte er nie öffentlich zugeben undkonnte es zugleich niemals vor sich selbst ver-leugnen – was für ein Zustand! Es kommt hierauf den Zwischenraum an, den wir zubeschreiben versuchen. In was für einemBewusstseinszwischenraum, Gewissensraumlebt ein Mensch, dessen Selbsterkenntnisstark genug ist, die Augen nicht zu verschlie-ßen, der nicht verdrängt, was seine Schuld istdurch Handlungen, die er nicht und niemalsmit sich vereinbaren kann?In diesem geheimnisvollen Raum, der vonWahrheit, Schmerz, Gewissen, Sühne undSelbstverantwortung bezeichnet ist, durchleb-te er etwas, das ungemischt und ungetrenntmit dem Menschentum zu tun hat. Es hat mitEinsicht, Leid und Umkehr zu tun, mit etwas,das man in alten Zeiten Sühne nannte. Nurwar diese Sühne keine Strafe, sondern derVersuch einer Heilung und Selbstheilung. Erentschloss sich in der Folge für einen Weg, derbescheiden und tolerant auf das pragmatischMachbare setzte, der den humanen Spatzender ideologischen Blendtaube vorzog. Deninneren Weg, der ihn dorthin geführt hatte,

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formulierte er nie, der ist nur seinen späterenHandlungen zu entnehmen. So viel zumRaum, in dem Umschlag, Wende und Umkehrmöglich wird.Auch bezüglich des Werkzeuges gibt Wehnereiniges her. Wir besprechen Zukunftsaspektehier auch in Bezug auf die Gemeinschafts-,die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen.Dieser furchtbar verwundete Mensch, deraußer sich geraten konnte, wenn er Engstir-nigkeit, Engherzigkeit und moralinsaureDogmatik erlebte, ein furchtbar hässlich undentstellt aussehender Mann und dochzugleich der fähigste Mensch seiner Partei,verhalf anderen Menschen in den Steigbü-gel, obwohl er scharfblickend sah, wo ihreGrenzen lagen.Er selbst hingegen machte sich zum Instru-ment. Auf seinem Schreibtisch stand einSchild, das Auskunft gab und Selbstermah-nung war hinsichtlich seines geheimenLebenslaufes. Darauf fand sich ein Wort mitfünf Buchstaben in lateinischer Sprache:„servo“, – zu Deutsch „Ich diene“. Nichtsanderes. Dieses Wort sprach die im geheimenRaum gefasste Lebensumkehr aus. Er hielt fürden Rest seines Lebens dieses sich selbst unddem Geist der Menschlichkeit gegebene Ver-sprechen des: „Ich diene“.Die Qualität des Dienens ist eine Willensqua-lität. Ich will mit jeder Faser meines Lebens, injeder Faser meines Wesens lebt: „Ich will“.Allerdings geht es dabei nicht um dasgewöhnliche Wollen. Nicht ich will, sondernich will dienen können, ich will wollen kön-nen für das, was sich meinem Menschsein alsAufgabe stellt.Das ist etwas Anthroposophisches. UnterUmständen sind Menschen Anthroposophen,die es gar nicht wissen. Der freie Mensch, derseinen Zielen aus Einsicht und Liebe folgt, istzugleich ein anthroposophischer Mensch.Wenn wir darüber sprechen, was in unszukunftsfähig ist, was keimhaft, willensfähigist, dann geht es darum, ob wir etwas davonrealisieren und nicht bloß darüber reden kön-nen.Diesen Raum kannte auch Paulus. Seine For-mel war kaum umfangreicher als die Weh-ners. Denn „servo“ heißt, so besehen, nichtsanderes als „Nicht ich!“

Anna Maria Martini: Hier werden spannendeDinge und Fragen angesprochen, die ich gernweiter befragen möchte. Die Frage nach demWollen, das zugleich ein Nicht-Wollen ist,sozusagen ein willentliches Nicht-Wollen –was könnte das heißen? Ich frage mich, inwelchen Haltungen, in welchen Gestenkommt das zum Ausdruck, ein willentlichesoder wollendes Nicht-Wollen? Das Dienen,das wurde angesprochen als Beispiel und dasfinde ich sehr treffend; mir fällt auch dieAndacht ein; Andacht, Respekt, Achtung,auch Offenheit, also Haltungen, bei denen ichwill, dass ich nichts will. Und die Begegnungmit dem anderen Menschen, die will ichnatürlich, aber inwieweit kann ich vom ande-

ren Menschen etwas wollen in der Begeg-nung? Ist das nicht gerade dieses Offen-Las-sen, das Begegnen-Können als ein wollendesNicht-Wollen? Sobald ich nämlich Erwartun-gen habe, habe ich den inneren Freiraum, dereigentlich für den anderen Menschen jeneÖffnung sein sollte – um Begegnung über-haupt zu ermöglichen – wiederum ausgefülltmit Eigenem/Eigensein.Ich kann von dem Anderen nichts wirklichwollen, wenn ich ihm begegnen will, das istmir jetzt klar geworden, zumal ich, wenn ichan den anderen Erwartungen habe, (daskennt sicher jeder) enttäuscht werden kann.Wenn ich die Erwartungen nicht habe, dannerlebe ich auch keine Enttäuschung, was impositiven Sinne dazu führen kann, dass seeli-sche Kräfte vielleicht frei bleiben, die anson-sten (durch das Leid der Enttäuschung)gebunden würden.Das ist jetzt natürlich wieder Theorie, das ist jaschon wieder ausgesprochenes Wort. Abervielleicht hat der ein oder andere das auchreal erlebt und gemerkt, dass es tatsächlichein wollendes Nicht-Wollen ist. Und dass daseben in bestimmten Haltungen und Gestenzum Ausdruck kommt.

Gioia Falk: In den Mysteriendramen kann manerleben, wie sich durch den Schulungsweg dieEntwicklungsphasen beschleunigen undebenso die damit verknüpften Problemeschneller auftreten. Es kann zu gewaltigenSpannungen kommen, gerade wenn der Willeangesprochen ist unter Menschen. Intensivwirkt das.Beim Drama ist immer Wille und Widerstandund wir bemerken: das, was ich in mir bewe-ge und verwandle, hilft dem Anderen ebensoeinen Entwicklungsschritt zu machen. Kräftewerden frei auch für ihn. Im Verlauf des vier-ten Dramas kommt der Punkt, wo sich derWille einer karmischen Gruppe, die sich aufdem Schulungsweg befindet, zusammen-schließen könnte. Äußere Anlässe begünsti-gen ein gemeinsames Tun. Aber was passiert?Schon bald gehen sie wieder auseinander. Esscheitert. Licht in das Problem bringt eineGeistesschau Straders an seinem innerenAbgrund. Sein spirituelles Erlebnis lässt ihnim Geistgespräch mit Benedictus und Mariawissen: Du musst Fähigkeiten ausbilden. ImDrama wird das als das „Schmieden desSchwertes“ bezeichnet.Jeder ist tätig an sich selbst, schult sich, bildetetwas aus. Allerdings muss man die verschie-denen Schwerter – das eigene und die ande-ren – kennen und unterscheiden können.Das heißt also, dass ich an mir bilde, derAndere an sich bildet und dazwischen istnicht Unbeteiligung; das Schwert des anderenist mir nicht gleichgültig. Es gibt eine deutli-che Grenze zwischen jedem und doch aucheine Verbindung. Ich muss das Schwert desAnderen kennen, nicht jedoch stellvertretendschmieden.Dieser Gedanke als Einsicht kann blitzartigdie Spannung, die sich im Willensbereich zu

Anderen aufbauen kann, in aktive Toleranzverwandeln. Bei entsprechender Übung kannman beobachten, wie der seelische Raum sichaugenblicklich verfestigen und verengen odermit einer Geste des Zulassens kraftvoll öffnenkann.

Hartwig Schiller: An dieser Stelle würde ichgern auf eine Formulierung von Wolf-UlrichKlünker zurückkommen, der gefragt hatte:„Was ist eigentlich hinter dem Denken?“Wenn wir „Denken“ sagen, meinen wir nichtAssoziieren, wir reden nicht über zufälligeEinfälle, sondern wir reden über etwas, mitdem das Wollen vollkommen verbunden ist.Wir verstehen Denken als Arbeit, als Tätigkeit,die zu einem Ergebnis, an ein Ziel kommt.Aber was ist dann? Was kommt danach? Waskommt nach dem Aufleuchten der Erkennt-nis?Mit dieser Frage möchte ich zugleich dasMotiv des gemeinsam unabhängig geschmie-deten Schwertes aufgreifen. Vielleicht kannman beim Schmieden dieses Schwertesbehilflich sein. Beides würde ich zugleich gernauf die Anthroposophische Gesellschaftbeziehen, um auch ihrem Potential nachzuge-hen. Wenn es darum geht, menschliche Ent-wicklung zu verstehen, dann bieten sichbestimmte von Rudolf Steiner entwickelteGrundlagen an. Dazu zählt vor allen Dingendie „Geheimwissenschaft im Umriss“ und dainsbesondere das allgemeine Entwicklungs-gesetz: „Darauf beruht ja alle Entwickelung,daß erst aus dem Leben der Umgebung selb-ständige Wesenheit sich absondert; dann indem abgesonderten Wesen sich die Umge-bung wie durch Spiegelung einprägt unddann dies abgesonderte Wesen sich selbstän-dig weiter entwickelt.“24

Etwas später hat er die Evolutionsgesetzlich-keit von einem inneren Gesichtspunkt, vomGesichtspunkt der Wahrhaftigkeit her bespro-chen und dabei vier Qualitäten benannt:als ersten, unausweichlich notwendigenSchritt für Entwicklung nennt er das Opfer. Esmuss etwas selbstlos zur Verfügung gestelltwerden, woraus sich etwas entwickeln kann.Der zweite Schritt besteht darin, dass die wei-tere Entwicklung treu begleitet wird, er nenntdas „schenkende Tugend“. Man kann dabeian die Erziehung von Kindern denken, wosich Erzieher anhaltend treu bemühen, dassdie Entwicklung einen guten Gang nimmt.Beim dritten Schritt kann die Bezeichnungleicht zu Missverständnissen führen. RudolfSteiner nennt ihn „Resignation“. Das dadurchhervorgerufene seelische Echo ist erfah-rungsgemäß divergent. Resignieren wird alsetwas Problematisches, wenn nicht garNegatives aufgefasst und mit Stillstand undMutlosigkeit in Verbindung gebracht. Das istallerdings nicht gemeint. Gemeint ist Resig-nation im Sinne des lateinischen „resigna-re“, was mit „Abdanken“ oder “Machtver-

24 Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13,S. 191, Dornach

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zicht“, „sich Zurückziehen“ zu tun hat.Immer handelt es sich um Machtverzicht:Du schmiedest dein Schwert, das meinemebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist,und ich helfe Dir dabei. Ich bin bereit abzu-danken.Der vierte Schritt betrifft unsere gegenwärtigeErdenentwicklung. Die freie Handlung voll-zieht sich durch Initiative, Liebe und Verant-wortung.Stellt man die Frage: „Was kommt eigentlichhinter dem Denken?“, dann könnte man dieseEntwicklungslinie mit ihrer spezifischen Moti-vik rückwärts durchschreiten. Die auf demWege erworbene Ichheit des Menschen ver-sucht zu ergründen, was unser Menschsein,oder das Menschsein des Mitmenschen, nochwerden, noch bedeuten könnte. Dadurch neh-men wir die Dimension Anthroposophie, dieEntwicklungshorizonte anthroposophischerBewegung und Gesellschaft in den Blick.Dazu ist ein Erstes notwendig, und bereitsdieser erste Schritt ist ungeheuer folgenreich:Im Rückwärtsgehen wartet als erster neu zuvollziehender Schritt nämlich derjenige derResignation. Wir sind dabei als Ich-Wesenengagiert – tätig, wollend! Laschheit undindifferente Toleranz sind da nicht tauglich.Zuhören und Abschalten rufen zwar den Ein-druck gemütlicher Onkels und Tanten hervor– bringen jedoch nicht weiter. Erforderlich istein paradoxer Schritt vollkommener Aktivitätbei gleichzeitigem Verzicht. Durch Resigna-tion und Abdankung lassen wir zu, ermög-lichen Selbständiges, Neues.Beim zweiten umgekehrten Schritt geht esum eine Aktivität im Ätherischen, um einPflegen, Unterstützen, Fördern. Da handelt essich nicht mehr um das Beurteilen, ob etwasrichtig oder schön ist; vorangegangen ist ja dieResignation darüber, ob etwas „gefällt odernicht gefällt; ob der andere Recht oder

Unrecht hat, richtig zitiert oder korrekturbe-dürftig ist.“ Es geht nicht um Kenntnisse, diegehören zum ersten Schritt – jetzt geht es umsPflegen, ums Fördern, um einen Schritt imBereich des Lebensgeistes.Der dritte Schritt bedeutet eine Metamorpho-se des Opferns. Wir stellen uns vollkommenzur Verfügung, uneingeschränkt. Unsere Bot-schaft ist: „My case, right or wrong“. Eigent-lich heißt das Zitat: „My country, right orwrong“, und man legt die rechte Hand aufsHerz. Hier aber geht es um das Menschen-projekt. Richtig oder falsch – die Throne aufdem Saturn haben nicht gefragt, ob das schiefgehen könnte. Sie haben mit vollem Risikoetwas aus ihrer Willenssubstanz geopfert. Undfür die entscheidende Frage anthroposophi-scher Realisierung, ob in Bewegung oderGesellschaft, halte ich, ob wir bis zu dieserKonsequenz kommen auf dem Weg derUmstülpung unseres Ich-Wesens, die keineSchwächung bedeutet, sondern eine Stärkungund Steigerung.In dem jetzt beschriebenen Evolutionsmodellliegt für mich tatsächlich auch ein Zukunfts-modell der Anthroposophischen Gesellschaft.Wenn wir auf die Anthroposophische Gesell-schaft in der Welt schauen, auf alles, was dageworden ist, was in Dornach lebt, was dasGoetheanum ist, wie wir uns die Weltgesell-schaft vorstellen, wie wir uns uns selbst vor-stellen, wie wir uns daran beteiligen, ob alsMitglieder einer Deutschen Landesgesell-schaft, ob als persönliche Mitglieder, ob wiruns befreunden können mit ihrer Leitung, obwir uns befreunden können mit den beste-henden Gesellschaftsformen – das Entschei-dende wird sein, ob wir diesen Weg rückwärtsgehen können und in Freiheit an unserer undihrer Entwicklung bauen. Funktionen über-nehmen wir dann nicht, um Geltung, Einfluss,Macht auszuüben, sondern um zu dienen.

Gemäß dem zweiten Schritt machen wir dasnicht als Laune eines Augeblickes, sondernbleiben treu dabei, dem Prinzip der pflegen-den, schenkenden Tugend folgend.Drittens machen wir das zu einem unum-kehrbaren Prozess, denn da erst wird Wollenwirklich, bringen wir uns wahrhaftig ein. EinGeschenk kann man zurückverlangen. Schei-dungsanwälte leben davon. Bei einem Opferist das nicht möglich. Es ist unumkehrbar,ausgeflossener Wille.Paradox und schwer verständlich magerscheinen, dass dies nicht blind geschieht. Esist ein neues Sehen, ein Schlaf, in dem ichwache, in dem ich bewusst bin; natürlich ineiner anderen Bewusstheit als in meinemgewöhnlichen Tagesbewusstsein. Das ist ver-gleichbar mit dem Bewusstsein eines Steines,der auf der Erde liegt und ein Bewusstsein hatvon dem, was aus dem Kosmos auf ihn ein-strahlt, und ein Bewusstsein hat von dem, wasihn vom Erdinneren, dem ganzen Erdorga-nismus her stützt und trägt.Dennoch ist es das Bewusstsein eines Steines.Wenn man das einmal steigert: Stein, Steiner… Ich wünsche mir eine AnthroposophischeGesellschaft, die in diesem Sinne vollkommen„versteinert“ ist – in diesem Sinne von Wil-lensqualität.

Anna Maria Martini: Ja, also da wird wieder dasspannende Thema angesprochen: das Verhält-nis der Anthroposophischen Gesellschaft zuRudolf Steiner und zur Zukünftigkeit derAnthroposophie. Das Motiv des Resignierensist ja, wie soll ich sagen, ein ambivalentes, einzweischneidiges Schwert in gewisser Weise.Resignieren wird oft negativ gebraucht odernegativ gesehen, es ist aber jetzt deutlichgeworden, dass es das gar nicht braucht, garnicht sein muss, dass es im Gegenteil sogarmöglichen Raum schaffen kann für etwas. Esist vergleichbar oder im Grunde auch dieGeste des Durchgehens durch die Krise, alsodas Durchgehen durch einen Nullpunkt,durch eine Art Nadelöhr, wo man vielleichtauch erst mal ratlos davor steht, aber wo sichneue Räume, neue Möglichkeiten öffnen.Und in der Tat, also das wäre ja etwas, wo icheben sagen würde im Vergleich zu all denanderen Weltanschauungen oder Philoso-phien, dass hier die Anthroposophie dasjeni-ge Instrument oder diejenige Werkzeugmög-lichkeit ist, dort anzusetzen und Resignationgewissermaßen zu nutzen oder zu handhabenals Werkzeug, als Möglichkeit, als Einstieg zueinem neuen Entwicklungsprozess, zu einemneuen Werdeprozess, aber auch zu einemneuen Prozess oder einer neuen Möglichkeitder Begegnung, des sozialen Miteinanders.Das wäre dann schon sehr zukünftig auf langeSicht hin gesehen, und es könnte erst einmalpunktuell geschehen. Ich kann versuchen,wenn ich resigniert bin, mir diese Möglichkeitbewusst zu machen und daraus Kraft zuschöpfen. Die Fähigkeit, mit der Resignationin dieser Weise umzugehen ist nicht sofort da,sie ist auch nicht sofort erreichbar; es ist tat-

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sächlich eine Entwicklung, es ist eine sehrlangfristige Angelegenheit.Ja, man braucht Geduld, diese Entwicklung istsicherlich mit Höhen und Tiefen verbunden.Aber es ist eine grandiose Chance, und dieMöglichkeit, die die Anthroposophie alsPotential da bietet ist einmalig. Die Mittel, dieuns da an die Hand gegeben sind und die esdort gibt, sind uns bekannt. Es gibt ja ganzviele Übungen und die Möglichkeit einerAusbildung des Denkens, einer Art des leben-digen Denkens, das dann wirksam sein kannund anders in den Menschen eingreift als einnur kopfmäßiges Denken.

Gioia Falk: Bei der Beschäftigung mit denbeschriebenen Idealen oder Gesten des Öff-nens und Zulassens kann sich etwas auftun,was trotz tagwacher Konzentration, also Klar-heit des Gedankens und der Urteilsfähigkeit,eine Erweiterung erfährt. Durch Schulungkann sonst Verborgenes auftauchen, anschau-bar und sogar gestaltbar werden. Wir lernenumzugehen mit dem unglaublichen Kontrastvon Wachsein und Schlafen.In diesem Zusammenhang sind Rudolf Stei-ners Wortschöpfungen auffallend, wenn inseinen Dramen richtungweisende Worte wie„wachendes Träumen“ gesprochen werdenund wiederholt wie ein Pochen erklingen:“wachendes Träumen“.In einem Rat des Benedictus an Strader heißtes:

„Gib deinem Traume Leben, das ich dirZu reichen aus dem Geist verbunden bin;

Zum Traumessein doch wandle, was du dirDurch Denken aus den Sinnen ziehen kannst.“

Waches zum Traum erheben – Traum zumWachen bringen.In der Gegenwart geht das Potential im Men-schen einer Fähigkeit entgegen, die in derAnthroposophie als zukünftiges Bewusstseinbeschrieben wird.Dieser Wechsel bereitet sich in einer Zeit vor,deren Geschehen zugleich immer mehr vonAhriman beeinflusst wird. Er ist ja der Bringerder Abbauprozesse, der Todeskräfte, er wirktverstärkt ab der Lebensmitte. Das ist, insGroße übertragen, die Zeit ab der fünften Kul-turepoche, das steht heute an. Die ganzeMenschheit wacht auf in einen Abbau hinein.Mit Todeskräften ist nicht zu spaßen, dasLeben ringt mit Todeskräften. So bekommtunsere Gesellschaft eine bestimmte Aufgabe,nämlich im Abbau solche Bewusstseinskräftezu erschließen, die sich neu an das Lebenanschließen können. Das Leben erfrischt unsund baut uns in der Nacht auf.Vergleichen wirAbbau mit dem Tag und Aufbau mit der Nacht,so ist die Frage, ob wir die Nachtprozesse insTagesbewusstsein heben können und dürfen.Ohne Interesse an dem, was uns die Nachtsagt, werden wir heute wacher – die Zeitzwingt uns in hohem Maße, wach zu werden–, aber wir krallen uns dadurch auch immermehr in die diesseitigen Vorstellungen einervon Ahriman inspirierten Wachheit hinein.

Ich habe den Eindruck, es gibt viele Übmög-lichkeiten für den Weg. Mir ist nahe gegan-gen, was im Drama immer wieder als Wort, alsFormel erklingt, was Johannes versucht, übt,meditiert, das „wachende Träumen“. Das istin zwei Worten ein Schlüssel unserer Zeit. Mirschwer Zugängliches, Verborgenes ist zuheben. Es geht vom Gegenstandsbewusstseinweg, kann der Täuschung unterliegen. Es istnicht einfach.Im nüchternen Annehmen auch dessen, wassich an Schrecklichem vor mir verbirgt, liegteine Kraft, bei der uns Ahriman sogar helfenkann, richtig wahrzunehmen und zu erken-nen.Wir sehen im Drama, dass es bei einemzukunftsoffenen Bewusstsein immer mehrum den konkreten Umgang mit geistigenWesen gehen wird. Zu dem wachen Gegen-standsbewusstsein können wir ein Bilderbe-wusstsein hinzuentwickeln, welches diesenUmgang eröffnet. Dem wachen Gegen-standsbewusstsein haben wir ein Bilderbe-wusstsein hinzuzuentwickeln.

Hartwig Schiller: Wenn wir vom Großen zumKleinen wiederum zurückkehren, also zumindividuellen Menschen und seinem Verhält-nis zum anderen Menschen, da ließe sichnoch viel Kultur bilden. Das ist da, wo wir unsbegegnen und wo wir mit unserem NamenErnst machen können. Da geht es um die Ver-wirklichung von „Gesellschaft“. Wir gesellenuns zueinander nicht aus Gemütlichkeit undSympathie, nicht weil wir verwandt sind, unshübsch oder vorteilhaft finden. Wir vergesell-schaften uns um des Mensch-Werdens willen.Dafür würde ich diese Anregung gerne auf-greifen: Ich würde mir wünschen, dass es unsgelingt, entsprechende Qualitäten stärkerauszubilden.Die erste schiene mir zu sein: Andacht.Andacht in der Begegnung mit dem anderenMenschen. Das ist etwas Waches und rück-sichtsvoll Versammeltes zugleich. In derAndacht steckt das Denken drin, aber sieweist zugleich in den Umkreis, in ein Träu-merisches und Nächtliches hinein. Es gehtum ein erweitertes Umkreisbewusstsein,aber eben bewusst. Andacht haben gegenü-ber dem anderen Menschen, – mit einemetwas nüchterneren Wort hieße das, Interes-se zu entwickeln für den anderen – wirkli-ches Interesse zu haben. Und nicht zuschnell das Interesse erlahmen zu lassen,weil wir den Eindruck haben, wir hätten denanderen verstanden, könnten das konservie-ren und uns getrost wieder anderen Dingenzuwenden.Als erstes also: Andacht. Ein wunderbaresWort, in dem als „wachendes Träumen“ einreligiöses Moment anklingt und zugleich einwissenschaftlich erkennendes. Mit wahrerAndacht ist man nicht schnell fertig.Das Zweite ist Respekt. Respekt vor dem ande-ren Menschen zu entwickeln, heißt, ihn auchmal in Ruhe lassen zu können, ihn nicht ver-bessern zu wollen. In den meisten Anthropo-

sophen steckt ein kleiner Missionsteufel, undinsofern gibt es da immer die latente Bereit-schaft zu einer intimen Übergriffigkeit. Respektist ein anthroposophisches Grundrecht – denanderen zu achten, wie er ist, mit seinem spe-ziellen Zugang zur Anthroposophie, seinempersönlichen, eigenartigen Umgang mit ihr.Auch das Dritte besitzt eine große Bedeutung:Wohlwollen. Wir sind, also zumindest ich bines nicht, lange nicht wohlwollend genuggegenüber unseren Freunden und Mitmen-schen. Wir schauen sie an und bemerkensogleich das Fehlende, die Unvollkommen-heit. In Bezug auf die allgemeine Entwicklungentdecken wir, dass früher alles besser war,und hinsichtlich der Zukunft bleibt uns nichtverborgen, dass alles noch viel besser werdenmüsste. Unentwegt sind wir zu Wächtern derEntwicklung bestellt. Wehe dem, der eine Ideehat! Am schlimmsten ist es, wenn diese Ideemit einer Initiative verbunden ist, das störtungemein.Wohlwollen – ich helfe mir ab und zu damit,mir gut zuzureden und zu versichern, dassalle es gut meinen, jedenfalls viel besser als esden Anschein hat. Es hilft bereits, sich bei auf-kommender Krise nicht anmerken zu lassen,wie sehr manches nervt. Das ist ein ersterSchritt auf dem Wege zum Wohlwollen.Im Prinzip nimmt jedes Mitglied der Anthro-posophischen Gesellschaft wohlwollend andem teil, was wir so gemeinsam veranstalten.Aber dieses Wohlwollen nicht verborgen zuhüten, so unbemerkt untergründig, darumgeht es. Dem anderen zu versichern, dass esin der Welt einsam zugeht, er einen Freundaber mit Sicherheit habe, sein Gegenübernämlich, das ist aufbauende Tugend.Also: Andacht, Aufmerksamkeit, Interesse zumeinen. Respekt als anderes. Und Wohlwollen,es war vom Fördern die Rede, das würde unsenorm sowohl der Dimension des Mensch-lichen näher bringen, als auch das Potential derAnthroposophie sichtbar machen.