kunst und semiotischer konstruktivismus

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    Kunst und semiotischer Konstruktivismus David J. Krieger Institut fr Kommunikation & Fhrung IKF (erschien als Vorwort und Kapital 1 in Kommunikationssystem Kunst. Passagen Verlag Wien, 1997) Einfhrung Wir leben heute in der postmodernen Welt. Postmodern kann vieles bedeuten, aber in Philosophie und Kulturtheorie bedeutet postmodern vor allem Dekonstruktion oder Dezentrierung des Subjekts. Die Moderne war das Zeitalter der Subjektphilosophie. Seit Descartes war alles in irgendeiner Art und Weise auf das menschliche Subjekt begrndet. Das Subjekt war der Ursprung von allem. Deswegen war die Moderne auch die Zeit des Anthropozentrismus und des Humanismus. Es gab im Laufe der Moderne verschiedene Meinungen darber, was dieses Subjekt, auf dem alles begrndet sein soll, tatschlich war. Fr den Rationalismus und die Aufklrung war das Wesentliche des Subjekts die Vernunft, das heit das logisch-rationale Denken nach dem Modell der Mathematik und der Geometrie. Fr den Empirismus und Positivismus war das Subjekt vor allem ein Wahrnehmungssubjekt. Fr die Romantik war das Wesentliche am Subjekt die Intuition und das Gefhl. Und schlielich, am Ende der Moderne, blieb nichts mehr brig als der Wille. Fr Schopenhauer und Nietzsche war das Subjekt ein Willenssubjekt. All diese Eigenschaften: rationales Denken, Wahrnehmung, Intuition, Gefhl und Wille sind psychische Eigenschaften. Die Philosophie der Moderne war weitgehend eine Psychologie. Als Voraussetzung galt immer: Es gibt als erstes ein psychisches Subjekt, und der Schlssel zum Verstndnis der Welt liegt in der vollstndigen Analyse des Subjekts. Angesichts der Tatsache, dass die Philosophie der Moderne eine Subjektphilosophie war, kann es nicht berraschen, wenn die Kunsttheorie der Moderne sthetik hie. sthetik kommt vom griechischen aisthesis und bezieht sich auf die sinnliche Wahrnehmung. Kunst wurde verstanden nach der Art und Weise, in der ein Wahrnehmungsgegenstand die Sinnlichkeit des Menschen beeindruckte. Aber nicht nur, denn das Subjekt war auch Kunstschaffender und als solcher Genie. Das Genie war das Subjekt, insofern es sich auf originelle Art in der Welt ausdrckte. Kunstwerke waren somit Ausdrcke und Eindrcke. Die Kunsttheorie der Moderne war eine Theorie des Ausdruckes und des Eindruckes des Subjekts. Und hier bildete die sthetische Theorie Adornos keine Ausnahme. Im Gegenteil, Adorno war vielleicht der letzte groe Kunsttheoretiker der Moderne. In seinem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes (1936/37) kritisierte Martin Heidegger den modernen Zugang zur Kunst und behauptete, wir mssten Kunst vom Werk her verstehen und nicht vom Knstler. Versteht man Kunst vom Werk her und nicht vom Subjekt, dann zeigt sich - nach Heidegger -, dass der Sinn von Kunstwerken nicht darin liegt, dass sie besonders beeindruckende Ausdrcke von genialen Subjekten sind, sondern dass sie eine Welt erschlieen. Kunst nach Heidegger ist das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit, wobei Wahrheit nicht eine kognitive Funktion des Subjekts - auch nicht eines transzendentalen Ego - bedeutet, sondern die ereignishafte Erschlieung einer Welt. Dafr werden Menschen als Schaffende und Bewahrende in Anspruch genommen und gebraucht. Es steht also nicht mehr das Subjekt im Zentrum, sondern etwas anderes. Heideggers Aufsatz markiert eine Wende in der Philosophie, nmlich die Wende von der Moderne zur Postmoderne. Diese Wende betrifft nicht nur die Kunsttheorie, sondern jeden Bereich der Kultur. berall dort, wo vorher, das heit in der Moderne, das Subjekt war, steht heute, in der Postmoderne, etwas anderes. So schwierig es sein mag den Begriff postmodern - und all das, was mit diesem Begriff bezeichnet wird - eindeutig zu definieren, drfte trotzdem klar geworden sein, da die Wende von der Moderne zur Postmoderne als Wende weg vom Subjekt, hin zur Sprache zu betrachten ist. berall dort, wo vorher das Subjekt stand, steht heute die Sprache. So stand das Subjekt als Vernunft, als Wahrnehmung, als Intuition und Gefhl oder als Wille im Zentrum. Heute steht die Sprache im Zentrum. Und weil die Sprache bekanntlich kein Zentrum hat - nach Saussure ist Sprache ein differentielles Zeichensystem, worin jedes Zeichen nur einen Sinn und einen Wert in seinen Bezgen zu allen anderen

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    Zeichen hat - bedeutet dies, wie Derrida unermdlich wiederholt, eine Dezentrierung oder Dekonstruktion des Subjekts. An die Stelle von Descartes res cogitans tritt also ein unendliches, unbegrenztes Spiel der Zeichen. Aber es waren nicht erst Derrida und die Vertreter der Dekonstruktion, die die linguistische Wende (Rorty) in der Philosophie initiiert haben. Schon in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts haben vor allem Wittgenstein und Heidegger diese Wende vollzogen. Fr Heidegger ist die Wahrheit, die sich durch Kunst ins Werk setzt, nicht die Eigenschaft eines Subjekts, sondern der Sprache. Nicht der Mensch, sondern die Sprache spricht. Und fr Wittgenstein ist es nicht das solipsistische Subjekt, das sich ein Bild der Welt macht, sondern die Menschen sind immer schon in eine nicht-hintergehbare, intersubjektive Lebensform eingebettet, bevor sie berhaupt auf die Idee kommen knnen, sich als res cogitans oder transzendentales Ego zu betrachten. Aufgrund dieser Wende zur Sprache hat Habermas seine Theorie der Gesellschaft als Theorie des kommunikativen Handelns entwerfen knnen. Und nicht unhnlich - aber aus einer anderen Sichtweise - konnte Luhmann sagen: Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Wenn wir nun diesem Vorschlag folgen und die Wende zur Postmoderne als Wende zur Sprache betrachten, dann wre eine postmoderne Kunsttheorie nicht mehr sthetik, das heit eine Theorie der Wahrnehmung, eine Theorie von Ausdruck und Eindruck, sondern sie wre eine Theorie von Kunst als Kommunikation. Der folgende Aufsatz versucht, ein kommunikationstheoretisches Verstndnis von Kunst zu entwickeln. Aber nicht im Rahmen der blichen Kommunikationstheorie, die Kommunikation als Informationsbertragung nach dem Modell von Nachrichtenmaschinen erklrt. Es wird versucht, anhand von Kunst, verschiedene gegenwrtig aktuelle Theoriestrmungen wie Semiotik, Systemtheorie, Informationstheorie, Hermeneutik und Sprachanalytik zusammenzubringen. Es geht um die Entwicklung einer konstruktivistischen Kommunikationstheorie speziell fr die Erklrung von Sinnsystemen. Sinnsysteme sind im Gegensatz zu mechanischen oder biologischen Systemen semiotisch organisiert. Sie sind selbstorganisierende, autopoietische, selbstreferentielle Systeme, deren Operationen nur als Kommunikationen gedacht werden knnen. Als autopoietisch konstruieren Sinnsysteme sich selber ber Kommunikation. Die Beschreibung der Selbstorganisation eines Sinnsystems ist deshalb ein semiotischer Konstruktivismus. Wenn wir mit Habermas und Luhmann die Gesellschaft als Kommunikationssystem betrachten, knnen wir fragen: Woraus besteht dieses System? Was sind seine Elemente? Wie sind die kleinsten Einheiten von Sinn und von Kultur konstituiert? Die Antwort der Moderne auf solche Fragen war immer subjektbezogen, das heit es waren Ideen, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Intuitionen, Gefhle oder Willensentscheidungen. In der Postmoderne sind es Worte und Zeichen. Da nun kein Wort oder Zeichen fr sich allein existieren kann, denn ein Zeichen hat eine Bedeutung nur dank den Bezgen, die es zu anderen Zeichen im System eingeht, mssen die Elemente der Gesellschaft relationell und nicht substanziell konzipiert werden. Wittgenstein nannte solche kleine Sinneinheiten Sprachspiele. Sprachspiele und demnach Kommunikationen werden durch bestimmte pragmatische Bedingungen konstruiert. Die intersubjektive Korrigierbarkeit jedes Sprechaktes ist eine notwendige Bedingung dessen Mglichkeit. Ein gewisses Innovations- und Transformationspotential gehrt also notwendig zu den Bedingungen von Kommunikation. Dies erklrt die Bedeutung von Kunst fr eine allgemeine Theorie der Kommunikation. Das Thema Kunst als Kommunikation bildet somit einen wichtigen Teil von dem, was man heute semiotischen Konstruktivismus nennen knnte. Was ist Kunst? Eines der auffallendsten Merkmale des heutigen Kunstschaffens ist, dass alles und jedes Kunst sein kann. Wenn man als Theoretiker heutzutage etwas ber Kunst sagen will, das heit, wenn man definieren will, was Kunst im Wesen und im Allgemeinen ist - denn es ist gerade die Aufgabe einer Kunsttheorie, das Wesen von Kunst zu bestimmen - dann muss man gleich zu Beginn ehrlichkeitshalber eingestehen, dass man nicht wei, was Kunst ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass es keine Kunsttheorie gibt, ganz im Gegenteil. Es gibt fast so viele Theorien ber Kunst, wie es Kunstschaffende und Kunstwerke gibt. Jedes Werk heutzutage scheint einen neuen Stil, eine neue Schule, eine neue Definition von Kunst zu

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    begrnden. Nur das Neue, das Unerwartete, das Noch-Nicht-Gemachte gilt heute als Kunst.1 Dies schafft

    eine Situation der Desorientierung und Unsicherheit, denn es fehlen allgemeingltige Kriterien fr Kunst. Jedes Kriterium - sei es die genaue Abbildung der Welt, sei es die berbietung der Natur durch die Darstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren, sei es der Ausdruck von inneren Zustnden - dient nur als Folie fr den knstlerischen Gegenbeweis. Was immer sich als Definition von Kunst in der Gesellschaft etabliert, funktioniert heute, paradoxerweise, gerade nicht als Kriterium fr Kunst, sondern als Grenze, auerhalb derer wirkliche Kunst stattfindet. Und wenn es doch ein Kriterium fr Kunst gbe, wonach unterschieden wird, was Kunst ist und was nicht, dann wre es vielleicht die Fhigkeit, Kunst selber in Frage zu stellen. Kunst wre also das, was Kunst selbst irgendwie in Frage stellt. Wenn man als Theoretiker heutzutage ber Kunst sprechen will, dann muss man mit der Paradoxie beginnen: Kunst ist das, was Kunst selbst in Frage stellt. Damit bernimmt die Kunst eine Aufgabe, die vorher in der modernen Gesellschaft der Vernunft zugeteilt wurde. Es war ja gerade die Aufgabe der Vernunft zur Zeit der europischen Aufklrung, sich selbst in Frage zu stellen und somit sich selbst zu begrnden. Dies ist die Bedeutung von Autonomie. Das autonome, rationale Subjekt der Moderne - also das, was wir alle als Brger(innen) eines demokratischen Staates, als Arbeiter(innen) in einer Industriegesellschaft und als Mitglieder einer auf Vernunft begrndeten Weltordnung sind - ist nichts anderes als ein Wesen, das sich selbst in Frage stellt und die Frage aus sich selbst heraus beantwortet. Niemand kann der Vernunft sagen, was sie zu tun hat, auer die Vernunft selbst. Weder Religion, noch Politik, noch Moral oder sonstige Traditionen knnen oder drfen die Vernunft bestimmen. Die Befreiung der Vernunft aus der Knechtschaft von Religion, Tradition und Politik war eine der groen Errungenschaften der europischen Moderne. Seit Kants berhmter Definition von Aufklrung als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit

    2 ist Selbstbestimmung die

    Bedeutung von Autonomie und Freiheit schlechthin. Wenn es heute Kunst ist, die sich selbst in Frage stellt, dann heit dies nichts anderes, als dass Kunst heute - wie die Vernunft - autonom geworden ist. Autonome Kunst ist Kunst, die keine Bestimmungen von auen akzeptiert. Autonome Kunst definiert sich selbst. Tatschlich gibt es heute keine religise, politische, wirtschaftliche oder rechtliche Instanz, die bestimmen kann, was Kunst ist. Es kann niemand sagen, was als Kunst gelten soll, auer die Kunst selbst. Nur wie geschieht dies? Wie kann Kunst sich selbst bestimmen? Dass alles und jedes Kunst sein kann, wissen wir sptestens seit Marcel Duchamp gewhnliche Gebrauchsgegenstnde - wie zum Beispiel ein Pissoir - signierte, ausstellte und somit zu Kunst erklrte; oder seitdem Andy Warhol Kopien an die Stelle von Originalen setzte. Ready-Mades und Pop Art sind nur Beispiele fr die heutige Freiheit, alles als Kunst zu betrachten. Aber worin liegt das entscheidende, das unterscheidende Merkmal von Kunst? Denn obwohl alles und jedes Kunst sein kann, ist klar, dass nicht jede Kopie, nicht jeder Gebrauchsgegenstand als Kunst betrachtet wird. Die Kopien, die ich zum Beispiel an der Kopiermaschine mache, sind weniger wert als die Kopien, die Warhol gemacht hat. Nicht jedermann ist ein Duchamp oder ein Warhol. Wie sollen wir wissen, ob ein bestimmter Gegenstand ein Kunstwerk ist oder nicht? Dies ist die Frage nach dem differenzierenden Merkmal von Kunst; nach dem, was Kunst von allem, was nicht Kunst ist, unterscheidet. Eine mgliche Antwort wre: Das Unterscheidende liegt im Werk selbst. Ein Kunstwerk zeigt sich als solches. Es gibt demzufolge etwas, das irgendwie einen bestimmten Gegenstand zum Kunstwerk macht. Wie stellen wir uns dies vor? Zumindest knnten wir meinen, ein Kunstwerk msse etwas vom Menschen Geschaffenes sein. Um als Kunstwerk betrachtet zu werden, msste bei einem Ding wenigstens erkennbar sein, dass es knstlich hergestellt wurde. Dagegen sprechen aber die objets trouvs, zum Beispiel ein Stck Holz oder ein Stein, bloe Naturdinge, die zu Kunst erklrt werden. Auerdem sind nicht alle von Menschen hergestellte Dinge Kunstwerke. Gebrauchsgegenstnde wie Schuhe,

    1So die These von Boris GROYS, ber das Neue. Mnchen: Hanser 1992.

    2Immanuel KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, hg. von W. WEISCHEDEL, Werkausgabe Band 11, Frankfurt

    a.M.: Suhrkamp 1977, 53: Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes Zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklrung.

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    Kugelschreiber und Huser erfllen das Kriterium der Knstlichkeit auch, werden aber normalerweise nicht als Kunst betrachtet. Darber hinaus muss es noch ein Mehr geben, das ein hergestelltes Ding als Kunstwerk erkennbar macht. Seit der Antike wurde immer wieder behauptet, das Auszeichnende der Kunst sei die Schnheit. Wenn ein Ding von Menschen gemacht ist und wenn es dazu noch schn ist, dann ist es Kunst. So einleuchtend dieses Kriterium erscheint, mssen wir doch zugeben, dass das Hssliche schon lange in die Galerien und Museen, in die Konzerthallen und Theater Eingang gefunden hat. Kunstwerke also mssen nicht schn sein. Angesichts dieser Tatsache knnte man meinen wie vorhin gesagt , Kunstwerke mssten mindestens neu und unerwartet sein. Das Unerhrte wre somit das unterscheidende Merkmal fr Kunst. Nur ist auch dies ein unzuverlssiges Kriterium, weil es viele neue und unerwartete Dinge in der Welt gibt, wie zum Beispiel Computer, digitales Fernsehen und Handies, die wir nicht ohne weiteres als Kunst bezeichnen. Es scheint also fast unmglich, irgendwelche qualitativen Merkmale fr Kunst ausfindig zu machen. Wenn das unterscheidende Kriterium fr Kunst nicht etwas am Kunstwerk selber ist, wo sollen wir es suchen? Wenn das Auszeichnende des Kunstwerkes nicht im Werk selbst liegt, dann vielleicht im Kunstschaffenden. Nach dieser Auffassung ist Kunst das, was der oder die Knstler(in) zu Kunst erklrt. Als Duchamp einen gewhnlichen Gebrauchsgegenstand signierte und in einer Galerie ausstellte, wurde dieses Ding zum Kunstwerk. Nichts am Ding selber wurde gendert. Das einzige, was aus dem Ding ein Kunstwerk gemacht hatte, war die Tat, es zu Kunst zu erklren. Es wurde Kunst, weil es zu Kunst erklrt wurde und nicht, weil es irgendwelche besonderen Eigenschaften wie Schnheit, Wohlgeformtheit, Nobilitt des sujets und so weiter besa. Beispiele solcher Kunst-Erklrungen sind nicht nur das Signieren und das Ausstellen in Galerien und Museen, sondern auch das Einrahmen. Wenn eine Abbildung in einen Rahmen gestellt wird, dann wird sie automatisch zu Kunst erklrt. Abbildungen gibt es berall: in Anatomiebchern, in der Zeitung und in der Reklame. Wenn ein Bild aber gerahmt wird, dann ist es Kunst. Der Rahmen gehrt nicht zum Bild. Er ist etwas uerliches, das die Funktion bernimmt, etwas zu Kunst zu erklren.

    3 Theaterbhnen haben

    die gleiche Funktion. Wenn ich zum Beispiel ein junges Paar im Park sehe, das sich umarmt und kt, dann denke ich nicht, dies sei Theater. Aber wenn ich genau die gleiche Handlung auf einer Bhne sehe, dann ist es ein Theaterstck, und es kommt mir nicht in den Sinn zu denken, dass sie sich wirklich lieben knnten. Kunst ist also das, was immer der oder die Knstler(in) in irgendeiner Art und Weise zu Kunst erklrt. Da ist aber nur eine Scheinlsung, denn jetzt sind wir mit der Frage konfrontiert: Woher wissen wir, wer ein Knstler ist? Wer erklrt den Knstler zum Knstler? Was macht jemanden zum Knstler und gibt ihm somit das Recht, Dinge zu Kunst zu erklren? Dass nicht jedermann ein Knstler ist (trotz Beuys), zeigt sich daran, dass wenn ich zum Beispiel Kopien machen oder Gebrauchsgegenstnde signieren und ausstellen wrde - auch wenn ich mit lauter Stimme erklrte: Dies ist Kunst! doch niemand - so vermute ich - daran glauben wrde. Knstler(in) ist also nur, wer mit seiner Kunst-Erklrung tatschlich Erfolg hat, das heit sich durchsetzen kann. Durchsetzen heit Anerkennung finden. Meiner subjektiven Meinung zum Trotz werde ich nur etwas zu Kunst erklren knnen, wenn andere - das heit Galerist(innen), Kunstsammelnde, Kritiker(innen) und so weiter - bereit sind, meine Erklrung zu akzeptieren. Dies klingt trivial und selbstverstndlich, aber es fhrt zur entscheidenden Einsicht, dass Kunst weder eine besondere Art von Gegenstnden bezeichnet, noch eine besondere subjektive Einstellung ist - eine eigenartige sthetische Erfahrung zum Beispiel , sondern eine Form von Diskurs, eine Art von Kommunikation, die nur intersubjektiv und kollektiv existiert. Kunst existiert weder in den Dingen noch in den Augen der Betrachtenden, sondern in einer bestimmten Art und Weise zu reden. Denn Erklrungen ntzen nichts, wenn niemand damit einverstanden ist. Das Aushandeln eines gegenseitigen Einverstndnisses nennen wir einen Diskurs oder ein soziales System.

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    3Vgl. die Bemerkungen von DERRIDA zum Parergon in Die Wahrheit in der Malerei. Wien: Passagen 1992.

    4Niklas LUHMANN, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

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    Kunst also ist ein Diskurs, ein soziales System. Wir sind davon ausgegangen, dass niemand wei, was Kunst ist, denn wann immer die Gesellschaft irgendein Kriterium fr Kunst zum Mastab nimmt, wird es von der Kunst selbst in Frage gestellt und widerlegt. Kunst zeichnet sich heutzutage durch das aus, was sich selbst in Frage stellt. Dies fhrte zu der Feststellung, dass Kunst autonom geworden ist. Autonome Kunst - dies ist das Ergebnis unserer berlegungen - kann weder eine besondere Art von Gegenstand bezeichnen (welche Eigenschaften htte dieser Gegenstand dann?), noch eine subjektive Meinung eines Knstlers oder einer Knstlerin (denn wer wrde ihm oder ihr glauben?). Autonomie der Kunst besteht vielmehr darin, dass ein besonderer Diskurs innerhalb der Gesellschaft in Gang kommt, worin Kunstwerke, Kunstschaffende und Betrachtende miteinander in einer besonderen Art und Weise reden. Kunst also ist Kommunikation, und zwar die Kommunikation, die sich selbst stndig in Frage stellt und somit sich selbst - autonom - bestimmt. Kunst als autonomes soziales System zeichnet sich dadurch aus, dass in der heutigen Gesellschaft das Kunstsystem allein die Zustndigkeit hat fr das, was Kunst ist. Weder Religion (etwa durch Verbote), noch die Politik (durch Gesetzgebung), noch das Rechtssystem (durch Rechtsprechung), noch das Erziehungssystem (durch Bildung), ja nicht einmal das Wirtschaftssystem (durch Preissetzung) knnen bestimmen, was als Kunst gilt. Nur das Kunstsystem allein wei oder hat das Recht nicht zu wissen , was Kunst ist. Dass Kunst autonom geworden ist bedeutet, dass das Kunstsystem innerhalb der Gesellschaft sich im Laufe der letzten fnfhundert Jahre von Religion, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung und Wirtschaft abgekoppelt hat und jetzt eigene Wege geht. Und wir spren diese Distanz am strksten gerade in dem Moment, wenn die Forderung kommt, Kunst solle religise oder moralische Botschaften vermitteln, politisch relevant oder sozial kritisch sein, der Wirtschaft dienen oder schlielich einen Beitrag zur ffentlichen Bildung leisten. Beim Betrachten von Kunst als autonomes soziales System bernehmen wir die These Luhmanns von der funktionellen Differenzierung der modernen Gesellschaft.

    5 Nach Luhmann besteht die Gesellschaft

    aus verschiedenen Subsystemen, die alle autopoietisch sind. Autopoiesis bedeutet selbst-erzeugend, das heit alle Operationen des Systems haben keinen anderen Zweck, als weitere Operationen des Systems zu ermglichen. Ein autopoietisches System - wie zum Beispiel ein Lebewesen - operiert nur, um weiter zu operieren. Dies erfordert, dass das System sich gegen die Umwelt abschliet und sich nur auf die eigenen Operationen bezieht, das heit selbstreferentiell wird. Autopoietische Systeme sind also operationell geschlossen und selbstreferentiell. Fr sich selber also sind solche Systeme Selbstzweck. Politik zum Beispiel zielt nur auf die Erhaltung von Machtstrukturen, Recht nur auf die Erhaltung der Rechtsordnung, Wirtschaft nur auf die Erhaltung der Produktion und der Verteilung von Gtern. Dafr verzichten diese Systeme darauf, die Umwelt zu bestimmen. Politik in der modernen Gesellschaft verzichtet darauf, wissenschaftliche oder religise Wahrheit zu bestimmen. Wie Religion darauf verzichtet - oder zumindest verzichten sollte -, politische Entscheidungen zu fllen. Jedes System bestimmt sich selbst. Jedes System ist somit autonom. Von der Warte einer derartigen Theorie funktioneller Differenzierung aus erscheint nun die Autonomie nicht als eine besondere Eigenschaft von Kunst, sondern als eine allgemeine Bedingung aller gesellschaftlichen Subsysteme. Somit fllt die letzte Wesensbestimmung von Kunst weg, denn innerhalb seiner Grenzen ist jedes soziale System genauso autonom wie jedes andere. Autonomie ist nicht eine Eigenschaft von Kunst allein. Wozu Kunst? Wenn die Aufgabe der Kunsttheorie darin besteht, das zu bestimmen, was Kunst zu Kunst macht, dann hat die Minimaldefinition von Kunst als autonomes System scheinbar wenig theoretischen Wert. Denn obwohl Kunst alle Kriterien in Frage stellt und somit keine Bestimmungen von auen akzeptiert, gilt dies heute fr jedes gesellschaftliche Subsystem und nicht nur fr Kunst. Was bleibt dann als Wesensmerkmal von Kunst brig? In welcher Richtung muss eine Kunsttheorie fragen, wenn sie von der These der funktionellen Differenzierung der Gesellschaft ausgeht? Die These, dass alle Systeme der modernen Gesellschaft strukturell gleich sind, impliziert, dass das, was

    5Niklas LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.

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    sie voneinander unterscheidet, vielleicht in ihren Funktionen liegt. Fr die Gesellschaft als Ganzes erfllen die verschiedenen Subsysteme - trotz ihrer operationellen Geschlossenheit - verschiedene Funktionen. Deswegen spricht die Soziologie von der funktionellen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme. Das heit, jedes Subsystem erfllt eine bestimmte Funktion in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes. Wenn wir Kunst als ein solches System betrachten, dann verschiebt sich die Frage nach dem Wesen von Kunst zur Frage nach der Funktion des Kunstsystems. Die Was-Frage wird - wie Luhmann sagt - zur Wie-Frage. Wir fragen nicht mehr, was Kunst ist, sondern wie Kunst in die Gesellschaft integriert ist. Mit anderen Worten: Wozu berhaupt Kunst? Fr die anderen gesellschaftlichen Systeme lsst sich diese Frage relativ leicht beantworten. Wir haben ein Wirtschaftssystem, weil wir Gter produzieren mssen, um zu leben. Wir haben ein politisches System, weil wir Gterproduktion kollektiv und kooperativ durchfhren mssen und somit Machtstrukturen brauchen. Wir haben ein Rechtssystem, damit Macht nicht destruktiv wirkt, und wir haben ein Erziehungssystem, um Aussenstehende und Neugeborene in unsere Arbeits- und Rechtsverhltnisse zu integrieren. So weit so gut. Aber wie steht es mit Religion, Wissenschaft und Kunst? Wenn wir genug zu essen haben und einigermaen friedlich miteinander arbeiten knnen und noch dazu unsere Kinder und die am Rande Stehenden zu einer hnlichen Lebensweise erziehen, wozu noch etwas anderes? Haben wir nicht schon alles, was wir brauchen? Lassen sich Religion, Wissenschaft und vor allem Kunst funktionell erklren? Braucht die Gesellschaft Kunst? Gibt es eine Antwort auf die Frage: Wozu Kunst? Menschen sind anders als Tiere, weil es ihnen nicht gengt, blo zu berleben, sondern sie mssen auch einen Sinn darin sehen. Der Mensch braucht Sinn. Tiere beschftigen sich mit der Nahrungssuche, der Paarung und der Brutpflege, ohne sich darber Gedanken zu machen, ob das alles Sinn macht oder nicht. Anders der Mensch, der, wenn er keinen Sinn in diesen Ttigkeiten sieht, dazu neigt, sie zu unterlassen und sein Leben zu beenden. Alle politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und erzieherischen Institutionen der menschlichen Gesellschaft zu allen Zeiten gehren zum Bereich der Kultur - und nicht zur Natur -, weil sie nicht nur das bloe berleben sichern, sondern auch sinnvoll sein mssen. Sie mssen also nicht nur funktionieren, sondern sie mssen darber hinaus eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben. Dieser Gedankengang ist bekannt, und normalerweise erwartet man an dieser Stelle, dass gesagt wird, Religion, Wissenschaft und Kunst sind es, die diese Aufgabe bernehmen und dem Leben einen Sinn geben. Denn wer nichts glaubt, nichts wei und nicht schpferisch ttig ist - wer also nur wie ein Tier arbeitet und sonst nicht an Kultur teilnimmt -, der fhrt ein sinnloses und unmenschliches Leben. Dies sind die altehrwrdigen berzeugungen des westlichen Humanismus. Und dies alles stimmt. Aber es ist nicht das, was ich sagen wollte. Ich wollte die Frage nach der Funktion von Religion, Wissenschaft und vor allem Kunst nicht aus der Sicht des Humanismus beantworten, sondern aus der Sicht des radikalen Konstruktivismus. Dass Sinn oder Kultur etwas ist, das wir nicht einfach vorfinden, sondern mit Mhe und Not kreieren mssen, ist unbestritten. Dass es berhaupt eine Sinnfrage gibt, dass es berhaupt mglich ist, die Antwort zu verfehlen, beweist, dass Sinn keine Naturtatsache ist, sondern etwas Knstliches, etwas Konstruiertes. Frher war es Gott, der die Sinnkonstruktion fr uns schuf. Nachdem Gott abgedankt hatte, das heit, nachdem die Vernunft - wie vorhin gesagt - autonom wurde, fiel diese Aufgabe dem Menschen zu. Der Humanismus setzt den Menschen an die Stelle Gottes und schreibt ihm die Sinnkonstruktion zu. Dies ist bekannt. Was weniger bekannt ist und was immer noch berraschungswert hat, ist die Meinung des radikalen Konstruktivismus, der behauptet, dass es nicht nur die Kultur ist, die konstruiert wird, sondern auch die Natur. Die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur - weil auch sie etwas Sinnvolles ist - gehrt zur Gesellschaft und ist somit selbst etwas Konstruiertes.

    6 Dies bedeutet, dass die Natur ein kulturelles

    Produkt ist, was beweist, dass der Mensch nicht zuerst in der Natur lebt und sich dann irgendwann durch die Anstrengung des Geistes eine Kultur, eine Zivilisation aufbaut, um seinem langweiligen Arbeitsleben noch zustzlich einen Sinn zu verleihen. Ganz im Gegenteil, der Mensch existiert von Anfang an als Sinnsystem. Weil nun Sinn nur als Kommunikation und somit intersubjektiv oder sozial mglich ist knnen wir das Sinnsystem, als das der Mensch existiert Gesellschaft nennen. Menschen sind soziale Wesen, weil sie - wie Fische im Wasser - im Element Sinn leben.

    6Vgl. David J. KRIEGER, Christian J. JGGI, Natur als Kulturprodukt. Kulturkologie und Umweltethik, Basel: Birkhuser 1997.

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    Das Sinnsystem befindet sich nicht in der Welt, sondern es konstruiert die Welt, in der es sich dann - paradoxerweise - befindet. Dies ist die These des radikalen Konstruktivismus.

    7 Alle Erkenntnis ist

    Konstruktion des Erkennenden, wobei - und dies unterscheidet den radikalen Konstruktivismus vom Humanismus und macht ihn zu einer post-humanistischen Theorie - das Subjekt des Erkennens, der Konstrukteur der Welt das Sinnsystem ist und nicht die Menschen, die ja selber nur als Konstrukte des Systems vorkommen. An dieser Stelle sollte der Begriff radikaler Konstruktivismus nher definiert werden, denn das, was blicherweise als radikaler Konstruktivismus bekannt ist, msste eigentlich als naiver Konstruktivismus bezeichnet werden. Dieser setzt nmlich voraus, dass es ein reales, dinghaftes Subjekt der Sinnkonstruktion gibt - sei es die menschliche Psyche oder das reale Hirn. Radikalen Konstruktivismus drfte es erst geben, wenn das semiotisch organisierte Sinnsystem und nicht das Hirn oder der Mensch als Subjekt der Welt-Konstruktion konzipiert wird. Es wre vielleicht besser, von einem semiotischen Konstruktivismus zu sprechen, um die Theorie klar von der immer noch positivistisch anmutenden Neurowissenschaft und den darauf begrndeten kognitiven Konstruktivismus abzugrenzen. Was auerhalb des Sinnsystems liegt, ist schlechthin sinnlos, das heit, es ist gar nichts. Nur innerhalb des Sinnsystems wird zwischen Sinn und Unsinn, Sein und Nichtsein, Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Mensch und Gott und schlielich zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterschieden. Alle diese Unterscheidungen sind nicht vorgefundene Dinge, sondern Informationen, die das System nach eigener Codierung konstruiert. Systemtheoretisch gilt allgemein, dass jedes System die eigenen Elemente konstruiert. Betrachtet man einen Tisch zum Beispiel als System, dann besteht es aus gewissen Elementen, sagen wir, aus Beinen und Tischplatte. Beine und Platte sind nicht Dinge, die in der Welt herumliegen. Es gibt sie erst, indem das System Tisch irgendwelche Dinge - seien sie aus Holz, Metall, Plastik, Glas oder wie auch immer beschaffen - zu Beinen und Platte macht. Das gleiche gilt fr ein Lebewesen. Betrachtet man ein Lebewesen als System, dann sind seine Elemente die Zellen, die Organe, Haut und Knochen. Es gibt nicht Haut, Knochen und Organe - wie Magen, Herz, Leber, Nieren und so weiter - in der Welt herumliegend, bis sie frankensteinartig zusammengesetzt werden, damit daraus ein Lebewesen gemacht werde, sondern das Lebewesen konstruiert seine eigenen Elemente. Diese allgemeine Regel gilt auch fr Sinnsysteme. Die Elemente des Sinnsystems sind Zeichen, Informationen, Kommunikationen. Diese liegen nicht in der Welt herum, sondern sie werden erst im Sinnsystem durch semiotische Codierung konstruiert. Es gibt folglich keine Kommunikation, das heit keinen Austausch von Informationen, zwischen System und Umwelt. Das Sinnsystem ist informationell geschlossen. Sinn existiert nur innerhalb des Systems. Es gibt also keine Welt da drauen, gleichsam vor den Stadtmauern, die wir durch passive Wahrnehmung erkennen und abbilden und woran wir uns anpassen mssen, sondern die Welt - Natur und Kultur - ist ein Konstrukt der jeweiligen Gesellschaft. Dies ist die These des semiotischen Konstruktivismus. Fr die folgenden berlegungen ersetzen wir also den Mythos des Humanismus durch den konstruktivistischen Mythos des selbstorganisierenden Universums. Der Mythos des Humanismus setzt den Menschen ins Zentrum. Das Individuum baut mhselig in Kooperation mit seinesgleichen eine Kultur mitten in einer harten natrlichen Umwelt auf, um dann schlielich sein Haus noch mit Kunst zu schmcken. Nach dem semiotischen Konstruktivismus hingegen entsteht Ordnung negentropisch zugleich als Reduktion von Umweltkomplexitt und Aufbau von Systemkomplexitt. Daraus ergibt sich eine evolutionre Dynamik, die zu immer hheren Ebenen emergenter Ordnung fhrt. Mechanische Systeme werden von organischen Systemen, die schlielich - so weit sind wir gekommen - in Sinnsystemen integriert werden. Der Mensch ist selber ein Konstrukt, eine Artefakt. Deswegen sagen viele, dass wir in einer post-humanistischen Situation leben. berall wird das Subjekt dezentriert. Was ntzt uns der semiotische Konstruktivismus bei der Frage nach der Funktion von Kunst? Aufgrund der Annahme, dass der Mensch nicht nur Sinn braucht, sondern Sinn ist, und dass der Sinn, welcher der

    7Zum Konstruktivismus vgl. Paul WATZLAWICK (Hg.), Einfhrung in den Konstruktivismus. Mnchen: Piper 1985.; Heinz von

    FOERSTER, Wissen und Gewissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993; Sigfried J. SCHMIDT, Der Diskurs der radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; David J. KRIEGER, Einfhrung in die allgemeine Systemtheorie. Mnchen: Fink/UTB 1996.

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    Mensch ist, nicht blo vorgegeben ist, sondern konstruiert werden muss, knnen wir die Frage nach der Funktion von Kunst in der Gesellschaft als Frage nach dem Beitrag der Kunst zur Konstruktion des Subjekts auffassen. Anstatt zu fragen: Wie schaffen Menschen Kunstwerke? fragen wir: Wie schaffen Sinnsysteme Kunstschaffende? Dies erfordert, dass wir zuerst fragen: Wie berhaupt wird Sinn konstruiert? Die Antwort wurde bereits gegeben, nmlich durch die Einfhrung von Unterscheidungen. Die Welt gibt es nur, weil sie vom Nichts unterschieden wird. Die erste Unterscheidung ist diejenige zwischen Sein und Nichtsein, oder zwischen Sinn und Unsinn, oder zwischen richtig und falsch. Sind diese Grundunterscheidungen einmal konstruiert, knnen wir uns damit beschftigen herauszufinden, was es alles gibt, was alles richtig und was alles sinnvoll ist. Aber all die verschiedenen Dinge, die es gibt, und all die verschiedenen Wahrheiten, die wir erkennen, sind das, was sie sind, deshalb, weil sie voneinander unterschieden werden. Die Welt besteht nicht aus substanzhaften Identitten, wie die alteuropische Metaphysik meinte, sondern aus Unterschieden. Unterschiede sind nicht Dinge, sondern Informationen, das heit Unterschiede, die Unterschiede machen,

    8 was wiederum darauf hinweist, dass ein Sinnsystem

    ein semiotisch codiertes Kommunikationssystem ist, denn Unterschiede knnen nur weitere Unterschiede machen insofern sie mitgeteilt werden. Kurz: Die Elemente des Sinnsystems, als das wir existieren, sind nicht Dinge, sondern Informationen. Informationen liegen nicht herum, wir stolpern nicht ber sie; sie werden durch Kommunikation konstruiert. Die Konstruktion der Grundunterscheidungen, wie Sein/Nichts, Subjekt/Objekt, Sinn/Unsinn und hnliches, ist die Aufgabe - mchte ich behaupten - der Religion.

    9 Religion unterscheidet die Welt von all

    dem, was nicht zur Welt gehrt, und zieht somit eine Grenze, eine Weltgrenze. Dies ist eine funktionelle Definition von Religion und nicht eine inhaltliche. Religion hat somit an sich nichts mit Gttern zu tun, aber wenn man ber die Welt als Ganzes reden will, dann ist Gott ein brauchbarer Begriff. Da die Welt nun einmal da ist, knnen wir uns - mit gutem Gewissen - darin einrichten. Dies ist die Aufgabe der anderen gesellschaftlichen Subsysteme. Die Wirtschaft sorgt fr Gter, die Politik und das Recht fr Ordnung, die Wissenschaft fr ntzliches Wissen, die Erziehung fr die Zukunft und so weiter. Aber was tut die Kunst? Wenn die anderen gesellschaftlichen Subsysteme damit beschftigt sind, die Welt mglichst klar einzugrenzen und dann innerhalb dieser Grenzen sich mglichst effizient einzurichten, dann liegt vielleicht die Aufgabe der Kunst darin, all diese praktischen, zweckmigen Vereinfachungen zu stren und die Welt und das Leben wieder komplex zu machen. Wie ist dies zu verstehen? Abstrakt und rein theoretisch formuliert, lsst sich diese Auffassung der Funktion von Kunst so erklren: Jede Unterscheidung stellt eine Vereinfachung dar. Jede Unterscheidung schliet ein und schliet aus. Am Anfang - vor der Unterscheidung - war alles mglich. Nach der Unterscheidung ist nicht mehr alles mglich, denn man hat jetzt zwei Seiten, zwei Mglichkeiten, und man muss mit der einen oder der anderen beginnen, wenn man weiter gehen will. Eine Unterscheidung - wie Luhmann in Anlehnung an Spencer Brown sagt - ist eine Zwei-Seiten-Form und einmal gemacht, ist man gezwungen, entweder von der einen oder von der anderen Seite auszugehen.

    10 Man ist also nicht mehr frei, alles zu whlen.

    Religion ist bekannt fr ihre einschlieende/ausschlieende Funktion. Indem die Religion eine Weltgrenze zieht, wird vieles, was vorher mglich war, aus der Welt ausgeschlossen. Religion redet nicht nur von Gott, vom Guten, vom Wahren und vom Schnen, sondern ebenso vom Teufel, von dem Bsen, dem Abscheulichen, dem Verbotenen, das heit von all dem, was nicht sein darf. Am Anfang der Welt war aber alles mglich. Es gab am Anfang weder Gut noch Bse, weder Licht noch Dunkelheit; alles war eins, undifferenziert, ohne Unterschiede. Dieses ursprngliche Chaos vor der Weltschpfung stellt eine entropische Situation dar, das heit eine Situation der absoluten Komplexitt, denn im Urzustand sind alle

    8Gregory BATESON, kologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 488, definierte Information als ein Unterschied der

    einen Unterschied macht.

    9Vgl. die Diskussion ber Religion in KRIEGER, Einfhrung in die allgemeine Systemtheorie und in KRIEGER, JGGI, Natur als

    Kulturprodukt.

    10Niklas LUHMANN, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

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    Ereignisse gleichwahrscheinlich. Die Weltschpfung reduziert diese ursprngliche Komplexitt und bewirkt somit eine radikale Vereinfachung. Wie Adam und Eva erfahren mussten: Alles war nicht mehr mglich. Und eben dies ist das Verdienst von Religion. Wir erhalten eine einfache, klare Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, und wir knnen - mit gutem Gewissen - wieder an die Arbeit gehen. Die Funktion von Religion besteht darin, einfache Antworten zu geben, das heit Komplexitt zu reduzieren. Da nun ein Sinnsystem nur durch die Konstruktion von Unterschieden sich selbst organisieren und seine Autopoiesis fortsetzen kann, ist die Erhaltung eines gewissen Restbestandes an Komplexitt gleichsam als Rohstoff fr weitere Unterscheidungen fr das Operieren des Systems unentbehrlich. Wenn das System zu einfach wird, gibt es zu wenigen Mglichkeiten, zu wenig unbestimmte Komplexitt, das heit, es gibt nichts mehr zu unterscheiden. Anstatt Information zu produzieren, werden die alten Unterscheidungen endlos wiederholt. Das System wird somit redundant. Redundanz wie die Informationstheorie lehrt hat keinen Informationswert. Das Gleiche endlos zu wiederholen, sagt nichts aus und macht keinen Sinn. Wenn es nichts Neues zu sagen gibt, dann hrt die Kommunikation im eigentlichen Sinne auf. Das Kommunikationssystem hat nichts mehr zu tun und gleitet in die Sinnlosigkeit ab.

    11 Also braucht die Gesellschaft etwas, das die Aufgabe hat, alles, was durch die Religion

    ausgeschlossen, verdrngt, ausgeblendet, tabuisiert und verdammt wurde, und alles, was in den anderen Subsystemen restlos instrumentalisiert und verbraucht wurde, wieder in das System hereinzuholen und somit die Grenzen des Systems zu erweitern und zu transformieren. Dies ist Kunst. Somit haben wir eine erste Antwort auf die Frage nach der Funktion von Kunst in der postmodernen Gesellschaft. Paradox formuliert: Kunst hat die Funktion, dysfunktional zu sein; das heit, Kunst funktioniert, indem sie die anderen gesellschaftlichen Subsysteme strt und damit verhindert, dass sie in eine sinnlose Redundanz verfallen. Kunst ist gefhrlich. Sie nistet sich gerade dort ein, wo Religion die Weltgrenze schlieen will und wo die anderen Subsysteme alles fr irgendwelche Zwecke instrumentalisieren wollen. Dort produziert sie Unsicherheiten, Mglichkeiten, Chaos. Deswegen ist es nicht berraschend, wenn die Gesellschaft Strategien der Immunisierung gegen Kunst entwickelt. Zuviel Komplexitt wre genauso katastrophal fr die Gesellschaft wie zu wenig. Eine System/Umwelt-Grenze impliziert immer ein Komplexittsgeflle, eine Art Gleichgewicht zwischen innerer und uerer Komplexitt.

    12 Je mehr interne Komplexitt ein System aufweist, desto mehr

    Umweltkomplexitt kann das System bewltigen. Umgekehrt gilt: Je mehr sich ein System der Umweltkomplexitt aussetzt, desto mehr Druck auf interne Differenzierung und Aufbau von Eigenkomplexitt entsteht. Kunst kann eine konstruktive Funktion fr die Gesellschaft nur erfllen, wenn sie das immer prekre Komplexittsgeflle nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht bringt. Geht sie zu weit, dann wird sie anarchisch, kriminell, wahnsinnig oder pervers. Umgekehrt knnte man sagen, konstruktive Anarchie, Wahnsinn und Perversitt sind Kunst. Wann wissen wir, ob Anarchie, Wahnsinn oder Perversitt konstruktiv sind oder nicht? Diese Frage ist nicht belanglos, denn es handelt sich um die Frage, die wir am Anfang unserer berlegungen gestellt haben, die Frage nach dem unterscheidenden Merkmal von Kunst berhaupt. Die Art und Weise, wie die Gesellschaft sich einerseits gegen Kunst immunisiert und Kunst sich andererseits gegen die Unterdrckung durch die Gesellschaft schtzt, ist die Strategie der Wirklichkeitsverdoppelung. Kunst bewirkt eine seltsame Verdoppelung der Welt, wodurch etwas Drittes zwischen Sein und Nichtsein - also etwas, das weder ist noch nicht ist - entsteht. Der Wiedereintritt des ausgeschlossenen Dritten in die Welt heit Fiktion. Kunst darf alles tun, nur muss es Fiktion bleiben. Kunst schafft eine imaginre Welt. Kunst verlegt die Wirklichkeit ins Imaginre, damit einerseits die Wirklichkeit wirklich bleibt und andererseits alles wieder mglich wird. So kann der franzsische Soziologe Jean Baudrillard sagen, dass die Funktion der Simulation darin besteht zu vertuschen, dass das

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    So LUHMANN, Die Kunst der Gesellschaft, 497: (...) zu viel Identitt heit zwangslufig: keine Zukunft.

    12Vgl. das Gesetz der erforderlichen Vielfalt von W. Ross ASHBY, Einfhrung in die Kybernetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974,

    298f.: (...) nur Vielfalt kann Vielfalt zerstren.

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    sogenannte wirkliche Leben auch nur Simulation ist.13

    Auf der Bhne zum Beispiel ist alles mglich, und eben deswegen ist es Theater. Die Verdoppelung der Wirklichkeit und ihre Verschiebung ins Imaginre lassen die Wirklichkeit, wie sie ist, und besttigen sie, stellen aber trotzdem die Welt in Frage. Denn Kunst zeigt uns oft eine Welt, die - weil sie dem ursprnglichen Chaos nhersteht - wirklicher und wahrer ist als die redundante Welt des Alltags. Im Vergleich zur Kunst kommt das wirkliche Leben schlecht weg. Die Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkmglichkeiten, die uns die Kunst zeigt, verfhren zur Identifikation, gerade weil sie wirklich sein knnten. Kunst ist Fiktion und zugleich wirklicher als die Wirklichkeit. Adorno fasste diese paradoxe Zwiespltigkeit des Kunstwerkes zusammen unter dem Begriff der sthetischen Negativitt.

    14 Nach Adorno besteht das, was Kunst auszeichnet darin, dass Kunstwerke im

    Wesentlichen negativ sind. Negativ bedeutet zunchst das Gegenteil von positiv. Positiv sind alle Dinge, die eine Funktion und somit einen Sinn haben. Wenn ich wei, was etwas ist, zum Beispiel ein Auto, dann wei ich auch, was ich damit anfangen kann. Der Sinn eines Autos besteht im Gebrauch, im Fahren. Ein Auto ist etwas Positives, weil ich ohne weiteres in mein Auto einsteigen und losfahren kann. Das Auto hindert mich nicht daran, meine Arbeit zu tun und meine Ziele zu erreichen. Ganz anders das Kunstwerk. Ein Kunstwerk lsst sich nicht instrumentalisieren, das heit irgendeinem Zweck dienlich machen. Kunstwerke - sagt Adorno - haben keine Funktion, keine Bedeutung und keinen Sinn. Sie sind also negativ gegenber der Gesellschaft. Sie befinden sich auerhalb einer Gesellschaft, in der alles irgendeinem Zweck dient und fr irgendetwas ntzlich ist. Gebrauchsdinge sind positiv, das heit, wir wissen, was sie sind und wozu sie gut sind. Wenn das Auto ein Kunstwerk wre, dann knnte ich nicht gedankenlos einsteigen und losfahren, sondern ich wrde in die Garage staunend vor dem Auto stehenbleiben. Ich wrde es bewundern und mich fragen, was das denn sei und somit nie zur Arbeit kommen. Kunst unterbricht das normale Leben, hindert uns daran, fraglos weiterzugehen. Kunst versetzt uns in Staunen. Das ist die eine Seite der sthetischen Negativitt. Die andere Seite besteht darin, dass gerade diese Unbrauchbarkeit und sogar Sinnlosigkeit von Kunst die Funktion hat, uns auf die Idee zu bringen, dass nicht alles so sein muss, wie es ist. Es gibt Dinge in der Welt, die nicht passen, die nicht instrumentalisiert sind, die keine Funktion haben, ja nicht einmal eine Bedeutung, und trotzdem sind sie da - gleichsam als Mahnmal gegen die restlose Instrumentalisierung des Lebens. Wenn ich einmal nicht zur Arbeit komme, dann vielleicht nie wieder. In diesem Sinne ist Kunst negativ gegenber der Gesellschaft, weil sie zur Kritik an der Gesellschaft auffordert. Kunst hat somit eine kritische, transformative Funktion. Fr Luhmann kann Kunst die Welt offenhalten, nur insofern sie die Gesellschaft als Ganzes reprsentiert.

    15 Hier wird die Verdoppelung zur Widerspiegelung. Damit wird aber nicht behauptet, dass

    Kunst die Welt widerspiegelt, wie die alte Lehre der mimesis meinte. Indem Kunst die Welt reprsentiert, konstruiert sie die Welt und zwar als Konstruktion. Jedes Kunstwerk ist - nach Luhmann - ein freies Spiel von Formen, das heit ein in sich geschlossenes System von Unterscheidungen, das keinen anderen Sinn hat als zu zeigen, wie ein System von Unterscheidungen aussieht. Am Anfang des Kunstschaffens (oder auch der Kunst-Betrachtung) wird eine Unterscheidung gemacht. Metall statt Holz, Rot statt Blau, diese Linie statt jene und so weiter. Die erste Unterscheidung erfordert eine zweite: falls Metall, dann Eisen, falls Rot, dann nur so viel, falls eine krumme Linie, dann anschlieend eine gerade und so weiter, bis sich ein System von ineinander verschachtelten und einander angepassten Unterscheidungen stabilisiert. Dies ist ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk sein heit, dass ein System von Unterscheidungen -

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    Jean BAUDRILLARD, Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978.

    14Theodor W. ADORNO, sthetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.

    15LUHMANN, Die Kunst der Gesellschaft, 499: Das Kunstsystem vollzieht Gesellschaft an sich selbst als exemplarischem Fall.

    Es zeigt, wie es ist. Es zeigt, auf was die Gesellschaft sich eingelassen hatte, als sie Funktionssysteme ausdifferenzierte und sie damit einer autonomen Selbstregulierung berlie. Es zeigt an sich selbst, dass die Zukunft durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar geworden ist. Operative Schlieung, Emanzipation von Kontingenz, Selbstorganisation, Polykontexturalitt, Hyperkomplexitt der Selbstbeschreibungen oder einfacher und unverstndlicher formuliert: Pluralismus, Relativismus, Historismus, all das sind nur verschiedene Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne. Die Kunst zeigt in der Form des Leidens an sich selbst, dass es so ist, wie es ist. Wer dies wahrnehmen kann, sieht in der modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft.

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    gleichsam autopoietisch - zustande gekommen ist. Ein Gegenstand ist ein Kunstwerk, weil er zeigt, dass es sich um ein konstruiertes System von Unterscheidungen handelt und um nichts sonst.

    16 Ein Kunstwerk

    reprsentiert die Welt, indem es sich selbst widerspiegelt. Es tritt gleichsam in sich selbst wieder ein (vergleiche das re-entry von George Spencer- Brown

    17), denn jedes Werk erschliet eine Welt, in der es

    selbst erscheint. Das Kunstwerk bildet somit ein kleines semiotisches System, wie eine Sprache, worin es wieder vorkommt wir knnen ber die Sprache nur in der Sprache reden. Deswegen knnen Kunstwerke nur in und durch sich selbst verstanden und kritisiert werden. Denn im Kunstwerk erhlt jedes Zeichen eine Bedeutung nur aus den Relationen, die es mit allen anderen Zeichen im Werk selbst eingeht. Die Formen im Kunstwerk sind aber nicht Zeichen im blichen Sinne, da sie Signifikanten ohne Signifikate sind, das heit, sie bezeichnen nichts. Es ist rein zufllig und fr den Sinn eines Kunstwerkes irrelevant, wenn es irgendetwas Bestimmtes oder schon Bekanntes reprsentiert. Auer natrlich, dass es sich selbst reprsentiert. Wenn wir ein Kunstwerk interessant, spannend, schn oder gelungen finden, dann bewundern wir nichts als die sich darin manifestierende Ttigkeit des Konstruierens. Dies ist die Form der Fiktion. Das Werk bildet also nichts ab auer die Ttigkeit des Konstruierens, das Medium der Fiktion selbst. Und weil wir Menschen und die anderen gesellschaftlichen Subsysteme ja die ganze Welt nichts anderes sind als sich selbst konstruierende Ttigkeiten - dies ist eben die These des semiotischen Konstruktivismus - hat Kunst die Funktion, diese unsere fiktive Wirklichkeit und somit uns selber zu reprsentieren. Natrlich erfordert dies, dass Kunstwerke die Paradoxie der Selbstreferenz auf sich nehmen und diese auch reflektieren. Autopoietische Systeme sind selbstorganisierend. Sie konstruieren sich selber. In dem Moment, wo das System zum Sinnsystem wird, wird die System/Umwelt-Grenze von keinem Auenstehenden Beobachter, sondern vom System selbst intern als Sinngrenze konstruiert. Das System entsteht nur durch Selbstreprsentation, das heit als Selbstreferenz in Bezug auf eine Fremdreferenz. Das System ist somit zugleich Subjekt und Objekt. Diese Paradoxie verlangt Entparadoxierung, wobei die zwei Seiten auseinandergenommen werden. Subjekte werden von Objekten differenziert. In Bezug auf Kunst fhrt die Entparadoxierung der Sinngrenze dazu, dass Kunst seinen Status als bloer Gegenstand verliert. Kunstwerke sind nicht nur Objekte, sie sind auch Subjekte. Der Knstler und der Betrachter verlieren ihren Vorrang vor dem Werk. Kunstwerke - wie Heidegger sagt - brauchen die Schaffenden und die Bewahrenden, um sich selbst zu konstruieren.

    18 Durch das Werk wissen Kunstschaffende und

    Betrachtende, wer sie sind. Durch das Wissen um sich selber als Kunstschaffende und Betrachtende knnen sie miteinander reden und den Kunstdiskurs als soziales System in Gang bringen. Durch den Kunstdiskurs wird die Fiktion realer als die Wirklichkeit und die Welt erhlt das transformative Potential, ohne dass sie in die Sinnlosigkeit und Redundanz des ewig Gleichen versinken wurde. Wenn Kunstwerke die Paradoxie der Selbstorganisation darstellen, knnen sie als die Selbstreferenz der autopoietischen, operationell geschlossenen, aber weltoffenen Gesellschaft funktionieren. Kunst bildet die Gesellschaft und die Welt ab, weil Gesellschaft und Welt nichts anderes als sich selber konstruierende - das heit sich stndig entparadoxierende - Systeme von Unterscheidungen sind. Fassen wir zusammen: Wir sind davon ausgegangen, dass Kunst heutzutage autonom geworden ist. Kunst allein bestimmt, was Kunst ist. Dies aber kann weder dadurch geschehen, dass irgendwelche besonderen Eigenschaften an einem Gegenstand entdeckt werden, noch dass irgendjemand einen Gegenstand zu Kunst erklrt, sondern nur dadurch, dass ein besonderer Diskurs entsteht, den wir als soziales System betrachten. Daraufhin fragten wir nicht mehr: Was ist Kunst? sondern: Wie funktioniert das Kunstsystem in der Gesellschaft? Diese Fragestellung fhrte zur These des semiotischen Konstruktivismus, dass die Wirklichkeit in jeder Hinsicht ein Produkt sozialer Sinnkonstruktion ist, und dass die Frage nach dem Wesen von Kunst zur Frage nach dem Beitrag von Kunst zur allgemeinen Wirklichkeitskonstruktion werden muss. Wie trgt Kunst bei zur Konstruktion der Welt? Die Antwort war:

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    Vgl. LUHMANN, Die Kunst der Gesellschaft, 506: Kunst demonstriert (...) immer die beliebige Erzeugung von

    Nichtbeliebigkeiten oder die Zufallsentstehung von Ordnung.

    17George SPENCER BROWN, Laws of Form. New York: Dutton 1979.

    18Martin HEIDEGGER, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Gesamtausgabe Band 5, Abt. 1, Frankfurt a.M.:

    Klostermann 1977.

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    indem Kunst die Welt, die durch Religion, Politik, Wirtschaft und so weiter entparadoxiert und somit einfach gemacht wurde, wieder komplex macht. Das heit, Kunst holt das Ausgeschlossene wieder herein, und zwar dadurch, dass sie uns daran erinnert, dass die Welt eine Konstruktion ist, die auch anders htte geschaffen werden knnen. Die Welt wird wieder kontingent, wird wieder offen fr andere Mglichkeiten. Dies macht Kunst irritierend und sogar gefhrlich. Niemand will stndig in Frage gestellt werden. Niemand will jeden Morgen zuerst entscheiden mssen, in welcher Welt er oder sie sich gerade befindet, bevor er oder sie an die Arbeit geht. Deswegen wird Kunst so wichtig sie sein mag doch besser sich selbst berlassen.