lage der muslime sudeuropa

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Die Lage der Muslime in Südosteuropa seit 1945 Von Bertold Spuler (Hamburg) A. Südslawien 1 Das blutige Vorgehen der serbisch ausgerichteten Cetniki, die in Verfolg des früheren Mißtrauens der Belgrader Regierung (1918—41) in den Jahren 1941—44 angeblich 148 000 Muslime (darunter viele Frauen und Kinder) in Bosnien und der Herzegowina ermordet hatten (von nach muslimischer Berechnung insgesamt 915000 im Jahre 1940, die alle Anhänger der hanafitischen Rechtsschule sind), ferner die stete Zurücksetzung, die ihnen seitens der römisch-katholisch aus- gerichteten Staatsleitung Kroatiens trotz offizieller Freundschafts- versicherungen widerfuhr, hatte einen Teil der südslawischen Muslime Tito in die Arme getrieben, von dessen föderalistischem Programm sie eine eigene Verwaltung für Bosnien und die Herzegowina, von dessen angekündigter Landreform sie die Abschaffung drückender Gesetze aus der Zeit des Königreichs Südslawien erhofften: sind doch zwei Drittel der südslawischen Muslime Bauern. Unter diesen Umständen schien eine Eingliederung des muslimischen Bevölkerungsteils in Titos Regime möglich zu sein, nachdem im Anschlüsse an die „Befreiung" des Gebietes allerdings eine größere Anzahl von „Kollaborationisten" erschossen worden war. Da brachte das Gesetz vom 23. März 1946 die Aufhebung der religiösen Seri c ats- Gerichtsbarkeit (weil die Zahl der hier beschäftigten Richter zu hoch sei), und ihre Eingliederung in die „Volksgerichtshöfe", ferner die Aufhebung der höheren muslimischen Büdungsanstalten, dar- unter der „Visa islamska seriatskoteoloska skola" in Serajevo, die — von den Österreichern gleich nach der Besetzung gegründet 1935 zur Akademie erhoben worden war und den balkanischen Muslimen *) Quellen: Ismä'fl Balte in der „Islamic Review" (Woking/Surrey) Febr. 1949, S. 44/46; Juli 1949, S. 22/25; Notizen ebd. Äug, 1950, S. 33, Nov. 1950, S, 44; Kamil Y. Avdich in „Islamic Literature" (Labore/Pakistan) Sept. 1961, S. 25/35; Herder- Korrespondenz (Freiburg/Br.) Jan. 1948, S. 171; Times (London) 2. IX. 1947; New York Times 28. X. 1950; Neue Zürcher Zeitung 19. L und 10. VL 1961; dpa Brief- dienst/Ausland 18. XL 1960; Ost-Probleme (Frankfurt/Main) 1. III. 1962, S. 264f. (nach „New York Times 0 10. II. 1952 und dem Rundiunk Agram, 6. II. 1962). Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 6/22/15 10:19 PM

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Muslims in southern europe

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  • Die Lage der Muslime in Sdosteuropa seit 1945Von Bertold Spuler (Hamburg)

    A. Sdslawien1

    Das blutige Vorgehen der serbisch ausgerichteten Cetniki, diein Verfolg des frheren Mitrauens der Belgrader Regierung (191841)in den Jahren 194144 angeblich 148 000 Muslime (darunter vieleFrauen und Kinder) in Bosnien und der Herzegowina ermordet hatten(von nach muslimischer Berechnung insgesamt 915000 im Jahre1940, die alle Anhnger der hanafitischen Rechtsschule sind), fernerdie stete Zurcksetzung, die ihnen seitens der rmisch-katholisch aus-gerichteten Staatsleitung Kroatiens trotz offizieller Freundschafts-versicherungen widerfuhr, hatte einen Teil der sdslawischen MuslimeTito in die Arme getrieben, von dessen fderalistischem Programm sieeine eigene Verwaltung fr Bosnien und die Herzegowina, von dessenangekndigter Landreform sie die Abschaffung drckender Gesetzeaus der Zeit des Knigreichs Sdslawien erhofften: sind doch zweiDrittel der sdslawischen Muslime Bauern. Unter diesen Umstndenschien eine Eingliederung des muslimischen Bevlkerungsteils in TitosRegime mglich zu sein, nachdem im Anschlsse an die Befreiung"des Gebietes allerdings eine grere Anzahl von Kollaborationisten"erschossen worden war.

    Da brachte das Gesetz vom 23. Mrz 1946 die Aufhebung derreligisen Sericats- Gerichtsbarkeit (weil die Zahl der hier beschftigtenRichter zu hoch sei), und ihre Eingliederung in die Volksgerichtshfe",ferner die Aufhebung der hheren muslimischen Bdungsanstalten, dar-unter der Visa islamska seriatskoteoloska skola" in Serajevo, die von den sterreichern gleich nach der Besetzung gegrndet 1935zur Akademie erhoben worden war und den balkanischen Muslimen

    *) Quellen: Ism'fl Balte in der Islamic Review" (Woking/Surrey) Febr. 1949,S. 44/46; Juli 1949, S. 22/25; Notizen ebd. ug, 1950, S. 33, Nov. 1950, S, 44; KamilY. Avdich in Islamic Literature" (Labore/Pakistan) Sept. 1961, S. 25/35; Herder-Korrespondenz (Freiburg/Br.) Jan. 1948, S. 171; Times (London) 2. IX. 1947; NewYork Times 28. X. 1950; Neue Zrcher Zeitung 19. L und 10. VL 1961; dpa Brief-dienst/Ausland 18. XL 1960; Ost-Probleme (Frankfurt/Main) 1. III. 1962, S. 264f.(nach New York Times0 10. II. 1952 und dem Rundiunk Agram, 6. II. 1962).

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    als religises Bildungszentrum diente, sowie des Sericat-Gymnasiumsund der Gzi-Hsrev-Beg-Medresse ebenda. Ferner wurden die bis1945 erscheinenden drei islamischen Zeitungen und die Wochenschriftenverboten. Lediglich ein vom Muslimischen Vollzugs-Ausschusse",einer Unterabteilung der Volksfront", herausgegebenes Wochenblatt,,Nova Doba" durfte an deren Stelle treten. Riefen diese Manahmenbegreiflicherweise Ablehnung unter den Muslimen hervor, so wurdediese durch die enttuschende Handhabung der Landverteilung unddurch die Beschlagnahme des religisen Stiftungsgutes (der Waqf-Gter), deren Direktion aufgelst wurde, noch gesteigert. berdieswurden die muslimischen Vereine aufgehoben und in der staatlichbeaufsichtigten Organisation Preporod" (Wiedergeburt) zusammen-gefat, die in 215 rtliche und sieben Bezirksverbnde gegliedert istund ber 50000 Mitglieder umfat (Statut vom 9. Sept. 1946). Nurdie Theologen-Vereinigung Hidjet" (Die rechte Leitung) durfte da-neben weiterbestehen; ihr liegt die Reinhaltung der islamischen Lehredurch die cmem ob. Erhalten blieb auch das Amt des Re'is l^Ulemals obersten islamischen Geistlichen, das allerdings (durch IbrahimFejic) neu besetzt wurde. (Die Mufti-Stellen in den einzelnen Stdtenwaren schon in kniglicher Zeit, am 25. Mrz 1936, aufgehoben worden)

    Diese Manahmen fhrten zu einer derartigen Unruhe unter dermuslimischen Bevlkerung, da sie im Herbst 1946 durch den Pre-porod" offiziell gergt wurde, und da man sich schlielich zur Durch-fhrung von Terror-Prozessen gegen die verhltnismig dnne In-tellektuellen-Schicht entschlo, in der Tito gewi nicht zu Unrecht das Zentrum des Widerstandes vermutete. Nach neuntgiger Ver-handlung wurden am 27. Sept. 1947 in Sarajevo 12 Notabein, daruntermehrere Imme, zu Zwangsarbeit bis zu 18 Jahren verurteilt. Wieweitdaneben gem der auch vor Gericht aufrecht erhaltenen Aussageeines der Angeklagten in Ragusa 6000 Muslime vergast, ferner inTuzla 15000 und in Sarajevo 3000 auf andere Weise ^liquidiert" wor-den sind, lt sich von auen nicht eindeutig feststellen. Ein weitererProze wurde gegen angebliche Mitglieder zweier Widerstandsbe-wegungen, Die jungen Muslime" und Das grne Kader", gefhrt;er endete mit der Erschieung einer greren Anzahl der Angeklagten.Von weiteren Verhandlungen gegen muslimische Bauern erfuhr manauch aus ndern bosnischen Stdten sowie aus Makedonien und ausdem autonomen albanischen Gebiete von Kosovo-Metohija (offi-zielle Abkrzung Kosmet"). Whrend dieser Aktionen wurde der-Re'is l-xUlem Fejic veranlat, am 15. Sept. 1947 ffentlich zu ver-knden, nur die Partisanenbewegung habe whrend des Krieges das

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  • Die Lage der Muslime in Sdosteuropa seit 1945 211

    bosnisch-herzegowinische Mohammedanertum vor der physischenVernichtung gerettet. Tito erklrte daraufhin, der Islam im Landeknne sich frei entfalten, wenn das im Einklang mit den Gesetzen,den Bedrfnissen des Volkes und den Belangen des Staates geschehe"und man die Vergangenheit nicht zurckrufen" wolle. Doch gelang eseiner greren Anzahl von Muslimen, das Land zu verlassen und inder Trkei Zuflucht zu nehmen. Diese lehnte eine Auslieferung unterBerufung auf ihre Haltung Karl XII. von Schweden gegenber ab.

    Diese Emigration lie deutlich werden, da die Unruhe der Mus-lime im Lande noch nicht beschwichtigt sei. So wurde am 13. Aug.1949 in Sarajevo nochmals ein Proze diesmal gegen 13 Mitgliederder Vereinigung junger Muslime" durchgeflirt: 4 wurden zumTode, die brigen zu Zwangsarbeit zwischen 3 und 20 Jahren ver-urteilt. Seither ist von derartigen Verfahren vielleicht' auch mitRcksicht auf die vernderte Lage Titos innerhalb der Weltpolitik nichts mehr ruchbar geworden, und die anglikanische Kirchenzeit-schrift Church Times" (12. Okt. 1951, S. 695) glaubt, die musli-mische Bevlkerung habe nun einen Modus vivendi" mit dem Staategefunden.

    In der Tat konnte es die Regierung trotz der betont orthodoxenund konservativen Ausrichtung des bosnischen Islams wagen, am27. Sept. 1950 die Verschleierung der Frauen in Bosnien und der Herze-gowina zu untersagen und sie nach Ablauf eines Monats (ab 26. Okt.)unter Strafe zu stellen (bis 3 Monate Gefngnis und bis 20 000 DinarGeldstrafe; fr den Ehemann der die Verschleierung fordere oderdoch nicht verbiete bis zu 2 Jahren Gefngnis und 50 000 DinarGeldstrafe). Bald folgte ein entsprechendes Verbot im GliedstaateMakedonien und Mitte Jan. 1951 auch in Serbien (wo es weniger ak-tuell ist). Den Beschlu bildete der aus nationalpolitischen Grndenbesonders heikle Bezirk Kosmet (Mrz 1951), wo 498000 meist alba-nische Muslime leben, die 68 v. H. der Bevlkerung bilden. Als posi-tiver Anreiz fr Frauen, die den Schleier ablegten (was brigens vieleAngehrige der jngeren Generation schon seit Kriegsende aus frei-willigen Stcken ' getan hatten), wurden Kleiderpunkte verteilt.300 muslimische Frauen wurden berdies, teilweise zusammen mitihren Mnnern, zu einem mehrwchigen Aufenthalte in Abbazia ein-geladen. Von wirklichem Widerstande gegen diese Manahmen istanfnglich nichts zu hren gewesen, und das Beispiel der Trkei zeigt,da derartige Manahmen auch im Bereiche rein muslimischer Staatenmglich sind, wenn sie sich auch ohne Zwang wenigstens bei der lte-ren Generation und dann auf dem Lande nicht restlos durchsetzen

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    lassen (wie sich in der Trkei alsbald nach 1945 zeigte). Doch wird auchder weit verbreitete Kampf gegen das Analphabetentum, der seit1946 in Bosnien und der Herzegowina 200000 und in Kosmet 70000Menschen erfate (hier in der albanischen Muttersprache, die dannauch fr Trken obligatorisch ist), zu einer Zurckdrngung der ganzorthodoxen islamischen Anschauungen fhren. So nimmt es nichtwunder, da die muslimische Geistlichkeit" sich gerade gegen dieSchulpolitik richtet: deren Abwehrmanahmen werden dann natrlichalsbald als volksfeindlich" gebrandmarkt". Jedenfalls wird deut-lich, da nunmehr die Muslime dem Angriff der Regierung nicht mehrtatenlos zusehen. Auf weite Sicht freilich hngt die Entwicklung auchhier, wie auf ndern Gebieten, von der Weiterentwicklung und demFortbestande des Regimes ab.

    B. Bulgarien2)ber die Entwicklung des Verhltnisses zwischen dem kommu-

    nistischen bulgarischen Staate und der muslimischen Bevlkerung desLandes seit 1944 ist sehr wenig bekannt geworden. In den Anfangs-jahren hrte man lediglich von einer Auseinandersetzung zwischeneinem Vertreter der Pomaken in Griechenland, der von ihrer Be-drckung in Bulgarien sprach, und der Abweisung dieser Mitteilungdurch einen bulgarischen Sprecher, der darauf hinwies, da ein groerTeil der Muslime Bulgariens, aber auch Griechenlands, bulgarischerAbstammung sei (Sept. 1946). Am 5. Dez. 1947 erfuhr man von einemAufrufe des Muftis der bulgarischen Muslime, Osmanov, der die Un-tersttzung des Programms der Vaterlndischen Front" durch seineGlaubensgenossen zusagte und darauf hinwies, da die Zahl der mus-limischen Schulen seit 1944 von 490 auf 984 gestiegen und 1947 allein75 Schulen eingerichtet worden seien. berdies, s.eien 200 Pomaken zueiner hheren Schulausbildung zugelassen worden.

    Danach hrte man nichts, bis am 10. Aug. 1950 die Welt durchdie Nachricht berrascht wurde, den Trken Bulgariens sei die Aus-reise in die Trkei erlaubt" worden, nachdem zwischen 194548jhrlich etwa 500 Personen (gegenber 1112000 vor 1939) das Landverlassen hatten. Es war klar, da diese Manahme einmal erfolgte,um ein in kommunistischen Sinne unzuverlssiges Element, das zudemnoch in dem strategisch wichtigen Gebiete der sdl. Dobrudscha in

    2) Quellen: Manchester Guardian 7. IX. 1946; TASS 5. XII. 1947; ManchesterGuardian 12. VIII: 1950; Neue Zrcher Zeitung 15. VIII. 1950; Times 17. VIII. 1950;Welt 15. VIII., 11. IX., 17. X. 1950; Ostprobleme 19. X. 1950, 24.11.1951.

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  • Die Lage der Muslime in Sdosteuropa seit 1945 213

    besonderer Dichte sa, abzuschieben, dann aber auch, um der .Trkeiwirtschaftliche Schwierigkeiten zu bereiten. Trotz wiederholter Ver-wahrungen der Trkei gegen eine allzu rasche und ohne Mitgabe nam-haften Eigentums durchgefhrte Ausweisung wurden in der nchstenZeit mehrere hunderttausend muslimische Bewohner, darunter auchdie bulgarischen Pomaken, abgeschoben: genaue Zahlen sind nichtverlautbart worden. Der Trkei ist es gelungen, eine grere Mengedieser Mhgirn" verhltnismig rasch anzusiedeln, und die not-wendigen Manahmen werden (z. B. in der Gegend von Smyrna) fort-gesetzt. Im Febr. 1951 erklrte Bulgarien dann, alle 850 000 Muslime(meist Bauern) ausweisen zu wollen: doch scheint die Abschiebungin den letzten Monaten etwas aufgehalten worden zu sein. Die Trkeierlie an die Weltffentlichkeit einen Aufruf um materielle Hilfe, trafaber gleichzeitig Manahmen, um sich gegen eingeschmuggelte bol-schewistische Agenten zu schtzen. Ein Abschlu der Aktion istoffenbar noch nicht erfolgt; er wrde das Problem ,,Islam" in Bul-garien in kommunistischer Weise vllig lsen.

    C. Albanienber die albanischen Muslime, die mit etwa 70 v. H ja die Mehr-

    zahl der Bevlkerung umfassen, fehlt es fr die Zeit seit 1944/45 fastvllig an Nachrichten. Da der Hauptkampf dieses Kominformlandesder rmisch-katholischen Kirche gilt, whrend die orthodoxe Kirchedurch Gleichschaltung (25. Aug. 1949) den Wnschen des Staates ge-fgig gemacht wurde und berdies den Schutz des Moskauer Pa-triarchats geniet, scheint der Islam sich verhltnismiger Duldungzu erfreuen, wie wenigstens die Herder-Korrespondenz*' Febr./Mrz1947 (S. 261) glaubte feststellen zu knnen. Die Tatsache freilich,da der dortige Mufti Slih Anfang April 1948 als Flchtling (um-geben von einer greren Gruppe) in Kairo eintraf (nach der Ztg.al-Ahrm 9. IV. 1948), scheint darauf hinzuweisen, da auch imBereiche des Islams mindestens eine Art von Gleichschaltung unterBeseitigung des bisherigen Oberhauptes stattgefunden hat. Dochwaren Nachrichten hierber und ber sonstige Vorgnge im Zu-sammenhang mit dem Ergehen der Muslime nicht zu erhalten.

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  • Einige Gedankensplitter zu Toynbees Bildder orientalischen Geschichte

    Von Bertold Spuler, Hamburg.

    ARNOLD JOSEPH TOYNBEE: Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kul-turen. 2. erweiterte Aufl., bersetzt von Jrgen von Kempski. Stuttgart (1950).W. Kohlhammer Verlag XXXI, 565 S., 6 Tafeln. 18,-DM.*

    Wenn die Geschichtschreibung der groen asiatischen Kulturkreise den An-forderungen gerecht werden will, die an eine Darstellung vergangener Zeitlufe ge-stellt werden mssen, wird man von den Gelehrten speziell historischer Richtung,

    die sie behandeln, erwarten, da sie sich neben dem Material fr ihre eigenen Studienund neben den Ergebnissen der Erforschung benachbarter Rume auch mit dengroen welthistorischen bersichten befassen, seien es nun sog .Weltgeschichten",in die eine Schilderung der asiatischen Gebiete miteingebaut ist, oder aber diegroen Versuche der Geschichtsdeutung, wie sie um 1870 Jacob Burckhardt (Welt-geschichtliche Betrachtungen"), spter (nach dem 1. Weltkriege) Oswald Spenglerunternahm und wie sie fr unsere Generation Arnold Joseph Toynbee vorlegt. Siewerden an einer solchen berschau den eigenen Standpunkt festzustellen, den Blickfr Gleich und Anders innerhalb ihres eigenen Forschungsbereiches zu schrfen,sie werden vor allem aber die Frage aufzuwerfen haben, wie weit die weltgeschicht-liche Auffassungsweise im einzelnen tatschlich dem Geschichtsbilde standhlt,das sich der Erforscher der morgenlndischen Vergangenheit anhand eigener Durch-dringung des Stoffes machen kann.

    In diesem Sinne soll es nicht die Aufgabe dieses Hinweises sein, etwa in einegrundstzliche Auseinandersetzung mit dem Gesamtkomplex von T.s. Auffassun-gen einzutreten, so sehr das an manchen Stellen reizvoll wre. Es kann weiterhinnicht erwartet werden, da eine. Zusammenfassung von T.s. Ergebnissen gebotenwird, wie sie in der dem vorliegenden Buche beigegebenen Schilderung JonasCohns oder in der bersicht Georg Stadtmllers (Toynbees Bild der Menschheits-

    - geschiente", im Saeculum" 1/2, 1950, S. 165195) fr den deutschen Leser schonvorliegt. Immerhin mu zum Verstndnisse des im folgenden Gesagten hervorge- -hoben werden, da T. es unternimmt, eine Reihe von Gesellschaftskrpern" aus-zusondern, deren Schicksal von gleichen kulturellen Voraussetzungen bestimmt nach T. unter gleichen Bedingungen zu im wesentlichen gleichen Ergebnissen fhrt,wenn auch die Zeit des Ablaufs dieser Ergebnisse ganz verschieden ist und wenn auchSonderformen (Verkmmerungen" und Erstarrungen") eintreten knnen. Ein

    . solcher Gesellschiaftskrper", wie T. in der ihm.eigenen Fachsprache sagt -- ein Aus-druck, der in der deutschen bersetzung doch wohl besser mit Kulturkreis" wieder-

    *) Kritische Bedenken meldet auch ' Gotthold Weil an: Arnold ToynbeesConception of the future of Islam, in Middle Eastern Affairs" II/l (Jan. 1951)S. 3-17.

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  • Einige Gedankensplitter zu Toynbees Bild der orientalischen Geschichte 215

    gegeben wrde ' entsteht nach ihm aufgrund eines besonderen Anreizes"1) durchbestimmte Aufgaben, die nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer sein drfen,bringt dann eine schpferische Minderheit" hervor, die durch ihr Beispiel die breiteMasse zur Nachahmung reizt und gleichzeitig eine kulturelle Ausdehnung auslst,die am Rande eine Schtterzone schon halb beeinfluter Gebiete um sich er-zeugt. Allmhlich aber erstarrt die schpferische Minderheit" zur herrschenden",mit der sich die breite Masse in ihren fielen nicht, mehr verbunden sieht (inneresProletariat") und die auf die Rand Vlker keinen Einflu mehr ausbt, so da diesezum ueren Proletariat" werden knnen. Dadurch kommt es zum Niederbruchder Kultur2), zu innerem Zerfall, in dem hufig durch das uere" oder das innereProletariat" neue .Lebensformen (etwa Religionen) angenommen und ausgebildetwerden, die vielfach den Keim zu einer neuen Entwicklung in sich tragen, die alsoin manchem Falle als Erben einer oder mehrerer untergegangener Kulturen ange-sehen werden drfen. In diesem Zustande werden innerhalb der Kulturkreise oft L-sungen auf der Linie eines extremen Konservatismus bzw. einer Restauration oderaber auf der Linie einer utopischen Gestaltung der Zukunft gesucht, die sich auf dieeinzelnen Individuen in bestimmter Form auswirken, der T. in einer Reihe einzelnerUntersuchungen nachgeht. Soweit der Inhalt^ der von D. C. Somervell besorgtenZusammenfassung der Bnde IV von T.s. Originalwerk* (I: Einleitung; II: DieEntstehung der Kulturen; III: Das Wachstum der Kulturen; IV: Der Niederbruchder Kulturen; V: Der Zerfall der Kulturen). Band VI (Universalstaaten) ist inzwischenerschienen; die Bnde VII XIII (Heroische Zeitalter / Berhrungen zwischen Kul-turen im Raum /.Berhrungen zwischen Kulturen in der Zeit / Rhythmen in derGeschichte der Kulturen / Die Aussichten der abendlndischen Kultur / Geschichts-anschauungen) sind geplant.

    Der Kulturkreis, der fr Westasien bis ins 13. Jh. n. Chr. gltig war und dersich nach dem Untergang der alt-gyptischen und der hellenistischen Kultur, auchauf das Niltal (und Nordafrika) erstreckte, wird in der" vorliegenden bersetzungentsprechend dem Original als der syrische Gesellschaftskrper" bezeichnet: einunglcklicher Ausdruck, wenn man bedenkt, da nun das Achmenidenreich alskulturell syrisch (S. 387, 426, 456) und Mithras als eine Erscheinung der syrischenKultur-(S. 501) bezeichnet oder gar von der syriazisierten" (so statt syrisierten")indischen Provinz Pangb gesprochen wird (S. 100). Die heutigen Juden und Parsengelten als Fossile (d. h. versteinerte Formen) des syrischen Gesellschaftskrpers"(S. 22, 134). Man sieht: der Ausdruck fhrt zu allerlei Miverstndlichem, und mansollte wnschen, da ein bersetzer in solchen Fllen khn zu einer Neuschpfunggreift: ich wrde vom vorderasiatischen Kulturkreise" sprechen.

    *) Einen solchen Anreiz halte ich brigens bei der arabischen und indischenKultur durch die Ostrmer und Kreuzfahrer, bei den Iraniern durch die Trken frgegeben, anders als T. S. 80. ' ,

    2) Den Beginn des Niederbruchs setzt T. jeweils bemerkenswert frh an: frGriechenland seit 431, fr Rom seit 218 v. Chr., fr Ostrom 565 n. Chr.: S. 10, 262/4,318, 365, Daten, ber die man durchaus diskutieren kann. Ob man nicht etwa die Ver-dung gewisser Landstriche Italiens durch den zweiten Punischen Krieg als Anreiz"ansehen (zu S. 256) und ob man ihn mit der Vernachlssigung der Bewsserung desZweistromlandes seit dem 13. Jh. n. Chr., die auf fremder Besatzung mit ihren Folgenberuht, vergleichen kann, mchte ich sehr zur Erwgung stellen.

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  • 216 Bertold Spuler

    Diesem syrischen Gesellschaftskrper'1 gibt T. eine sehr lange Lebensdauer.Er setzt nmlich (S. 1620) den Beginn in die Zeit der Salomonischen Monarchie. Nachdem Tode dieses Herrschers habe etwa 937 v. Chr. (S. 2667 366) die Zeit der Wirren"eingesetzt, die durch den Achmenidischen Universalstaat abgelst worden sei, ebenin dem Augenblicke, als das Assyrische Reich" (in das auch das neu-babylonischeeingeschlossen wird) im Begriffe stand, den Universalstaat zu errichten, ein Reich, dasaber im entscheidenden Augenblicke durch sein berma an Militarismus (zur Ab-reagierung innerer Spannungen nach auen) zusammengebrochen und nun vom Ach-menidischen abgelst worden sei. Der Untergang der Keilschrift und die Verbreitungder aramischen Sprache zeige auch den Untergang der assyrischen Kultur an3).(Dabei ist freilich die Tatsache, da die Assyrer damals aramisch schrieben S. 19, angesichts der Bedeutung des Reichsaramischen" [dessen Frderer anstelleeines Eroberers die Kanzlei war zu S. 467 , ebenso wie der Koran das Arabischemchtig vorwrtstrieb zu S. 470] kein Beweis dafr, da das Assyrische" schonwirklich untergegangen war.) Eine unmittelbare Wiederaufnahme des Achmeni-dischen Universalstaates sei der abbasidische (mit dem omajjadischen Vorlufer),der sich geographisch weitgehend mit jenem decke und der nach innerer Auflsung"dann durch die Mongolen den Todessto erhalten habe (13. Jh. n. Chr.)4), um nunmehrin den islamisch-arabischen und den islamisch-iranischen zu zerfallen. (Dabei muman sich freilich fragen, ob eine Kultur tatschlich immer nur durch inneren Zerfalluntergehe, so da der uere Eindringling dann gewissermaen nur Testaments-vollstrecker" ist. Die Tatsache, da nicht nur die von T. S. 261/Anm. und S. 359 f. als Ausnahme zugestandene gyptische Kultur sich seit dem Hyksos-Einbruch denT. als den eigentlichen Untergang ansieht als Fossil" noch 1000 Jahre erhaltenhat5), sondern da ebenso z. B. das Sassanidische Reich6) oder die Staaten der Uiguren,der Yuan, der Hvrizm-She u. a. keineswegs so zerfallen waren, da sie ohne feind-liche Einbrche nicht weitergelebt htten zu S. 273, 441 ist m. E. ein Beweisdafr, da auch echte Zerstrung durch einen ueren Feind vorkommt).

    3) Der Ansatz frHammurabi liegt jetzt anders (l 7 281686 v. Chr.). Entsprechendsetzt man Babylons Eroberung durch den Knig Murilis I. auf 1625, nicht 1780 v.Chr., an. Da die Sumerer ihre Kultur fertig ins Industal berfhrten, entsprichtwohl nicht mehr der heutigen Ansicht (zu S. 59). Benno Landsberger glaubt ja geradeumgekehrt, die Sumerer seien ber See aus dem Osten an die Euphrat-Tigris-Mndung gekommen.

    4) Das abbasidische Schein-Chalifat in gypten (12611517) mchte ich nicht(wie T. S. 15f., 317 f.) mit der von Leo III. wiederbelebten Idee des Rmischen Reichesbei den Byzantinern vergleichen. . Im Gegensatz zu T. halte ich die ostrmische Ideefr eine der tragenden (und nicht der tragischen) Ideologien dieses Staates, die Byzanzein jahrhundertelanges Weiterleben ermglichte und fr den ganzen byzantinischenKulturkreis (S. 159) etwas bedeutete. Das abbasidische Schein-Chalifat nahm auer ingypten kaum irgendwer, und dort auch nur die an diesem Schein interessierteMamlukenschicht ernst.

    5) Nach Eberhard OTTOS eingehenden Forschungen (Die Endsituation der gypt.Kultur, in der Welt als Geschichte" 1951/IV, S. 203-213) tritt, literarischgesehen, die Endsituatiqn der gyptischen Kultur" erst nach 1000 v. Chr., keines-falls schon im Mittleren Reiche, auf.

    6) Neben der als gewissermaen etwas Einzigartiges geschilderten religisenRestauration des ugustus (S. 510) steht z. B. die zoroastrische unter den Sassaniden.

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  • Einige Gedankensplitter zu Toynbees Bild der orientalischen Geschichte 217

    Die zwischen Alexander und Mohammed liegende Zeit der Hellenismus mssefr das vorderasiatische Schema bersprungen werden (S. 17 f., 387): das arabische Vor-dringen sei der erfolgreiche Gegensto der syrischen Kultur" gegen das griechische We-sen, im Gegensatze zu den weniger erfolgreichen Religionen Nestorianismus und Mono-physitismus, die nur als Versteinerungen fortlebten. (Fr den Monophysitismus mchteich zu S. 143 fr das ./6. Jh. brigens nicht unterschreiben, da es ihm nie ge-lungen sei, die herrschende Minderheit in den Stdten der Orthodoxie zu entfremden:man denke von gypten und Syrien ganz abgesehen an die Verhltnisse zur Zeitvon Justinians Gemahlin Theodora und an manchen monophysitischen Konstanti-nopler Patriarchen!7). Dabei ist einmal die Frage nicht errtert, wie weit denn diesechristlichen Konfessionen und der Islam (im Gegensatze von T.s diesbezglicher Auf-fassung des Judentums S. 474, das durch den Pharisismus die beginnende Helleni-sierung unterdrckte) Erben der hellenistischen Kultur geworden sind: das ist dochin so erheblichem Mae der Fall (zu S. 143, 388, 390), da man sie als Schwesterkul-turen der abendlndischen und der orthodoxen auffassen kann. Daneben besteht dasProblem, ob man in der islamischen Entwicklung nur die Ausnahme" sehen kann(S. 423, 485), oder ob nicht die Ausnahme" darauf hinweist, da in Vorderasienauch ein anderes Schema des Geschichtsablaufes (wenn man schon in solchen Schemendenken will) in Frage kommen kann, wodurch dann berhaupt die Notwendigkeiteines regelmigen Ablaufs aller Kulturen wie T. es sieht zur Errterung ge-stellt wird.

    Wir stoen dabei auf drei Faktoren, mit denen T. sich auseinandersetzt: dasProblem der geographischen Lage, das Problem der Rasse" (S. 5256) und dasProblem der Einmaligkeit (bzw. der Wiederholung) geschichtlicher Erscheinungen.Machen wir uns den Ablauf der Geschichte Vorderasiens in groen Zgen klar, so er-scheint er doch als ein Wechsel von drei Mglichkeiten: entweder das Zweistromland(des fteren mit dem stlich liegenden iranischen Hochlande politisch vereint) besitztdas militrische bergewicht (Bltezeit des Assyrischen, des Neubabylonischen Reiches,Achmeniden, Chalifat von Damaskus bzw. Bagdad, Zeit Timurs, verlagert auch imOsmanischen und-vorher im Byzantinischen Reiche): dann bringt es den RaumSyrien8) und Palstina in seinen Besitz als ein Glacis gegengypten hin, dann versuchtes ofjt mit Erfolg immer wieder, auch ins Niltal berzugreifen oder aber: gyptenbesitzt das politische berge\vicht (Mittleres Reich, Fatimiden, Anfnge der Mam-luken, Muhammad 'All), dann stt es nach Palstina und Syrien vor und bedrohtentweder das Zweistromland oder Kleinasien oder beide und schlielich die dritteLage: das Zweistromland und gypten sind ungefhrlich gleich stark: dann entstehtim Rume Syrien-Palstina ein Gewirr kleinerer oder grerer Staaten, die sich gegen-seitig bekmpfen und sich in Bndnissen an eine der beiden Gromchte anlehnen(Zeit der ersten aramischen Wanderung, Knig Salomons und seiner Nachfolger,der Diadochen, der Ajjbiden und Kreuzfahrer, der spteren Mamluken, der Gegen-wart). Mir scheint, da hier cum grano salis eine Wiederholung geschichtlicherEreignisse vorliegt, die T. mir (S. 251 f.) in zu scharfer Form als unmglich ablehnt

    7) Da im brigen religiser Druck nicht immer auf die Dauer gesehen ver-geblich war (so S, 479, 491), zeigt z. B. das Ergebnis der Gegenreformation in Mittel-europa und Frankreich.

    8) Da die syrische Kste fremde Eindringlinge nicht angezogen habe (S. 93),mchte ich angesichts all dieser Vorste und der wiederholten Angriffe auf Sidonund Tyros usw. doch nicht sagen.

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  • 218 Bertold Spuler

    (vgl. aber auch S. 337 unten und S;646ff.: Der Rhythmus des Zerfalls" sowie dengeplanten Band XI: Rhythmen in der Geschichte der Kulturen"). Die Voraussetzungfr diese Entwicklung mu -m. E. in gewissen Gegebenheiten der rumlichen Lagegesucht werden: ein Faktor, den T. nur in Verbindung mit gewissen physikalischenVernderungen als wirksam annimmt (S. 71). Natrlich kann dieses Zusammen-treffen physikalischer Ereignisse mit einer bestimmten Lage nicht bestritten werden(z. B. Austrocknung der Sahara, Vernderungen in der Bewsserung des Zweistrom-landes sowie des Oxus und Jaxartes, Eiszeiten usw. in Nordeuropa). Man sollte aberdoch auch die Wirkung einer gleichbleibenden rumlichen Gegebenheit nicht ber-sehen, wie sie T. m. E. fr England in seiner Insellage zu wenig betont (S. 3, 321),wie sie aber auch fr Vorderasien, fr Indien (Eindringen von Eroberern aus dem Nord-westen, nicht aber Abstrmen solcher dorthin) sowie fr manches andere Beispielwenigstes in Erwgung gezogen werden mu.

    Neben die Einflsse der Lage und der physikalischen Ereignisse treten m. E aberdoch auch die Folgen einer blutsmigen Vermischung innerhalb einer Bevlkerung.T. weist zwar irgendwelche Einflsse etwa der germanischen Einbrche in Norditalienauf die geschichtliche Entwicklung zurck (S. 248f.) und will mit diesem Beispieleauch andere Vermutungen hnlicher Art abtun: er schiet dabei aber (meiner Auf-fassung nach) in berechtigter Abwehr ideologischer Verirrungen ber das Ziel hinaus.Ich kann mir nicht denken, da etwa die geistigen Fhigkeiten der Athener (S. 5)nur ,,erworben" seien; man denke etwa an die erbliche Musikalitt gewisser Volks-stmme, an die handelsmige Begabung aller Vlker, die sich mit der frher in Vorder-asien ansssigen Bevlkerung vermischten (Phoiniker, Juden, Griechen, Armenier,Levantiner), ganz im Gegensatz etwa zu den weitgehend auf altem Kleinasiatentumaufbauenden Trken, deren Unterschiede zu den Griechen doch wesentlich erheblichersind, als T. das (S. 132) angibt.-Die ganz andere Stellung beider Vlker zur Umweltlt sich doch nur aus ererbter Anlage erklren. Auch die Armenier kann ich in ihrerHaltung nicht lediglich (S. 134) als Produkte sozialer Unterdrckung" sehen, wennich an die Tatsache denke, da sie immer eine Heimat mit geschlossenem Siedlungs-.boden hatten, die vielfach als Refugium diente, was doch im Gegensatze zu Juden undLevantinern eine erhebliche Rolle spielte (S. 302). (Im brigen ist es bertrieben, dadie Georgier unter sich ber politische Dinge nur in russischer Sprache verhandeln:S. 514). In diesem Sinne halte-ich das Einstrmen z. B. indogermanisch sprechenderVlker in den stlichen Mittelmeerraum um 1200 v. Chr.9) oder der Iranier in die isla-mische Gesellschaft des Zweistromlandes im 8./ll. Jh. fr einen ganz wesentlichenFaktor der kulturellen Entwicklung (den ,T. z. B. als syrische Seele" S. 61 doch inBetracht zu ziehen scheint). Auch das rasche Sehaft-Werden der Trken in Klein-

    9) Ob man die Urheimat der Indogermanen heute noch ohne jede Errterungnach Mittelasien verlegen darf (S. 28, 54) ? Im brigen ist T.s Invektive gegen denvon schwerfigen deutschen Philologen zu Tode gehetzten Gedanken" der indo-germanischen Zusammengehrigkeit vllig unbegrndet (S. 54). Nicht sie haben dasWort indo-europisch" umgeprgt und deren Heimat in das Gebiet des Knigsvon Preuen verlegt", vielmehr hat der Deutsche Franz BOPP 1816 bei der Entdeckungdieser Sprachzusammenhnge ihre Geltung fr das Gebiet von den indischen bis zuden germanischen Vlkern (auf Island) festgestellt; danach ist dieser Ausdruck ent-standen, .den andere europische Sprachen durch indoeuropisch" ersetzten. ImDeutschen ist indogermanisch" nach wie vor ein berechtigter und keineswegs eiaberheblicher oder verflschter Ausdruck.

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  • Einige Gedankensplitter zu Toynbees Bild der orientalischen Geschichte 219

    asien fhre ich auf ihre Vermischung mit der einheimischen (weithin nur grzisierten,nicht aber griechischen) Bevlkerung zurck10), (deren echt griechische Teile am Randesich ja vielfach nicht mit den Trken vermischten). (Besondere Hervorhebung verdienenin diesem Zusammenhange T.s sehr glckliche Formulierungen ber die Bedeutungder Fax Ottomanica"11) S. 371 gerade fr die Griechen und ihre wirtschaftlichkulturelle Ausdehnung , wenn auch die dauernd sickernde, manchmal zum Stromewerdende Abwanderung slawischer Bevlkerungsteile auch daran erinnert, da frdie unmittelbar Betroffenen Knabenzoll! die Verhltnisse keineswegs ganz un-problematisch waren.)

    Fernerhin kann ich T.s Auffassung von der iranischen Kultur (S. 101) nichtteilen, die mich gerade bei ihm mit seinen orientalistischen Kenntnissen (The Westernquestion in Greece and Turkey", 2. Aufl., London 1923; The Islamic World"[= Survey of International Affairs 1925/1], Oxford 1927) in Erstaunen versetzt. Ichwrde nach lngerer Beschftigung mit dem Gegenstande nicht sagen, da die persischeKultur sich nur am Rande (S. 101) (durch die Herausforderung" seitens der Trkenin Horsn S. Il6f.12) und spter in Kleinasien bei den Trken S. 113) entwickelthabe. Ich sehe vielmehr auch hier eine Neuaufnahme der kulturellen Schaffenskraftnach den fr Iran kennzeichnenden groen Umbrchen, nur mit jeweils verlagertemAusgangspunkte: Nordosten (Zoroaster den T. brigens ohne Debatte ins 6. Jh.v. Chr. setzt), Medien, Persis (Achmeniden), Parthien, dann unter den Samaniden Horsn; die meisten der groen Leistungen dieses Volkes in Kunst und Dichtungwaren keine Schpfungen der Randgebiete13). Mir scheint es auerdem fraglich, obman gut daran tut, das iranische Volk in seiner Frhzeit einem greren Kulturkreise"einzuordnen; die Grnde, ihm einen eigenen, rhythmisch "gegliederten Ablauf seinerGeschichte zuzuerkennen (der in der iranisch-islamischen Kultur" seine natrlicheFortsetzung findet), scheinen mir gewichtiger zu sein. (Dann ist mir auch sehr zweifel-haft, ob man inTimr in seinen Anfngen wirklich einen Vorkmpf er der iranischenKultur sehen darf [S. 344] und ob die Verbreitung des Islams durch den Abscheuvor seinen Taten wirklich litt [S. 343]).

    10) Am Erfolge gerade der Osmanen (im Vergleich etwa zu den Karamanen) warneben .der Herausforderung" durch den Grenzkampf (S. 113) andererseits aber auchdie Brchigkeit des spt-byzantinischen Reiches schuld, die ihnen eine rasche Aus-dehnung auf dessen Kosten erlaubte. Umgekehrt hat sich die spanische Macht trotzdem Aufhren des maurischen Drucks (sptestens im 13. Jh.) doch noch jahrhunderte-lang (bis ins 17. Jh.) sehr aktiv bewhrt (zu S. 125)!

    n) Mit der Dauer ihrer Herrschaft ber die orthodoxen Balkanbewohner ltsich derjenige der Goldenen Horde ber Osteuropa doch wenigstens vergleichen (zuS. 172).

    12) Dabei wurde aber die Wanderung der mittelasiatischen Trken nicht nurdurch die Anziehungskraft der abbasidischen Kultur ausgelst und die Macht derChalifen dadurch nicht gestrkt, sondern geschwcht (S, 173, 459). Vielmehr habenan dieser Wanderung die innerasiatischen Vlkerverschiebungen ganz wesentlichenAnteil, Ereignisse, auf die T. in diesem Zusammenhange nicht nher eingeht.

    1 ) Da gerade die griechischen Kolonisten so bedeutende Leistungen hervor-

    brachten (S, 104), liegt doch auch daran, da die griechische Kolonisation (im Gegen-satz zur rmischen Staatskolonisation) im Einzelfail wesentlich freiwillig war unddeshalb die Wagemutigen anlockte (entsprechend ja auch bei ndern Kolonisations-bewegungen!). _.

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  • 220 Bertold Spuler

    Dazu tritt noch ein Punkt, der mir von T. auch im Hinblick auf die morgen-lndische Geschichte zu wenig behandelt zu sein scheint: die schpferische Persn-lichkeit, die ber die schpferische Minderheit" hinausragt, ja die vielleicht bei ge-wissen Erscheinungen allein der eigentliche Motor der Dinge ist. Gewi spricht T.von einer Reihe schpferischer Geister (vor allem auf kulturellem Gebiete), die sichvor ihrem Auftreten in der Stille sammelten. Er fragt sich aber z. B. nicht, weshalbdenn etwa die Vlkerschaften der heien Zone zu einem bestimmten Zeitpunkte unterstrenger Innehaltung des Ziels nach Norden aufgebrochen seien (physikalische Ereig-nisse der dort geschilderten Art sind ja nicht zeitlich punktuell), weshalb sie die Her-ausforderung" gesucht und angenommen haben (S. 67), anstatt ihr (wie andere) aus-zuweichen. Fr Asien z. B. mchte ich den mongolischen14) Vorsto nicht nur aus demWechsel im Klima der Steppe ableiten (S. 168), glaube vielmehr, da die Persnlich-keiten Cingiz Hans und Timrs ebenso den entscheidenden Anteil hatten, wie diejenigeMohammeds16) fr das Vordringen der Araber im Islam16) (S. 226f.). Das lt auchan die Mglichkeit denken, da in gewissen Fllen, wo T. damit argumentiert, da inmanchen Regionen eine Kultur entstand, in ndern aber nicht (zwar am Indus undHoangho, nicht aber am Rio Grande und Colorado", S. 59) nicht (oder nicht nur)eine klimatische berbeanspruchung, sondern auch das Fehlen einer wirklich fhrendenPersnlichkeit (die uns heute in diesen Fllen nicht mehr greifbar ist), vielleicht aucheine andere Erbveranlagung der Bevlkerung Ursache war. Das Problem der Lcken-forschung", das Kurt Erdmann fr die morgenlndische Kunst aufgeworfen hat(Kunst des Orients I, S. 2036), sollte auch fr die morgenlndische Geschichteschlechthin in Erwgung gezogen werden. (Im brigen ist das Problem der Stromtal-kulturen wozu auch die Gebiete am Oxus und Jaxartes gehren und wobei derDonauraum doch etwa als Wiege der fast nur in ihrer materiellen Ausprgung fabarenillyrischen Kultur in Frage kommen knnte: zu S. 60 mit seinen vielfach parallelenAnforderungen Bewsserungsregelung und im Zusammenhang damit Einheitsstaatmit straffer Beamtenhierarchie wie in gypten oder China, S. 322/4 leider nichtzusammenhngend gewrdigt).

    Nun erkennt T. wie schon gesagt fr die islamisch-morgenlndische Ge-schichte eine Sonderstellung an, die wenigstens in der vorliegenden Fassung Somer-vells nicht im einzelnen ausgefhrt wird, soda von den Bemerkungen aus orien-talistischer Sicht nicht etwa ohne weiteres auf das ganze Gedankengebude T.s ge-schlossen werden kann, das vielmehr von imponierender Gre und Geschlossenheit,

    14) Unter den mongolischen Truppen befanden sich brigens nur nestorianische,. aber keine orthodoxen Soldaten (zu S. 422).

    16) Da bei ihm gerade der jdische Einflu berwogen habe (S. 20), mchte ichnicht annehmen. Da der Prdestinationsglaube gerade angesichts der hoch-stehenden kalvinistischen Nationen bei den Arabern etwas Primitives sei (S. 447),mchte ich nicht sagen: der Glaube, da es so kommen msset wie es bestimmt ist,war ja auch durch feste Paradieseshoffnungen unter bestimmten Umstnden unter-mauert. Das wirkte wie der Glaube an weltlichen Erfolg als Zeichen der Erwhlungbei den Kalvinisten durchaus anspornend. Im brigen fhlen sich die Muslime kaumam Ende der Tage" (S. 448). .

    16) Der Islam verbreitete sich brigens nicht nur bei den Nomaden, die in land-wirtschaftlich genutztes Gebiet eindrangen (S. 143): man vergleiche etwa die Ge-winnung der Trken fr diesen Glauben. Dagegen kam gewaltsame Bekehrung besonders in Indien durchaus vor (zu S. 422).

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  • Einige Gedankensplitter zu Toynbees Bild der orientalischen Geschichte 221 ;

    berreich an feinen Beobachtungen sowie weiter Gedankenfhrung und fruchtbar .:fr die Geschichtsschau eines jeden einzelnen ist. Man knnte sich aber doch von jhier aus die Frage vorlegen^ ob sich fr alle Kulturkreise" T.s Schema in der gleichen ,;Form anwenden lt, ob alle Kulturkreise" wirklich wie es auch Spengler ver- ltritt eine (mutatis mutandis) gleichfrmige Entwicklung durchmachen, ob nicht !den Faktoren der rumlichen Lage und der blutsmigen Abstammung ein grerer - ,'Anteil zugeschrieben werden msse, als dies bei T. geschieht, und ob nicht wenigstens jin manchen Kulturen anstelle des von T. verzeichneten Ablaufs eine zyklische Er- ineuerung trete, eine Erneuerung, die der Vf. fr den abendlndischen Kulturkreis, jden er sich z. Z. ber die ganze Erde ausbreiten sieht, durchaus fr mglich hlt (da .daneben Kulturkreise wie der islamische, der indische oder der fernstliche tatschlicham Absterben sind so S. 254 mchte ich bezweifeln). Auf die vertiefte Unter-suchung solcher Fragen wird der durch den weiten Blick und die Fragestellung T.sangeregte Erforscher des morgenlndischen, aber auch anderer Kulturkreise seinAugenmerk richten mssen, um ber dem einzelnen seines Spezialfaches das Ganzenicht aus den Augen zu verlieren.

    Zum ueren ist zu sagen, da das sehr gut ausgestattete Buch sich in der neuenbersetzung Jrgen von Kempskis im allgemeinen recht gut liest, da aber einzelneAnglizismen stehen geblieben sind, ebenso wie sich in der bersetzung der Fachaus-drcke, der Volks- und Dynastienamen usw. immer noch (teilweise schon von Stadt-mller a. a. O. 194 gergte) Versehen finden, die alle hier aufzuzhlen nicht der Platzist (der Unterzeichnete hat sie dem Verlage auf einer lngeren Liste im einzelnen un-terbreitet; auf Einiges hat der Verf. in der ZDMG 101, 1951 S. 355f. hingewiesen).

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