Über das wesen der chemotherapie
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Aus dem Preui3ischen ttygienischen Institut Landsberg (Warthe). (Direktor: Prof. Dr. Hilgermann.)
Uber das Wesen der Chemotherapie.
Von
X. Bilgermann.
(Eingegangen am 19. VI. t931.)
In meinen chemotherapeutisehen Arbeiten 1'2'3'+ beztiglich der
Chemotherapie der t'neumokokken- und der Streptokokkeninfektion mitte]s gallensaurer A]kalien hatte ich die Wirkungsweise ehemothera-
peutischer Mittel bei Infektionskrankheiten als aktive Immunisierung doa'gelegt, hervorgerufen durch die bei der AbtStung pathogeaer Keilne
freiwerdenden AntigeI~e. Ieh hatte gezeigt, da] ,Der chemotherapeutisehe Effekt wohl auf der parasitotropen Wir-
kung chemischer Stoffe beruht, abet nieht im Sinne der ,Dosis sterilisans
maxima', der imleren Desinfektion, der Sterilisierung, solldern im Sinne
der ,Dosis destruens minima', der AbtStung einiger weniger Erreger,
deren freigewordene Toxine a]s spezifischer Reiz gentigen, die aktive
Immunisierung auszulSsen. Fiir die Erzielung dieses chemotherapeutischen Effektes ist aber
nicht nut die parasitotrope Wirkung des chemisehen Stoffes und seine Verwendung in der Dosis destruens minima ma~gebend, sondern 2. aueh
I Neue Zicle und Wege der Chemotherapie. ~iinch. med. Wochenschr. 1930, S. 1477.
2 Die Chemotherapie tier Pneumokokkenitifektion. Ebeuda 1930, S. 1480. 3 Die Chemotherapie der Pneumokokkeninfektion. Zeitschr. f. d. ges. exp.
]Xied. 1930 , S. 232. 4 Die Chemotherapie der Streptokokkeninfektion. Mfinch. reed. Wochenschr.
1930~ S. 1970.
1Uber das Wesen der Chemotherapie. 353
die Bestimmung der op*imalen Wassers*offionenkonzentration, bei wel- cher der chemische Stoff erst seine Wirkung entfalten kann. Ffir jedes Praparat mug erst das pE-Optimum festgelegt werden, da die einzelnen Pri~parate in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Reaktionsbreite aul]er- ordentlieh versehieden sind.
Ist einmal ffir ein bestimmtes Praparat die optimalste Wasserstoff- ionenkonzentration festgelegt, dann erhalt man aueh mit der im Tier- versueh erprobten Dosierung einwandfreie ehemotherapeutisehe Er- gebnisse."
Ieh versuehte sodann weiterhin, die Wirkung ehemiseher Stoffe auf die Bakterien und ihre Leibesbestandteile noeh genauer zu erforsehen. Denn diese Feststellungen waren ffir die Xliirung des Wesens tier Chemo- therapie und weiterhin zum Beweis der aus meinen Versuehen gezogenen Sehlu/3folgerungen yon gr01gter Bedeutung. Ers~ die Kenntnis yon der eigentliehen Ein~irkung ehemiseher Stoffe auf die Bakterien und ihre Toxine vermag den Vorgang des ehemotherapeutisehen Effektes im eigentliehsten Sinne zu ergriinden und gleiehzeitig Riehtlinien ftir ehemo- therapeutisehe Versuehe zu sehaffen.
In dieser ttinsieht diirften , , n a e h s t e h e n d e B i n d u n g s v e r s u e h e ~' die erforderliehe Kliirung geben und die Riehtigkeit meiner Ansehauungen fiber das Wesen des ehemotherapeutisehen Effektes beweisen:
Gibt man zu einer geringprozentigen tauroeholsauren Natronliisung (z. B. 0,1%) in der optimalen Wasserstoffionenkonzentration - - etwa einer n/100 Sodali~sung entspreehend - - die Absehwemmung einer P n e u m o k o k k e n k u l t u r (2:1) und impft mit dieser ){iselaung sofort naeh erfolgter ){isehung und naeh versehieden langem Aufenthalt der- selben bei 370 weil3e 3gi~use, so sterben die unmittelbar naeh erfolgter ~[isehung mit letzterer geimpften lV[i~use noeh sehneller als gMehzeitig infizierte Kontrollmi~use.
Als Kontrollaufsehwemmung diente die gleiehe, aber mit physiolo- giseher Koehsalzltisung in demselben Verhi~ltnis verdfinnte Pneumo- kokkenabsehwemmung.
Von den naeh 1 Stun@ AufenthNt bei 37 o m i t der 3/[isehung ge- impften lgiiusen sterben noeh 50% durehsehni~tlieh, mitunter aueh 100%, hingegen bleiben die mit der 3 Stunden und li~nger bei 370 gehaltenen 3Iisehung geimpften lVfi~use leben und vOllig gesund. Sie zeigen keinerlei Xrankheitserseheinungen.
354 R. HILGE~A~N:
Die jedesmal gleichzeitig mit der bei 370 gehaltenen Kontrollauf-
schwemmung geimpften Kontrollmhuse gehen hingegen prompt ein. Der chemische S tof f ha t mi th in ers t die B a k t e r i e n auf-
gelSst n n d dann ihre E n d o t o x i n e g e b u n d e n und neu t r a l i - siert .
Diese Neutralisation der Endotoxine ist die ers te Phase des chemo- therapeutischen Vorganges, die zwei te ist die Reizung der Zellen dutch
die nunmehr ungiftigen Toxine zur Bildung yon Schutzstoffen.
Die Zeitspanne fiir die LSsung der Bakterien und die dann erfolgende
Neutralisation der Endotoxine dutch den ehemisehen Stoff ist bei
S t r e p t o k o k k e n s t i ~ m m e n eine versehiedene. Bei manehen ist die Neutralisation der Endotoxine bereits nach 1 Stunde, bei manchen
erst nach 3 Stunden, bei manchen wieder erst naeh noeh langerer Zeit
erfolgt.
Von der Zeitspanne, welche yon der Einverleibung des chemischen Stoffes in den Organismus his zu seiner Wirkung, bis zur Neutralisation der Endotoxine der einzelnen Sti~mme vergeht, diirfte aueh die mehr
oder minder gtinstige bzw. mehr oder minder schnelle Einwirkung des chemischen Stoffes in Bezug auf den Heilungsvorgang abhi~ngen.
B i n d u n g s v e r s u c h e .
Zu 10 ecru einer 0,1%igen taurocholsauren NatronlSsung in optimaler Wasserstoffionenkonzentration werden 5 cem Pneumokokkenkul tur- abschwernmung gegeben. Als Kontrolle werden gleiehfalls zu 10 cem physiologi- scher KochsalzlOsung 5 ccm der gleichen Pneumokokkenkulturabsehwemmung zugefiigt. Beide Mischungen werden durch leichtes Sehtitteln gleichmg$ig verteilt. Der besseren Xontrolle wegen werden stets je zwei Mguse ver- wandt.
Sofortige Impfung nach erfolgter Mischung Impfung nach 8 stiindigem Aufenthal t bei 37 o
Pneumokokken- abschwemmung
+ physiologische
KochsalzlSsung. Kontrollen
Pneumokokken- abschwemmung
A- taurocholsaure ~atronl~isung
Pneumokokken- abschwemmung
+ physiologische
K0chsalzliisung. Kontrollen
Pneumokokken- abschwemmung
-4- tauroeholsaure Natronl(isung
nach 9,4 Stdn.
+
naeh 9,4 Stdn.
§
nach 24 Stdn.
+
nach 24 Stdn.
+
nach . nach 24 Stdn. 24 Stdn.
+ + taunter I taunter
4 w~chige Beobaehtung
Uber das Wesen der Chemotherapie. 355
Impfung nach 24 stiindigem Aufenthalt bei 370
Pneumokokkenabs chwemmung Pneumokokkenabschwemmung + +
physiologische Kochsalzl~sung. taurocholsaure NatronlCisung Kontrollen
nach 24 Stdn. nach 9,4 Stdn. taunter 1 taunter + + 4 w(ichige Beobachtung
Die gleichen Versuche mit St reptokokkenkul turaufschwemmungen.
Sofortige Impfung nach erfolgter Mischung i Impfung nach ls t i indigem Aufenthalt bei 370
Streptokokken- abschwemmung
+ physiologisehe
Kochsalzltisung. Kontrollen
nach nach 24 Stdn. 24 Stdn.
+ §
Streptokokken- Streptokokken- abschwemmung abschwemmung
+ + iaurocholsaure physiologische Natronl(isung Koehsalzl(isung.
Kontrollen
nach nach 48 Stdn. 48 Stdn.
+ +
nach nach 24 Stdn. 2~ Stdn.
+ +
Streptokokken- abschwemmung
+ taurocholsaure Natronliisung
I taunter I taunter Beobachtungs-
dauer 4 Wochen
Impfung nach 3 sttindigem Aufenthalt bei 37o
Streptokokkenabschwemmung Streptokokkenabschwemmung- + +
physiologische Ko chsalzRisung, taurocholsaure NatronlSsung Kontrollen
! naeh 24 Stdn. nach 24 Stdn.
+ + taunter l taunter
Beobachtungsdauer 4 Wochen
Die verschiedenartige Einwirkung des chemischen Stoffes gegenfiber ver- schiedenen Streptokokkenstgmmen zeigt nachstehender Versuch.
Sofortige Impfung nach erfolgter M:ischung Impfung nach 3 stiindigem Aufenthalt bei 370
Streptokokken- abschwemmung
+ physiologische
KochsalzlSsung. Kontrollen
Streptokokken- abschwemmung
+ taurocholsaure Natronl(isung.
nach 24 Stdn.
+
nach 24 Stdn.
+
naeh 94 Stdn.
§
nach 24 Stdn.
§
Streptokokken- abschwemmung
+ physiologische
KochsalzlSsung. Kontrollen
Streptokokken- abschwemmung
+ taurocholsaure Natronliisung
nach 24 Stdn.
+
naeh 24 Stdn.
+
nach nach 24 S~dn. 24 Stdn. schwer schwer krank krank
nach 3 Tg. beide -~
356 R. H~[LGER.~IANI~ :
I.mpfung nach 24 s t i indigem Aufentha l t bei 37 o
Streptokokkenabschwemmung Streptokokkenabsehwemmung § -t-
physiologische Kochsalzl(isung. tauroeholsaure NatronlSsung Kontrollen
nach 24 Stdn. munter
nach 6 Tg. +
nach 24 Stdn. munter
nach 4 Tg. +
taunter I munter Beobachtungsdauer 4 Wochen
Weitere Versuehe, welche das gleiche Ergebnis hatten, aufzufiihren, eriibrigt sich.
Das Ergebnis vorstehender Bindungsversuche tehrt uns wiederum, dab wir in der Tat nut mit kleinen Dosen, der sogenannten Dosis de- struens minima, den chemotherapeutischen Vorgang einleiten diirfen. Denn bei Verwendung grSBerer Dosen des chemischen Stoffes muB das Freiwerden einer groBen ~r Toxine, bevor noch ihre Bindung durch den chemischen Stoff erfolgt ist, zu einer Ver~ftung des Organismus fiihren.. Umgekehrt wird bei kleinen Dosen nur eine geringe Anzahl Bakterien zerstSrt, ihre freigewordenen Gifte gebunden, neutralisiert, welche nunmehr den Immunisierungsvorgang einleiten.
Der chemische Stoff d ient m i t h i n n i c h t nur zur Ab- t S t u n g der Bak t e r i en , wie man b isher g laub te , sondern vor a l lem auch zur N e u t r a l i s a t i 0 n der Bal / te r iengi f te . Dieser Vorgang ist die wesen t l i chs t e Grund lage der Chemothe rap ie .
Letzteres wird wiederum durch die ffir die Bindung der Toxine er- forderliche l~ngere Zeitspanne bei den Streptokokkenst~mmen bewiesen. Wir wissen, dab die Streptokokken im Gegensatz zu den Pneumokokken und dem Streptokokkus mucosus yon den gallensauren Alkalien nur schwer beeinfluBt werden. Hierdurch wird die fiir den chemotherapeuti- schen Effekt im Organismus erforderliche parasitotrope Wirkung stark beeintr~chtigt. Wie ich in meiner Arbeit tiber die Chemotherapie der Streptokokkeninfektion (~tineh. reed. Wochenschr. 1930, Nr. 46) ausge- fiihrt habe, gelang es mir, die Zusammensetzung der gallensauren Alkalien, speziell des tauroeholsauren Natrons, so zu iindern, dab es auch die Streptokokkenst~mme, vor allem die h~molysierenden, 10st bzw. angreift und zerst6rt. Immerhin bleibt diese LSsung je nach den einzelnen Streptokokkenstiimmen eine verschieden starke. Da~ sie aber mSglich ist, zeigen vorstehende Bindungsversuche,
Ziehen wit aus diesen Ergebnissen die Konsequenzen fiir die Therapie am Krankenbett, so ergibt sich, dab wir zur Erzielung des chemothera-
lJ'ber das Wesen der Chemotherapie. 357
peutisehen Effektes bei der Chemotherapie der Streptokokkeninfektion etwas grSgere Dosen verwenden mtissen.
5[it der Kenntnis dieser Wirkungsweise des chemisehen Stoffes miissen sieh auch p r o p h y l a k t i s c h e E r f o l g e zur V e r h i i t u n g des A u s b r u e h e s der E r k r a n k u n g erzielen lassen. Denn wesentlicher als die Behand]ung ist die Verhinderung der Ausbreitung der Erkrankungs- erreger im Organismus. Unsere therapeutischen 3{agnahmen setzen racist erst ein, wenn die Uberflutung des organismus mit Krankheitserregern und deren Giften bereits erfolgt ist. Ei n zu diesem Zdtpunkt in den Organismus eingefiihrtes Chemotherapeutikum mug auf die bereits massen- haft in der Blutbahn kreisenden Erreger und deren Toxine stol~en, finder mithin naturgem~13 ftir seine Auswirkung die ungtinstigsten Bedingungen.
Ganz anders aber, wean es uns gelingt, im erste~ l~{oment der I~- fektion die in den Organismus eindringenden Krankheitserreger mit einem Sehlage gewissermal~en zu verniehten. Denn in dieser ersten Infektions- periode sind sie noeh in geringer Zahl, vereinzelt im Organismus, vor- handen.
Eine zu dieser Zeit in dem yon mir ausgeftihrten Sinne einsetzende Chemotherapie tfifft dementsprechend ffir ihre Auswirkung die g~nstig- sten Bedingungen vor. Dal~ eine derartige prophylaktisehe Behandlung mSglieh und gegeben ist, zeigt naehstehender Tierversueh.
P r o p h y l a k t i s e h e r Versueh . 15. I: Von vier M~usen erhalten zwei 3 Tage hintereinander den 1. Tag
0,3 ecru, den 2. und 3. Tag 0,5 ecru ftir den NhusekSrper berechnete Ver- dtinnungen des ehemisehen Stoffes prophylaktisch injiziert.
Am 5. Tage - - also 2 Tage naeh der letzten prophylaktisehen Impfung - - erhalten dicse und zwei Kontrollm~use je 0,5 cem dichter Absehwemmung eines hoeh virulenten Streptococcus haemolytieus-Stammes intraperitoneal.
Kontrolle Kontrolle :Prophylaxe Prophylaxe
19. I. 0,5 cem Streptokokken- absehwemmung
20.1. +
19. I. 0,5 ecru Streptokokken- abschwemmung
20. L ,-I-
15. I. I. Injekt. (0,.% 16. I. II. Injekt.(0,5) 17. I. III. Injekt. (0.5)
19. I. 0,5ecru Strepto- kokkenabschwem- mung
20. I. taunter und ge- sund. Keine Krank- heitserscheinungen. Beobachtungsdauer 4 Wochen
]5. I. I. Injekt./0,3) 16. I. II. Injekt. (0,5) 17. I. III. Injekt. (0,5)
19. I. 0,Seem Strepto- kokkenabschwem- mung
20. I. taunter und ge- sund. Keine Krank- heitserscheinungen. Beobachtungsd~uer 4 Wochen
358 R. HILGERMA~: Uber das Wesen der Chemotherapie.
GemgB der Ergebnisse vorstehenden Tierversuches werden wit in Zukunft unser chemotherapeutisehes Handeln am Krankenbett entspre- chend einstellen. Bei allen Ffillen, bei welchen mit der ~Sgliehkeit einer " etwaigen Streptokokkeninfektion, wie bei Entbindungen, Abort, zu reehne~ ist oder bei bereits gelungenem 5Taehweis yon Pneumokokken, Streptokokken werden ~ir nicht mit unseren ehemotherapeutisehen ~al~- nahmen zuwarten, sondern dieselben sofort prophylaktisch einleiten.