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AMOKLÄUFER Und dann ist er Rambo Die Namen der Orte Emsdetten, Erfurt, Littleton wecken Erinnerungen an schreckliche Amokläufe. Kontaktgestörte Jugendliche, gesellschaftliche Einzelgänger oder der psychische Blackout des netten Menschen von nebenan lauten dann die Täterbeschreibungen. Seit 1999 in Littleton, USA, zwei Schüler hemmungslos auf ihre Mitschüler schossen, sucht man nach Erklärungen für solche unfassbaren Taten, die sich in Abständen wiederholen, so auch in Erfurt und vier Jahre später in Emsdetten. Gründe werden gesucht in brutalen Video-Spielen, Heavy Metal und der Faszination von Waffen. Mit seinem Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" hat Michael Moore eine Oskar-prämierte Analyse zum Verständnis der jugendlichen Psyche beigesteuert. Prokino Film: "Bowling for Columbine"

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Page 1: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

AMOKLÄUFER

Und dann ist er Rambo

Die Namen der Orte Emsdetten, Erfurt, Littleton wecken Erinnerungen an schreckliche Amokläufe.Kontaktgestörte Jugendliche, gesellschaftliche Einzelgänger oder der psychische Blackout des netten Menschen von nebenan lauten dann die Täterbeschreibungen.

Seit 1999 in Littleton, USA, zwei Schüler hemmungslos auf ihre Mitschüler

schossen, sucht man nach Erklärungen für solche unfassbaren Taten, die

sich in Abständen wiederholen, so auch in Erfurt und vier Jahre später in

Emsdetten. Gründe werden gesucht in brutalen Video-Spielen, Heavy Metal

und der Faszination von Waffen. Mit seinem Dokumentarfilm "Bowling for

Columbine" hat Michael Moore eine Oskar-prämierte Analyse zum

Verständnis der jugendlichen Psyche beigesteuert.

Prokino

Film: "Bowling for Columbine"

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Vielleicht wäre alles anders gekom-men, wenn Lucinda Roy nur einwenig mehr Angst kennen würde.

Aber wovor soll man sich schon fürchten,wenn man im vom Bürgerkrieg zerrisse-nen Sierra Leone gelebt hat und dann,endlich, zurückkehrt in das Idyll von Vir-ginia Tech, dem weitläufigen Campus derTechnischen Universität von Virginia amFuß der Blauen Berge?

Sattgrüne Rasenflächen liegen zwischenGebäuden aus grobem gelbem Sandstein,es gibt kleine künstliche Seen, einen Na-turwanderpfad, die Volleyballplätze sindmit strahlend weißem Sand aufgeschüttet.„Meine Heimat“ nennt die Professorin fürPoesie und kreatives Schreiben ihre Uni-

versität, „einen Platz, an dem es keine Ver-brechen gibt“.

Nicht einmal Cho Seung Hui machte ihrAngst, dieser Sonderling unter den 25000Studenten. Stets sprach er nur im Flüster-ton und meist auch nur ein einziges Wort– wenn überhaupt. Er trug selbst im Un-terricht Sonnenbrille und Baseball-Kappe,den Blick starr auf den Boden gewandt.Seine Gedichte und Geschichten handeltenvom Tod und waren so gewalttätig undobszön, dass Mitschüler den Kursen fern-blieben. Professoren weigerten sich, Cho inihren Klassen zu behalten.

„Er war der einsamste Mensch, den ichin meinem Leben je getroffen habe“, sagtRoy über ihn. „Er sah aus, als würde er

hinter seiner Sonnenbrille weinen.“ Siegab ihm Einzelunterricht, als kaum jemandauf dem Campus mit dem düsteren Cho zutun haben wollte. Verwirrt schien ihr derEinwanderersohn, hilfebedürftig, so sehrsogar, dass sie ihn drängte, psychologischeBeratung zu suchen. Nur für wirklich ge-fährlich hielt sie ihn nicht.

Bis zum vorigen Montag, als Cho 32Menschen hinrichtete und sich dann selbsterschoss. „Dieser Täter war ungeheuerbrutal“, fasste ein erschütterter Gerichts-mediziner zusammen.

Das Massaker von Blacksburg, Virginia,ist die bisher blutigste Schießerei der jün-geren amerikanischen Geschichte, eine Ge-walttat, schlimmer noch als die Morde an

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„Ihr habt mein Herz verwüstet“Warum hat niemand den Massenmörder von Blacksburg aufgehalten? Wie in einem Lehrbuch derPsychiatrie war vorgezeichnet, dass der eigenbrötlerische Einwanderersohn Cho Seung Hui sich

zu einer Gefahr für seine Umgebung entwickelte. Obwohl Ärzte ihm eine psychische Erkrankungattestiert hatten, konnte er sich im waffenverliebten Virginia zwei Automatikpistolen kaufen.

Todesschütze Cho: „Er wird ein wilder Mensch sein – seine Hand wider jedermann erheben wie jedermanns Hand wider ihn“

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der Columbine High School in Littleton,Colorado. Ein neuer Höhepunkt einer Ver-brechensserie, in der sich die Täter stetszum Archetypen des „lone gunman“ stili-sieren, um allein gegen eine Welt von Fein-den anzutreten. Zwar geschehen solcheSchreckenstaten nicht mehr ausschließlichin den Vereinigten Staaten, wie die Schüs-se am Gutenberg-Gymnasium von Erfurt2002 belegen, aber noch haben die Ameri-kaner ein Beinahe-Monopol an solchenGewaltorgien.

Auch der 23-jährige Koreaner Cho gefielsich in der Rolle des einsamen Rächers,dank eines multimedialen Abschiedsbriefsgehen die entsprechenden Bilder nun seitTagen um die Welt. Cho hat sie an denFernsehsender NBC zusammen mit einemwirren Selbstporträt und einem „Manifest“geschickt. Es sind Dokumente, die dasganze Land in Schock und Aufregung ver-setzten. Dass Cho auf einem Bild mit sei-ner Pistole direkt auf den Betrachter zielt,verstehen viele wie einen Anschlag auf diegesamte Gesellschaft. Im Tod bekam derKoreaner nun die Aufmerksamkeit, nachder er verlangte. Der „Campus-Killer“wurde zur globalen Medienfigur.

Amerika und die Welt rätseln weiterüber die Motive und den Charakter desTäters – und über den Absendernamen aufseinem Abschiedsbrief: Steht „Ismael“ für

den gleichnamigen Charakter in „MobyDick“? Oder für Abrahams Sohn, über denes im Alten Testament heißt: „Er wird einwilder Mensch sein: seine Hand wider je-dermann erheben wie jedermanns Handwider ihn“?

Seine Videoclips, Berichte von Studen-ten, Professoren, Ärzten, Waffenhändlernund Polizisten ergeben das Bild eines Mas-senmörders, der sich als Opfer begreift; alsMann, dem, wie Cho in seinen Videos sagt,„ins Gesicht gespuckt wurde“ und der denganzen „Müll die Kehle herunterwürgenmusste“. Mit seiner Tat, so der wirreAmokläufer, wolle er „Generationen vonschwachen und wehrlosen Menschen in-spirieren“. Es steht zu befürchten, dass ihmdas gelingen könnte.

Viele Fragen bleiben offen. Warum hatdie Universität die zahlreichen Warnsignalenicht ernster genommen? Weshalb konnteein Mann, der von Ärzten offiziell als „geis-teskrank“ erklärt wurde, problemlos Waf-fen kaufen? Hätte die Polizei nach den bei-den ersten Morden nicht umgehend denCampus sperren oder zumindest die Stu-denten warnen müssen? Und schließlich:Welche Lektionen werden die Amerikaneraus der Tragödie ziehen. Werden sie ihreliberalen Waffengesetze verschärfen oderden Studenten, wie es die Schießindustriesofort forderte, zur „Selbstverteidigung“

Waffen nun auch im Klassenzimmer er-lauben?

Wenn es einen Tag gibt, an dem Chobegann, sein Massaker vorzubereiten, dannwar es der 9. Februar. Es ist der Tag, andem er das weiße Holzhaus an der MainStreet 410 betritt. Es liegt gleich gegenüberder TU Virginia. Im Erdgeschoss gibt eseinen Blumenladen, ein Zigarettengeschäftund das Pfandhaus JND Pawnbrokers.

Im Schaufenster sind gebrauchte Gitarrenausgestellt, drinnen stapeln sich alte Fern-seher, Mikrowellenherde, Werkzeugkoffer.In Schaukästen liegt billiger Schmuck aus.Und Waffen.

„Er wirkte wie ein normaler, anständi-ger Kerl“, erinnert sich Joe Dowdy, derPfandhaus-Betreiber, „andernfalls hätte ichdoch die Behörden gewarnt.“ Sein jungerKunde legte Ausweispapiere vor, füllte dieFormulare aus. „Dann rief ich die Polizeian, um seine Personalien überprüfen zulassen“, so Dowdy. Es gab keine Probleme.

Gut vier Wochen später die gleiche Pro-zedur, diesmal im Nachbarort Roanoke.„Mein Verkäufer erinnert sich kaum anihn“, sagt Waffenhändler John Markell.Warum auch? Wer bei Roanoke Firearmseine Handfeuerwaffe kaufen will, muss US-Bürger oder – wie Cho – im Besitz einerGreen Card sein und darf kein Vorstrafen-register haben, weitere Fragen werden

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Mahnwache auf dem Virginia-Tech-Campus: Die Fragen nach Schuld und Verantwortung werden drängender

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nicht gestellt. Nach 30 bis 60 Minuten liegtnormalerweise das Okay der Behördenvor, dann ist der Kauf perfekt. 100 Patro-nen gibt es schon für zehn Dollar.

Cho hat jetzt zwei Pistolen, eine Glock 9Millimeter und eine Walther .22, Waffen,die so rasch schießen, wie es der Abzugs-finger schafft. Nur 15 Minuten sind es mitdem Auto vom Campus zum Schießplatzim Jefferson National Forest. Das Übungs-gelände ist so frei zugänglich wie ein Kin-derspielplatz. Es gibt kein Aufsichtsperso-nal, keinen Sicherheitszaun und keine Kon-trollen. Unter der Woche ist die Anlagemitten im Wald so gut wie ausgestorben,ein idealer Platz zum Trainieren. „Cho warein geübter Schütze“, sagen die Ermittler.

Je mehr über Cho bekannt wird, destodrängender stellt sich die Frage nachSchuld und Verantwortung. Hätte der Mas-senmord verhindert werden können?

„Da ist jemand, mit dem ich aufwuchsund den ich liebte“, das sagte Chos Schwes-ter Sun-Kyung Cho am vergangenen Frei-tag, „jetzt fühle ich mich so, als ob ich die-se Person nie gekannt habe.“ Ihr Bruderhabe „die Welt zum Weinen gebracht“.

Schon in der Westfield High School naheseinem Heimatort Centreville bei Wa-shington, wo seine Eltern eine chemischeReinigung betreiben, war Cho verhaltens-auffällig. Ein Junge, der wenig sprach, nielächelte und Augenkontakt vermied. ZuHause gestattete er nicht einmal seinemGroßvater, ihn zu umarmen. Überall sonstwurde er weitgehend ignoriert. Es war, „alswürde er nicht existieren“, erinnert sich sei-ne frühere Mitschülerin Jummy Olabanji.

Die Flucht in die Rolle des großenEinsamen wurde immer schlimmer. AmCollege der Virginia Tech hielten Kommi-litonen den Koreaner zunächst für einenAustauschstudenten, der kaum Englischversteht – so selten sprach Cho.

Fünf Studenten teilten sich mit Cho eineWG im Wohnheim Harper Hall: dreiSchlafzimmer, ein Aufenthaltsraum, einBad. „Er hat niemals Interesse an einer Un-terhaltung gezeigt“, sagt einer von ihnen,Karan Grewal, der neun Monate mit ihmlebte. Chos Gesicht war völlig ausdruckslos,wenn man ihn ansprach, tat er, als hörte ernichts und wäre allein im Raum. „Am An-fang war es komisch, aber dann haben wiruns daran gewöhnt“, sagt Grewal.

Dass Cho ein Problemfall ist, war Polizeiund Uni-Verwaltung seit Ende 2005 be-kannt. Kurz nacheinander beschwertensich damals zwei Studentinnen über „ner-vige“ Kontaktversuche: „Mein Name, ver-ehrte Heilige, ist mir selbst verhasst“, hießes in einer seiner skurrilen Botschaften,die er per Computer verschickte. Ein wei-terer Kommilitone warnte die Polizei, Chosei selbstmordgefährdet.

Ein Richter entschied, der Koreaner stel-le eine „unmittelbare Bedrohung für sichselbst und andere“ dar, und verfügte sei-ne Begutachtung in der psychiatrischen Kli-

nik Carilion St. Albans. Dort erklärten ihndie Ärzte für „geisteskrank“. „Kaum äußer-liche Gefühlsregungen, depressive Stim-mung“, heißt es in einem Befund.

Gegen den Rat der Mediziner ordnetedas Gericht aber nur eine ambulante Be-handlung an. Cho kehrte auf den Campuszurück. Ob er die ihm auferlegte Therapieüberhaupt begann, ist bislang nicht bekannt.

Stattdessen häuften sich Zusammen-stöße mit den Lehrkräften. Eine Taskforceder Englischdozenten beschäftigte sich mitseinem Verhalten. Immer düsterer wurdenseine Texte. In zwei kurzen Theaterstü-cken, „Mr. Brownstone“ und „Richard-McBeef“, beschimpfen und bedrohen diejugendlichen Hauptfiguren Eltern und Leh-rer. Es sind pubertäre Gewaltphantasien,die mit Kettensägen ausgetragen werden:„Muss Dick töten, muss Dick töten, Dickmuss sterben, töte Dick.“

Auch die letzten Warnsignale wurdenübersehen. Auf einmal begann derschmächtige Cho in einem Fitnesscentermit einem Krafttrainingsprogramm, dannließ er sich einen militärischen Kurzhaar-schnitt verpassen. Gestörte Charaktere wieCho, sagen Psychologen, müssen sichselbst verändern, bevor sie zu Amokläu-fern werden. Cho war jetzt bereit.

Es ist 5.30 Uhr, ein kalter Morgen, derHimmel ist grau, Schneeflocken tanzen inder Luft. In Chos WG in Harper Hall hatMitbewohner Grewal die Nacht durchge-paukt. Als er unter der Dusche steht,kommt Cho ins Bad, T-Shirt, Boxershorts,wie immer sagt er kein Wort.

* Tim Kaine, Gouverneur von Virginia, und Ehefrau AnneHolton.

Kurz darauf verlässt er das Zimmer 2121,bis zur West Ambler Hall, einem Studen-tenwohnheim am Südrand des Campus,sind es nur ein paar Schritte. Es ist kurznach sieben Uhr, viele der Studenten schla-fen noch. Cho trägt eine Hose mit weitenTaschen, eine Weste mit den Waffen undErsatzmagazinen. Sonst sind die Taschenleer, keinen Führerschein, keinen Studen-tenausweis findet die Polizei später beidem Täter.

Nichts weist bisher darauf hin, warumEmily Hilscher an diesem Morgen sein ers-tes Opfer wird. Die lebenslustige 19-Jähri-ge will Tierärztin werden. Emily ist allein in ihrem Zimmer 4040 gleich am Aufzug.Cho schießt sie nieder. Ryan Clark muss dieSchüsse gehört haben, er führt Aufsicht imdritten Stock. Auf dem Flur begegnet Ryandem Mörder, der drückt ein zweites Mal ab.

Zwei Leichen, Patronenhülsen und Fuß-abdrücke von den Turnschuhen des Tätersauf dem vom Blut glitschigen Boden findetdie Polizei, als sie kurz darauf am Tatorterscheint. Cho ist verschwunden, aber erkann ganz sorglos sein. Die Polizei suchtnicht nach ihm, die campuseigenen Ord-nungshüter, die den Fall übernehmen, ma-chen einen fatalen Fehler: Sie verdächtigenHilschers Freund Karl Thornhill, obwohlnichts auf eine Beziehungskrise zwischenden beiden hindeutet. Als Indiz gilt einzigdie Aussage einer Studentin, dass Thornhillein Waffennarr sei. Die Toten im Wohn-heim West Ambler gelten als „lokalesEreignis“, die Polizei gibt eine Fahndungnach Thornhill heraus, der wenig späteran einem nahen Highway aus dem Autogezerrt wird. Die Polizei meldet der Uni-Leitung Entwarnung – keine Gefahr für

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Ehepaar Bush (l.), Trauergäste in Blacksburg*: Große Koalition der Waffenfreunde

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die Studenten. So sicher fühlen sich dieFahnder, dass sie nicht einmal nach einemmöglichen weiteren Täter suchen – und dieStudenten nicht warnen. Alles schien zuEnde, dabei hat die Tragödie noch nichteinmal richtig begonnen.

Cho hat den Campus verlassen, kurz vorneun Uhr taucht er im Postamt vonBlacksburg auf. Er zahlt 14,40 Dollar fürein Expresspäckchen mit der DVD für denFernsehsender NBC in New York. Die 43Fotos und 23 Videofilmchen sind sein wir-res Vermächtnis. Cho zielt auf die Kamera,hält sich die Waffe an die rechte Schläfe,schwingt einen Hammer. „Ihr hattet hun-dert Milliarden Chancen und Wege, diesenTag zu vermeiden“, murmelt er mit leb-losen Augen in das Aufnahmegerät, eineschwarze Basketballmütze verkehrt herumaufgesetzt. „Ihr habt mein Herz verwüstet,meine Seele vergewaltigt und mein Ge-wissen in Brand gesetzt.“

Einmal bezieht sich Cho auf „Eric undDylan“. Gemeint sind Eric Harris und Dy-lan Klebold, die fast auf den Tag genau voracht Jahren an der Columbine High School

in Colorado zwölf Mitschüler, einen Lehrerund sich selbst erschossen. „Märtyrer“nennt er die beiden.

Kurz nach neun Uhr taucht Cho aufdem zentralen Platz des Campus auf, es istein weites Rasengelände, um das herumviele Lehrgebäude der Uni liegen. DerAmokläufer hält auf die Norris Hall zu –das dreigeschossige Gebäude wirkt einbisschen wie eine mittelalterliche Festung,vor 35 Minuten hat in den Klassenzimmernder Unterricht begonnen. Cho verriegeltden Ausgang mit einer schweren Eisenket-te. Dann läuft er die Treppe hinauf in denersten Stock. 30 Menschen werden in dennächsten Minuten sterben.

Cho arbeitet sich von Raum zu Raumvor, sein Gesicht ist wie versteinert, er sagtkein Wort. Nur die Schüsse und dasKlacken der leeren Patronenhülsen, die aufden Boden fallen, sind zu hören. Viele imGebäude begreifen erst einmal gar nicht,was passiert, sie glauben, der Lärm kommevon einer nahegelegenen Baustelle.

In Raum 211, Französisch für Fortge-schrittene, sterben zehn Studenten und dieLehrkraft, in 206, angewandte Hydrologie,bleiben eine Professorin und acht Studen-ten tot zurück. Zwei Räume weiter, in 204,unterrichtet Professor Liviu Librescu ge-rade Mechanik, er hält die Tür zu, währendStudenten aus dem Fenster springen. Der76-jährige Holocaust-Überlebende ausRumänien bezahlt dafür mit seinem Le-ben. „Er hat uns gerettet“, sagt CarolineMerrey und weint.

Draußen erscheint die Polizei, Studen-ten haben sie per Handy alarmiert. Werkann, flieht über den großen Rasen – in dieBibliothek, auf die Straße, wo auch immeres sicher zu sein scheint.

Drinnen in Norris Hall geht das Blutbadweiter, in 207 unterrichtet James BishopDeutsch für Anfänger. Der 35-Jährige stu-dierte in Kiel, er liebt Deutschland, „HerrBishop“ müssen ihn die Studenten nen-nen, wenn er sie einmal in der Woche zueinem „Stammtisch“ in eine der Kneipenam Campus einlädt. Bei Bier und Burgerdarf nur Deutsch gesprochen werden.

Bishop stirbt als Erster, als Cho die Türaufstößt. Eine Waffe in jeder Hand, beginnter sofort zu feuern, der Lehrer wird in denKopf getroffen. Wie ein Roboter, berichtenspäter die Überlebenden, habe Cho ge-wirkt. „Er war ganz ruhig, entschlossen, erging methodisch vor“, sagt Derek O’Dell.

Bishop liegt auf dem Boden, Cho nimmtdie erste Reihe der Studenten unter Feuer.Vier weitere Tote. Dann dreht er sich um,geht, einfach so. Und wenn O’Dell und ei-ner seiner Kommilitonen nicht so geistes-gegenwärtig gewesen wären, läge die Zahlwohl noch höher.

O’Dell robbt zur Tür, in der Hand hat ereinen Hosengürtel, er bindet sich eineSchusswunde im rechten Arm ab. Mit denFüßen drückt er gegen die Tür, geraderechtzeitig, denn Cho kommt noch einmalwieder. Er drückt, versucht die Tür aufzu-stoßen. Aber mit der Kraft der Verzweif-lung gelingt es den Studenten, die Tür zu-zudrücken. Auf den Fluren und im Trep-penhaus sterben weitere Unschuldige.

Vor dem Eingang hat sich die Polizeizum Sturm des Gebäudes entschlossen,schwerbewaffnete Männer mit Stahlhel-men hasten ins Treppenhaus. Cho muss siegehört haben. Er hält sich die Waffe anden Kopf und drückt ein letztes Mal ab.

30 Stunden nach der Tat steht US-Präsi-dent George W. Bush nur ein paar Metervon der Norris Hall entfernt, Studentenhaben ein provisorisches Mahnmal errich-tet. Bush und seine Frau legen gelbe undrote Rosen nieder.

„Es wird eine Menge Diskussionen ge-ben“, sagt Bush in Blacksburg, aber vorden auf ihn einstürmenden Fragen, ob erpersönlich für schärfere Waffengesetze plä-dieren will, duckt er sich weg. Sein Vor-gänger Bill Clinton hatte das nach Littletonzumindest versucht, war aber am Wider-stand des Kongresses gescheitert. Wenn esum möglichst liberale Schusswaffengeset-ze geht, herrscht in den USA längst eineGroße Koalition. Das ermöglichte es Cho,seine Pistolen ganz legal zu erwerben.

Über 30 000 US-Bürger sterben jedesJahr durch Schusswaffen. Waren sie alle

schlicht „zur falschen Zeit am falschenOrt“, wie Präsident Bush über die Opfervon Blacksburg sagte? Es sieht ganz da-nach aus.

Die Politik ist ein schnelles Geschäft. DieToten von Blacksburg waren noch nicht be-erdigt, da gab Terry McAuliffe, einer derWahlkampfleiter von Hillary Clinton, be-reits eine Warnung an demokratische Prä-sidentschaftsbewerber heraus. Sie solltenim Wahljahr 2008 das Thema auf jeden Fallvermeiden. Es bringe keine Stimmen.

Werden stattdessen Studenten dem-nächst überall ihre Knarren mit in die Hör-säle nehmen dürfen – wie jetzt schon inUtah?

Für Philip Van Cleave, den Präsidentender Virginia Citizens Defense League, wäredas nach Blacksburg genau die Lösung.Kein Cho Seung Hui könne dann nochSchüler und Studenten „wie Schafe“ ab-schlachten. „Sie wären wie Wölfe, mitReißzähnen, bereit, zurückzuschlagen.“

Frank Hornig, Georg Mascolo

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Cho-Mitbewohner Grewal, Waffenverkäufer Markell, Professorin Roy: „Er wirkte wie ein völlig normaler, anständiger Kerl“

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Keiner kann sagen, wann genau„ResistantX“, der eiskalte Cyber-Killer, die Kontrolle über Bastian

B., den schmächtigen Schüler aus demMünsterland, übernahm. Vielleicht passier-te es schon in der 7. Klasse, als sie Bastiandas erste Mal „Hurensohn“ nannten. Alser sich danach verschüchtert unter der Ein-gangstreppe der Geschwister-Scholl-Schu-le verkroch, mit diesem Gefühl von Angst,Wut und Ohnmacht im Bauch.

Vielleicht war es aber auch an jenemTag im Juni 2001, als ihm ein paar halb-starke Jungs auf dem Pausenhof auflauer-ten und ihn zwangen, einen glühendenFahrradschlüssel in die Hand zu nehmen.

Oder bei diesem verdammten Mai-Festvoriges Jahr, als er sich einfach nicht trau-te, Nadine zu küssen, seine große Liebe.

Fakt ist jedenfalls, dass der junge Mann,gerade 18 Jahre alt geworden, am vergan-genen Montagmorgen sein gutbürgerlichesElternhaus am Stadtrand von Emsdettenverließ, in den Astra seiner Großmutterstieg und ein letztes Mal die verhassten 1700Meter zu seiner alten Schule zurücklegte,dem Epizentrum seiner Demütigungen.

Ausgestattet mit drei Schusswaffen undreichlich Sprengstoff, passierte er das höl-zerne Jesus-Kreuz an der Straßenecke, denKaugummi-Automaten seiner Kindheitund die Fleischerei am Bahnübergang.Längst hatte Bastian da wohl den „Point ofno return“ erreicht, den Punkt, an dem eskein Zurück mehr gibt. Von dem aus er

endlich Rache nehmen würde an der ver-hassten Realität.

Hunderte Male war Bastian das Szena-rio schon durchgegangen. Erst als grausa-mes Gedankenspiel, dann konkreter aufdem Computer, und schließlich, mit eisigerBerechnung, auf den Seiten seines gehei-men Tagebuchs. Er werde ein „Sozio-gramm“ erstellen müssen, schrieb er, umherauszufinden, wen er „auf jeden Fall um-bringen muss“, damit möglichst viele an-dere wenigstens noch „psychische Schä-den erleiden“. Am besten aber, notierte erauf Karopapier, wäre „eine Liste mit Leu-ten, die am Leben bleiben sollen, anstatteine Liste mit Leuten, die sterben“. Sokönne er sich „eine Menge Arbeit und vorallem Tinte“ sparen.

Gegen 9.25 Uhr holt die blutige Fiktiondie beschauliche Lebenswirklichkeit derwestfälischen 35000-Einwohner-Stadt ein.Auf dem Weg zum Pausenhof der Emsdet-tener Realschule detoniert die erste Rohr-bombe. Ein Silversterböller, denken diemeisten. Doch dann sehen die Schülerplötzlich eine schwarze Gestalt in der Men-ge, „wie in einem Computerspiel“. Siehören, wie Schüsse fallen. Echte Schüsse.Mehrere Schüler brechen auf dem Pflasterzusammen, eine schwangere Lehrerin wirddurch eine Gasbombe im Gesicht verletzt,ein Hausmeister bekommt drei Kugeln inden Bauch.

Bastian, berichten Zeugen, hält einemMädchen eine Waffe an die Schläfe. Sein

Bruder Dennis, der die Realschule besucht,ist plötzlich zur Stelle, fährt ihn an. Bas-tian lässt seine Waffe sinken und ziehtwortlos weiter.

Vielleicht war das der Moment, der Ems-detten vor der ganz großen Katastrophebewahrte. 37 Menschen trugen an diesemMorgen Verletzungen davon. Das erscheintglimpflich, gemessen daran, wie sich Bas-tian B. auf seine Mission vorbereitet hatte– wie er in wochenlanger Arbeit ein de-tailgenaues Abbild der Schule auf seinenComputer programmiert hatte. Wie er da-mit das Killerspiel „Counterstrike“ umeine weitere animierte Welt erweitert hat-te. Und wie er in unzähligen Baller-Ses-sions das geplante Blutbad trainiert hatte.Vielleicht war es auch nur Glück, dasslediglich ein Todesopfer zu beklagen ist:Bastian B., erschossen von eigener Hand.

Gut vier Jahre nach dem Massaker vonErfurt, bei dem 16 Menschen von einemSchüler getötet wurden, entfachte das Dra-ma von Emsdetten eine hektische Neuauf-lage der Verbotsdebatte um gewaltver-herrlichende Computerspiele. Doch diereflexhaften Forderungen der Politiker,vorangetrieben von Bayerns InnenministerGünther Beckstein (CSU) und seinem nie-dersächsischen Kollegen Uwe Schünemann(CDU), vernebeln den Blick auf eine weit-aus kompliziertere und offenbar gefährli-chere Dimension des Falls Bastian B.: dassdem modernen Medienmenschen unterUmständen die Fähigkeit abhandenkom-

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Virus im ProgrammIm wirklichen Leben fühlte sich Bastian B. als notorischer Verlierer, in den Weiten des Cyberspace

gewann er als „ResistantX“ jede Schlacht: Der Attentäter von Emsdetten lebte zwischen den Welten – bis sich Realität und Fiktion auf katastrophale Weise vermischten.

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Tatort Geschwister-Scholl-Schule, Amokläufer Bastian B.: „Der war unheimlich“

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UMFRAGE: COMPUTERSPIELE

TNS Infratest für den SPIEGEL vom 21. bis 23. November;rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“

„Sollten gewaltverherrlichendeComputer- und Videospieleverboten werden?“

28 %NEIN

JA 69 %

men kann, zwischen wirklicher und virtu-eller Welt zu unterscheiden.

Sollte tatsächlich zutreffen, was Sozial-forscher, Psychologen und Medienexper-ten langsam zu erkennen glauben, brautsich über der Gesellschaft der Ära „Web2.0“ ein Problem zusammen, an das nie-mand auch nur zu denken wagte, als dasInternet vor einem Jahrzehnt die weltwei-te Kommunikation revolutionierte.

Ebenso machtvoll wie unkontrollierbarschießen die Informationspartikel um denGlobus – ein schier unerschöpflicher Quellfür den Datendurst der Menschheit. Dochin den Weiten des Netzes wächst eine Viel-zahl medialer Sondermülldeponien heran,die sich Tag für Tag aufs Neue aus denfinstersten Tiefen der menschlichen Seelespeisen – und im Extremfall zum GAU, wiein Emsdetten, führen können.

Denn längst bilden die Bits und Byteseine eigene Welt parallel zur Wirklichkeit.Eine Welt, die nicht mehr nur passiv kon-sumiert, sondern aktiv bewohnt werdenkann: Zu Hunderttausenden gründen realexistierende Personen derzeit Parallelexis-tenzen – auf Seiten wie „myspace.com“,einem interaktiven „Freundschaftsclub“mit nahezu 100000 Neuzugängen pro Tag,im Dickicht zahlloser Gesprächsforen oderauf den Schlachtfeldern immer perfekterwerdender Online-Spiele.

Die neue Welt ist bunt, benutzerfreund-lich und hat der Realität gegenüber einenentscheidenden Vorteil: Sie ist anonym –und bei Nichtgefallen abschaltbar. EinClick, und alles springt auf Anfang, denletzten Spielstand laden, von Neuem be-ginnen – neues Leben, neue Identität,nächste Homepage, nächstes Forum,größer, schneller, geiler. Die Porno-Seite,mit 472 alphabetisch geordneten Perver-sionen, liegt nur einen Tastendruck vonGoethes Online-„Faust“ entfernt. Und wersich an diese Melange aus Allmacht, An-regung und Anonymität zu sehr gewöhnt,dem drohen bittere Enttäuschungen in derrauen Wirklichkeit.

Denn gegen den Tsunami aus Daten,Sounds und Videoclips kann die Realitätmitunter nur verblassen – vor allem dann,wenn sie voller Widrigkeiten steckt, so wiebei Bastian B. alias ResistantX.

Sein reales Leben beschrieb der Com-puterfreak verbittert mit fünf Buchstaben:„S.A.A.R.T. – Schule, Ausbildung, Arbeit,Rente, Tod“, eine Formel, zu der ihn of-fenbar die mustergültige Klinkerbausied-lung inspirierte: katholisch, besenrein, ver-kehrsberuhigt – ein einziger steingeworde-ner Bausparvertrag. Über seinen PC imKinderzimmer floh der Junge in die ver-meintliche Freiheit virtueller Weiten.

An exotische Orte, an denen er waffen-starrende Spezialkommandos befehligte;in Foren, wo er seinem Frust über die Ge-sellschaft Luft machen konnte, oder in sei-ne Phantasiewelt, in der er als ResistantXunbesiegbar war. Er habe, vertraute B. ineinem Moment der Selbstkritik seinemTagebuch an, seine „Erfolgserlebnisse nichtin der Schule“ und nicht „in der Familie“gehabt, sondern am PC, wenn er beimberüchtigten Ballerspiel „Doom“ mal„eine gute Serie“ hatte.

In dieser „narzisstischen Parallelwelt“,urteilt Rudolf Egg, Leiter der Kriminolo-

* Als „Counterstrike“-Hintergrund.

gischen Zentralstelle in Wiesbaden, „hatteBastian das Sagen, sein Handeln war Ge-setz“. Dass sich aus diesen Phantasien einkonkreter Plan herausbildete, ist für denPsychologen „nur der logische nächsteSchritt auf diesem Weg“.

Dabei, so schrieb Bastian B., sei seineKindheit bis zur Grundschule eigentlich„perfekt“ gewesen. Die „Scheiße“ sei vorvier Jahren richtig losgegangen. Bastian,Sohn eines Postangestellten und zweifa-chen Schützenkönigs, war sitzengeblieben.Der einstige Klassenclown bunkerte sichzunehmend in seinem Zimmer vor demPC ein, ging nicht mehr zum Fußballtrai-ning, schlug Einladungen zu Partys oderGeburtstagen aus, saß im Unterricht apa-thisch in der letzten Reihe.

„Das war der verschlossenste Schüler,den ich je erlebt habe“, erinnert sich Bas-tians ehemaliger Lehrer Ulrich Hesselkamp,„an den ist keiner mehr rangekommen.“Er trug nur noch schwarze Klamotten,stutzte sich den Lockenkopf und hatte stän-dig die Kopfhörer seines MP3-Players aufden Ohren: Am liebsten hörte er die Metal-Band Slipknot. Zu den Hits der finsterenTruppe, auf die auch der Erfurter Amok-schütze abfuhr, gehört ein Lied mit demprogrammatischen Titel „People = Shit“ .

Sein Outfit quittierten Bastians Mit-schüler meist mit höhnischem Spott. Baldwurde er nur noch „Matrix-Mann“ ge-nannt, wegen des schwarzen Trenchcoats,den auch die Hauptfigur des gleichnamigenCyberpunk-Films trägt, oder eben „Psy-cho“ – der Schulverrückte.

Während Bastian den Fünftklässlern mitseinem Habitus Angst machte, nahmen ihndie Gleichaltrigen nicht mehr ernst. „Erspielte eine Rolle und machte sich dabei oftgenug lächerlich“, erinnert sich Patrick S.

„Das ist doch einfach verrückt“, schriebB. in sein Tagebuch, „ich bin in der Lage,eine Schießerei zu meistern, aber wenn icheinen von den Arschlöchern sehe, bin ichwie gelähmt. Ich laufe die Straßen entlangund sehe welche von der Sorte, Jugend-liche, HipHopper, Feinde, und ich bekom-me wahnsinnige Angst.“ Wenn er ange-sprochen werde, könne er nicht mehr „klardenken“. Es komme dann gar keine odernur „eine sinnlose Antwort“ heraus, „unddas seit dem 7. Schuljahr“.

Bastian erlebte seine Pubertät als eineeinzige große Kränkung und Ausgrenzung.„Jemand, der derart kontaktgestört ist“,erklärt der Münchner PsychoanalytikerWolfgang Schmidbauer, „zieht sich in einePseudowelt zurück, die er viel leichter kon-trollieren kann.“ Verbunden mit dieser Artvon Beziehungslähmung seien „ein massi-ver Neid auf die Beziehungen anderer –und damit auch Zerstörungswünsche“.

Nach außen hin wirkte Bastian, als prall-ten die Sticheleien eiskalt an ihm ab. InWahrheit jedoch brannte sich jede noch sokleine abfällige Bemerkung in sein Ge-dächtnis. Er leitete seinen Hass auf das

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Von Bastian B. animierter Informatikraum*: Training fürs Blutbad

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Rachekonto seines Alter Ego ResistantX.Der ballerte den Frust später heraus, aufdem Computerbildschirm oder im Waldbeim „Airsoft“-Spielen. Airsoft ist eine Art Sport, bei dem sich gegnerische Teamsmit Plastikkugeln beschießen. Bastiangründete sogar eine eigene Mannschaft –„T.A.S.T.E.“ – das „Tactical Airsoft TeamEmsdetten“. Er wollte das „Virus“ sein,welches das „Programm“ Schule zerstört,er begann, vom großen Massaker zu träu-men und Todeslisten zu erstellen. Im Ja-nuar 2005 etwa phantasierte er sich dengewaltsamen Tod einer Mitschülerin her-bei. Über das Mädchen, das ihn offenbarmit einem spitzen Kommentar bedachthatte, schrieb er: „Mit ihr werde ich eineMenge Spaß haben. Ihr erst in die Füßeschießen, sie dann durch den von Splittern

bedeckten Flur kriechen las-sen.“ Anschließend will er ihreine selbstgebaute Granate „indie Fresse stopfen“.

„Klar, der war in den ver-gangenen Jahren etwas un-heimlich“, sagt ein Lehrer, derungenannt bleiben möchte. Alser und einige Kollegen einmalbei einem Bier zusammen-saßen und das Thema aufAmokläufe kam, da sagte ei-ner: „Wenn einer bei uns soetwas macht, dann ist es derBastian. Dem traue ich das zu,wenn der sich weiter so ent-wickelt.“

Gehandelt, die Polizei ein-geschaltet etwa, hat offenbarkeiner. Nicht die Lehrer, nicht die Kumpel aus dem Airsoft-Team, von denen zumindesteiner von Bastians Testspren-gungen im Wald gewusst haben

muss. Von Seiten der Schule gab es im-merhin einige Gespräche mit den Eltern,das letzte Mitte 2005. Die Mutter erzählte,der Sohn sei zu Hause eigentlich ganz nor-mal, sie störe sich nur daran, dass er soviel an seinem Computer sitze, aber das seija bei vielen Jungen so in diesem Alter.

Doch was ist normal? Und wo ist dieGrenze? „Zielgerichtete Gewalttaten anSchulen lassen sich prinzipiell im Vorfelderkennen“, glaubt Jens Hoffmann, Dozentfür Forensische Psychologie an der Tech-nischen Universität Darmstadt. In einemForschungsprojekt hat er Modelle zur Ri-sikoeinschätzung von Amokläufen erar-beitet. Frühzeitig müsse man die „Verhal-tensindikatoren“ aufspüren – „und dannmit klassischem Krisenmanagement be-ginnen, das ist der einzige realistischePräventionsansatz“.

Aber wer hätte die Zeichen deuten sol-len? In Deutschland kommt ein Psycholo-ge auf 12500 Schüler. Die Bundesrepublikliegt mit dieser Relation unter den OECD-Staaten auf dem vorletzten Platz vor Mal-ta. Psychologen kommen meist nur auf An-

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Es ist Donnerstagabend, drei Tagenach dem Amoklauf, und Chu-cky muss trainieren. Chucky

muss eigentlich jeden Tag trainieren,so ist das nun mal bei Hochleistungs-sportlern, „sonst kannst du nicht mit-halten“, sagt er.

Also sitzt er im Trainingszentrumseines Teams in Gießen. In der Vitrinean der Wand glänzen Medaillen undPokale, im Nebenraum steht der Tisch-kicker für die Pause, im Obergeschosswarten die Ruheräume mit der Massa-geliege. Später soll es ein Trainingsspielgeben, so haben es die fünf Mitgliederseiner Mannschaft verabredet. „Abererst müssen wir die Taktik bespre-chen“, sagt Chucky.

Die fünf diskutieren dann, in rascherFolge, über „schnelles Verschieben“und „offensives Decken“ und andereTaktiken. Es klingt nach Fußball aufKlinsmann-Niveau – bis die Spieler zuder Frage gelangen, in welchem Winkeldie Granate am besten zu werfen ist.

Peter Schlosser, Künstlername Chu-cky, und sein Team „Alternate attax“sind die Deutschen Meister im „Coun-terstrike“ (übersetzt: Gegenschlag), ei-nem der meistgespielten und meistdis-kutierten Computerspiele aller Zeiten.

Das Spiel ist zum Synonym gewor-den für das Böse, das Jugendliche an-geblich vor dem Computer treiben, bissie schwerbewaffnet ihre Schule stür-men und ihre Mitschüler abknallen.

Die Spieler aber sagen: Das Ganzeist doch nur eine harmlose Mischungaus Schach und Schnitzeljagd, unge-fähr so gesellig und gefährlich wie einSchützenverein. „Wir schießen auf Pi-xel, nicht auf Menschen“, so sagt eseine Vereinskameradin von Chucky.

Die Spieler behaupten: Die Politikerwissen doch gar nicht, wovon sie re-den. Die Politiker behaupten: MancheJugendliche wissen gar nicht mehr, wassie da tun. Spätestens seit Emsdettenstehen sich die beiden Lager wiederähnlich unversöhnlich gegenüber wiedie Fraktionen im Computerspiel.

Dort werden zunächst die Rollenverteilt. Die „Terroristen-Fraktion“ legtBomben, die „Anti-Terror-Fraktion“entschärft Bomben. Für diese Zweckekann man Waffen kaufen: Schrot- undMaschinengewehre, Pistolen, Granaten– und zum Schutz auch eine Kevlar-Weste. Auf das Geschehen blickt jederSpieler aus der Perspektive einesKämpfers. Solche Spiele heißen „Ego-

Shooter“. Manche lassen mehr Blutspritzen als „Counterstrike“, viele ver-fügen über modernere Grafiken. Dochkein „Killerspiel“ ist so erfolgreich wieder sieben Jahre alte Klassiker.

Hunderttausende sind in diversenLigen organisiert. 38 Prozent der 11-bis 14-Jährigen haben laut einer Um-frage der Marktforscher von tfactoryschon mal gespielt. „Counterstrike“ istein Massensport auch unter Kindern –ungeachtet der Tatsache, dass auch die

entschärfte Version erst ab 16 Jahrenfreigegeben ist.

Für Peter Schlosser alias Chucky,Student der Wirtschaftsinformatik, istes sogar Leistungssport. „Allein im Juniund Juli hat unser Team 80000 DollarPreisgeld reingeholt“, sagt der 24-Jäh-rige. Er gehört dem Werksteam desComputerversands Alternate an.

Die aktuelle Diskussion kann ernicht verstehen: „Die Politiker suchensich doch nur einen Sündenbock.“ Ihmwäre es am liebsten, wenn man vieleDetails im Spiel ausblenden könnte.„Das lenkt nur ab.“ Vor Jahren habe esdiese Möglichkeit mal gegeben.

Chucky hat dann seinen Computerunter anderem so eingestellt, dass esnicht spritzte, wenn er einen Gegnergetroffen hatte. „Doch solche Mög-lichkeiten wurden leider abgeschafft“,sagt er. „Wegen Wettbewerbsverzer-rung.“ Markus Verbeet

Die Killerspiel-ProfisDas umstrittene „Counterstrike“ ist längst ein Massensport.

„Counterstrike“-Turnier (2005 in Berlin)„Schießen auf Pixel, nicht Menschen“

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forderung der Lehrer oder Eltern zum Ein-satz. Für die ist jedoch kaum zu unter-scheiden, welcher Schüler eine normaleEntwicklungskrise durchmacht – und beiwem Gefahr droht.

Jeder sei froh gewesen, als Bastian imJuni dieses Jahres die Klasse 10c abge-schlossen und die Schule verlassen habe,erinnert sich ein Lehrer. „Wir dachten, jetztsind wir den endlich los.“

Sie haben sich getäuscht. Bastian hatsich selbst durch den Schulabgang nichtvon seiner Idee eines „explosiven Finales“(Schmidbauer) abbringen lassen.

Wut auf die Welt ist nichts Neues unterjungen Männern – und meistens sind es ja Männer. Wut auf Lehrer auch nicht. Viel-leicht hätte Bastian früher einfach „NoFuture“ an die Wand gesprüht. Das Bewusst-sein, einem Kollektiv anzugehören, und seies dem der Punks, der Ökos, Pfadfinder oderJungen Liberalen, hat früher einiges aufge-fangen. Aber die Solidarität hat sich vieler-orts aufgelöst. „Die Desintegrationsgefahrensind sehr viel größer geworden, weil dieMenschen sich nicht mehr so stark in Fami-lien oder in anderen Zusammenhängen ein-gebunden fühlen“, sagt der BielefelderGewaltforscher Wilhelm Heitmeyer.

Frust früh erkennen, vorbeugend tätigwerden – das wird auch in Deutschlandzusehends wichtiger. Jeder siebte Schülerist als Opfer oder Täter in ein Mobbing-problem verwickelt, heißt es in einer Un-tersuchung der Universität München. DerStudie zufolge gibt es in jeder Schulklasseein bis zwei Opfer, also Jugendliche, diesich potentiell wie Ausgestoßene fühlen.

Und die dieses Gefühl nicht selten inden Weiten des Cyberspace zu kompen-sieren suchen. Fatalerweise ist die Evolu-tion der Technik jedoch schneller als dieEvolution des Gehirns. Gerade Kinderbrauchen deshalb die Rückkopplung zurrealen Welt, zu ihren realen Möglichkeiten.Es ist leicht, im Spiel ein erfolgreicher Heldzu sein, weil sich der Schwierigkeitsgrad

anpassen lässt. Der Körper belohnt denSpieler mit Dopamin und Adrenalin: dasschnelle Glück. Das lockt. Aber wer be-lohnt sie im wahren Leben, wer bestimmtdort den Schwierigkeitsgrad?

Im Land der Dichter und Denker lebenschätzungsweise mehr als 20 MillionenDaddler, Tendenz steigend. Sie fahren imSpiel Autos zu Schrott, köpfen Terroristen,kaufen Real Madrid. Über eine MilliardeEuro werden mit den elektronischen Wel-ten umgesetzt. Von immerhin rund 600000Extremspielern gehen die Suchtforscher inDeutschland aus, jene, für die der Bild-schirm das Tor ins Datenuniversum wird.

Zementiert wird das Misstrauen ge-genüber diesen virtuellen Welten durch ei-nen digitalen Graben in der Gesellschaft:„Wir sind erstmals in der Situation, dasseine jüngere Generation eine Kulturtech-nik besser beherrscht als die ältere“, sagtdie Pädagogin Tanja Witting vom KölnerInstitut für Medienforschung: „Die Elternwissen nicht, was ihre Kinder tun.“ Sie ste-hen ratlos vor der Technik und sind abge-stoßen von der Ästhetik, die gerade in denGewaltspielen immer realitätsnäher wird.Das führt zu Verhärtungen: Während Spie-ler und Spieleindustrie gern so tun, als gin-ge es nur um das Gemeinschaftserlebnisam virtuellen Lagerfeuer und die Schulungstrategischer Fähigkeiten, sind für Kritikerinteraktive Spiele die Droge für eine ver-fettete, verkümmerte und gewaltbereiteGeneration.

Von der Wissenschaft erhalten Politikerund Eltern in Deutschland keine eindeuti-ge Aufklärung: Es ist bislang weder bewie-sen noch widerlegt, dass Gewaltspiele auchreale Gewalt provozieren.

Geradezu alarmieren muss, welche De-batten in den Tagen nach dem EmsdettenerDrama in den einschlägigen Internet-Forengeführt wurden. Da wehrten sich nicht nurdie „Counterstrike“-Fans, da wurde Bas-tian gar zum Helden verklärt. PsychologeHoffmann beobachtet seit Mitte der Neun-

ziger Jahre, wie Amokläufer für männlicheJugendliche in Deutschland zu Identifika-tionsfiguren werden: „Man muss sich nurdie Columbine-Attentäter ansehen, dassind düstere Popstars.“

Bastians Vorbilder waren genau dieseAttentäter der Columbine High School inLittleton. Wer wird sich ResistantX zumVorbild nehmen? Vorigen Donnerstag setz-te die Berliner Polizei einen 17-jährigenGymnasiasten fest, der seit August seineMitschüler mit Amokphantasien traktierthat. Auch seine Bühne war das Internet.

Die öffentliche Diskussion wird breitergeführt werden müssen als nur über dieFrage, ob Gewaltvideos oder Gewaltspieleverboten gehören. BundesinnenministerWolfgang Schäuble, kein Befürworter ei-nes Verbots, appelliert an die Eltern, „etwasgenauer zu gucken, was ihre Kindermachen“. Vereinzelung, brutaler Konkur-renzkampf in der Schule und auf dem Ar-beitsmarkt sowie Verunsicherung in einerglobalisierten Welt, sagt der Kölner Me-dienforscher Winfred Kaminski, „förderndie Sehnsucht nach einem überschaubarenRaum, in dem man Erfolg haben kann“.Im Spiel kann man Rollen ausprobieren,ohne Sanktionen fürchten zu müssen.

Im Leben nicht. Konnte ResistantX das auseinanderhalten? Oder wenigstensBastian B.?

„Es ist egal, was du in deinem Lebenmachst, es ist alles vergänglich“, schrieber einmal in sein Tagebuch. Selbst sein An-griff auf die Schule, sein großer Plan, sei„irgendwann ungeschehen“. Und dann, alswollte er das Programm seines Lebens neuinstallieren: „Ich wünschte, ich könnte diebeschissene Zeit zurückdrehen und mitdem Wissen, was ich nun habe, von vornebeginnen.“

Er konnte es nicht mehr. ResistantX hat-te über Bastian B. gesiegt.

Markus Deggerich,Angela Gatterburg, Simone Kaiser,

Guido Kleinhubbert, Sven Röbel

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Columbine-Attentäter Eric Harris, Dylan Klebold (1999 in Littleton), „Airsoft“-Spieler Bastian B. (l.): Düstere Popstars als Identifikationsfiguren

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hat“, sagt sein Mitschüler Parston Graves.„Wir hätten ihn viel früher entdecken müs-sen“, gesteht der ehemalige FBI-BeamteClindt van Zandt.

Zwar verfügt auch die Bundespolizeinicht über ein allgemeingültiges psycholo-gisches Profil solcher Schul-Amokläufer,aber Einzelgänger, einsam und isoliert, gel-ten als besonders anfällig für Gewalttaten.Und einsamer als Jeff Weise konnte kaumjemand sein. Der Vater nahm sich vor vierJahren das Leben, die Mutter erlitt bei ei-nem Unfall schwere Hirnschäden und lebtseither in einem Heim. Jeff Weise fülltedie Leere mit gewalttätigen Videospielen,ähnlich denen, die der Erfurter Amokläu-fer Robert Steinhäuser so liebte.

Seit Littleton beginnt die Suche nach potentiellen Gewalttätern auf Anweisungdes US-Bildungsministeriums in den Klas-senzimmern. Einem Zwölfjährigen ausMassachusetts brachte ein gemaltes Bild,auf dem er seine Lehrerin erschießt, eineAnklage ein. Ein Siebtklässler in Texas be-

Mit drei weiteren Opfern, einem vor derSchule getöteten Wächter sowie seinemGroßvater und dessen Lebensgefährtin, dieer kurz zuvor erschossen hatte, schrieb derJunge ein grausiges Kapitel amerikanischerKriminalgeschichte: Nur beim Schulmas-saker an der Columbine High School inLittleton gab es 1999 mehr Tote.

„Ein schrecklicher Tag für unser Volk“,erklärte das Oberhaupt der Ojibwa-Ge-meinde, Floyd Jourdain. „So etwas hat esunter uns Indianern noch nie gegeben.“Und mit den rund 5000 Stammesmitglie-dern rätselt jetzt die ganze Nation, wie es trotz der nach dem Littleton-Schockeingeführten Sicherheitsmaßnahmen er-neut zu einem solchen Blutbad kommenkonnte. Denn genau wie damals, als zweistadtbekannte Waffennarren plötzlich los-ballerten, wurden auch diesmal alle An-zeichen für die drohende Katastrophe geflissentlich übersehen.

„Ich glaube, er hat uns alle wissen lassenwollen, dass er etwas Schreckliches vor-

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Die Wut einesTodesengels

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmenkonnte wieder ein Schüler ein

Massaker anrichten. Seine Neigungzum Rechtsextremismus

hatte der Täter nie verhehlt.

Die Augen, die schwarz umrandetwaren, die Kampfstiefel, die er täg-lich trug wie den schwarzen

Trenchcoat – vielleicht hat Jeff Weise jagewollt, dass es immer einsamer um ihnwird. In der Schule brachte er Dämonenund Skelette zu Papier, die er mit Haken-kreuzen verzierte. Viel mehr kann mannicht tun, um sich im Red-Lake-Indianer-reservat, hoch im Norden des US-Bundes-staats Minnesota, zum Außenseiter zustilisieren.

Im Internet outete sich Weise zudem alsAnhänger nationalsozialistischer Rassen-lehren – nur Ehen zwischen Ojibwa-India-nern könnten die „ethnische Reinheit“ seines Stammes garantieren. Allein einestramm rechte Ideologie, verkündete daspummelige Indianer-Kid in Chat-Räumen,könne die von Armut und Arbeitslosigkeitgeplagten Brüder und Schwestern retten:„Ich habe Hitler und seine Ideale stets be-wundert, unter einer nationalsozialisti-schen Regierung würde es uns viel bessergehen.“

Mit seinen 16 Jahren sah er noch auswie ein Kind. Seinen Mitschülern an derörtlichen High School, bekannt für gutenBasketball und mittelmäßige Leistungen,war er ein bisschen unheimlich. So wie ersich anzog, so wie er auftrat, zog er vielSpott auf sich. Seine Mitschüler hänseltenihn, er schien harmlos.

Wie sehr sie sich in Jeff geirrt hatten, er-fuhren sie vergangenen Montag gegen dreiUhr nachmittags. Da stürmte er, schwerbewaffnet mit zwei Pistolen und einergroßkalibrigen Schrotflinte, einen Klas-senraum und schoss um sich. „Bitte nicht,hör auf, Jeff“, flehte ein Mädchen um seinLeben, und er verschonte es.

Einen Mitschüler lächelte er an undwinkte freundlich, während er den nächs-ten kaltblütig hinrichtete: „Glaubst du an Gott?“, fragte er, dann drückte er ab.Manchen schoss er während seines zehn-minütigen Amoklaufs direkt ins Gesicht.„Mama, ich habe Angst“, schrie die Mit-schülerin Ashley Morrison in ihr Mobil-telefon.

Eine Lehrerin und fünf Schüler starben,mindestens ein halbes Dutzend wur-den verletzt. Als die Polizei das Gebäudestürmte, schoss Weise sich in den Kopf.

Trauerandacht in Minnesota: „Ein schrecklicher Tag für unser Volk“

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Rettungswagen vor der Red-Lake-Schule, Amokläufer Weise: „Bitte nicht, hör auf, Jeff“

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kam Jugendarrest für seinen Halloween-Aufsatz über ein Schulmassaker. Selbst vorKinderspielen macht solche Null-Toleranz-Politik nicht Halt: Ein Schüler aus Okla-homa wurde in ein Erziehungsprogrammüberstellt, weil er seinen Finger als ima-ginären Pistolenlauf nutzte und abdrückte.

Mitschüler sollen verdächtige Klassen-kameraden melden. Dass auf diese Weiseim März 2003 im Kofferraum eines halb-wüchsigen Sonderlings aus Nebraska 20selbstgebastelte Bomben und ein geladenesGewehr sichergestellt wurden, galt denBehörden bisher als Beleg für den Erfolgder einschlägigen Vorschriften.

Warum aber ausgerechnet der auffälli-ge Jeff Weise durchrutschte, haben diezuständigen Schulbehörden bisher nichterklären können. Die örtliche Zeitungbrauchte nach der Tat nur ein paar Stun-den, um weitere bizarre Details seinerBiografie zu entdecken. „Todesengel“ soller sich in rechtsradikalen Internet-Forengenannt haben, wo er in düsteren Bot-schaften voller Rechtschreibfehler nachGleichgesinnten suchte: „Ich mag jungsein, aber ich möchte helfen.“ Sein Chat-room-Pseudonym lautete „Klinge 11“, under gab jedem seinen Hass auf die Schulebekannt und auf die Lehrer, die dort un-terrichteten.

Eine der bereits untersuchten Internet-Botschaften legt nahe, dass die Behördenvon seiner rechten Gesinnung wussten undihn deshalb zeitweise als potentiellenAmokläufer einstuften: Im Frühjahr vori-gen Jahres soll er wegen eines für den 20. April, Hitlers Geburtstag, geplantenÜberfalls auf die Schule vernommen wor-den sein. Das FBI, das trotz der Autonomiedes Indianerreservats dort Kapitalverbre-chen untersuchen darf, prüft derzeit, obWeise womöglich glimpflich davonkam,weil er über beste familiäre Beziehungenverfügte. Sein Großvater, den er gleich zuBeginn seines Amoklaufs hinrichtete, warseit über 30 Jahren ein angesehenes Mit-glied der Reservatspolizei.

Mit Opas Ausrüstung zog Jeff Weisedann zur Schule: Patronengurt und schuss-sichere Weste streifte er über, den vor derTür parkenden Streifenwagen nahm ergleich mit.

Am Tatort angekommen, bewies er denAmerikanern die Wirkungslosigkeit derseit Littleton im ganzen Land üblichen Si-cherheitsvorkehrungen. Viele US-Schulengleichen inzwischen Festungen mit Über-wachungskameras, verrammelten Türenund bewaffneten Wachposten. Wie aufFlughäfen müssen Schüler Metalldetekto-ren passieren oder sich von Sprengstoff-hunden beschnüffeln lassen.

Auch Jeff Weises High School hatte auf-gerüstet, aber den „Todesengel“ hat dasnicht aufhalten können. Den Detektor amEingang passierte er in voller Ausrüstung,den danebenstehenden Wachmann er-schoss er auf der Stelle. Georg Mascolo

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Ausland

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Der letzte Rebell Amerikas hat seinBodybuilding mit großer Disziplinbetrieben. Dazu gehörten: Fernse-

hen, selten unter acht Stunden, jeden Tag;Kartoffelchips, tütenweise; und große Do-sen gefüllt mit Bier und Cola. Wenn sich derletzte Aufständische aus dem Sessel erhobund einen Ausflug unternahm, dann immerim Auto und meist zu McDonald’s, wo erdie billigsten Hamburger, das Stück zu 39Cent, verdrückte. So auszusehen wie er,das war ein hartes Stück Arbeit, ganz klar.

Schon deshalb sagt dieser Bursche, derwie ein gestrandeter Wal auf den Sofakis-sen des vornehmen Hotels Dorchester inLondon liegt, von sich, er sei ein „großer,fetter Blödmann“. Dazu grinst er und be-stellt noch mehr Cola.

Es landen zwei Flaschen auf dem Tisch.Eine Coca-Cola und eine Diet-Coke. Mi-chael Moore schüttet die Diät-Cola in einGlas, trinkt und schüttelt sich. „Puh“, sagter, „man schmeckt es, dieses Zeug namensAspartam. Womöglich kriegt man Krebs

Er ist nicht aufzuhalten – und er ist ge-fährlich.

Denn Moores Aufklärungsarbeit ödetdas Publikum nicht mit armseliger Ge-werkschaftsrhetorik an. Wie ein Fleisch ge-wordenes Erdbeben bringt der Mann dieWelt der Mächtigen zum Wackeln, weil ersie lächerlich macht. Wie sein Vorbild MarkTwain ist Moore der Meinung, dass es we-nig gibt, was einem Anschlag aus Geläch-ter standhalten kann. „Daran glaube ichfest“, sagt Moore. „Und gerade dies hatdie Linke vergessen.“

Den etablierten Medien in den USA ist,was Moore angeht, das Lachen längst ver-gangen.

Dabei sah es lange nicht gut für ihn aus.Seine preisgekrönte Fernsehserie namens„The Awful Truth“ wurde abgesetzt, weildie Werbekunden meuterten. Sein Buch„Stupid White Men“ sollte eingestampftwerden, weil der Verlag nach dem 11. Sep-tember sich mit so etwas Amerikakriti-schem nicht in die Buchhandlungen traute.

oder auch Multiple Sklerose davon. Wenndu die Wahl hast, trink die alte Coca-Cola.Davon kriegst du wenigstens nur eineHerzattacke.“

Einer wie er dürfte im properen Ameri-ka des George W. Bush keinen Erfolg ha-ben. Der Skandal, den er verkörpert, be-steht nicht darin, dass er den Mess-Zeigerseiner Waage locker über die 100-Kilo-Marke treibt. Nein, wirklich abstoßend undwiderwärtig findet das weiße, wohlhaben-de Amerika an diesem Monstrum mit Na-men Michael Moore etwas ganz anderes:Es ist die Tatsache, dass Moore die Wahr-heit sagt über die hässlichen Dinge, die imBush-Amerika totgeschwiegen werden.

Besonders unangenehm für die herr-schende Klasse ist, dass dieser Super-schwergewichts-Aufklärer sich nicht auf einMedium festlegt. Sein unrasiertes Haupt,das meist von einer billigen Baseballkap-pe aus hundertprozentigem Kunststoffgeschmückt wird, taucht im Kino, aufBuchumschlägen und in Theatern auf.

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Kultur

I N T E L L E K T U E L L E

Donald Duck im KlassenkampfDen Präsidenten George W. Bush beschimpft er als kriegerischen Narren, die mächtige

US-Waffenlobby ist sein Lieblingsfeind: Michael Moore ist Amerikas lautester Oppositioneller. Nun kommtsein Dokumentarfilm „Bowling for Columbine“ in die deutschen Kinos. Von Thomas Hüetlin

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Videobilder von den jugendlichen Tätern beim Schulmassaker in Littleton, Moore-Filmplakat: Schuld waren nicht TV und Videospiele allein

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Sein Film „Bowling for Columbine“ musstevon Kanadiern finanziert werden, weil sichim Land der Tapferen und der Freien, imLand der weltbeherrschenden Kinoindu-strie, niemand fand, der in Moores Projektinvestieren wollte. Wer sich mit dem Sys-tem anlegt, den lässt das System verhun-gern. Friss Dreck, Commie!

Aber das gilt nicht für Michael Moore,einen Mann, dem die Zurückweisungdurch die Mächtigen das Gefühl gibt, ge-rade richtig zu liegen; einen Kämpfer, dersich samt seinen Colas und Kilos am liebs-ten in jene Schlachten wirft, die besondersausweglos erscheinen.

Jetzt, am Ende des Jahres 2002, hat er allen Grund zu triumphieren: NachdemMoores Fans monatelang im Internet sei-nem amerikanischen Verlag Ärger berei-tet hatten, fand „Stupid White Men“ imFrühjahr mit beträchtlicher Verspätungdoch noch den Weg in die Läden – undwurde mit über einer halben Million ver-kauften Exemplaren in den USA das

sich im flaggenschwingenden amerikani-schen Prime-Time-TV gut ausnehmen wür-de. Für Moore sind die USA ein giganti-sches Kasperltheater, welches leider in derWirklichkeit spielt – mit echten Armen (33 Millionen), echten Analphabeten (46Millionen), echten Ermordeten (11 000kommen im Durchschnitt jährlich alleindurch Schusswaffen zu Tode).

Bessere Zeiten sind nicht in Sicht, denndummerweise ist, so Moore, der Staats-feind Nummer eins gleichzeitig Präsidentund Herr über die Atombombe: GeorgeW. Bush, der mit seinen Junta-Freundendas Land in Geiselhaft halte. „Wir sindnicht besser als irgendeine gottverlasseneBananenrepublik“, schreibt Moore in „Stu-pid White Men“, das gerade in deutscherÜbersetzung erschienen ist*, „wir fragenuns, warum wir morgens aufstehen, unsden Arsch abarbeiten und Güter undDienstleistungen produzieren, die nur dazudienen, die Junta und ihre Truppen in Cor-porate America noch reicher zu machen.“

Der Satiriker Moore gibt sich nicht mitPolemik und schnellen Lachern zufrieden.Er macht sich zum Beispiel noch einmal dieArbeit, jene höchst dubiosen Wahlmanöverin Florida aufzurollen, welchen Bush imHerbst 2000 seinen Sieg verdankte.

Für Moore war die Sache eher eine Artmoderner Staatsstreich, bei dem die gro-ßen US-Medien alle Augen zudrückten.Bush und seine Kumpane seien, so glaubter, systematisch vorgegangen. Zuerst habeim Jahr 1999 die Bush-Vertraute und In-nenministerin von Florida, Katherine Har-ris, vier Millionen Dollar bei einer Firmanamens Database Technologies eingezahlt,damit diese das Wahlregister durchgingenund jeden strich, der eines Verbrechens„verdächtigt“ wurde. Ergebnis: 31 Prozentaller männlichen Schwarzen Floridas seienaussortiert worden.

Das war praktisch, denn die große Mehr-heit der Schwarzen wählt traditionell de-mokratisch. Teil zwei der Kampagne war,als es trotzdem knapp wurde am Wahltag,Soldaten auf den Schlachtschiffen und imAusland zu alarmieren, damit sie noch ihreBriefwahlstimme abgäben. Der Hinter-grund: Die meisten Soldaten wählen tradi-tionell republikanisch.

Viele der Wahlbriefe sollen erst nach demWahltag abgeschickt worden sein. Mitge-zählt wurden sie trotzdem. Als auch diesnoch nicht half, sprach der zum Teil vonBush Senior eingesetzte Supreme Court imDezember 2000 das Machtwort. Die Nach-zählungen in Florida seien verfassungswid-rig. Moore zitiert den Obersten Richter An-tonin Scalia: „Die Auszählung der Stimmen,deren Rechtmäßigkeit fraglich ist, drohtmeiner Ansicht nach dem Kläger (Bush)und dem Land irreparablen Schaden zuzu-

* Michael Moore: „Stupid White Men“. Aus dem Ameri-kanischen von Michael Bayer u.a.; Piper Verlag, Mün-chen; 336 Seiten; 12 Euro.

wohl erfolgreichste Sach-buch des Jahres. Seit Mo-naten steht es in derBestsellerliste der „NewYork Times“ weit vorn –bloß eine jener zahl-reichen Zeitungen, die esfür unanständig hielten,Moores Buch auch nur zu besprechen.

Moores Rachefeldzug wird komplettiertdurch seinen Film „Bowling for Colum-bine“, der bei den Filmfestspielen in Cannes(als erster Dokumentarfilm seit 46 Jahren)im Wettbewerb laufen durfte, dort promptden Spezialpreis abräumte und vor kurzemin den USA angelaufen ist. Das Ergebnislehrt Moore-Feinde abermals das Fürchten:Vor allem dank Mundpropaganda spielteder mit wenigen Kopien gestartete Film invier Wochen 4,5 Millionen Dollar ein – füreine Dokumentation ein Rekord.

Was also geschieht mit diesem zweifelloserfolgreichsten amerikanischen Multime-diastar des Jahres 2002 in den USA? Be-kommt er Titelseiten in „Newsweek“,Glanzporträts im Fernsehen, ein Holly-wood-Bankett, wo das Symphonieorches-ter ihm zu Ehren „Also sprach Zarathu-stra“ geigt? „Nichts von alldem“, sagtMoore. „Ich war gerade mal in zwei Talk-shows eingeladen.“

Die Ansichten des Pop-KlassenkämpfersMoore sind einfach nicht der Stoff, der

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Filmemacher Moorein „Bowling for Columbine“Stets zum Showdown bereit

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US-Politiker Dick Cheney, Bush, Dennis Hastert: Die „Junta“ ist Ziel brachialer Attacken

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Beim näheren Hinsehen liegt Littleton,jener riesige Spielplatz, auf dem sich dieSchul-Killer am Morgen vor ihrer Tat nochbeim Bowling amüsierten (daher der Film-titel), in einem Zentrum der amerikani-schen Rüstungsindustrie. In diversen Wer-ken stellt etwa die Firma Lockheed Mar-tin Elektronik für Militärjets her, eineriesige Plutoniumfabrik ist zwar stillge-legt, aber strahlt munter vor sich hin.Moore zeigt auch ein Denkmal in Formeiner B-52, die jene denkwürdigen Bom-

bardements in der Weihnachtszeit desJahres 1972 feiert, die als schwerste An-griffe der Amerikaner in Vietnam gelten.Der örtliche Supermarkt verkauft seit demAttentat zwar keine Handfeuerwaffenmehr, aber dafür, als wäre es Limonade,die von den Teenagern benutzte 9-mm-Munition.

Moore wäre nicht Moore, wenn er sichbloß mit der Schilderung bizarrer Orte undUmstände zufrieden geben würde. Er ver-höhnt die stereotypen Schuldzuweisungender Meinungsmacher (Videospiele, Fern-sehen, Kino, der Rocker Marilyn Manson)und wird selbst aktiv: Michael Moore suchtden Showdown.

Mit T-Shirt und Baseballkappe spazierter in die Firmenzentrale des Supermarkts,fragt, wer amerikaweit für den Verkauf vonMunition zuständig sei, und erwirkt nachein paar Tagen, dass die Munition aus demAngebot genommen wird.

Einen ähnlichen Robin-Hood-Auftrittabsolviert Moore, allerdings weniger er-folgreich, bei Charlton Heston, dem Prä-sidenten der National Rifle Association –jenem Verein, zu dessen Glaubensgrund-sätzen es anscheinend zählt, dass einLebewesen erst mit einer Schusswaffe zumMenschen wird, und dessen Lobbyismusseit Jahrzehnten schärfere Schusswaffen-gesetze verhindert.

Der typisch amerikanische Glaube andie Veränderbarkeit der Welt durch eigene

* John Travolta und Lisa Kudrow in Nora Ephrons Film„Lucky Numbers“ (2000).

fügen, weil sie einen Schatten auf die Recht-mäßigkeit seiner Wahl wirft.“

Es folgte der 11. September 2001, er fes-tigte den Status eines Präsidenten, der bisdahin um seine Legitimierung und den Re-spekt seiner Landsleute gerungen hatte.„Wie viele Staaten sind jetzt ein Problem ge-worden?“, fragte Bush nach den Anschlägenden CIA-Direktor George Tenet. „So an die60“, antwortete Tenet. „Dann werden wiruns die vornehmen“, sagte Bush. „Einennach dem anderen.“ Seitdem befindet sichAmerika in einem zeit-lich nicht begrenzbarenKrieg, außenpolitischund innenpolitisch.

Kritik wird in dieserSituation nicht gedul-det. Die nächste At-tacke kommt vielleichtschon morgen, da un-terstützt Kritik alleinden Feind.

Während die Queru-lanten in der Medien-öffentlichkeit des Lan-des geknebelt werden,schickt sich die Regie-rung Bush in MooresAugen an, die Unter-und Mittelschichten zuGunsten der Oberklas-se auszuplündern. Moore berichtet zum Bei-spiel von Flugkapitänen der Linie AmericanEagle, die 16800 Dollar im Jahr verdienten,und weil sie mit dem Geld nicht auskämen,Sozialhilfe beantragt hätten, was ihnen vonder Fluglinie untersagt worden sei.

„Ich weiß nicht, wie Sie das sehen“,schreibt Moore, „aber ich möchte, dass dieLeute, die mit mir abheben und der mäch-tigsten Naturkraft – der Schwerkraft – trot-zen, glückliche, zufriedene, zuversichtli-che und gut bezahlte Menschen sind …Wenn ich 10000 Meter über dem Erdbodenbin, will ich nicht, dass die Piloten oderFlugbegleiterinnen darüber nachsinnen,wie sie Strom und Wasser wieder ange-stellt kriegen, wenn sie abends nach Hau-se kommen, oder wen sie ausrauben müs-sen, um ihre Miete bezahlen zu können.Und was ist die Lehre für die Allgemein-heit? Seid nett zu Sozialhilfeempfängern,sie fliegen euch vielleicht nach Buffalo.“

Moores Kampftechnik ist brachial, ersucht immer den offenen Fight. Auch seinFilm „Bowling for Columbine“ ist eine ArtKettensägenmassaker gegen die verlogen-heile Welt Vorstadt-Amerikas. In einerMontage aus Nachrichtenschnipseln, Car-toons und Interviews begibt sich Moore, alsdrehe er ein Roadmovie, auf die Reise insHerz des amerikanischen Waffenwahns –nach Littleton, jenen angeblich so heiterenVorort von Denver im US-Bundesstaat Co-lorado, wo die Schüler Dylan Klebold undEric Harris im Jahr 1999 in der ColumbineHigh School zwölf Mitschüler, einen Leh-rer und sich selbst töteten.

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Kultur

Schauspieler Moore (r.), Kollegen*: Komischer Querulant

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Ergebnis in diesem Genre jemals. Feuille-tonisten verglichen Moore auf einmal mitdem russischen Filmrevolutionär SergejEisenstein, was ein Irrtum war, denn die so-zialkritische Strenge und das zeigefinger-schwingende Pathos dimmte Moore her-unter zu Gunsten einer Art revolutionärerKomik: Sheriff Donald Duck auf der Suchenach Gerechtigkeit.

„Roger and Me“ machte seinen Regis-seur, der 260000 Dollar investiert hatte, nacheigenen Worten „reicher als alles, was ichmir je erträumt hatte“, und eigentlich wardas Drehbuch für ein solches Schicksal inAmerika schon geschrieben: Hollywood,eine Frau aus Silikon, ein Personal Trainer,drei Jahre am Swimmingpool an einemFilmprojekt vom Schlag „Die nackte Kano-ne, Teil 17“ herumdoktern, an der Kasseuntergehen, den alten Zeiten nachjammern.

Moore ist den kalifornischen Sirenen-rufen nicht erlegen, was vor allem daranliegt, dass er die Wirklichkeit spannenderfindet als alles, was sich Drehbuchschreiberan ihren Computern ausdenken können.

Hinzu kommt, dass es im Leben desMichael Moore wenig gibt, was ihm mehrFreude bereitet, als mit Baseballkappe undeiner Kamera schwitzend im Foyer einesgroßen Konzerns aufzutauchen, nach demChef zu verlangen, zu sehen, wie leise Pa-nik ausbricht in den Hallen der vermeint-lich Unantastbaren – und dann manchmaltatsächlich für ein wenig mehr Gerechtig-keit in der Welt zu sorgen. ™

Aktionen hat sich schon früh in das Lebenvon Michael Moore gedrängt.

Eigentlich, so sagt er, habe er nur fern-sehen und Chips essen und seine Ruhehaben wollen, aber schon als Teenager ge-wann er fast wider Willen einen lokalenRedewettbewerb.

Kaum 18 geworden, erfuhr er, dass dasWahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt wor-den sei. Er rief bei der Stadtverwaltung an,fragte, ob man auch kandidieren könne.„Wenn Sie 20 Unterschriften beibringen“,lautete die Antwort. Moore lieferte sie,wurde prompt als Jüngster in die Schul-behörde gewählt und feuerte, so sagt er, einpaar Monate später seine ärgsten Peiniger– den Direktor und seinen Vize.

Als notorischer Nörgler nistete Mooresich zunächst bequem ein in Alternativ-zeitungen und Radiosendungen, bis er alsKarrierehöhepunkt die Chefredaktion ei-ner Stadtzeitung in San Francisco angebo-ten bekam – und prompt wenig später raus-flog. Er ging zurück in seine Heimat nachFlint (Michigan), setzte sich wieder vor denFernseher und wurde depressiv.

Wenn er die Straßen von Flint entlang-fuhr, besserte sich seine Laune keineswegs.Der Ort, früher mal ein stolzer Standort deramerikanischen Autoindustrie, verwandel-te sich langsam in eine Geisterstadt: leereFabrikhallen, Schlangen vor den Suppen-küchen und eine Frau, die mitten in Flint einSchild anbrachte: „Kaninchen zu verkau-fen: als süße Kuscheltiere oder als Fleisch“.

Moore sah das als Metapher für die Lageseiner Familie, seiner Freunde. Früher wa-ren sie die irisch-katholischen Haustierevon General Motors, jetzt wurde ihnen dasFell über die Ohren gezogen.

Moore ahnte, dass das zornige Gekritzelin Alternativzeitungen nicht viel an diesemZustand ändern würde. Es musste ein Me-dium her, das lauter und mächtiger war, ei-nes, das die Bosse nicht mit einer Hand inden Papierkorb knüllen könnten: der Film.

Das Dumme war nur: Moore hatte nochnie eine Kamera in der Hand gehalten, ge-schweige denn auf einem Kinoset gestan-den, und ein Thema wie „Arbeitslosigkeitin einer Autostadt in Michigan“ verführteProduzenten nicht unbedingt dazu, ihreGeldschranktüren begeistert aufzureißen.

Aber weil Moore ein uramerikanischer„Man of Action“ ist, störten ihn diese Hin-dernisse nicht. Er verkaufte sein Haus für27000 Dollar, plünderte seine Abfindungaus San Francisco, lud die Bürger von Flinteinmal die Woche zum Bingospiel und be-suchte einen Crash-Kurs für Filmtechnik.

Bald darauf konnte man den dickenMann mit einem Filmteam die Konzern-zentralen von General Motors stürmen se-hen, immer auf den Fersen des ChairmanRoger Smith. Dazwischen Interviews mitFamilien, die aus ihren Heimen geworfenwurden.

Die Dokumentation „Roger and Me“spielte 25 Millionen Dollar ein – das beste

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Kultur

Szenen aus „Bowling for Columbine“Bizarre Spurensuche im Waffenparadies

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An diesem Tag endete meine Kind-heit“, erinnert sich Renate H. „Da-bei war ich erst zehn.“ Während sie

spricht, versucht die 48-jährige Fraukrampfhaft, mit der rechten Hand ihrenlinken Unterarm zu verdecken. „Ich fühlemich hässlich“, sagt sie, streicht sich überdas Gesicht. „Seit diesem Tag.“

Dieser Tag liegt 38 Jahre zurück. Am 11. Juni 1964, die Sonne scheint, es ist heiß,dringt der Frührentner Walter Seifert aufdas Gelände der katholischen Volksschulein Köln-Volkhoven vor. In einer Hand trägter eine mit brennbaren Chemikalien ge-füllte Unkrautspritze, die er zum Flam-menwerfer umgebaut hat, in der andereneine Lanze mit aufmontiertem Dreikant-schaber.

Den 42-jährigen Mann, einen verschlos-senen Einzelgänger, treibt jahrelang auf-gestauter Hass. Hass auf Verwaltungsbe-amte, die seine Tuberkulose-Erkrankung

Lehrerinnen. Auch der Attentäter stirbt,er schluckt unmittelbar nach seiner Tat dasInsektengift E 605.

Die Reaktionen sind ähnlich wie jetztnach Erfurt. Zeitungen drucken Sonder-ausgaben, Boulevardblätter produzierenSchlagzeilen über den „Flammenteufel“,das Fernsehen, damals noch schwarz-weiß, ändert sein Programm. Und Mil-lionen Deutsche rätseln über Ursa-chen und Hintergründe des Unbegreif-lichen.

„Volkhoven war noch schlimmer alsErfurt“, glaubt der Fahrlehrer AndreasZappe, 48. Noch wahlloser, noch grau-samer, noch verheerender für dieÜberlebenden. Zappe gehörte damalszu den Brandopfern. Dass er überleb-te, verdankt er seiner robusten kör-perlichen Konstitution. Dass er nichtam Druck der Erinnerungen zerbrach,seinen Verdrängungskünsten.

Viele der anderen 20 Schwer-verletzten hatten weniger Glück. Ohne psychologische Betreuung, dieheute selbstverständlich wäre, beginntfür sie nach der Katastrophe eine Existenz voller Schmerzen, Ängste,Entbehrungen. Die meisten haben das Trauma vom 11. Juni nie über-wunden.

„Ich habe mich immer wegen mei-ner Narben geschämt“, gesteht Rena-te H. Und sie quält sich bis heute mitder Vorstellung, sie sei selbst an ihremUnglück schuld.

Die Zehnjährige entkommt zu-nächst unversehrt aus ihrem brennen-den Klassenraum. Dann fällt ihr dieneue, vom Vater geschenkte Lederta-sche ein, die sie noch unbedingt rettenwill. Auf dem Rückweg gerät sie untereine brennende Gardine, steht sofortin Flammen.

Im Krankenhaus erkennen die El-tern ihre Tochter nicht. „Ich sah auswie ein Monster“, erinnert sich Rena-

te H. Schwarz das Gesicht, der linke Armderart verbrannt, dass er beinahe amputiertwerden muss.

Die 15 Monate in der Klinik empfindetdie Schülerin als Tortur: die neun schwerenOperationen, darunter mehrere Haut-transplantationen von den Oberschenkelnins Gesicht. Die Schmerzen, die sie nochheute „höllisch“ nennt, besonders bei dentäglichen Verbandswechseln. Dazu die Er-kenntnis: „Du bist nicht mehr heil. Du bisthässlich. Du bist entstellt.“

Kaum zu Hause, beschließt die inzwi-schen Zwölfjährige, sich künftig zu tarnen.Niemand soll sehen, wie schwer verletzt sieist, wie klein, hilflos und ohnmächtig siesich deshalb fühlt.

Renate H. lernt, sich perfekt zu schmin-ken, ihre Gesichtsnarben unter dickenSchichten Creme und Puder zu verbergen.Sie trägt nur noch langarmige Blusen oderPullover, zieht, um die verbrannten Hän-

nicht als Kriegsleiden anerkennen, seinekleine Rente nicht erhöhen. Hass auf Ärz-te, die nicht verhindert haben, dass seineEhefrau nebst Baby 1961 im Kindbett starb.Hass auf die ganze Welt.

Hass, den er in seiner alten Schule aus-tobt. Den ersten Feuerstoß richtet er aufdie 66-jährige Lehrerin Anna Langohr, dieihm einst Lesen und Schreiben beibrachte,die gerade mit einer Mädchengruppe imSchulhof turnt, sich ihm entgegenstellt.Dann zielt er auf die Kinder.

Innerhalb weniger Minuten zerstört derTobende das Leben und die Zukunft vonvielen. Mit dem sengend heißen, sechs Me-ter langen Strahl des Flammenwerfersschießt er durch offene Fenster in die eben-erdig gelegenen Klassenräume, zündet Men-schen, Möbel, Vorhänge an. „Rache“, ruft erdabei, und „ich bin Hitler der Zweite“.

Die Bilanz des bis dato einmaligenAmoklaufs: Acht tote Kinder, zwei tote

50

Deutschland

V E R B R E C H E N

„Du bist nicht mehr heil“Mit einem Flammenwerfer raste ein Amokläufer

im Juni 1964 durch die Volksschule von Köln-Volkhoven. Noch heute, 38 Jahre später, lassen die Überlebenden

die dramatischen Erinnerungen nicht los. Von Bruno Schrep

Klassenraum nach dem Amoklauf Renate H.

Helene Rauch

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Zerstörte Schule in Köln-Volkhoven 1964, Überlebende: „Ich sah aus wie ein Monster“

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de zu verbergen, auch im Sommer Hand-schuhe an.

Bevor sie die Wohnung verlässt, prüftsie jedes Detail: Fallen die Haare richtigüber die verletzte Gesichtshälfte? Decktdie Creme? Kann man auch das Handge-lenk nicht sehen?

Obwohl viele Narben inzwischen gutverheilt sind, versteckt Renate H. ihr Ge-sicht bis heute hinter Make-up. Ihr wahresGesicht soll niemand sehen.

Die seelischen Narben sind nicht soleicht zu überdecken. In wiederkehrendenTräumen läuft Renate H. atemlos einemunbekannten Verfolger davon, sieht Flam-men, hört Kinder schreien. GeschlosseneRäume, etwa Kinos, Busse, Konzertsäle,meidet sie. Schon beim Gedanken an Feu-er beginnt sie zu frieren, fängt an zu zittern,immer noch.

Dazu die Selbstzweifel, die Fragen, dieihr keiner je beantworten kann. Ist der Va-ter aus Kummer über ihre Verletzungen sofrüh gestorben? Hat sie aus Unsicherheitdie falschen Männer gewählt, sind deshalbbeide Ehen zerbrochen? Blieb ihr Kinder-wunsch wegen des Schocks von Volkhovenunerfüllt?

Realisiert hat sie immerhin ihren schonfrüh verspürten Wunsch, Kinder zu betreu-en, Kinder zu beschützen: Sie arbeitet alsErzieherin in einer Kindertagesstätte. Undoft, wenn sie mit den Kindern allein war, hat

beitet sie immer noch als Grundschullehre-rin. Das Schulgelände in Volkhoven hat dieheute 60-Jährige jedoch nie wieder betreten.

Ihr Leben ist seit diesem 11. Juni 1964von Angst bestimmt. Als junge Frau fürch-tet sie, ihr Freund, der sie als attraktivesMädchen kennen gelernt hat, könnte ihreBrandnarben abstoßend finden, sie verlas-sen. Doch obwohl der Freund fest zu ihrhält, sie heiratet, aus der Ehe zwei Kinderhervorgehen, bleibt die Angst.

Wiltrud Schweden gibt sich den Befehl,ihre Gefühle zu unterdrücken: „Man musssich zwingen, die Angst nicht zu zeigen.“

sie sich gefragt: „Was würde ich tun, wennplötzlich einer wie Walter Seifert käme?“

„Am schlimmsten war diese absolute Ohn-macht“, erinnert sich die Lehrerin WiltrudSchweden. Sie gab damals gerade Religions-unterricht, musste hilflos mit ansehen, wieder Attentäter die Klasse in Brand setzte.

Obwohl ihr Kleid Feuer gefangen hat,schleppt sie brennende Kinder zur Toilet-te, versucht, die Flammen im Waschbeckenzu löschen. Dafür bekommt sie später eineRettungsmedaille.

23 Jahre alt sie ist damals, der Job in Volk-hoven ist ihre erste Stelle. 38 Jahre später ar-

Trauerfeier für Kölner Opfer 1964: Schlimmer als Erfurt?

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Sie kommt mit zum Feuerwerk, auchwenn der Anblick zischender Raketen siean den Strahl aus Seiferts Flammenwerfererinnert. Sie feiert mit bei der Fondue-Par-ty, auch wenn sie angesichts des offenenFeuers an die brennenden Schüler denkt,am liebsten weglaufen möchte.

Sie redet nie über den Amoklauf. Wederin den verschiedenen Schulen, in denensie im Laufe der Jahre unterrichtet, noch zuHause. Wenn sie im Schwimmbad nach derUrsache ihrer Verletzungen gefragt wird,gibt sie keine Antwort.

Helene Rauch, die während des Über-falls in Lehrerin Schwedens Klasse saß, rea-giert genau umgekehrt. Wenn jemand sieanstarrt, auf dem Campingplatz, im Su-permarkt, geht sie in die Offensive: „Wat is,willste e Passbild han?“

Angriff ist für sie die beste Verteidigung.Sagen, was Sache ist. Jawoll, ich war da-mals dabei. Na und?

Viel anderes bleibt der heute 50-Jährigenauch nicht übrig. Ihre Beschädigungen sinderschreckend: Die Narben im Gesicht undan den Beinen, die versteiften, zur Faustgekrümmten Hände.

Das zwölfjährige Mädchen mit den dunk-len Haaren, eines der hübschesten der Klasse, springt damals auf der Flucht demAttentäter direkt vor die Füße. Und der rich-tet seinen Feuerstrahl auf sie: einmal, zwei-mal, dreimal, vom Gesicht bis zu den Füßen.

sucht, bei ihrem Anblickweinend hinter ihrer Mut-ter verkriecht.

Die tägliche Konfron-tation mit den Folgen desAmoklaufs macht siestark. Sie heiratet mit 18,bekommt drei Söhne, diesie nach dem Scheiternder Ehe später allein er-zieht.

Inzwischen ist sie zumzweitenmal verheiratet,bereits Oma. Und bereut,wegen ihrer schwerenVerletzungen – sie ist zu100 Prozent erwerbsun-fähig – keinen Beruf ge-lernt zu haben. Dennnichts empfindet sieschlimmer als zu grübeln,

nachzudenken, zu viel nachzudenken. Vorallem über diesen verfluchten 11. Juni.

Ängste, Erinnerungen, böse Träume?Nichts von alledem plage sie, behauptetHelene Rauch, aber auch gar nichts: „Ichdenke nicht daran, ich träume nicht da-von, ich habe vor nichts Angst.“

Seit ein paar Jahren wird sie jedoch voneinem Psychologen behandelt, wegen einerpsychosomatischen Erkrankung. Und anden Zimmerdecken ihrer Wohnung hat sieRauchmelder installieren lassen. ™

Das Kind spürt zu-nächst keinen Schmerz,glaubt an einen Traum,aus dem es gleich erwa-chen muss. Ruft dreimalnach der Mutter. Dochder Alptraum ist Wirk-lichkeit: 86 Prozent ihrerHaut sind verbrannt. Kei-ner, der überlebt, istschwerer verletzt als dieZwölfjährige.

Im Krankenhaus, wosie monatelang unterMorphium gesetzt wird,verstecken die Schwes-tern sämtliche Spiegel.Als sich die Patientinheimlich zur Toilette ineinem anderen Stock-werk schleicht, sich erst-mals seit dem Unglückstag sieht, trifft sieeine Entscheidung.

„Es gab nur zwei Möglichkeiten“, erin-nert sie sich: „Entweder ich hänge michauf, oder ich steh das durch.“

Helene Rauch versteckt sich nie und nir-gends. Sie geht schwimmen, besucht Dis-cos, mischt sich bei Konzerten unterGleichaltrige. Hält die fassungslosen Blickeaus, das Erschrecken in fremden Gesich-tern. Hält aus, dass sich eine frühere Freun-din, die sie erstmals nach dem Attentat be-

Deutschland

Amokläufer SeifertHass auf die ganze Welt

Page 19: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

Der Tag der Rache begann um halbacht. Die Mutter ging durch denFlur nach rechts hinten, ins Kin-

derzimmer ihres Sohnes, und weckte ihn,denn sie wusste, „dass es dauert, bis Robertdas zweite Bein aus dem Bett hat“. „Lasstmich bis neun schlafen, ich muss heute spä-ter los“, sagte Robert. Um neun Uhrschlurfte er endlich ins Bad, und nach demDuschen ließ er wie immer seine Zahn-bürste und das Handtuch herumliegen. DieMutter stand in ihrer Küche und kochteKaffee und schmierte Knackwurst- und Sa-lami-Brötchen.

Die Englisch-Prüfung sei heute dran,sagte Robert, als er in die Küche kam; daswaren sehr viele Worte für einen wie ihn.Englisch, das wussten die Eltern oder dasglaubten sie zu wissen, war ein Problem-fach, und deshalb nahm der Vater seinenJungen in den Arm; der aber sträubte sich,wie immer bei seinem Vater, denn Be-rührungen gestattete er nur seiner Mutterund seiner Katze Susi.

Dann suchte Robert seine Jacke,die schwarze, und als er sie nichtfand und in der Waschmaschinevermutete, brüllte er herum. Derstille Robert. Hätten die Eltern sol-che Kleinigkeiten als Zeichen deu-ten, hätten sie Verdacht schöpfenkönnen? Oder müssen?

Dann verabschiedete der Vaterseinen Sohn ins schriftliche Abi-tur: „Jetzt geht’s um die Wurst.Streng dich an!“ Robert zog dieHolztür mit dem Keramikschild„die Steinhäusers“ hinter sich zu,es war 9.45 Uhr am 26. April 2002,und den Eltern fiel auf, dass ihrSohn nichts dabei hatte, keinenRucksack, keine Tasche.

Hätten sie nicht spätestens jetzt,endlich, etwas ahnen können?Müssen? Wäre der Amoklauf von

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Tatort Gutenberg-Gymnasium„Nur die Besten sterben jung“

Das Spiel seines LebensDie Lehrer, die mit ihm nicht mehr klarkamen, schickten ihn fort. Die Eltern, die nichts

von ihm wussten, gaben auf. Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Erfurt, beschloss, mit einer Lüge zu leben. Kurz vor seiner Enttarnung tötete er nach dem Vorbild

seiner Videos 16 Menschen – und anschließend sich selbst.

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Steinhäuser als Kleinkind, als Schüler am Computer, im Urlaub: „Vielleicht war er all die Jahre überfordert und deswegen kreuzunglücklich,

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Erfurt an diesem Morgen des 26. April, umviertel vor zehn, noch aufzuhalten gewe-sen? Wäre zu diesem Zeitpunkt noch zuverhindern gewesen, dass dieser vorver-gangene Freitag zu einem jener Tage wird,an denen ein ganzes Land für ein paar Mi-nuten oder Stunden gleichsam schockge-friert?

So jedenfalls wurde er zum Tag einesVerbrechens, das es so noch nicht gegebenhatte, nicht mal in Amerika und natürlichnicht in Deutschland, nicht in einer Schu-le und nicht durch einen so jungen Täter.

„Wir haben versagt, natürlich haben wirversagt“, murmelt der Vater, Günter Stein-häuser, 52, grau melierter Vollbart, Leder-weste, mit den Fingern an der Lesebrillezupfend.

Nach zehn Minuten war Robert an die-sem Freitag wieder da. „Ich habe meineStifte vergessen“, sagte er, marschierte insein Zimmer und verschwand aufs Neue.

Es vergingen zwei Stunden. Für das Ehe-paar Steinhäuser, seit 25 Jahren verheira-tet, waren es zwei besondere Stunden. DerVater, der unter Multipler Sklerose undDiabetes leidet, war krankgeschrieben, dieMutter hatte frei, und darum kauften siebei Real zusammen für das Wochenendeein. Die beiden sind gern zusammen, im-mer noch; all die Meldungen aus den Tagennach dem Amoklauf, die Berichte übereine zerrüttete und getrennte Familie sind,jedenfalls, so weit man das von außen be-urteilen kann, ziemlicher Unsinn.

Die Ursache für die Katastrophe liegttiefer. Viel tiefer. Die Ursache liegt imSchweigen, darin, dass niemand wirklichhinsah, die Lehrer nicht, die nur einmal inder Ottostraße hätten anrufen müssen, dieEltern nicht, die dort ihren Sohn nichtmehr erreichten und irgendwann aufga-ben. Und die Ursache liegt in einer Lüge,die nicht mehr aufrechtzuhalten war.

Die Eltern saßen wieder im Auto aufdem Rückweg vom Real, als sie die Nach-richt von einer Schießerei im Erfurter Gu-

* Vater Günter, Bruder Peter, Mutter Christel am vergan-genen Freitag als Zuschauer der Gedenkveranstaltung aufdem Erfurter Domplatz.

Dieser Rachefeldzug mit 17 Todesopfernwar eine unfassbare Tat, verübt von einemschwer fassbaren Massenmörder – von ei-nem jungen Mann, an dem die Lehrer ver-zweifelten und die Eltern sowieso.

„Wir haben nichts gesehen“, flüstert dieMutter, Christel Steinhäuser, 52, zart undzierlich, Bubikopf, die Daumenknöchel indie verheulten Augen gedrückt.

Denn es gab keine Englisch-Prüfung,und es gab kein Abitur für Robert Stein-häuser. Seit fast einem halben Jahr war erschon nicht mehr zur Schule gegangen.

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Trauerfamilie Steinhäuser*: „Ein grauenhafter Fehler“

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wir haben das doch nicht geahnt“

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tenberg-Gymnasium im Radio hörten. Siewählten Roberts Mobiltelefonnummer,aber er nahm nicht ab. Sie riefen zu Hau-se an. Die Großmutter, die eine Etage tie-fer wohnt, ging ans Telefon und erzählte,sie habe um halb elf Uhr gesehen, wieRobert das Haus verlassen habe, mit ei-nem Rucksack. Und mit einer Zigarette inder Hand. Robert, der Nichtraucher.

Es war ein Verdacht. Es war diesesfurchtbare Gefühl, dass irgendetwas nichtstimmte. Aber was?

Das Gymnasium, Roberts Gymnasium,ist nur einen Kilometer von der Ottostraßeentfernt. Sein Schulweg führte nach linksin die Rudolfstraße, vorbei am Ärztehaus,dem Straßenbauamt und dem Landesre-chenzentrum, den Hügel hinauf, den Hü-gel hinab, vorbei am Bundesarbeitsgerichtund der Konditorei Enders, die im Schau-kasten ihre Torte des Monats April, „Jo-ghurt light“, preist. Und nun rasten Poli-zeiwagen in Richtung Schule, und Schülerflüchteten in die andere Richtung.

Aber Robert war nicht unter den Flüch-tenden, Robert kam auch dann nicht, alsalle Schüler längst draußen waren. Die El-tern fürchteten, dass ihm etwas passiert war,und sie riefen Peter an, Roberts großen Bru-der, und der raste in die Ottostraße.

Peter ging in Roberts Zimmer. Er stießmit dem Fuß an die schwere Reisetasche,und da, sagt Peter Steinhäuser, 25, „habeich schon gewusst, dass das nichts Guteswird, was ich jetzt mache“. In der Taschelagen Hunderte Schuss Munition. „In mei-

nem ganzen Leben habe ich noch nicht sogezittert“, sagt Peter Steinhäuser. AufRoberts Schreibtisch lagen die Quittungenfür den Waffenkauf, und alles hier war auf-geräumt, zum ersten Mal; normalerweiselagen rund um den Computer die Pizza-reste und die Disketten herum, und nor-malerweise war das Bett mit der Coca-Cola-Decke zerwühlt. Heute nicht.

Er sollte die Quittungen finden, glaubtPeter. Die Quittungen für die Waffen wa-ren Roberts Abschiedsbrief.

„Durch einen ehemaligen Schüler desGymnasiums wurden acht Lehrerinnen,vier Lehrer, eine Sekretärin, eine Schüle-rin, ein Schüler und ein Polizeibeamtergetötet. Das Verbrechen hat weltweite Me-dienbeachtung gefunden“, heißt es in ei-nem Bericht des Innenministeriums desFreistaats Thüringen.

Es war 13 Uhr an diesem 26. April 2002,als Peter Steinhäuser wusste, dass der Mas-senmörder sein Bruder war. „Und danngehen Sie mal nach nebenan und erzählenIhren Eltern, was Sie gerade gefunden ha-ben“, sagt Peter Steinhäuser.

DIE TRAUERNDE STADT

Erfurt wirkt, als wäre es von einem Mo-delleisenbahner entworfen worden.

Ruhig bis zur Lautlosigkeit, mit Straßen-bahnen, die an Patrizierfassaden und Fach-werk entlangkriechen, einem Renaissance-brunnen samt Obelisken, einer Zitadelleund einem Oberbürgermeister, der aus-

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Kleinkind Robert, Vater: „Misstrauen gab es da nicht“

Robert (v.) mit Nachbarstochter „Ein ganz anhängliches Kind“

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sieht wie ein fröhlich alt gewordener Hol-lywood-Star.

OB Manfred O. Ruge hat es geschafft,eine gute Portion der Aufbaugelder fürThüringen in seine Stadt umzuleiten. Erfurtist gepflegter als Berlin, schöner als Ham-burg, ungekünstelter als Tübingen, vomKrieg verschont, vom Sozialismus nicht zurModellstadt verdammt. Erfurt ist eine Stadtim menschlichen Maß.

Als während der Pressekonferenz amvorvergangenen Sonntag ein Reporter dieSchülerin Michaela Seidel aus der 12. Klas-se des Gutenberg-Gymnasiums fragt, wassie dem Täter gegenüber empfinde, ant-wortet die junge Frau: „Soll ich ihn hassen?Oder Mitleid haben? Das wäre beides eineGenugtuung für ihn. Ich möchte gar nichtsfür Robert Steinhäuser empfinden.“

In der Woche danach fühlt Erfurt sichsehr leer und sehr taub an. Die Stadtgleicht einem gewaltigen Friedhof mit Blu-menbergen, Kerzen, Fotos und Briefen, diesich überall zu großen Haufen schichten.Sprachlosigkeit frisst sich durch die Stadt:Je mehr die Ahnung vom Ausmaß der Tatins Bewusstsein der Menschen sickert, des-to unbegreiflicher wird das, was sie ei-gentlich zu begreifen versuchen.

Die Schule ist zur Kaiserzeit gebaut wor-den. Das Gutenberg-Gymnasium ist eineBurg des Lernens mit Erkern und Wetter-fahne. Mit weit geöffneten Flügeln stehtdie Schule etwas oberhalb der Stadt. „Ler-ne um zu leben“, mahnt der rechte Sei-teneingang, „Lebe um zu lernen“, korri-giert der linke. Robert Steinhäuser kamvon hinten, wo die gelben Mülltonnen ste-hen und die Autos.

Die Luft ist feucht, und von der Klein-gartenanlage gegenüber riecht es nach denBlüten der Apfelbäume. „Nur die Bestensterben jung“, steht auf einem Stück Kar-ton im Blumenmeer, und oben im Fensterhängt noch immer das „HILFE“-Schild,das Schüler am 26. April gegen die Schei-be geklebt haben.

Es gibt Reporter in Erfurt, die den Er-furtern den Hass auf die Medien, auf alleMedien beibringen; Kameramänner etwa,die Fotos von Opfern vom Blumenbergklauen.

Es gibt Lehrer und Schüler, die schwei-gen wollen. Schweigen und weinen.

Aber es gibt andere, denen es hilft, überdas zu reden, was war.

Dass Lutz Pockel noch am Leben ist,verdankt er der Tatsache, dass er am Frei-tag, dem 26. April, kurz vor elf Uhr, nichtim Klassenraum, sondern in der Aula desGutenberg-Gymnasiums war. Es ist Zufall,dass Yvonne-Sofia Fulsche-Baer starb, dieLehrerin, die im Erziehungsurlaub und nurzur Klausuraufsicht in der Schule war. Undes ist Zufall, dass Lutz Pockel lebt.

Robert Steinhäuser kam im Mai vergan-genen Jahres in Pockels Grundkurs Physik– weil er zurückgestuft worden war, „frei-willig“, wie alle Lehrer betonen, auch

naut werden. Anders als sein Bruder Peterging Robert nicht auf die Straße, zum Bol-zen. Die Eltern ließen sich von Freundenaus dem Westen Lego-Steine schicken.„Wir wollten doch kreatives Spielzeug“,sagt der Vater. „Ich habe ihm vorgelesen“,sagt die Mutter. „Felix der Pinguin“ warRoberts Lieblingsbuch. Der Junge konntenur schlafen, wenn er zu seinen Eltern insEhebett kriechen durfte.

Als er 14 Jahre alt war, bekam RobertSteinhäuser eine Katze, die schon in sei-nem Bett schlief, wenn er noch seine Bal-lerspiele am Computer machte. Dannkroch er zu Susi.

„Die Pubertät“, dachte seine Mutter, alsihr Sohn 16 Jahre alt war und allmählichverstummte.

„Wie war dein Tag?“„Ganz okay.“ Danke für das Gespräch.Und jetzt kleben drei graue Siegel-Strei-

fen der Polizei an der verschlossenen Türzum Kinderzimmer, in dem ihr Sohn dieMorde so gewissenhaft geplant hatte. Undim Wohnzimmer gegenüber kauern Gün-ter und Christel Steinhäuser eng neben-einander auf dem grünen Ledersofa, zu-sammengefallen, so als ob ihre Muskelnnur noch zum Zittern taugten. „Wir hättenes doch merken müssen“, stammelt derVater und verschluckt die Vokale: „Warumhaben wir’s nicht gemerkt?“

Christel und Günter Steinhäuser gingen,so erzählen sie, 1989 zu den Montagsde-monstrationen gegen die Staats- undParteiführung der DDR. Sie machten ihreWahlzettel ungültig. Sie übten zaghaftenProtest. Sie kennen auch dieses Unbeha-gen, das viele Menschen im Osten spür-ten, „diese ständige Flexibilität, dieses Ver-

wenn das sehr nach „Kündigung im ge-genseitigen Einvernehmen“ klingt. LehrerPockel kann sich an keinen Schüler erin-nern, zu dem er einen so schlechten Drahtgehabt habe, mit dem so wenig Kommuni-kation möglich gewesen sei wie mit RobertSteinhäuser.

ROBERTS WELT

Als er zwei Jahre alt war, blieb seine Mut-ter, Kinderkrankenschwester in der Er-

furter Hautklinik, zu Hause, damit er nichtin die Krippe musste. Der Junge „war einganz anhängliches Kind“, sagt ChristelSteinhäuser, „er musste beschützt werden,damit er seinem Bruder nicht ständig un-terlegen war“. Das Kind konnte nur schla-fen, wenn die Mutter durch die Gitterstä-be hindurch seine Hand hielt.

Als er acht Jahre alt war, baute er in sei-nem Zimmer Modelle von der „Titanic“oder vom „Raumschiff Enterprise“. Robertverehrte Captain Kirk, und er wollte Astro-

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Wohnhaus der Familie SteinhäuserAntik-Möbel und Spitzendeckchen

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Schüler Robert„Höflich und strebsam“

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lieren aller Wurzeln“, wie der Vater klagt,aber sie fassten Tritt im vereinigtenDeutschland. Er arbeitet als Elektroinge-nieur bei Siemens, sie im Schichtdienst inder Hautklinik. Sie bezogen eine Vierzim-merwohnung in dieser Gründerzeitvilla inder Ottostraße, unterm Dach, hundertQuadratmeter.

Und Günter Steinhäuser war ein ziem-lich eifriger Elternvertreter. Er fuhr mit aufKlassenfahrten, und wenn Kinder auffälligwaren, ging er zusammen mit dem Klas-senlehrer zu den Eltern. „Ich habe ver-sucht, mit Eltern zu beraten, wie man et-was wieder geradebiegen kann“, sagt erund weiß, wie grotesk das heute klingt. EinSorgenkind wie seinen Sohn hat es in Er-furt noch nie gegeben.

Nach der Grundschule schickten dieSteinhäusers ihren Robert auf die Haupt-

* Links: 1996 mit Mutter Christel auf Zypern; rechts: 1998auf Teneriffa.

wurde und verschlossener. „Robert darfdie Freude an der Schule nicht verlieren. Ermuss eine richtige Arbeitstechnik finden“,stand im Zeugnis der neunten Klasse.„Vielleicht war er auf dem Gymnasium alldie Jahre überfordert und deswegen kreuz-unglücklich. Wir haben das doch nicht ge-ahnt“, sagt die Mutter. Denn Robertschwieg.

Und Robert floh. Gegen die Proteste sei-ner Eltern legte er sich einen Gameboy zu,und nachts sah er fern. Als er 14 Jahre altwar, kaufte er sich von dem Geld, das erzur Jugendweihe bekommen hatte, seinenersten Computer, und den rüstete er stän-dig nach. Am Ende hatte er einen Pentium-II-Rechner, dazu Lautsprecher, so genann-te Booster, für authentische Schussgeräu-sche, dazu Scanner und 17-Zoll-Monitor.Das alles stand auf einem weißen Metall-tisch auf Rollen – Roberts Altar.

20 Euro Taschengeld gaben ihm seineEltern im Monat, 40 Euro die Großeltern.Manchmal putzte Robert zu Hause dieFenster, das brachte 25 Euro. Er gab nichtviel aus, nicht für Klamotten, nicht fürMädchen. Der Vater hatte eine Kontovoll-macht, „Misstrauen gab es da nicht“, sagter. Als Robert anfing, größere Summen ab-zuheben, immer wieder mal 250 Euro, sag-te er, dass er das Geld auf ein Sparbuchüberwiesen habe. Wegen der Zinsen.

„Heute wissen wir, wofür das Geldwar“, sagt der Vater. Am Ende, am 26. April, hatte Robert noch 7 Euro auf sei-nem Sparbuch und 100 Euro auf dem Giro-konto.

Wenn die Eltern damals die Tür zumKinderzimmer öffneten, Eiche-Furnier mit

und Realschule, die in Thüringen Regel-schule heißt – doch nach einem Jahr mel-deten sie ihn wieder ab. Sie waren ge-schockt, denn die Lehrerinnen hatten vonMessern auf dem Schulhof erzählt und vonPrügeleien und Drogen. „Wir dachten,nichts wie weg hier“, sagt der Vater.Roberts Zensuren waren in Ordnung; „erist ein höflicher und strebsamer Schüler“,stand im Zeugnis der fünften Klasse, unddarum kam er aufs Gutenberg-Gymna-sium.

„Ein grauenhafter Fehler“, sagt die Mut-ter heute. Der erste von vielen grauenhaf-ten Fehlern in dieser Geschichte einerschrecklich normalen Familie.

Die Mutter sah, dass Robert schlechteNoten nach Hause brachte, dass er ernster

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Familie Steinhäuser im Urlaub*„Such dir einen Kumpel“

Sohn Robert, Mutter Christel auf TeneriffaAbstand von den Eltern

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Messinggriff, betraten sie eine bizarre Welt.Alles lief gleichzeitig, Computer, Fernse-her, Videorecorder, und Robert hockte daund starrte auf den Bildschirm und hörtenur das, was aus seinen Kopfhörern kam.

Es war eine Scheinwelt, natürlich, es wareine brutale Welt, auch das, aber fürRobert war es die bessere Welt.

Die Musiksammlung des Robert Stein-häuser enthielt CDs von Gute-Laune-Gruppen wie Ace of Base, und sie enthieltWerke der Metal- und Teufelsanbeter-Frak-tion, neben zwei CDs der US-Band Slip-knot zum Beispiel Platten von System of aDown oder Entombed. Die Gruppe ver-ehrt Luzifer als „Chief Rebel Angel“, undzu ihren erfolgreichsten Songs zählen Titelwie „Living Dead“ oder „Seeing Red“.

Und während er sich dieses Zeug an-hörte, saß er an so ziemlich jeder Waffe,mit der sich Menschen töten lassen. Robertübte mit Pistolen, halb- und vollautomati-schen, mit Pumpguns, Granatwerfern, Ka-nonen und Präzisionsgewehren. In seinerDachkammer schlitzte er Bäuche mit demKampfmesser auf, und er durchbohrte sei-ne Gegner mit Pfeilen; er äscherte sie mitMolotow-Cocktails und Flammenwerfernein, atomisierte sie mit Panzerkanonen,und das alles tat er, ohne selbst Angstspüren zu müssen.

Als Polizisten nach dem AmoklaufRoberts Zimmer filzen, finden sie Strate-giespiele wie „Homeworld“, Schießorgienwie „Hidden & Dangerous“ – und min-destens sechs indizierte Spiele, die für denVersandhandel gesperrt sind und Minder-jährigen nicht in die Hände fallen sollen.

und Treppenhäusern des Gutenberg-Gym-nasiums das letzte und das größte Spielseines Lebens gespielt, so lange, bis ihnder Lehrer Rainer Heise beim Namennannte und auf die Erde zurückholte.

DIE WÜTENDE STADT

Ihr Verhältnis zum Tod, sagt die NotärztinGabi Wirsing, 54, sei von Berufs wegen

eher „professionell“. Seit 1986 macht dieblonde Erfurterin den Job, und sie hatte ge-glaubt, schon alles gesehen zu haben, wasein Mensch ertragen kann. Der Notruf mitder Einsatznummer 20688 aber sprengteden Rahmen. Den Rahmen ihrer Erfah-rungen, den Rahmen des Vorstellbaren,den Rahmen dessen, was Menschen fürmöglich halten.

Zwischen zwei Zügen aus der Menthol-Zigarette sucht die Ärztin nach Worten.

Unter Steinhäusers Baller-Titeln ist dasBrutalste und Bestialischste, also das Be-gehrteste, was die Erfinder von Einzel-kämpfer-Spielen je auf den Markt geworfenhaben. Zum Beispiel „Half-Life“, ein so ge-nannter Ego-Shooter, mit dem Robert überdie Mündung seiner Waffe auf seine Opfersah. Wie man im Laufschritt mordet, konn-te er auch in seinen indizierten Spielen „Re-turn to Castle Wolfenstein“, „Commandos– Behind Enemy Lines“, „Alien versus Pre-dator“ und „Soldier of Fortune“ trainieren,nirgendwo aber so perfekt wie im Cyber-Epos „Medal of Honor“.

Wenn dort Lieutenant Mike Powell amD-Day am Omaha Beach landet, ist nurder finale Treffer ein guter Schuss; je mehrKopftreffer, desto besser. Dass eine Statis-tik am Ende aufführt, wo die Projektile indie Körper eingeschlagen sind, hält dieBundesprüfstelle für jugendgefährdendeSchriften für „äußerst problematisch“,denn dadurch werde das „gezielte und kalt-blütige Töten eingeübt“.

Es war so etwas wie ein Entwurf für den26. April.

Das perfekte Trainingslager.Von Zimmer zu Zimmer, von Flur zu

Flur musste der Killer Robert Steinhäuserin seiner virtuellen Computerwelt vor-dringen, immer eine Stufe höher, und ermusste Türen öffnen und Treppen hinauf-steigen und wieder hinab, und deshalb wir-ken diese Spiele im Nachhinein wie eineBlaupause für den realen Massenmord.

Es wirkt, als hätte Robert Steinhäuser,maskiert und verkleidet wie ein „Ninja“-Kämpfer, an jenem Morgen in den Gängen

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Geschwister Robert (r.), Peter (2001): „Beschützt, damit er dem Bruder nicht unterlegen war“

Steinhäuser-Katze Susi Immer pünktlich den Napf gefüllt

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„Wie eine menschliche Naturkatastrophewar das“, sagt sie dann.

Als ihr Mercedes-Notarztwagen NEF1/82/2 um 11.13 Uhr das Gutenberg-Gym-nasium erreichte, wurden Wirsing und ihrRettungsassistent abgefangen und mit ei-nem Polizeibus zum linken Nebeneingangder Schule gefahren. „Wenn geschossenwird“, rief ein Polizist noch, „nichts wieraus und Köpfe runter.“

Noch bevor das Sondereinsatz-Kom-mando (SEK) am Tatort war, bugsiertenein paar Erfurter Streifenbeamte mit grü-nen Uniformen und Maschinenpistolen dieNotärztin ins Schulgebäude. Auf dem lin-ken Treppenabsatz lag der Polizist AndreasGorski in „Halbseiten-Bauchlage“ in sei-nem Blut. Die Notärztin prüfte Puls undAugenreflexe – Gorski war bereits tot.Robert Steinhäuser hatte hinterrücks aufden Beamten gefeuert, als der dabei war,seine schusssichere Weste anzulegen.

Wirsing nahm Gorskis Dienstwaffe ausdem Holster und gab sie einem Polizisten.„Damit der Amokläufer sie nicht kriegt,wenn ihm die Munition ausgeht“, sagte sie.

Unter Deckung rannte das Rettungsteamins Schulsekretariat. Überall sah es Patro-nenhülsen auf dem Steinfußboden. Vordem Empfangstresen im Büro lag die stell-vertretende Schulleiterin Rosemarie Hajnatot auf dem Rücken. Sekretärin AnnelieseSchwertner saß noch am Schreibtisch, denKopf auf der Tischplatte, wie schlafend.Und überall war Blut.

„Die Situation war sehr, sehr unwirk-lich“, sagt Wirsing und beschreibt, wieplötzlich ein Schuss durch die Flure knall-te. „Auf den Boden“, befahl ein Polizist,„und niemandem die Tür öffnen!“ Minu-ten des Wartens. Die Notärztin gab einenersten Bericht an die Leitstelle durch, imFlüsterton, per Handy. Dann, irgendwann,kam ein Polizist herein und führte sie zu ei-nem Sterbenden auf das Treppenpodestzwischen erster und zweiter Etage.

„Wie heißen Sie?“, fragte Wirsing denMann. „Wir müssen doch wissen, wen wirim Krankenhaus wieder gesund machen.“

sprochen habe, seien die Streifenpolizisten,die zur Schule geschickt wurden, nur über„eine Straftat im Gutenberg-Gymnasium“informiert worden. Gefahr? Bewaffnete Tä-ter? Kein Wort davon.

Wäre es also vermeidbar gewesen, dassauch noch der Beamte Gorski starb?

Andererseits: Kann man verlangen, dassnach einem solchen Notruf alle Räder in-einander greifen, fehlerlos, ganz so, als hät-te irgendwer mit dem rechnen können, wasim Gutenberg-Gymnasium geschah?

Es hat natürlich mit Hilflosigkeit undVerzweiflung zu tun, dass nun viele Men-schen klagen. Was ist wahr und was nicht,wer trägt Mitschuld, und wer ist nur Opfer?Wenn eine ganze Stadt trauert, gibt es ver-mutlich zwangsläufig auch eine Mischungaus Gerüchten und Neid, Misstrauen undKritik.

An den Beratungstelefonen beschwerensich viele Erfurter darüber, dass die un-vermeidliche Polit-Prominenz die öffent-liche Anteilnahme für den Wahlkampfnutzt. Kultusminister Michael Krapp etwawollte alle Opferfamilien aufsuchen, ohneBegleitung, ohne Presse, ohne Blumen, al-lein und in aller Stille – doch Ministerprä-sident Bernhard Vogel kam ihm zuvor undmachte aus der Aktion eine Betroffen-heitsshow.

Und auch die Stimmung im Kollegiumdes Gutenberg-Gymnasiums ist lausig.Noch immer sind einige Lehrer undSchüler davon überzeugt, dass es einenzweiten Täter gab, einen, der mit denFlüchtenden aus dem Gebäude geranntsein muss, einen also, der nun frei durchErfurt laufe.

Dieses Gerücht geht darauf zurück, dassum kurz nach elf, unmittelbar nach Beginndes Amoklaufs, mehrere Sechstklässler inden Keller zu Schulbibliothekarin MargritKampe geflohen waren. Und dort berich-teten diese Kinder, da oben seien zwei ver-mummte Männer, einer heller, einer dun-kel gekleidet, beide hätten Pistolen in derHand, und der eine habe auch noch wasauf dem Rücken gehabt – wohl die Pump-

„Hans Lippe“, flüsterte der Sterbende unddann nur noch: „Die Luft geht weg.“ DieÄrztin und ihr Assistent arbeiteten wie Ma-schinen. Sie legten Infusionen, um denKreislauf zu stabilisieren, intubierten denPatienten und begannen mit einer Herz-massage. Aber dabei merkten sie, dass Lip-pes Bauch voller Blut war. Das Einzige,was Wirsing noch tun konnte, war, denMann, den seine Schüler „Lippchen“nannten, ohne Schmerzen sterben zu las-sen. Sie sprach mit ihm und injizierte ihmdas Schmerzmittel Phentanyl.

Im zweiten Obergeschoss, im Klassen-zimmer 208, lagen die Leichen der SchülerRonny Möckel, 15, und Susann Hartung,14, zwischen umgestürzten Bänken. DerJunge hatte einen tödlichen Schuss in denBauch erlitten, das Mädchen mehrereSchüsse in den Rücken. Vor der Tür warihre Lehrerin zusammenbrochen; als sieversucht hatte, dem Mörder den Weg zuversperren, hatte Robert Steinhäuser of-fenbar durch den Türspalt in die Klasse ge-feuert.

Und dann war da Robert Steinhäuser.Im Vorbereitungsraum Kunst, einem Zim-merchen, das mit Regalen voll gestopft ist,lag er auf dem Fußboden. Halb auf derSeite, neben seiner Pumpgun, die er aufden Boden gelegt hatte. Er muss sich diePistole in den Mund gesteckt haben, be-vor er abdrückte. Sein Kiefer war zer-trümmert. Dann muss ihm die Pistole ausder Hand gefallen sein; sie lag zwischenseinen Beinen.

Menschen wie Gabi Wirsing taten an je-nem Morgen, was sie tun konnten, abereine Frage bleibt: Hätte irgendjemandmehr tun können?

Die Stimmung unter den Erfurter Strei-fenpolizisten ist lausig – „wir sind ja dochnur Kanonenfutter“, heißt es. In der Ein-satzzentrale, in die man gern auch „weni-ger fähige“ Kollegen abschiebe, wie einBeamter erzählt, soll es am 26. April gleichmehrere Pannen gegeben haben.

Obwohl der Hausmeister bei seinemNotruf von „Schüssen im Schulhaus“ ge-

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Mitgliedereintrag beim Schießclub Kalkreiße, Waffengeschäft „Frankonia“: Von einer ABM-Kraft für den Schützenverein geworben?

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gun. Drei der Sechstklässler setzten sichsofort an den Computer und hielten ihreBeobachtungen fest, und obwohl die Ge-schichte vom zweiten Mann offiziell als er-ledigt gilt, fragen die Polizisten bei denFreunden Robert Steinhäusers sehr dezent,was es damit auf sich haben könnte – sieseien immer noch unsicher.

Die Lehrer des Gutenberg-Gymnasiumserzählen auch, dass sie „durch Befragun-gen untereinander feststellen mussten, wernoch lebt und wer nicht“.

Die Verwandten der erschossenen Kol-legen mussten von ihnen, den traumati-sierten Überlebenden, unterrichtet wer-den. „Wir können nicht geben, weil wirselbst noch nehmen müssen“, sagt Physik-lehrer Pockel.

DER KAMPF MIT DEM KIND

Es ging immer ums Schießen, es ging im-mer um Gewalt“, sagt der Vater. Er

schimpfte, drohte, schrie. Es änderte nichts;der Vater kam an den Sohn nicht mehrheran.

Die Steinhäusers versuchten es mit Ge-sprächen, dann mit Zwang: Der Vater bau-te eine Sperrvorrichtung an das Fernseh-gerät; pro Stunde musste Robert eine Markeinwerfen, sonst ging das Gerät aus.

Robert lernte trotzdem nicht, er machtelängst keine Hausaufgaben mehr.

„Er saß immer vor dem Computer. Daswar wie eine Sucht“, sagt die Mutter. Ein-mal riss Christel Steinhäuser vor Ver-zweiflung alle Kabel aus den Wänden undden Geräten und versteckte sie. Robert

zen anspringt, diese Hilflosigkeit, weil sienichts wieder gutmachen können, weil sienicht mal um ihren Sohn trauern können,weil ihr Sohn in den Minuten vor seinemTod zum Mörder wurde.

„Wir haben alles falsch gemacht“, sagtdie Mutter wieder und weint.

Robert, der Weiche, der sanfte Robert.Der doch nur seine Gefühle nicht mehrausdrücken konnte, der es nicht schaffte,erwachsen zu werden. Und dessen Muttersich freute, wenn die Kumpels hinter derKinderzimmertür mit ihm so albern ki-cherten. Für sie war er bloß einer dieserpubertierenden Teenager, der Abstand vonden Eltern halten wollte.

Der große Bruder nahm den kleinen mitzum Handballtraining, auf Drängen derMutter. „Er sollte sich mal bewegen, mitKumpels zusammen sein“, sagt sie. Esfunktionierte, scheinbar. Im HandballclubSSV Erfurt-Nord stand Robert bald im Tor.Er war kein guter Spieler, nicht besondersgelenkig und nicht wirklich mutig, wennihm die Kreisläufer entgegensprangen.Aber er nahm die Jüngeren in Schutz,wenn sie gepiesackt wurden.

Ehrgeizig sei er nie gewesen, sagen dieEltern. Phlegmatisch. Antriebslos. Er habeauf kaum etwas Lust gehabt, nur auf dieverdammten Computerspiele. „Mach was,streng dich an“, sagte der Vater; „du musstdoch was lernen“, sagte die Mutter. Dass ermöglicherweise depressiv war, dass er nichtnur ein paar Worte, sondern professionel-le Hilfe gebraucht hätte, die Eltern alleinnicht leisten können, sahen sie nicht.

Nicht damals.Als Robert 18 Jahre alt wur-

de, schenkten sie ihm ein Pos-ter der Tennisschönheit AnnaKurnikowa; er hasste es. Undsie schenkten ihm das Geld fürdie Fahrschule; den Kurs sollteer in den Sommerferien ma-chen. Robert träumte von ei-nem Mustang, dem Flitzer ausdem Actionfilm „Nur noch 60Sekunden“, aber er schaffte esnicht, sich den Erste-Hilfe-Schein rechtzeitig zu besorgen,und als die Fahrschule ihn des-halb abwies, trat er gegen denBürgersteig und schimpfte aufdie „Scheißbürokraten“. Da-nach sprach er nie wieder überden Führerschein.

So ähnlich ging es mit demUrlaub. Bis vor zwei Jahrenwar er mit seinen Eltern zu-sammen gefahren, nach Zy-pern, in die USA, nach Tene-riffa. Als ihm auch das keinenSpaß mehr machte, suchten dieEltern im Internet nachJugendreisen. „Da haben wir

* Im September 2001 mit Requisiten füreine Schülertheater-Aufführung.

suchte alles wieder zusammen und kauftenoch neue Programme dazu.

„Es gab diese Auseinandersetzung, dasser sich das einteilt, Fernsehen, Computer,Schule. Das hat Robert nicht beherrscht“,sagt der Vater. Und wenn er von dieser grü-nen Couch aufsteht, geht er so schleppend,als könnte er jeden Moment hinfallen.

Im Wohnzimmer sind die alten Fach-werkbalken zu sehen. Die Steinhäusers ha-ben ihr Zuhause mit Antik-Möbeln deko-riert, mit einer alten Nähmaschine, undauf den Tischen liegen weiße Spitzen-deckchen, und an den Fenstern kräuselnsich weiße Rüschengardinen. In den Rega-len stehen Kristallgläser, eine alte Bibelund ein paar Kochbücher, und auf demBeistelltisch liegt der Otto-Katalog. Es gibteinen Kamin mit Glasverkleidung, es gibtTrockensträuße und Strohgebinde, aber esgibt keine Spur von Robert: keine Fotos,keine Scherenschnitte, keine Kinderzeich-nungen. Und die Steinhäusers sitzen daund schweigen minutenlang, und nun ist esso still, dass das schwere Ticken der Ei-chenstanduhr unerträglich wird.

Die Mutter, die mitten im Satz abbricht,wenn ihr Mann zu reden beginnt, wuchsauf dem Bauernhof auf, in Nohra bei Nord-hausen, dort, wo ihr Sohn seine schönstenFerien verbrachte. Robert habe seine Mut-ter ganz besonders geliebt, sagt GünterSteinhäuser, der Vater, „er hatte immer eingutes Verhältnis zu seiner Mutter“.

„Was sagst du denn? Wir wissen doch,dass all das nicht gestimmt hat“, sagt sie.

Abends, wenn sie im Bett liegen, ist esam schlimmsten, weil sie dann das Entset-

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Titel

Gymnasiast Steinhäuser (r.)*: Seht ihr, wie kalt mich das lässt?

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gesagt: ,Such dir einen Kumpel und ziehtzusammen los.‘ Das hat ihn aber auch nichtinteressiert“, sagt die Mutter.

Robert rauchte nicht, Robert tanztenicht, Robert hatte keine Freundin. Werwar er?

Ein Monster, ein jämmerlicher Psycho-path, der Kassettenhüllen aus dem „VideoBuster“ am Juri-Gagarin-Ring klaute, einterroristischer Schläfer in eigener Sache?Könnte man denken, einerseits.

Andererseits gab es da einen scheuenJungen, der den Futternapf seiner KatzeSusi füllte, pünktlich auf die Minute. Undwenn seine Mutter ihn um einen Gefallenbat, war er der aufmerksamste Sohn, den

sie sich wünschen konnte; einkaufen, Müllraustragen, stets war er hilfsbereit.

„Still war er“, erzählt sein SchulkameradFalko Kuhnt, 19, „und auf Abstand bedacht– aber kein Stück aggressiv.“

„Er war unsicher“, sagt sein einstigerStammkurslehrer Rainer Heise.

„Höflich und freundlich war er“, sagtseine einstige Lehrerin Martina Holland,„als ich ihm mal sagte, dass ich mir Sorgenmache um ihn, hat er verlegen gelächelt.“

Je mehr man über Robert Steinhäusererfährt, desto mehr kann man den Ein-druck gewinnen, man hätte es mit zwei,drei verschiedenen Menschen zu tun. Miteiner multiplen Persönlichkeit. Oder einerschizophrenen?

Die meisten kannten den Schul-Robert.Einen Jungen, der tagein, tagaus inschwarzen Jeans und schwarzer Lederjackeüber schwarzen Sweatshirts auftrat, einerMontur, die nichts verrät, einer Rüstung.Tadel, schlechte Noten quittierte der Schul-Robert mit einem Achselzucken. Seht ihr,wie kalt mich das lässt? „Bullshit“, sagt einMitschüler, „war so ein Lieblingswort vonihm“, und Robert sprach es aus, als würdeer die zwei Silben ausspucken.

Gute Zensuren, hübsche Mädchen, Er-folge im Sport – all das, was das Wertesys-tem seiner Schulkameraden ausmachte, fürRobert Steinhäuser war es Bullshit. Er wardieser Schüler, der immer allein sitzt. Derim Unterricht einschläft, die Arme auf dem

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Titel

Tatort Erfurt, die Sekunden vor demAmoklauf: Mit der Sturmhaube,die sich Robert Steinhäuser in

der Schultoilette über den Kopf zieht,schlüpft er in eine Rolle, die er Hunder-te, die er Tausende Male übernommenhat: Er sieht jetzt aus wie einer dieserSchnellfeuer-Schützen aus seinem Com-puterspiel „Counterstrike“.

Denn auch bei der Terroristenjagd inder Kampfzone Internet trägt der Mannam Abzug eine Maske, wie sie die Poli-zisten von Spezialeinsatzkommandos be-nutzen. Auch dort sieht der Schützeseine Gegner nur durch einen Schlitz,auch dort tötet er ohne Gesicht und ohneGnade.

Die Maske als Verbrecherutensil: Esgehört zu den einfachsten Erkenntnissender Polizeipsychologie, dass sich Täternicht nur vermummen, um später in kei-ner Fahndungskartei aufzutauchen. DieÜberziehmütze, sagt der Bonner Psy-chologe Thomas Busch, Spezialist fürTäterprofile, kann die Hemmschwellezum Töten senken. Im Fall Steinhäuser,glaubt Busch, machte sie den Mann zurMaschine.

Tatsächlich steht die Sturmhaube inder Bildsprache des Spiels „Counter-strike“ für einen Präzisionstechniker desTötens, und auf den Fluren des Guten-berg-Gymnasiums wird das Stück Stoffvor Steinhäusers Gesicht zu einerDeckung, aus der auch er wie ein per-fekter Killerroboter operiert. Beherrschtund präzise, unnahbar und ohne mensch-liche Regung erschießt erLehrer um Lehrer.

„Die Maske gab ihmSicherheit“, vermutet dieStuttgarter Polizeipsycholo-gin Susanne Seitz, „er konn-te dahinter seine Gefühleverbergen, er konnte Distanzzu seinen Opfern halten.“

Damit erfüllt die Ver-mummung bei Steinhäusereinen ganz anderen Zweckals bei üblichen Straftaten.Sie ist nicht vergleichbar mit der Strumpf-hose, die sich ein Bankräuber überstreift,auch nicht mit der Maskierung des 15-jäh-rigen Andreas S., der unerkannt entkom-men wollte, nachdem er 1999 in Meißenseine Lehrerin erstochen hatte.

Und auch das Phänomen, das De-monstranten nach den jüngsten BerlinerMai-Krawallen wieder beklagten, hatoffenbar andere Wurzeln. Dort ließensich zwar einzelne Polizisten in der An-onymität, die ein Helm mit herunterge-

klapptem Visier schafft, offenbar zu Hau-drauf-Attacken hinreißen. Doch über dieStränge schlagen auch solche Beamtenur, weil sie hoffen, namenlos zu bleiben.

Bei Steinhäuser dagegen spricht nichtsdafür, dass er unerkannt davonkommenwollte, umso mehr für die Deutung derPsychologen Seitz und Busch, dass erglaubte, hinter einer Maske sein Vorha-ben besser durchziehen zu können.

Vielleicht aber wollte er auch einfachnur cooler aussehen, so wie Massen-mörder in Spielfilmen. Vor allem inHorror- und Action-Streifen, wie sieRobert Steinhäuser gern sah, gehörenMasken zur Requisite der Killer. Ganze„Ninja“-Horden ziehen durch das Met-zelgenre, und mit den Film-Psycho-

pathen, die man an Gummi-masken („Fantomas“), Le-dermaulkörben („Hannibal Lecter“) oder Stahlhauben („Darth Vader“) erkennt, könnte man gleich meh-rere Landeskrankenhäuser füllen.

Auch in vielen Schockerngeht es nicht darum, dieIdentität des Mörders zuverschleiern, sondern nurum ein Maximum an Angst

und Schrecken. „Ich setze mir die Mas-ke auf, und alles rennt weg“, beschreibtSeitz die Wirkung.

Die Maske, ein Machtverstärker –Steinhäusers Amoklauf war zu Ende, als er dem Lehrer Rainer Heise ohne Sturmhaube gegenüberstand. „Da hatdie Hemmung eingesetzt“, glaubt Psy-chologe Busch. Der Mörder war offen-kundig am Ziel – als er die Maske nocheinmal überzog, tat er es nur noch, umzu sterben. Jürgen Dahlkamp

Vermummter Terroristenjäger in „Counterstrike“: Kein Gesicht, keine Gnade

Maske als MachtverstärkerPsychologen glauben, dass Vermummte leichter töten.

Killer „Darth Vader“„Alles rennt weg“

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ETEXT

Page 28: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

Tod in der Schule Mutmaßlicher Ablauf der Erfurter Amoktat

Kurz vor 11 Uhr betrittRobert Steinhäuser dasGutenberg-Gymnasium.

Er zieht sich in der Schultoilette um.In „Ninja“-Kluft, mit Pistole und Pumpgun,beginnt er seinen Amoklauf.

Vermutlich stürmt Steinhäuser zunächst insSchulsekretariat und ermordet dort als erste

Anneliese Schwertner, die Sekretärin,an ihrem Schreibtisch.

Dann richtet er die „Glock“-Pistole auf diestellvertretende Direktorin RosemarieHajna und erschießt auch sie.

Wahrscheinlich systematisch von untennach oben durchsucht Steinhäuser nundas Gebäude nach Lehrern.

Im 1. Stock tötet er den

Physiklehrer Peter Wolff, den

Mathematiklehrer Hans-Joachim Schwertfeger, den

MathematiklehrerHelmut Schwarzer und,schon auf der Treppe zurnächsten Etage, den

BiologielehrerHans Lippe.

1. Oberge-schoss

2. Oberge-schoss

3. Oberge-schoss

4. Obergeschoss Schülerund Lehrer verbarrikadierensich, nachdem Steinhäuserzu schießen beginnt. Hiergibt es keine Opfer.

Erdgeschoss

Untergeschoss Einige Schülerverbarrikadieren sich in der Schul-mensa. Alle bleiben unverletzt.

Haupt-eingang

Pult verschränkt, den Kopf auf die Armegestützt, leise schnarchend. Er war der Jun-ge, der sich nicht verliebt, auch mit 17, mit18 nicht, in diesem Alter, in dem alle Sin-ne auf Empfang stehen.

Alles Bullshit? „Ich sage es ungern“, sagt Rainer Heise,

„aber meiner Einschätzung nach warRobert Steinhäuser kein besonders intelli-genter Junge – er lag deutlich untermSchnitt.“

Es ist bezeichnend, dass Robert Stein-häuser den eifrigsten Einsatz seiner an-sonsten ruhmlosen Schulkarriere zeigte,

düsteren Abende vor dem Computer: Ego-Shootings im Cyberspace, dazu die dump-fen Beats des Death-Metals. Nur Niko prä-sentierte er stolz seine Waffen und die Mu-nition im Kinderzimmer. Niko war auchbei ihm, am letzten Abend, den RobertSteinhäuser erleben sollte, dem Donnerstagvor Erfurts schwarzem Freitag.

Niko und Robert gehörten zu einer selt-samen Clique. Peter E. etwa zählte nochdazu, ein belesener Typ, eine Art Rednergegen die Lehrerschaft; und Robert H., einscheinbar braver Bub, der seine wilde Sei-te in einer Death-Metal-Band auslebt; und

als er gemeinsam mit vier anderenSchülern ein paar Szenen aus Sophokles’„Antigone“ einstudieren sollte. Die Jungshatten die Idee, die Tragödie ins Mafia-Mi-lieu zu verlegen – und hier war RobertSteinhäuser, der Bühnenbild und Kostümeentwarf, sehr eifrig dabei.

„Es war erstaunlich“, erinnert sich seinMitschüler Falko Kuhnt, damals betrautmit der Rolle des Kreon, „wie viel Robertdazu einfiel, was wir anziehen sollten,während wir den Text aufsagten.“

Niko K., der Klassenclown, war sein bes-ter Kumpel. Mit ihm zelebrierte er seine

Titel

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Page 29: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

Hier sterben auch die SchülerSusann Hartung und Ronny Möckel durchSchüsse, die Steinhäuser in den KlassenraumR 208 abfeuert.

Im 2. Stock tötet er zudem die

Französischlehrerin Yvonne-SofiaFulsche-Baer.

Im 3. Stock fallen ihm dann die

Biologielehrerin Heidemarie Sicker, die

Referendarin Carla Pott und die

Deutschlehrerin Heidrun Baumbachzum Opfer.

Steinhäuser rennt nun wieder nach unten undzum Hinterausgang. Hier trifft er offenbar zumersten Mal den Geschichtslehrer Rainer Heise,läuft an ihm vorbei und erschießt vermutlichzu diesem Zeitpunkt auf dem Parkplatz dieKunstlehrerin Birgit Dettke.Zurück im Gebäude, ermordet er im Bereichdes Seiteneingangs denPolizisten Andreas Gorski, bevor er nocheinmal in den 1. Stock hinaufsteigt.Dort begegnet er Heise zum zweiten Mal.Der Lehrer stößt den Amokläufer in einenVorbereitungsraum und schließt ab.Hier richtet Robert Steinhäuser sichschließlich selbst.

Im 2. Obergeschoss trifft er auf dieDeutschlehrerin MonikaBurghardt und die

Kunstlehrerin Gabriele Klementund bringt beide kaltblütig um.

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ein Kumpel erzählt hatte, wie anstrengenddie nächtlichen Märsche seien.

Die Hoffnung, dass er die Schule schaf-fen würde, hatten die Eltern da längst auf-gegeben. „Machste eben keinen Abschluss,geht ja auch“, sagte die Mutter.

„Ich hab ja das Abitur auch nicht“, sagtder Vater.

Übersteigerte Erwartungen haben dieseEltern nicht gehabt, aber sie halfen auchnicht. Es scheint, als hätten sie Robert in ei-nen Alltag mit Kaffee und Kuchen gestecktund gehofft, dass alles irgendwie gut gehenwürde. Wie bei Millionen anderen Kindernauch.

„Ich dachte wirklich, er hat keine Sor-gen“, sagt der Vater. Seine Frau sieht ihnzweifelnd an. „Er hat uns nur nicht ver-traut“, sagt sie.

DAS TODESURTEIL

Es solle ja keine Entschuldigung sein, sagtder Vater, aber es sei dennoch wahr:

Beim Elternsprechtag in der 11. Klasse habeer gewartet, bis alle gegangen waren, unddann habe er zum Klassenlehrer gesagt:„Wenn es etwas gibt, rufen Sie mich bittean. Auch wenn es schlechte Nachrichtensind. Ich kann das aushalten.“

Es gab keinen Anruf. Bis zum 26. Aprilnicht.

Und Robert hatte sehr schlechte Noten.Er sei faul, sagten die Lehrer, mache dieAufgaben nicht; er könne zwar erzählen,aber nicht auf Fragen antworten, und des-halb erzähle er irgendetwas, nur nicht dasRichtige. Einmal sollte er ein Referat überGutenberg halten; er schaffte zwei Sätze,sagte „Bullshit“ und setzte sich wieder.

Doch statt Hilfe gab es Demütigungen.Ein Lehrer sagte: „Man muss doch anWunder glauben, wenn man meint, dassder das Abitur schafft.“

Die elfte Klasse machte Robert noch mal,„weil er das Gefühl hatte, er packt es über-haupt nicht“, wie die Mutter sagt. Währendder elften Klasse versuchte er, an einer Ge-samtschule die Prüfung zum Realschulab-schluss zu machen, aber sehr schnell gab erauf. Die Eltern hofften. Worauf?

Robert versteckte seine Antriebslosig-keit hinter einer barschen Fassade, und dasneue Schuljahr lief nur wenig besser alsdas alte. Dann schwänzte er. Und um dasSchwänzen zu verstecken, fälschte erAtteste.

„Auf die Schliche“ sei man Robert ge-kommen, als sich beim feuchten Überwi-schen der Arzt-Atteste, der Stempel undUnterschriften keine Schmierspuren ge-zeigt hätten, erzählt Martina Holland, sei-ne Lehrerin aus dem Deutsch-Leistungs-kurs. Also riefen Lehrer den vermeintli-chen Arzt an, und der war sich sicher, dassein Patient namens Robert Steinhäuser„nie bei ihm gewesen war“.

Dann ging alles ziemlich schnell, undmöglicherweise ging es ein bisschen zu

der Lehrersohn Robert S., immer wiederlustig frisiert. Einige der Jungs guckten zu-sammen Filme wie Mike Mendez’ „Kil-lers“, in dem gleich zu Beginn zwei Mas-kierte mit Pumpguns in ein Haus eindrin-gen und alles abknallen, was sich bewegt.Ein Menschenleben, so behauptet der Film,ist nicht mehr wert als die Patrone, mit derman es beendet.

Manchmal traf sich Roberts Gang auchauf dem Domplatz, auf dem vergangenenFreitag hunderttausend Menschen trauer-ten, und sie guckten den Mädchen nach,oder sie zogen durch Kneipen. Ihr Bermu-da-Dreieck bestand aus dem Drogerie-markt Müller, wo sie nach billigen Spielensuchten, dem Plattenladen Saturn und derVideothek Video Buster.

Und diese Clique war Robert Steinhäu-sers Raum der Ruhe. Hier durfte er sein,wie er war, verschlossen und einsilbig,denn hier war das cool. Es gab keine Nach-fragen, keine Diskussionen. „Es ist er-schreckend, wir wussten von Robert na-hezu nichts“, sagt Peter E.

Einige aus der Clique organisiertenNetzwerkpartys, so genannte LANs, LocalArea Networks. Der Vater erlaubteRobert, dass die Jungs für ein Wochenen-de in einer leer stehenden Wohnung inder Ottostraße 40 die Computer zusam-menschlossen und online spielten. „Esging Tag und Nacht und wieder nur umsSchießen, Leute, die hinter Ecken hervor-kommen und abgeschossen werden. Dahab ich sie rausgeschmissen“, sagt GünterSteinhäuser.

Über die Zukunft sprachen sie selten.„Was mit Computern“ wollte Robert ma-chen, aber mehr sagte er nicht. Der Vatersuchte Ausbildungswege für Computerbe-rufe zusammen, aber Robert winkte ab.Die Mutter bekniete den Sohn, sich dochwenigstens eine Zivildienststelle zu suchen;zur Bundeswehr wollte er ja nicht, seit ihm

* Umringt von Schülern bei der Trauerfeier am vergan-genen Freitag.

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Geschichtslehrer Heise*: „Du musst mir in die Augen sehen“

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schnell. Joachim Koch, Roberts letzterStammkursleiter, erzählt, dass Robert imSeptember 2001 zu einem Gespräch mit ei-nem Fachlehrer, der Schulleitung und demKurssprecher gebeten worden sei. In seinerGegenwart habe man beschlossen, ihn aneine andere Schule zu verweisen.

Im Schulgesetz des Freistaats Thüringensteht, dass für den Fall, dass „Erziehungs-maßnahmen“ keinen Erfolg erzielten,„eine schriftliche Mitteilung“ an die Elterngehen solle. Und „bei schweren oder häu-figen Pflichtverletzungen muss ein Hinweiserfolgen“. Die Zuweisung an eine andereSchule beschließe das Schulamt; „den An-trag stellt der Schulleiter auf Beschluss derLehrerkonferenz“.

Der Schulpsychologische Dienst desSchulamtes wurde im Fall des Robert S.nicht eingeschaltet. Eine Schulkonferenzhat es für Robert S. nie gegeben. Die sei,so Lehrer Koch, „rechtlich auchnicht nötig“ gewesen, „weil essich ja um eine Urkundenfäl-schung gehandelt hat“. War dieim strafrechtlichen Sinn wirklichbewiesen?

Steinhäuser, sagt Vize-Schul-amtschef Wolfram Abbe, sei jagar nicht von der Schule gewor-fen worden, man habe ihm le-diglich die Möglichkeit eröffnet,an einem anderen Gymnasiumdas Abitur zu machen; ein Ver-bleib am Gutenberg-Gymnasi-um sei wegen des „gestörtenVertrauensverhältnisses“ nichtmehr möglich gewesen.

Das klingt ganz, als versucheda jemand ungeschickt ein Ver-tuschungsmanöver .

Prévessin hatte seiner Familie und sei-nen Freunden 18 Jahre lang vorgespielt,ein erfolgreicher Arzt zu sein; in Wahrheitverbrachte er 18 Jahre lang seine Tage auf Parkplätzen und mit Spaziergängen.Kumpels und Verwandte gaben ihm, demangeblich so Welterfahrenen, 2,5 Mil-lionen Francs. Und dann, als der Schul-denstand zu hoch und das Gestrüpp ausLügen zu dicht war, als er kurz davorstand aufzufliegen, da tötete Romand sei-ne Frau, seine zwei Kinder und seineEltern. Der Teufel sei schuld gewesen, sagte er.

Es geht bei Menschen wie Romand nichtdarum, wie ausweglos ihre Lage objektivist. Ein Gespräch, ein Geständnis, und siekämen da wieder heraus.

Es geht darum, wie sie ihre Lage emp-finden. Ihre Blamage. Es geht darum, dasssie Lüge vor Lüge stellen, um die vorheri-

ge Lüge zu verbergen; darum,dass sie irgendwann glauben,wenn sie jetzt noch alles zuge-ben würden, würde die ganzeWelt über sie lachen.

Robert Steinhäuser wurdenEnde 2001 zwei Gymnasien ge-nannt, auf denen er doch nochins Leben hätte finden können.Beim ersten erkundigte er sich,aber dort bieten sie nur Kursean, die er nicht belegen wollte;beim zweiten meldete er sichnie. Hätte er mit Lehrer Kochgesprochen, hätte der ihn auf dieGleise in Richtung Realschulab-schluss setzen können; hätte erseinen Eltern gesagt, was loswar, hätten die ihm eine Lehr-stelle besorgt.

Selbst Thüringens Kultusminister Krappschreibt am vergangenen Donnerstag,gänzlich unverblümt, an Roberts Eltern,ihr Sohn sei „von der Schule verwiesenworden“.

Kollegen wie dem Physiklehrer Pockelwurde „Ende November oder Anfang De-zember“ eher lapidar mitgeteilt, dassRobert Steinhäuser nicht mehr Schüler desErfurter Gutenberg-Gymnasiums sei.

Es war ein hektischer Rauswurf ohneNetz und ohne Boden, und für Robert wares so etwas wie ein Todesurteil. Es war dieendgültige Niederlage. Und der Anstoß zurTat.

LEBEN MIT DER LÜGE

Am 2. Juli 1996 wurde Jean-ClaudeRomand zu lebenslänglicher Haft ver-

urteilt. Der Mann aus dem französischen

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Torte zum 18. Geburtstag: Alltag mit Kaffee und Kuchen

Robert Steinhäuser bei der Jugendweihe (1997): „Mach was, streng dich an“

Page 31: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

Die Eltern informieren „Volljährige Schüler können ihren Lehrern unter-sagen, den Eltern Auskunft über ihre schulischenLeistungen zu geben. Die Eltern des ErfurterAmokläufers etwa wussten nichts von dessenSchulverweis. Wie finden Sie diese Praxis?“

Falsch, weil auch bei voll-jährigen Schülern die Elternüber gravierende Schulproblemeinformiert sein sollten

Richtig, weil es sichbei 18-Jährigen schließ-

lich um erwachseneMenschen handelt

17% 79%

NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 30. April bis 2. Mai; rund 1000 Befragte;an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“

Sie waren erleichtert. Robert ließ sichjeden Morgen von seinen Eltern wecken,um Viertel vor acht. Heute kommt es de-nen natürlich merkwürdig vor, dass er sooft sagte, er müsse erst zur zweiten Stun-de erscheinen. Er trank Kaffee, steckte dasSchulbrot ein und ging. Ins Café.

„Für mich war mein Sohn am 26. Aprilin der Abiturprüfung“, sagt der Vater.

Und dann war es zu Ende. Der 26. Aprilwar der Tag der letzten Klausur, und baldwäre er aufgeflogen. Durch die Lokalzei-tung, die Jahr für Jahr die Abiturientenmeldet. Oder durch Freunde, die vom Abierzählt hätten. Es lässt sich nicht sagen,wie es herausgekommen wäre, aber eswäre herausgekommen, irgendwie.

DER AUSWEG

Jürgen Gautzsch, 52, Mitglied des Schüt-zenvereins „Domblick e. V.“, tat Dienst

an der Rekrutierungsfront. Der Frei-zeitpädagoge, der damals als ABM-Kraftbeim Erfurter Schulverwaltungsamt an-gestellt war, sollte Kinder und Jugendlichefür den Schießsport begeistern und sie,wie er sagt, „zu einer sinnvollen Freizeit-beschäftigung im Verein anschubsen“.Deshalb führte Gautzsch seine Informa-tionsveranstaltungen an Erfurter Schulendurch, mehrmals auch am Gutenberg-Gymnasium. „Das lief so ab, dass wir nachdem Sportunterricht Broschüren verteiltoder die Schüler zum Schnupperschießeneingeladen haben“, sagt Gautzsch, „abernur mit Luftgewehren, unter fachkundigerBetreuung.“

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Aber er log.Es begann damit, dass

er am ersten Tag nachdem Rauswurf seinenRucksack nahm und sag-te, er gehe jetzt in dieSchule. Ins Gutenberg-Gymnasium natürlich.

Es ging damit weiter,dass er seinen Freundenvom Gutenberg-Gymna-sium sagte, er habe dieSchule gewechselt.

Wo aber trieb er sichherum in all den Mona-ten? Morgen für Morgennahm er seinen Ruck-sack – und dann? Es gibtZeugen dafür, dass er seit Februar ins CaféMarathon zog, dorthin, wo keiner einenwie ihn vermuten würde.

Pünktlich um halb zehn, sobald geöffnetwar, sei er hier oben erschienen, auf derzweiten Ebene des EinkaufszentrumsBreuninger, immer allein. Er habe sichimmer auf denselben Platz am zweit-letzten Tisch gesetzt, wo man nicht gesehenwird und den besten Blick hat auf die Er-furter Altstadt. Die Menschen in derFußgängerzone sind von hier klein wiePuppen.

Es ist wie auf einer Kommandobrücke.Die runde Glasfront zieht sich bis auf denBoden. Morgens kommen nur wenige Gäs-te. Ein paar Rentner sitzen vor ihren Kaf-feetassen. Teller klappern, die Kasseschnurrt, und über dem Tresen verströmenMonitore den Singsang eines Nachrichten-

senders. Wer zu viel Zeit hat, kann sie hiergut vergessen.

Robert Steinhäuser trank Milchkaffeeoder Cappuccino, manchmal auch Eiskaf-fee. Die Kellnerinnen des Marathon erin-nern sich daran, dass der Junge immer lasoder irgendetwas schrieb. Sie wissen nichtmehr, ob es Bücher waren, die er dabeihatte, oder Zeitungen. Gegen Mittag sei eraufgestanden, habe gezahlt und sei gegan-gen, das letzte Mal am Mittwoch, zwei Tagevor seinem Rachefeldzug.

Und daheim verstrickte er sich in im-mer wildere Lügen. Den Eltern legte er imDezember 2001 ein Zwischenzeugnis vor,zwei Monate ging er da schon nicht mehrauf die Schule. „Es war für uns eine Freu-de. Es war für seine Verhältnisse gut“, sagtdie Mutter.

„Gefälscht“, sagt der Vater.

Jugendzimmer von Robert mit Computeranlage (1996): Blick in eine bizarre Welt

Page 32: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

„Ein- oder zweimal“ nur will GautzschRobert Steinhäuser gesehen haben; aberder Junge, der am Computer längst nahe-zu perfekt war, fühlte sich inspiriert. Bereitfürs echte Schießen.

Ehrenschütze und Ehrenmitglied imSchützenverein Domblick ist seit Septem-ber 2000 Thüringens Innenminister Chris-tian Köckert (CDU). Bis vor einem halbenJahr trainierte der Verein im Schießkellervom „Schützenhaus-Erfurt-Kalkreiße“, ei-nem rot-weiß gestrichenen Flachbau amRande der Stadt, wo die Güterzüge ste-hen. Vier Meter unter dem Parkplatz liegendie beiden 25-Meter-Schießbahnen, mit au-tomatischer Zuganlage. Ein Schuss 9-mm-Munition kostet hier 20 Cent. Man kannauch Kaliber .357-Magnum kaufen; aberdas ist teurer, 30 Cent.

Der Vereinsvorsitzende Martin Eilers,43, erinnert sich gern an Robert Steinhäu-ser. Der spätere Killer von Erfurt sei ein„ordentlicher Junge“ gewesen. Am 17. Ok-tober 2000, es war eine Zeit der besondersgroßen Sorgen in der Schule, stellte Stein-häuser den Aufnahmeantrag, den auch sei-ne Eltern unterschrieben.

wird, wenn der Schütze regelmäßigesSchießtraining nachweisen kann, scheiter-te auch dieser Versuch im Ansatz. „Ichhabe ihm erklärt, dass er in seinem Schüt-zenbuch zu wenige Stempel für Trainings-schießen hat“, sagt Birnbaum.

Fortan wurde Robert fleißiger. Er schossregelmäßig, bis ihm das Erfurter Ord-nungsamt nach Erkenntnissen der Staats-anwaltschaft am 16. Oktober 2001 die langersehnte Waffenbesitzkarte ausstellte. DieKarte berechtigt zum Kauf einer 9-mm-Pistole und einer Pumpgun. Martin Eilershat Steinhäuser in beiden Fällen den An-trag zum Eintrag einer Waffe selbst unter-zeichnet. Der Jugendliche habe mit derFlinte auf Tontauben schießen wollen. DieBegründung für den Kauf eigener Waffenwar simpel: Steinhäuser sei die auf denSchießständen angebotene Munition zuteuer gewesen, und deshalb wollte er die-se künftig selbst kaufen.

Bevor Eilers dem späteren Killer das sogenannte Bedürfnis zum Kauf einer Waffemit Stempel und Unterschrift quittierte,habe er ein langes Gespräch mit demSchützen geführt, sagt er. Aber er sagtauch, dass er „psychologischer Laie“ seiund „seelische Zustände nicht beurteilen“könne.

Sehr flink, noch im Oktober 2001, er-warb der Schüler die spätere Tatwaffe, die9-mm-Glock. Entgegen den gesetzlichenBestimmungen ist die Pistole nicht in derWaffenbesitzkarte mit Hersteller und Fa-brikationsnummer eingetragen. Innerhalbeiner 14-Tage-Frist hätte dies erfolgen müs-sen; das war eine Ordnungswidrigkeit, dieSteinhäuser ein Bußgeld eingebracht hätte,wenn sie der Erfurter Ordnungsbehördeaufgefallen wäre. Die Pumpgun hingegenwurde am 30. Oktober ordnungsgemäßvermerkt.

Eine Glock-Pistole kostet in Erfurt in Lä-den wie dem „Frankonia Jagd“ zwischen717 und 948 Euro. Der Waffenhändler ver-merkt den Verkauf in der Waffenbesitz-karte. Und mit der Karte kann dann Mu-nition in jeder Menge bestellt werden, auchper Katalog.

„Ich habe was gegen die Schützenverei-ne. Das ist so Burschenschaftsmentalität, somittelalterlich. Aber ich hätte es ja nur umdrei Monate aufhalten können, dann wäreer volljährig gewesen“, sagt der Vater.

Der Junge sei interessiert gewesen, sagtEilers, „präzise mit der Waffe umzugehen,gut zu treffen, das hat er hier gelernt“.

Seine ersten Stunden am Schießstandverbrachte er mit einem Profi. Jürgen Birn-baum, 48, ist Sportwart im Verein und imHauptberuf Oberkommissar im Führungs-stab der Erfurter Bereitschaftspolizei. AlsSchießtrainer schult er die Beamten imzielsicheren Umgang mit der Waffe, und erbetreut auch die Auswahlmannschaft derthüringischen Polizei. Dass ausgerechnetdieser Mann den Massenmörder ausgebil-det hat, ist eine der besonders absurdenWendungen dieser Geschichte.

Ein durchschnittlicher Schütze sei dieserRobert Steinhäuser gewesen, sagt Birn-baum, „das war kein Waffennarr“.

Eine eigene Waffe wollte Steinhäusernach Angaben von Eilers und Birnbaumerstmals im Frühjahr 2001 besitzen, dochweil eine Waffenbesitzkarte nur ausgestellt

Titel

Robert bei einer Familienfeier: Einer dieser pubertierenden Teenager

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Den Domblick-Schützen wurde das Trai-ning im Schützenhaus-Erfurt-Kalkreiße vorsechs Monaten zu teuer, und sie verlegtendas Handfeuerwaffentraining unter ande-rem nach Elxleben, die B4 ein paar Kilo-meter hinauf Richtung Norden. Robertaber ging weiter ins Schützenhaus. Seinehemaliger Schießwart Hans Meitz zeigteihm, wie man den Abzug nur mit der Fin-gerkuppe bedient und nicht mit dem Ge-lenk, weil das die Waffe zur Seite ziehenkann. „Er machte gute Fortschritte. ZumSchluss hat er ziemlich gut geschossen, auf25 Metern dicht am Schwarzen“, sagt er.Steinhäuser hatte die Registriernummer128. Er kam erstmals im Juli 2001, zum letz-ten Mal am 17. Dezember. Der Computerdes Schießclubs verzeichnet die Regi-striernummer 128 für die letzten vier Mo-nate nicht mehr.

Zu Hause erzählte Robert wenig vomVerein. Aber er erzählte, dass die Waffendort aufbewahrt würden. Dass Robert selbstzwei Waffen besaß, wussten seine Eltern,wie sie sagen, nicht. „Wer eine Waffe kauft,benutzt sie auch“, meint sein Vater.

Sie wussten nichts, sie bemerkten nichts. Und der große Bruder, sein großes Vor-

bild? Peter Steinhäuser, der Sonnenscheinder Familie, groß, dunkle Haare, der ex-zellente Handballtorwart? Der bemerktenichts, weil er nicht mehr zu Hause wohn-te. Robert muss sich neben Peter gefühlthaben wie das hässliche Entlein, picklig,käsig, schüchtern und klein, immer zweiteWahl. „Seine Videospiele“, sagt sein Bru-der, „habe ich nicht als so abwegig emp-funden. Das machen so viele.“

Es gab diese Momente, wo die Elternganz kurz Verdacht schöpften. Es war dreiWochen vor dem 26. April. Da sah die Mut-ter, dass der Schulrucksack leer war.„Gehst du etwa nicht mehr in die Schule?“,

* Am vergangenen Freitag in Erfurt.

ner Heise „hätte auch ein leiserer Heldsein können“.

Selten wurde ein Mensch so schnelldurch den Fleischwolf der Öffentlichkeitgedreht. Vom Opfer zum Helden zumWichtigtuer – so ergeht es Rainer Heise,dem Mann, den Bundesinnenminister OttoSchily für das Bundesverdienstkreuz vor-schlug, viel zu früh, nämlich als Erfurt nochim Koma lag und alles verkraftete, aberkeinen Kriegsgewinnler.

Ist Heise ein närrischer Heiliger? Oderein Aufschneider?

Rainer Heise, 60 Jahre alt, runder Kopfauf breiten Schultern, blaue Augen, kurzerweißer Bart. Er hat kräftige Hände, wan-dert gern, schwimmt viel, isst gern vegeta-risch. „Er ist impulsiv und hat eine inten-sive Art zu reden“, sagt Marco Kneise, 19,einer von Heises Schülern, „aber er istauch der Typ Lehrer, der einen nicht hän-gen lässt.“ Und seine Nachbarin, die ihnseit 32 Jahren kennt, sagt, er sei ein„grundanständiger Mensch“.

Aber der Held von Erfurt ist zurzeit dermeistgehasste Mann der Stadt.

„Warum sich alles auf mich stürzt, war-um jetzt diese Polarisierung sich an meinerPerson festmacht“, sagt er, „das begreife,wer will …“ Er zuckt die Achseln. Erst derTerror des Attentats, dann das Verhördurch die Polizei, sechs Stunden lang.Dann die Vereinnahmung durch den In-nenminister. Dann der Terror der Medien,die eine Schneise durch sein Leben zie-hen. Pausenlos klingelt das Telefon in sei-ner Dachwohnung, wo er nach seinerScheidung allein lebt; aber Heise nimmtschon lange nicht mehr ab. „Ich hatte kei-ne Erfahrung mit Medien“, sagt er, „ichhabe nie behauptet, dass ich ein Held bin.“

Der Tag, an dem Heise zum gehasstenHelden wurde, begann ganz normal. ErsteStunde, 7.30 Uhr, Heise unterrichtete sei-nen Leistungskurs Geschichte. Heiseschaute an diesem Tag ständig auf die Arm-banduhr, denn die Schulklingel war wegender Abiturprüfungen abgestellt.

Um 9.25 Uhr ging er in den Raum 108 imersten Stock zum Kunstunterricht einer

sechsten Klasse. Es war kurznach elf, als Heise einenKnall hörte; er hatte das Un-terrichtsthema ins Klassen-buch eingetragen, setzte ge-rade sein schwungvolles Kür-zel daneben, „hse“, undzuckte zusammen. Blick aufdie Uhr: acht Minuten nachelf.

Eines der Kinder rief Hei-se zu: „Oben schießt einer!“Schon stolperten die ersten,schrien, weinten. „In demMoment hatte ich nur einenGedanken – die Kinder müs-sen raus aus dem Gebäude!“Heise versuchte die Fluchtzu organisieren. Er rief An-

fragte sie. „Ruf doch an, natürlich gehe ichda noch hin“, sagte er. Der Anruf un-terblieb.

Und dann, am 11. April, einen Tag bevorsie mit ihrem Mann in Urlaub fuhr, suchteChristel Steinhäuser eine Reisetasche undfand sie in Roberts Zimmer; voll undschwer war sie, und ein kleines Vorhänge-schloss baumelte am Reißverschluss.„Willst du sie haben?“, fragte er. „Lass nur,ich nehme eine andere“, sagte sie.

Hätte sie doch nur nachgefragt. DasSchloss geöffnet. Wäre sie doch bloß schär-fer und bestimmter gewesen. „Der Zufallhat uns nicht geholfen, nicht ein einzigesMal“, sagt der Vater.

DER GEHASSTE HELD

Drei Morddrohungen lagen schon imBriefkasten, als der anonyme Anrufer

sagte: „Dich knallen wir auch noch ab, duSchwein.“ In der Straßenbahn wurde erangespuckt, weil er „sich im Fernsehen soekelhaft wichtig machen“ würde. Und dieSchuldirektorin Christiane Alt sagt, Rai-

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Titel

Ministerpräsident Vogel, Direktorin Alt* Schweigen und Weinen

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Familie Steinhäuser, Freunde: „Still war er – aber kein Stück aggressiv“

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weisungen, stemmte die Pendeltür auf,klemmte sie fest, griff sich die kleinerenKinder, raus hier, erst mal alle raus.

Und noch hatte er keine Ahnung, was dageschehen war.

Die Kinder standen dann draußen aufdem Hof, an der Rückfront des Gebäudes.Gegenüber liegt die Turnhalle, rechts derLehrerparkplatz. Heise sah seine KolleginMartina Holland. „Lauft alle zu FrauHolland“, rief Heise den Schülern zu, erschob und schleuste die Zögernden in dierichtige Richtung.

Da trat eine schwarze Gestalt hinter Hei-se aus der Tür.

Der Maskierte ging um Heise herum,„er machte einen regelrechten Bogen ummich, keine Ahnung, warum“. Der Mas-

kierte hatte eine Waffe, gab einen Schussab in Richtung Rondell, wo die Kinderschon über den Zaun kletterten. Dann hör-te Heise ein Klicken. Dann sagte der Mas-kierte: „Die krieg ich auch noch.“ Und griffin die Tasche.

„Ich sah“, sagt Heise, „wie der Mas-kierte etwas Messingfarbenes aus seinerTasche zog und an seiner Waffe hantierteund zum Parkplatz ging.“

Die Stimme kannte er, aber woher? Unddann machte Heise kehrt, rannte die Trep-pen hoch in den ersten Stock, und egal wasspäter passierte: Neun von zehn Menschenwären vermutlich draußen geblieben; Hei-se handelte wie ein Feuerwehrmann, derseinen Fluchtinstinkt unterdrückt und inein brennendes Haus stürmt. „Ich habeagiert wie ferngelenkt“, sagt er.

Es war totenstill dort oben, buchstäb-lich. Heise ging den Gang entlang bis zum Materialraum, wohin sich die Leh-rer in ihren kurzen Pausen zurückzie-hen. Heise drückte die Klinke, verschlos-

Whisky gekippt, sich eine Havanna an-gesteckt und einen Stetson übergestülpt.Derart maskiert und mit Macht-Requisitenausstaffiert, war Robert zu dem LehrerHans Lippe marschiert, den er nicht leidenkonnte, und hatte, mit ausgestrecktem Zei-gefinger, Schüsse simuliert. Damals schonwar Heise dazwischengegangen, und erhatte dem Schüler Zigarre und Whiskyfla-sche weggenommen. Und Robert Stein-häuser hatte das seinen ersten Verweis ein-gebracht.

Und nun war es ein wenig wie damals.Und in dem Moment, da Heise, sogar einwenig barsch, den Schüler zusammen-stauchte, war das Schüler-Lehrer-Verhältnisvon früher wieder hergestellt.

„Nee, Herr Heise“, sagte der Attentäter,„für heute ist genug.“

„Robert, darüber werden wir redenmüssen“, erwiderte Heise streng – Stein-häuser stopfte brav die Maske in seine Ho-sentasche und legte die Pistole auf das hell-graue Holzregal, das vor dem Material-raum steht. Heise schob ihn in den Mate-rialraum und sagte: „Deine Waffe nimmstdu mit.“ Robert griff sie sich, Heise schubs-te den Attentäter in den Raum, schloss dieTür und verriegelte sie. Es war vorbei.

War es so?„Es könnte so gewesen sein“, sagen Po-

lizisten.

DIE EINSAMKEIT

Am Freitag vergangener Woche weint dieStadt Erfurt. 100 000 Menschen kom-

men zur Trauerfeier; „wir leben miteinan-der und kennen uns häufig nicht“, sagtBundespräsident Johannes Rau.

Eigentlich wollten sie hingehen, um ihrEntsetzen zu zeigen, ihre Fassungslosigkeitdarüber, was ihr Sohn angerichtet hat, ihrMitgefühl. Am Donnerstagmittag war einVertreter der Staatskanzlei im Haus, umden Besuch zu besprechen. Aber am Don-nerstagabend wurden sie wieder ausgela-den.

„Die Sicherheitslage lässt es nicht zu“,sagte der Mann am Telefon.

Günter Steinhäuser kauerte weinend aufdem Sofa. „Die wollen uns nicht, Christel.Die denken, da kommt ein Mob und lynchtuns.“ Er vergrub das Gesicht in den Hän-den, die unkontrolliert zitterten. Dannschüttelte der Vater den Kopf und sagte:„Die Sicherheitslage lässt es nicht zu …Jetzt macht gar nichts mehr Sinn.“

Und dann gehen sie doch hin. Sie schau-en der Trauerfeier für die Opfer des 26. April von oben, hinter Fensterglas zu;ein ZDF-Kamerateam beobachtet sie.

Es ist ihre Stadt, ihr Sohn ist der 17. Tote.Aber sie gehören nicht mehr dazu.

Klaus Brinkbäumer, Dominik Cziesche,Ralf Hoppe, Felix Kurz,

Cordula Meyer, Irina Repke, Sven Röbel, Alexander Smoltczyk,

Andreas Wassermann, Steffen Winter

sen, er schloss auf, er zog die Tür hintersich zu.

Dann hörte er Schritte. Ein Schlurfen.„Als ob ein Kind seinen Ranzen hinter sichherschleift.“

Er öffnete die Tür einen Spalt weit, späh-te hinaus. Sah den schwarz gekleidetenMaskierten, wie der den Gang entlangkam, mit schweren, müden Schritten. Sah,dass der Maskierte ihn sah.

GAME OVER

Nun hätte Heise die Tür zuwerfen kön-nen, abschließen, sich verrammeln. Er

tat es nicht. „Es schien mir das Falsche“,sagt er, „ich kann’s nicht erklären.“ Statt-dessen trat er hinaus auf den Gang und

wartete, bis der Maskierte vor ihm stand.Dann zerrte sich der Fremde die Maskevom Kopf, und Heise erkannte das Gesichtseines früheren Schülers Robert Steinhäu-ser. Schweißüberströmt und bleich.

„Robert, du?“, sagte Heise. Steinhäuserverzog den Mund zu einem schiefen Grin-sen. Noch hielt er die Pistole in der Hand.Aber Heise fragte: „Hast du geschossen,was denkst du dir eigentlich dabei?“

Robert Steinhäuser starrte seinen ehe-maligen Lehrer an, Heise sagte: „Wenn duauf mich schießen willst, dann tu’s, aber dumusst mir in die Augen sehen dabei.“

Und er hatte Glück.Denn Heise war plötzlich ein Gesicht und

keine Silhouette aus einem Computerspiel.Und außerdem wiederholte sich an diesem26. April 2002 vor dem Materialraum eineSzene, die die beiden zwei Jahre zuvor aufeiner Klassenfahrt erlebt hatten. Als ob dasdamals eine Übung gewesen wäre.

Damals, Heise war noch Roberts Stamm-kurslehrer, hatte der Schüler ein paar

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Titel

Zwölftklässler Steinhäuser (2001): „Alles Bullshit“

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Page 35: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

SPIEGEL: Viele Schüler bleibensitzen oder werden der Schuleverwiesen. Kann jeder von ih-nen zum Amokläufer werden?Adler: Glücklicherweise sprichtdie Statistik dagegen: DieWahrscheinlichkeit, dass einMann in Deutschland Amokläuft, liegt bei 1 :1 Million, dasseine Frau so etwas tut, bei 1:20Millionen. In den allermeistenFällen sind es völlig alltäglicheProbleme oder Kränkungen,die später als Auslöser für ei-nen Massenmord gelten. Aber gottlob kön-nen die meisten Menschen so etwas ent-weder verarbeiten oder verdrängen.SPIEGEL: Gibt es so etwas wie ein typischesTäterprofil?Adler: Der klassische Amokläufer ist männ-lich, gut ausgebildet, meist um die 30 bis 40und steht vor der deprimierenden Bilanzseines Lebens. Zur Zeit seiner Tat ist er arbeitslos, trotz seiner guten Ausbildung.Und je gebildeter er ist, desto gefährlicher. SPIEGEL: Robert Steinhäuser war aber we-sentlich jünger …Adler: … gerade darin sehe ich ein sehrbeunruhigendes, neues Phänomen: Bis in die neunziger Jahre war die Zahl der Amokläufe weitgehend konstant. Seithersteigt sie an, weil zunehmend Schüler ausrasten. Eine Häufung lässt besonders

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seine Kinder, wollte seine gesamte Sippeauslöschen und steckte deshalb seinen Geburtsort Mühlhausen (Baden-Württem-berg) in Brand.SPIEGEL: Robert Steinhäuser scheint wederin die eine noch in die andere dieser Kate-gorien zu passen.Adler: Nach allem, was wir bislang wissen,gehört er zu der dritten Gruppe: den Per-sönlichkeitsgestörten, zu denen ich übri-gens auch den 16-jährigen Martin Peyerlzählen würde, mit dessen Amoklauf in BadReichenhall die jüngste Serie vor gut zweiJahren begann. Diese Täter verüben diespektakulärsten und opferreichsten Amok-läufe. In der Regel verbergen sich dahinternarzisstische Persönlichkeiten, die bezie-hungsgestört und leicht kränkbar sind. Siesind sehr bemüht, sich anzupassen. Zu-gleich haben sie ganz genaue, hochstre-bende Vorstellungen von sich selber, diemit der Wirklichkeit überhaupt nicht übereinstimmen. Diese Menschen erlei-den deshalb eine Kränkung nach der ande-ren, und im Gegensatz zu den meistenMenschen vergessen sie keine davon. DieSchmach wühlt und wühlt in ihnen, bis sieirgendwann gegen die ihrer Meinung nachungerechte Welt losschlagen.SPIEGEL: Welche Rolle spielt dabei die Fa-milie, aus der ein Amokläufer stammt?Adler: Häufig ist dieser Typ des Täters sehr auf die Mutter fixiert, er will vor ihrgut dastehen, ihr imponieren. Er scheintzufrieden, obwohl er in Wahrheit nachAnerkennung hungert. Er baut sich Stückfür Stück eine utopische Welt im Kopfzurecht. Und damit steuert er auf Riesen-probleme zu, wenn seine Vorstellungen,spätestens mit dem Beginn der Pubertät,immer mehr in Widerspruch zur Realität kommen.SPIEGEL: Bahnt sich die Mordtat also schonim Alter von 12 oder 13 an?Adler: Im Prinzip ja. Wenn sich ein Jungein sich kehrt und sich isoliert, dann kanndas ein Hinweis auf eine Störung sein, diesich aus der Diskrepanz zwischen Phanta-siewelt und Wirklichkeit ergibt.SPIEGEL: Besonders auffällig soll an Robertseine Antriebsschwäche gewesen sein. Die

aufhorchen: In nur zwei Jahren passierendrei tödliche Fälle allein in Deutschland,und zwar mit wachsender Brutalität. Nach-ahmung scheint dabei eine große Rolle zuspielen, eine Art fataler Werther-Effekt wiebei Selbstmorden.

SPIEGEL: Gibt es verschiedeneTätertypen?Adler: Wir unterscheiden dreiGruppen: Das eine sind dieSchizophrenen. Sie bekämp-fen aus einer Wahnvorstellungheraus irgendwelche bösenMächte oder Invasoren ausdem All. Solch einen Jugend-lichen haben wir derzeit beiuns im Krankenhaus. Er sah inseiner Großmutter den Teufelund brachte erst sie, dann seine Schwester um. Täter wiedieser ballern meist wild um

sich und töten nur wenige Menschen. Auf der anderen Seite gibt es die Depres-siven. Sie bilden sich ein, durch eine schandhafte Tat etwa die Ehre ihrer Fami-lie zerstört zu haben, und töten, um den ihnen Nahe-stehenden die Schmach zu ersparen.SPIEGEL: Können Sie ein Bei-spiel nennen?Adler: Der wohl am bestenuntersuchte Fall ist der desHauptlehrers Ernst Wagner,der sich eingebildet hatte,eine sodomistische Hand-lung begangen zu haben. Er tötete 1913 seine Frau und

* Holzstich von 1864.

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Amoklauf-Experte AdlerFataler Werther-Effekt

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„Und dann ist er Rambo“Der Psychiater Lothar Adler über das typische Täterprofil von

Amokläufern und den Weg Robert Steinhäusers vom kontaktgestörten Jugendlichen zum rächenden Massenmörder

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Amokläufer in Malaysia*: Mordrausch als Kriegstaktik

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Adler, 54, ist Direktor der ÖkumenischenHainich-Klinik in Mühlhausen (Thürin-gen). Der Psychiater hat fast 200 Fällevon Amokläufen analysiert und dieErgebnisse in dem Buch „Amok – EineStudie“ veröffentlicht.

Opfer des Amoklaufs in Littleton„Jeder Versuch, mutig zu sein, geht schief“

Page 36: Amokläufer - Und dann ist er Rambo

Typologie einesAmokläufersNach einer wissenschaftlichenAuswertung von 196 Amoktatenist der Täter:

Quelle: Lothar Adler

in 95 Prozent der Fälle männlich

im Durchschnitt 35 Jahre alt

eher gut ausgebildet

zum Tatzeitpunkt schlechtberuflich integriert

häufig mit Schusswaffenvertraut (hohe Waffenaffinität)

oft aggressiv, passiv-gehemmt,sexuell abstinent und/oderkontaktscheu

auf die Tat vorbereitet und hatseine Waffe vorher ausgewählt

Eltern konnten ihn für kein Hobby begeis-tern, er blieb oft zu Hause, war faul in derSchule. Steuerte der Junge geradewegs ineine Depression?Adler: Schwer zu sagen. In dem für die Eltern sichtbaren Leben mag er antriebs-gestört gewesen sein. Aber das lag ver-mutlich nur daran, dass er seine ganzeKraft und Aufmerksamkeit in die fiktiveWelt steckte. Robert driftete in eine hoch-aggressive Ersatzwelt, aus der er schon da-mals mit Hilfe eines Jugendpsychologenoder einer anderen Bezugsperson hätteherausgeholt werden müssen.SPIEGEL: Ihrer Studie zufolge gibt es einenbestimmten Punkt, an dem die akute Ent-wicklung hin zum Amoklauf einsetzt. Wannwar Robert an diesem Punkt angekommen?Adler: Es ist zum Beispiel möglich, dass die-se so genannte Grübelphase für ihn be-gann, als klar wurde, dass er eine Klassewiederholen würde – von außen besehennicht sehr dramatisch, der Junge aber könn-te es als traumatisch empfunden haben.SPIEGEL: Wie muss man sich diese Grübel-phase vorstellen?Adler: Die Gedanken kreisen nur noch um Rache- und Selbstmordgedanken –ähnlich wie bei Lebensmüden. Äußerlichwirken solche Menschen wie Maschinen,sie scheinen abwesend, kalt und abge-brüht. In dieser Phase, unmittelbar vordem Gewaltausbruch, wird der Geist im-mer mehr beherrscht von dem Motto: Alles oder nichts. Steuernde Gedankenvon außen dringen nicht mehr zu diesenMenschen vor: Ein „Ist doch nicht soschlimm“ oder ein „Wird schon weiter-gehen“ gibt es nicht mehr.

SPIEGEL: Trotzdem hat Robert in dieserPhase offenbar noch ganz normal am Ess-tisch gesessen und wie selbstverständlichan den Gesprächen teilgenommen.Adler: Daran ist überhaupt nichts unge-wöhnlich. Ein Mensch, der so viele Krän-kungen nicht verarbeitet hat, ist in derLage, seine Rolle weiterzuspielen.SPIEGEL: Robert war dauernd in seinemZimmer, spielte gewalttätige Computer-spiele, schaute Videofilme. Was suchte erdort?Adler: Der Rückzug aus der realen Weltbewirkt nicht nur eine Isolation, sondern er lässt auch eine Leere entstehen. Diese

Leere wird ausgefüllt mit einer Welt, die er sich aus Videofilmen und Compu-terspielen zusammenbastelt. Er gerät da-mit in einen Teufelskreis: Er lernt nicht mehr, weil er so viel Computer spielt. Da-durch bekommt er schlechte Noten, fühltsich also gekränkt und spielt noch mehrComputer. SPIEGEL: Wie kommt es dann zum Rea-litätsdurchbruch? Wann also wird die Fik-tion der Filme und Spiele Wirklichkeit?Adler: Liebe und Sexualität laufen bei ihm nicht; Schule auch nicht. Nur Video-

filme. Er kann seine Wünsche nur in der Phantasie ausleben. Das wird irgend-wann unbefriedigend. Ähnlich wie beimBetrachten eines Pornofilms entsteht derWunsch, es auch in der Realität zu ver-suchen. SPIEGEL: Welche Bedeutung hatte dann derSchulverweis?Adler: Damit stand Robert endgültig vor den Trümmern seiner Trugbilder, unddas machte ihn vermutlich zornig. Wenndas Leid zu groß wird, dann schaltet das Gehirn die Gefühle vollständig ab; dann handelt er wie im Film. Dann ist er Rambo.

SPIEGEL: Er zeigte den Eltern im Dezemberein gefälschtes Zeugnis …Adler: … ein letzter Versuch, den Realitäts-verlust aufrechtzuerhalten. In seiner Situa-tion musste er stur weitermachen, oder seinLügengebilde wäre zusammengebrochen.Das ist eine extreme Stresssituation.SPIEGEL: Er fälscht die Noten und will da-mit sagen: Schaut her, ich bin besser ge-worden.Adler: Er will natürlich seinem narzissti-schen Bild entsprechen, vor allem aber willer signalisieren: Lasst mich in Ruhe, ichhabe alles im Griff.SPIEGEL: Was gab dann am 26. April denAusschlag, jetzt loszuschlagen?Adler: Am Ende bedarf es gar keines Aus-lösers mehr. Die Mordgedanken reifen eherwie eine Eiterbeule, die irgendwann platzt.Auch der Hauptlehrer Wagner ist so vor-gegangen: Er hat alles kühl geplant,Schießübungen absolviert, und nach einerschönen Sommernacht ist er dann plötz-lich aufgestanden und hat mit der Tötungseiner Familie begonnen.SPIEGEL: Was geht während der Tat im Kopfdes Amokläufers vor?Adler: Das eigentliche Töten geht meist ra-send schnell, kalt, maschinenhaft. MartinBryant etwa ist durch ein Café marschiertund hat wahllos um sich geschossen. An ei-nem bestimmten Punkt haben sich Amok-läufer abgearbeitet. Mit der Wiederkehrdes Verstands bringen sie sich dann selberum – je mehr Leichen sie hinterlassen ha-ben, desto wahrscheinlicher ist ihre Selbst-tötung. Dadurch bedingt wissen wir nurwenig darüber, wie sie sich während undnach der Tat fühlen. Bryant hat überlebtund sagte anschließend aus: Er konnte sichan nichts erinnern. Das könne unmöglicher selber angerichtet haben.SPIEGEL: Warum hat sich Robert in einenKampfdress gekleidet?Adler: Das ist charakteristisch: Die Uniformmacht aus der Tat eine Art Ritual. Sie sollsignalisieren, dass es hier um Ehre geht. SPIEGEL: Hat sich Robert in diesem Mo-ment im Recht gefühlt?Adler: Subjektiv ja. Das Gefühl, im Recht zu sein, hat ja auch den Amokläufern inMalaysia ihre Kraft gegeben, wo einst der Mordrausch als Kriegstaktik eingesetztwurde. Robert wollte seine Ehre und seinSelbstwertgefühl wieder herstellen – wobeiich allerdings bezweifle, dass er in diesemStadium noch in moralischen Kategoriengedacht hat.SPIEGEL: Als ihm der Lehrer Rainer Heiseentgegentrat, war da die Tat vorüber?Adler: In jedem Fall. Während Amokläufernoch im Blutrausch sind, ist jede Be-schwichtigung völlig sinnlos. Auch beimAmoklauf in Littleton hat sich gezeigt: DerVersuch, mutig zu sein, geht in der Regelschief. Heise hatte ein unverschämtesGlück. Wäre Roberts Wut noch nicht ver-raucht gewesen, hätte er ihn gnadenlosabgeknallt. Interview: Gerald Traufetter

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Hauptlehrer Wagner Bryant Peyerl

Berühmte Amokläufer: „Ein ‚Wird schon weitergehen‘ gibt es nicht mehr“

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Der Schriftsteller Georg ChristophLichtenberg war ein weiser Mann.„Mehr als das Gold“, sagte er, „hat

das Blei die Welt verändert.“ Dieser Satz war damals, vor über 200

Jahren, anders gemeint, weil er sich auf

die Kunst des Buchdrucks bezog; der Satzsollte eine Hymne sein auf den Erfinder derDruckerpresse, Johannes Gutenberg.

Aber am vergangenen Freitag, gegen 11 Uhr, wurde er auf eine beängstigende,brutale, ja bestialische Weise wahr.

Um 11.00 Uhr stand ein Mädchen imErdgeschoss des Erfurter Gutenberg-Gym-nasiums ziemlich verträumt im Flur herum.Die Kleine aus der sechsten Klasse sah,wie sich die Tür der Herrentoilette öffneteund wie ein Mann, ganz in Schwarz und

Mörderischer AbgangEr war ein Einzelgänger, seine Welt bestand aus brutalen Computerspielen, Heavy Metal

und Waffen: Am vergangenen Freitag drehte ein Erfurter Ex-Schüler durch, ermordete an seinem alten Gymnasium 16 Menschen und erschoss sich dann selbst.

Amokläufer Steinhäuser: „Ich möchte, dass ich einmal berühmt bin“

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mit einer Maske, herauskam. Sie sah, wieer eine Pistole hob und eine Lehrerin er-schoss, einfach so.

Um 11.00 Uhr saß Hannes N., Schülerder 10 b, noch in Raum 301 des Gutenberg-Gymnasiums. Er wollte in die Pause, abernoch durfte er nicht; die 10 b schrieb die-se verdammte Klassenarbeit in Biologie,Thema: die Evolution. Als er den erstenKnall hörte, dann den zweiten, schnell da-nach den dritten, habe er an einen „Press-lufthammer gedacht oder an einen Bol-zenstoß“, sagt Hannes N.

Und wer rechnet auch mit Schüssen ineiner deutschen Schule an einem ganz nor-malen Frühlingsmorgen?

Um 11.05 Uhr begann die Essenspause.Es gab Reis mit Huhn in der Kantine des

Sah, wie Robert Steinhäuser, in Schwarzund maskiert, durch den Flur ging.

Sah, dass er Waffen trug, eine kurze undeine lange.

Sah, dass er die Tür zum Klassenraum303 öffnete. Und hineinschoss, einfach so,von der Tür in Richtung Lehrerpult.

Und dann sah Hannes N., wie RobertSteinhäuser zur Treppe ging und in Rich-tung Lehrerzimmer verschwand.

Höchste Zeit abzuhauen.Robert Steinhäuser ging ins Sekretariat.

Und mordete und mordete, bis der Rache-feldzug beendet war. Er hatte über Todund Leben entschieden, und in ein paarMinuten würde er berühmt sein. Was nochfehlte, war der großartige Abgang: RobertSteinhäuser erschoss sich selbst.

Nun waren es, so die Bilanz der Polizeiam Samstag, 17 Tote – eine Schülerin, einSchüler, ein Polizist und 13 Lehrkräfte.Robert Steinhäuser tötete Heidrun B.,Hans L., Helmut S., Peter W. und Gabrie-le K. Es starben der Lehrer H. und dieLehrerinnen D., W. und H., die allesamtam Erfurter Gymnasium unterrichteten.

Zu den Toten zählt auch die stellvertre-tende Direktorin des Gymnasiums, dieOberstudienrätin Rosemarie Hajna. AlsJournalisten nach der Tat anriefen, mel-

Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, und Jo-hanna S. aus der 7 c hatte im Speisesaal ge-rade ihren Teller vor sich abgestellt, da sahsie draußen Schüler davonrennen. Nochehe sie begriff, was los war, hörte die 13-Jährige zwei Schüsse. Sie kamen von oben,aus dem dritten oder vierten Stockwerk.Panisch verbarrikadierten sich fünf Schülerund vier Bedienungen im Speiseraum.

Um 11.05 Uhr rief der Hausmeister desGutenberg-Gymnasiums bei der Polizei an:„Schnell, hier wird geschossen.“

Um 11.05 Uhr hörte der BiologielehrerAndreas Förster „irgendwelchen Lärm“. Sei-ne Tochter Katja saß in der Abiturprüfungfür Mathematik. Beide verließen ihre Klas-senzimmer, beide sahen Leichen im Trep-penhaus, beide versteckten sich in der Aula.

Um 11.06 Uhr war oben inder dritten Etage auch Han-nes N. auf dem Gang. Er dach-te an die Bauarbeiten, irgend-wo auf dem Schulgelände. Jaklar, sagte sich N., die Bauar-beiten erklärten den Lärm.Und dann sah er Robert Stein-häuser.

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Kollegium des Johannes-Gutenberg-Gymnasiums: „Deutschlands schlimmster Tag“

Erfurter Gutenberg-Gymnasium„Schnell, hier wird geschossen“

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dete sich ihr Ehemann Karl-Heinz: „Mei-ne Frau werden Sie nie wieder sprechenkönnen. Sie ist heute ermordet worden.“

Der Polizist Andreas Gorski starb, als erkurz nach 11 Uhr in die Schule stürmte.Der Streifenpolizist war allein. Gorski, des-sen Tochter an diesem 26. April Geburts-tag hatte, starb, weil niemand ahnen konn-te, was an diesem Tag geschehen würde.

Es war einer dieser Tage, die keiner ver-gisst; für Deutschland war es ein wenig sowie der 11. September für Amerika. Denneinen solchen Amoklauf hatte es bis dahinnicht gegeben – nicht an einer Schule, nichtdurch einen 19-jährigen jungen Mann, nichtmit so vielen Opfern. Robert Steinhäuserhat dafür gesorgt, dass das Märchen, Ge-walt gebe es nur in amerikanischen Schu-len, als Märchen enttarnt ist. Solche Gewalthat es bisher noch nicht mal dort in Ame-rika gegeben.

„Deutschlands schlimmster Tag“, schrieb„Bild“ tags darauf. „Diese mörderischenSelbstmörder“, sagte Außenminister Josch-ka Fischer, „das ist ein furchtbares Verbre-chen.“ Und Doris Schröder-Köpf, Ehefraudes Bundeskanzlers, sprach aus, was wohlalle Eltern dachten: „Man stellt sich ja vor,dass das eigene Kind beteiligt wäre.“ Natür-lich könne sie sich über den konkreten Fallund seine Hintergründe nicht äußern, abereines sei ihr klar: „Wir müssen mehr alsbisher auf die Seelen der Kinder aufpas-

ke für sein grausiges Feuerwerk fehlte?Beide Geschichten werden in Erfurt er-zählt, und in Wahrheit, das macht seinenFall so irrwitzig, war Steinhäuser wohl bei-des ein bisschen: lange Jahre ein Clownseiner Klasse, ein netter Junge, der denAuftritt vor Publikum liebte – und am Endeein Racheengel in eigener Sache, vor zweiJahren schon von der Bahn abgekommen,gedemütigt, ein Waffennarr, kalt bis insHerz.

Eine Lehrerin, natürlich geschockt undfassungslos, machte einen fatalen Fehler:Sie zeigte Steinhäuser den Vogel. Stein-häuser sagte kein Wort, ging auf sie zu,setzte die Waffen an ihren Kopf und drück-

sen.“ Denn es gehe darum, „eine Über-schwemmung durch Gewalt zu verhin-dern“.

Aber wieso gerade in Erfurt? Wieso andiesem Tag, in diesem Gymnasium?

Der 94 Jahre alte Jugendstilbau, fünfStockwerke hoch, hat etwas von einemSchloss. Seit 1909 wird hier unterrichtet,und nach der Wende richtete der FreistaatThüringen das Gymnasium ein; „ein ruhi-ges Gymnasium“, sagt Sylvia Kuplich, Mut-ter der 11-jährigen Christiane, „das Schul-klima ist gut, die Lehrer geben sich Mühe.“

Also warum?

Der Killer von ErfurtEs war auch in Erfurt so, wie es meistensist nach solchen Verbrechen: Es gibt Men-schen, die schon immer geahnt haben wol-len, dass es so kommen musste – und esgibt andere, die sich das alles nicht erklärenkönnen. Das hat damit zu tun, dass derMassenmörder Robert Steinhäuser Freun-de und Feinde auf seiner Schule hatte; esführte dazu, dass Ende voriger Woche sehrunterschiedliche Bilder entworfen wurdenvon dem Jungen, den sie „Steini“ nannten.

War Robert Steinhäuser also ein netter,fröhlicher Typ, ein junger Mann mit vielenFreunden, der nur die eine entscheidendeNiederlage in seinem Leben nicht verkraf-ten konnte? Oder war er ein Wahnsinniger,ein blutrünstiger Killer, dem nur ein Fun-

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Versorgung eines Opfers: „Man stellt sich vor, dass das eigene Kind beteiligt wäre“

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Opfer des Attentäters: „Dann wird aus der

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te ab. Dann zog er weiter, ins nächste Klas-senzimmer, und erschoss dort den nächstenLehrer. Aus der Nähe, ohne ein Wort.

Um 18.05 Uhr fiel die Polizei in die Otto-Straße von Erfurt ein. Die so genannte Be-weissicherungs-Festnahmeeinheit „Bison16“ hielt vor der Hausnummer 40. Die Po-lizeieinheiten stürmten in das dritte Stock-werk des gelben Jugendstilbaus. Dortwohnte Robert Steinhäuser, 19, bei seinenEltern – ein ostdeutsches Idyll, überrolltvon Nachrichten im Minutentakt, von 60Beamten, die ins Haus stürmten, von Ka-merateams, die die Straße belagerten.

„Ich möchte, dass mich einmal alle ken-nen und ich berühmt bin“, hatte Steinhäu-ser neulich gesagt. Jetzt war er berühmt.

Eine ganz normale und vor allem intak-te Familie waren die Steinhäusers. Der Va-ter arbeitet als Ingenieur bei Siemens, dieMutter als Krankenschwester in der Erfur-ter Hautklinik, und Bruder Peter studiertan der FH in Schmalkalden. Mit seinerHandball-Mannschaft Lokomotive Mei-ningen belegte Peter, ein ergeiziger Tor-wart, in der Oberliga Platz 4. Früher spiel-te er beim SSV Erfurt-Nord – und dortstand auch sein kleiner Bruder Robert biszur A-Jugend im Kasten. Doch das Talentseines Bruders hatte Robert nicht, und so

Schulpädagogen Werner Glogauer ist derZusammenhang zwischen der virtuellenTötungssimulation und der kruden Realitätdes Amoklaufs eindeutig: „Sie üben dieMorde in ihrer Phantasie immer und im-mer wieder ein, auch, wenn sie nicht amMonitor sitzen. Und irgendwann kommtdas, was Kriminalisten den ‚Realitäts-durchbruch‘ nennen. Dann wird aus derMordphantasie blutige Wirklichkeit.“

Wenn man denn die Waffen hat, aber diebekam Robert ja im Schützenverein.

Am Ende jedenfalls war aus dem fröhli-chen Teenie von einst ein gescheiterter jun-ger Mann geworden. Steinhäuser hocktezu Hause und hörte Musik der Band „Slip-knot“, Heavy Metal von jener Art, dienicht mehr wirklich Musik ist.

„People = Shit“, „Menschen = Scheiße“,so heißt das Eingangsstück einer der jüng-sten CDs von Slipknot, dieser Brutalo-Band aus dem bibeltreuen US-Staat Iowa,einer Band, die auf der Bühne den Welt-untergang inszeniert. Neun Pseudo-Psy-chopathen mit grotesken Ledermasken,monströsen schwarzen Industrieoverallsund Nazi-Armbinden zersägen da ihreHeavy-Metal-Gitarren, trommeln undgrölen ihren Fans, die sie „Maden“ nen-nen, den Schlachtruf entgegen: „Wir wer-den euch zerstören!“

Und dabei kotzen und bluten dieSchock-Rocker auf die Bühne, und dannverteilen sie ihre Exkremente auf sich unddie Fan-Gemeinde.

Worauf sie wütend sind? „Wir sind allezum Tode verurteilt. Wir haben das Lebengewonnen, aber wir müssen trotzdem ster-ben. Alle. Wir leben eine lebenslange Ge-fängnisstrafe ab“, sagt „Clown“, wie sichder Stratege der „härtesten Band der Welt“nennt.

Es gab keine Freunde mehr, mit denenRobert Steinhäuser sich diesen Irrsinn an-hörte; er lag allein einfach da und hörteund hasste.

Der zweite Anlauf in der Schule gelang,scheinbar. Aber dann kam diese Sache mitdem Attest. Robert fehlte mal wieder inder Schule und fälschte zur Entschuldigungeine Krankenbescheinigung. Das flog auf,und er flog, im Februar, zwei Monate vor

manch einer machte schon mal seine Wit-ze über ihn.

Erfolge, ob im Beruf oder Studium, daswünschte sich Robert sehnlich. Er verehr-te Pamela Anderson, aber er hatte keineFreundin; er hatte Selbstzweifel, und erwollte anerkannt werden. Doch dazu muss-te erst einmal das Abitur her. Als er imvergangenen Jahr von der 11. nicht in die12. Klasse versetzt wurde, brach für ihneine Welt zusammen.

Das war offenbar die entscheidendeWende in der Karriere des 19-jährigen Jun-gen, der sich seit Jahren intensiv mit Bal-lerspielen am Computer abreagierte undGewaltvideos genoss – „aber auch nichtmehr als andere Jugendliche in dem Alterauch“, sagt ein Freund von Robert.

Ein wenig mehr war es wohl doch. Einesseiner Lieblingsspiele war „Counterstrike“,ein Killerspiel, bei dem zwei feindliche Ter-roristen-Einheiten sich bekriegen. Maskier-te jagen da andere Maskierte durch Wü-stenlandschaften und dunkelgraue Beton-welten, nehmen Dunkelmänner ins Faden-kreuz ihrer virtuellen Maschinenpistolenund feuern weiße Blitze – bis der gesamteBildschirm rot zuckt: Das Opfer verblutet,das Ziel ist erreicht, der Spieler gewinnt.Für den Augsburger Medienexperten und

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Minister Schily, Kanzler Schröder: „Auf die Seelen der Kinder aufpassen“

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Mordphantasie blutige Wirklichkeit“

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der Abiturprüfung, von derSchule.

Diese härteste Maßnahme, dieeine Schule verhängen kann,wirkte für den strebsamen jun-gen Mann wie ein Todesurteil.Das Abitur war weg, unwieder-bringlich, und das Studium da-mit auch. Und Robert stand be-stenfalls mit einem Realschulab-schluss da. Eine Blamage, die ervor allen geheim hielt. Auch vorder eigenen Familie – die gingMorgen für Morgen davon aus,dass Robert für das Abi büffelte.

Deshalb die Rache vom Frei-tag, diese Serie von Hinrichtun-gen und Bestrafungen.

Mörder in der SchuleAmokläufer, die in Schulen mor-den, sind meistens männlich. Siehaben Zugang zu Waffen, meis-tens durch ihre Väter. Sie habenKränkungen erlebt. Und sie le-ben in der Provinz. Diese Musterziehen sich durch fast alle ähnli-chen Verbrechen.

Der Tag von Erfurt ist ein Tag,an dem selbst Forscher nichtsmehr erklären können, die schon300-Seiten-Bücher über Gewaltin der Schule geschrieben haben.„Ich bin vollkommen fertig, sowas habe ich in Deutschland nichtfür möglich gehalten“, stammelt der Dresd-ner Erziehungswissenschaftler WolfgangMelzer, der 1995/96 mit Kollegen für eineStudie über 3000 Schüler interviewt hat.

Da ging es noch um Prügeleien, umschmutzige Wörter, genauso wie bei sei-nem Bielefelder Kollegen Klaus-JürgenTillmann; es ging nicht um Massenmord.„Ich bin schlicht und einfach sprachlos“,sagt Tillmann konsterniert; für den Exzessvon Erfurt habe er keine wissenschaftli-chen Erklärungsmuster mehr parat. Zwarwar der Wille zur Gewalt an deutschen

Reichenhall oder Freising fortge-setzt hat“, sagt der MünchnerJugendpsychiater Franz JosephFreisleder. Freisleder, der als Ge-richtsgutachter häufig mit ge-walttätigen Jugendlichen zu tunhat, hält diese Gewaltexzesse fürNachahmungstaten: „Die Fern-sehbilder haben den Tätern erstdie Idee geliefert, ihrem Lebenauf solch spektakuläre Weise einEnde zu setzen.“

Nach jeder derartigen Amok-tat, das hat außerdem der Villin-ger Kriminalpsychologe AdolfGallwitz beobachtet, beginnt ineinschlägigen Internetforen einmakabrer Gedankenaustausch.„Da geht es dann um die Frage,was der Täter wohl hätte bessermachen können.“ Bei einigenfalle dies auf fruchtbaren Boden.

Robert Steinhäuser muss so ei-ner gewesen sein. „Entwederwollte der Mörder einmal einenTötungsakt zelebrieren, dafürspricht etwa die Pumpgun, oderer wollte in das Buch der Rekor-de“, glaubt Niedersachsens Ju-stizminister Christian Pfeiffer.

Amokläufer müssen nicht un-bedingt durch Gewalttätigkeitenauffallen. So wie Robert Stein-häuser – der sich erst aus demHandballteam des SSV Erfurt-

Nord zurückzog, dann in den virtuellenWelten der Computerspiele abtauchte –sind die Täter häufig introvertiert und kon-taktscheu, beobachtet etwa die EschwegerKinder- und Jugendanalytikerin Mariean-ne Simon.

Die Videospiele liefern dann oft die Vor-lage für die Choreografie der Tat. „Sie sindregelrechte Ideengeber“, warnt Freisleder.

Der Täter von Erfurt hat nach Einschät-zung der Kölner Psychologin Angelika Kall-wass eine schwere narzisstische Störung,den Rauswurf aus dem Gymnasium habe erwohl als „massive und ungerechte Tat ge-gen seine eigene Person erlebt“.

In einem funktionierenden sozialen Um-feld, meint Kallwass, bleibe der Rückzugeines späteren Täters nicht verborgen. Erwirke meist merkwürdig gespannt. In die-ser Zeit können auch Gewaltvideos einegroße Rolle spielen: Outlaws und Kriegs-helden werden zu seinen Idolen.

Obwohl sie eigentlich stille Typen sind,kündigen viele Amokläufer ihrer Umgebungdas Massaker an. „Die Schulhof-Täter habenein unglaubliches Bedürfnis, andere in diePläne für ihren grandiosen Untergang ein-zuweihen“, sagt Kriminalpsychologe Gall-witz, der als Professor an der Polizeihoch-schule in Villingen-Schwenningen lehrt.

Der EinsatzEs war genau 11.05 Uhr am Freitag ver-gangener Woche, als der Notruf bei der

Schulen schon vor dem Erfurter Blutbadunübersehbar. Melzer hat in seiner Studie175000 Schüler der Sekundarstufe I als ge-walttätig eingestuft, drei bis vier Prozent al-ler dieser Schüler in Deutschland. Außer-dem kam er auf einen Anteil von zehn Pro-zent, die schlechte Noten schrieben, sozi-al auffällig waren, ein schwaches Selbst-vertrauen hatten – mit jedem dieser Merk-male steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einSchüler irgendwann ausrastet.

Nach der Schülerbefragung 2000 des Kri-minologischen Forschungsinstituts Nieder-

sachsen gaben immerhin dreiProzent der Interviewten an,in den zurückliegenden zwölfMonaten zu einer Waffe ge-griffen zu haben. Fast immerwollten sie Geld oder dasGoldkettchen ihres Mitschü-lers; sie wollten nicht den Be-rufsstand der Lehrer mit einerPumpgun auslöschen.

Experten der klinischenPsychiatrie in Deutschlandwarnen vor einer Spirale blu-tiger Amoktaten: „Erfurt istzwar einzigartig, was die Ex-zessivität angeht. Doch die Tatsteht in einer Linie, die 1999mit dem Amoklauf von Little-ton in den USA begonnen hatund die sich in Deutschlandmit den Amokläufen von Bad

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„Hilfe“-Signal aus der Schule: „Nicht für möglich gehalten“

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Betreuung geschockter Schüler: „Einzigartig exzessiv“

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„Eine Tochter, wie sie sein sollte“Ausgerechnet in Erfurt stand vergangenen Freitag eine junge Frau vor Gericht, die ihre Schule

angezündet hatte, weil sie nicht zum Abitur zugelassen worden war. In den Prozess platzte die Nachricht von dem Amoklauf gleich nebenan. Von Gisela Friedrichsen

Gerade hat ein 14-Jähriger als Zeu-ge ausgesagt, ein schmächtigesKerlchen, das an jenem 20. De-

zember 2000 beachtliche Geistesgegenwartgezeigt hatte. Irgendjemand rief damals„Feuer“. Und er gehörte zu jenen, die dieTür aufhielten, damit die anderen Kindervor dem Rauch und den giftigen Dämpfenins Freie flüchten konnten. Katrin G., dieAngeklagte, ein hübsches Mädchen mit ei-nem Puppengesicht und roten Flecken aufden Backen vom vielen Weinen, sagt zuihm: „Ich möchte mich auch bei dir ent-schuldigen, dass ich dich damals in Ge-fahr gebracht habe und dass du so Angsthaben musstest.“ Er lächelt ein wenig lin-kisch, weiß nicht, was er antworten soll.Was soll er auch sagen? Kurze Pause.

Und dann schlägt es ein wie der Blitz.Eine Kollegin vom Lokalfernsehen stürztin den Gerichtssaal, ganz weiß im Ge-sicht: „Eben ist ein Lehrer erschossenworden! Gleich hier um die Ecke, im Gu-tenberg-Gymnasium! Anscheinend beimAbitur. Heute wurde ja Abi geschrieben!“Im Saal viele Lehrer und Schüler des Wei-marer Hoffmann-von-Fallersleben-Gym-nasiums, das damals kurz vor Weihnach-ten ausgebrannt war, sie springen auf.Wer weiß Genaueres?

Der Vorsitzende Richter der Schwur-gerichtskammer, Holger Pröbstel, der mitder 3. Großen Strafkammer des Land-gerichts Erfurt die Verhandlung gegenKatrin G. leitet, kommt aus dem Bera-tungszimmer: „Wie schnell sich dochetwas relativiert“, sagt er kopfschüttelnd.

Und in der Tat: Katrin G., heute 20,Mutter einer dreijährigen Tochter, istzwar – horribile dictu – des 446fachenMordversuchs angeklagt plus schwererBrandstiftung plus gefährlicher Körper-verletzung und so fort. Es war nur 1,4Millionen Mark Sachschaden entstanden,und was zählt das schon im Vergleich zueinem toten Menschen.

Die Gerüchte überschlagen sich. Jetztspricht man von drei Toten, zwei Leh-rern und einem Polizisten, angeblich. Undvielen Verletzten. Und verbarrikadierthaben soll sich der Täter und den Ret-tungskräften den Zutritt verwehren. Ersoll aufgestanden sein mit den Worten„Ist doch eh alles egal“ und dann ge-schossen haben.

Es ist immer wieder die gleiche Frage:Warum tun diese halben Kinder soschreckliche Dinge? Wieso kam Katrinauf die Idee, ihre Schule anzuzünden?Wäre nicht der Zufall zu Hilfe gekom-men, eine Katastrophe schlimmsten Aus-maßes hätte geschehen können. Hunder-te Menschen brachte sie in „akute Lebens-gefahr“, wie es in der Anklage heißt. Nurweil sie nicht zum Abitur zugelassen wur-de! Nur weil ihr die zwei Punkte in Lateinfehlten, die dafür nötig gewesen wären.Einen Punkt bekommt man normaler-

weise für die bloße Anwesenheit im Un-terricht, erzählt meine gerade Abiturschreibende Tochter. Und den anderenPunkt, mein Gott, da meldet man sichhalt ein paarmal, auch wenn man nichtsweiß, und tut so, als ob man sich interes-sierte. So einfach ist das.

Und der Junge mit der Knarre? Zweisollen es gewesen sein, sagt das neuesteGerücht, und 17 Tote! 17! Die Beisitzerinschlägt die Hände vors Gesicht. Eine Mut-ter fängt zu weinen an. Katrins ehemali-ge Schuldirektorin nimmt sie erschüttertin den Arm. Der Vorsitzende: „Wie sollenwir uns da auf unser Verfahren konzen-trieren, machen wir Schluss.“

Kam der Junge etwa durch das Ver-fahren gegen Katrin auf seine wahnwit-zige Idee? Die Lokalzeitungen sind ge-genwärtig voll mit Berichten über dasVerfahren. Auch er sei nicht zum Abiturzugelassen worden, heißt es nun in den

ersten Nachrichten. Hat er deshalb einBlutbad unter der Lehrerschaft des alsanspruchsvoll geltenden Erfurter Gym-nasiums anrichten wollen? Katrin scheintmit den Nerven am Ende. Muss sie sichauch das noch zurechnen, indirekt zu-mindest? Die Taten sind sich verdammtähnlich.

Zu Katrin, von der man mittlerweileeiniges weiß. Dieses „liebe, nette Mäd-chen, das immer freundlich war, immerlieb zu den kleinen Geschwistern, dasimmer funktioniert hat und nie wider-

sprochen“, wie ihre Tante alsZeugin sie beschreibt. „EineTochter, wie sie eigentlich seinsollte.“ „Ich weiß ja nicht“,sagt der Vorsitzende, „ob mansich solche Kinder wünschensoll. Ob sie nicht doch mal auf-begehren müssen? Natürlichsind sie dann bisweilen uner-träglich.“

Holger Pröbstel hat im Sep-tember 2001 auch das Verfah-ren gegen die junge Frau ge-leitet, die drei Neugeborenegetötet hat (das älteste der ins-gesamt fünf Kinder, die sie ge-boren hat, und das jüngste ließsie am Leben).

Dieselben Fragen: Warumtut ein junger Mensch, nicht

ein Bösewicht oder ein seelisch Kranker,so etwas? In welch einer Umwelt müssendiese jungen Täter gelebt haben, dass sieirgendwann keinen Weg mehr aus ihrenVerstrickungen finden? Warum haben ge-rade die jungen Mädchen an der Schwel-le zum Erwachsenwerden so viel Angstvor ihren Müttern, dass sie nicht über dieeigenen Probleme zu reden wagen? Undwo sind eigentlich die jungen Männer, diehalbe Kinder schwängern und sich dannauf und davon machen? Wo sind dieVäter dieser Angeklagten?

Die Parallelen der Fälle sind erschre-ckend. Pröbstels subtiler Verhandlungs-führung ist es zu danken, dass seine Sit-zungen zu Lehrstunden für Eltern undErzieher werden. Was kann man nichtalles falsch machen mit seinen Kindern.Wir wissen nicht, wie Kinder die Elternerleben, meist sind es ja auch nur dieMütter. Katrins Mutter ist zweimal ge-

Katrin G., Verteidiger: „Sie hat immer funktioniert“

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Polizei in Erfurt einging. Am Telefon warder Hausmeister des Gutenberg-Gymnasi-ums. Die Beamten reagierten sofort undschickten eine Funkstreife der Polizei-In-spektion Mitte auf den Weg. Die Kollegensollten klären, was dem Hausmeister nichtso genau zu entlocken war: Was war ei-gentlich los in dem trutzigen alten Bau?

Fünf Minuten später waren die zwei Strei-fenpolizisten da. Einer stieg aus – ein Feh-ler, den er mit dem Leben bezahlte, denndie Beamten wurden sofort beschossen.

11.20 Uhr kamen dann die schwer be-waffneten Spezialisten des Sondereinsatz-kommandos (SEK) an. Erst meldeten sievier Tote. Dann pirschten sich die SEK-Be-amten in die Schule hinein und sahen dasganze Ausmaß des Blutbades: Auf denGängen, der Toilette, im Sekretariat und inder Nähe des Eingangs – überall lagen Tote.Später meldeten sie 17 Opfer plus den Tä-ter, am Samstag korrigierten sie: 13 Lehrerwaren im Kugelhagel gestorben, eine Schü-lerin, ein Schüler, der Polizist. Einige derOpfer wurden regelrecht hingerichtet, auskurzer Distanz erschossen.

Im Erfurter Lokal „Anger Maier“ liefum 12 Uhr mittags das Radio: So bekam dieKrankenschwester Heide Krambehr mit,dass am Gutenberg-Gymnasium irgendwie

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schieden. Der erste Mann verließ sie, alsKatrin und ihre jüngeren Zwillingsbrü-der noch klein waren. Der zweite Mannmachte sich ebenfalls aus dem Staub. DieMutter hatte die Familie finanziell überWasser zu halten. Als Katrin mit 17schwanger wurde, nahm sie auch diesesKind, als ihr viertes gewissermaßen, zusich. Und dann war auch noch der bein-amputierte Großvater zu pflegen. All dasin einer „Vierraum-Wohnung“.

Katrin als die Älteste, die Vernünftige,geriet immer mehr in die Rolle einer Part-nerin ihrer Mutter. Mit ihr wurden diefinanziellen Sorgen, die Probleme amArbeitsplatz besprochen. An sie klam-merte sich die Mutter. „Meinen Sienicht“, fragt der Sachverständige BlanzKatrins Tante, „dass sie damit überfor-dert war?“ „Natürlich“, antwortet dieZeugin. „Sie wollte ihrer Mutter allesrecht machen, wollte sie nicht auch nochmit ihren eigenen Sorgen beschweren. Siewusste doch nur allzu gut, was ihre Mut-ter alles um die Ohren hat. Sie ist ein sehrverschlossenes Mädchen.“

Katrins Familienverhältnisse sind sogut oder so schlecht wie die von Tausen-den junger Menschen. Als die ersten In-terviews am Freitag nach der ErfurterBluttat über die Sender gingen, war un-ter anderem die Rede von der „Zer-brechlichkeit unserer Sicherheit“. Vonder Zerbrechlichkeit junger Menschen hatkeiner gesprochen, von ihrer begrenztenBelastbarkeit in einem Alter, in dem manmehr mit sich und dem Platz in der künf-tigen Welt beschäftigt ist, als dass manauch noch die Sorgen der Erwachsenenmittragen könnte. Katrin hat immer allesgeschluckt, aus Respekt und Mitgefühlmit ihrer Mutter – wenn diese das Regi-ment auch über ihre kleine Tochter über-nahm, wenn sie von ihr erwartete, dasssie auf die jüngeren Brüder aufpasste undderen schulische Leistungen überwach-te. Wer kümmerte sich um Katrin?

Sie hatte die 12. Klasse, in der dieThüringer Abitur schreiben, schon ein-mal wiederholt. Denn sie hatte Wissens-lücken aus der Zeit, als sie in Jena aufsSportgymnasium ging. Dort hat sie erfolg-reich Judo gemacht, was für ihr Selbst-bewusstsein sicher gut war. Doch gelernthat sie dort nicht viel. Und nun Latein.Doch gegangen wäre es, mit Nachhilfe.

Ihrer Mutter hat sie nichts gesagt. Undals auch der zweite Versuch, das Abiturzu machen, scheiterte an den zwei Punk-ten in Latein, wagte sie es nicht, Farbe zubekennen. Wie hatte ihre Mutter dochdarauf gehofft, dass Katrin studiert.

Am 20. Dezember 2000, der letzteSchultag vor Weihnachten, ging sie zurSchule, sagte zu Hause, sie wolle dasHalbjahreszeugnis abholen. Zuvor kauf-te sie Brennspiritus, eine Tischdecke undAnzünder für Grillkohle. Hatte sie daschon vor, einen Brand zu legen? Nein,sagt sie. Sie habe mit ihrer Kleinen einLagerfeuer machen wollen. Die Tochterhabe daran immer große Freude. „La-gerfeuer? Im Winter bei Schnee undEis?“, fragt das Gericht.

Niemand unterstellt Katrin, sie habeihre Mitschüler und die Lehrer umbrin-gen wollen. „Ich wollte etwas zerstö-ren“, sagt sie vor Gericht. „Hätte da nichtauch eine Scheibe gereicht oder ein Buch, das man zerreißt?“, fragt der Vor-sitzende. Warum sie in zwei ToilettenKlopapier anzündete, ein Weihnachts-gesteck in Brand setzte und dann auchnoch den Vorhang einer Bühne im Foyer,das war das Verheerendste – sie kann es nicht sagen. Sie hat es eben getan. Und danach zu Hause angerufen: „Mut-ti, die Schule brennt!“ Wenn die Schulebrennt, bekommt man auch kein Zeug-nis, klar.

„Sie haben also einfach die Augen zu-gemacht wie ein Kind, das dann meint,die Welt sieht es nicht mehr“, sagt Pröbs-tel. Ja, wie ein Kind. Noch etwas: Kurzvor der Tat bekam sie die Mitteilung, 6500Mark Krippengebühren für ihre Tochternachzahlen zu müssen. Sie hatte verges-sen, einen Antrag auf Befreiung von denKosten zu stellen. „Und Ihre Mutter? Hat die sich nicht um so etwas geküm-mert?“, fragt eine Schöffin bestürzt.

Katrin das Kind, das keines sein durf-te. Der 446fache Mordversuch wird sichvermutlich nicht halten lassen. Und wennsie nach Jugendrecht verurteilt werdensollte, wäre das nur gerecht.

Löscharbeiten am Fallersleben-Gymnasium„Mutti, die Schule brennt“

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Heavy-Metal-Band „Slipknot“„Menschen = Scheiße“

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In Littleton (Colorado/USA) tötenzwei Jugendliche am 20. April mitSchusswaffen und Sprengsätzenzwölf Mitschüler und einenLehrer. 28 Personen werden ver-letzt. Die Attentäter begehen nachder Tat Selbstmord.

Niedrige HemmschwelleAmokläufe an Schulen

Ein 11- und ein 13-Jähriger lösenam 24. März an ihrer Schule inJonesboro (Arkansas/USA) fal-schen Feueralarm aus und richtenunter Schülern und Lehrern einBlutbad an. Vier Mädchen undeine Lehrerin sterben.

Ein 15-jähriger Gymnasiast dringtam 9. November maskiert im säch-sischen Meißen in ein Klassenzim-mer ein und ersticht seine 44-jährige Lehrerin. Der Junge kannnach der Tat fliehen. Als Motiv gibter Hass auf die Lehrerin an.

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Rettung eines Opfers nach dem Amoklauf in Littleton

1999

Der 15-jährige Täter aus Meißen . . .

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die Hölle los sein müsse. Krambehr rann-te los, denn sie wusste, dass die Freundinihrer Tochter dort jetzt gerade ihre Ma-theprüfung hatte.

Als sie ankam, hatten Polizisten bereitsdie Straßen um die Schule abgeriegelt.Krambehr begann sofort, sich um völligverstörte Schüler zu kümmern. Einigeweinten, andere rangen um Fassung. DieJugendlichen erzählten der Kranken-schwester, dass sie die ersten Schüsse nochfür Tisch- oder Bänkerücken gehalten hat-ten. Zunächst hatten sie sich nur über denKrawall gewundert, wo sie doch geradeihre Abitur-Prüfung absolvierten. Als derLärm immer näher kam, sei ihnen aufge-gangen, dass dort etwas Furchtbares pas-siert sein musste. Erst da seien sie geflohen.

Dass der Ex-Schüler Steinhäuser ausge-rechnet am Gutenberg-Gymnasium Amoklief, will dem Erfurter KultusstaatssekretärHermann Ströbel nicht in den Kopf. Gera-de an dieser Schule sei die „Gewaltpräven-tion vorbildlich“. Es habe so genannte Me-diationsprogramme gegeben, Schüler wur-den sogar als Streitschlichter ausgebildet.So seien Konflikte zwischen Schülern undSchülern, aber auch zwischen Schülern undLehrern „behoben“ worden.

Die VorbilderAm 20. April 1999 stiegen Dylan Klebold,17, und Eric Harris, 18, auf dem Parkplatzder Columbine High School in Littletonaus einem schwarzen BMW und machtensich auf den Weg ins Schulgebäude. Undauf den Weg in die Geschichtsbücher. ImGepäck hatten sie zwei abgesägte Schrot-flinten, eine halbautomatische Neun-Milli-meter-Pistole, einen Karabiner und über30 selbstgebaute Sprengsätze.

Als Klebold und Harris die Schule be-traten, trugen sie Skimasken und ihr Er-kennungszeichen: lange schwarze Trench-coats. Sie deponierten ihre Bomben in derSchule und machten sich auf den Wegin die Cafeteria.

Was dann geschah, wird in den ame-rikanischen Medien als „das tödlich-ste Schulmassaker der US-Geschich-te“ bezeichnet. Klebold und Harris er-schossen zwölf Schüler, einen Lehrer,und dann töteten sie sich selbst mitKopfschüssen.

Klassenkameradinnen und eine Lehrerintöteten. Oder Springfield, Oregon, wo ein15-Jähriger mit einem Gewehr in die Schul-Cafeteria marschierte, zwei Mitschüler er-schoss und 22 verwundete. „Es ist nieSouth Central oder Harlem“, bemerkte derCNN-Moderator Larry King ratlos, „es istimmer die Vorstadt.“

Der Zerstörung ihres Paradieses begeg-neten die Einwohner von Littleton mit ab-surden Klagen gegen die Schule, den She-riff, den Bezirk und mit ausufernder Reli-giosität. Die „New York Times“ bot un-mittelbar nach dem Blutbad eine andereErklärung: Die Amerikaner seien süchtignach Gewalt. „Wir machen sie aufregend.Wir feiern sie. Wir romantisieren sie. Wirerotisieren sie.“

Das mag stimmen in Amerika. Aber inMeißen in Sachsen? Und doch begrüßteAndreas S. am Morgen des 9. November1999 einen Schulkameraden, der mit in dieBahn stieg, mit dem Satz: „Heute bringeich eine Lehrerin um.“

Andreas S. weihte in den nächsten Mi-nuten wohl noch weitere Schulkameradenin seinen Plan ein. Und auch sie nahmen

Klebold und Harris hörten nachts dieSongs der Schockrocker Marilyn Mansonund Rammstein, sie spielten „Doom“ und„Quake“ auf ihren Computern undwünschten sich, so Furcht erregend zu seinwie ihre Helden. Aber wenn sie in derSchule erschienen in ihren langen Män-teln, mit einer Armbinde, auf der stand: „Ihate people“ („Ich hasse die Menschen“),fürchtete sich niemand vor ihnen. Die an-deren lachten.

Es war nicht das erste Mal, dass in denUSA Schüler auf Schüler und Lehrer schos-sen. In den zwei Jahren vor dem Amoklaufin Littleton gab es mehrere Attentate, aus-geführt von Teenagern in kleinen, ver-meintlich friedlichen Provinznestern wieJonesboro, Arkansas, wo zwei Jungs vier

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Schulmassaker in Littleton: „Ich hasse die Menschen“

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2000Die Polizei nimmt am 29. Nov-ember in Metten (Bayern) dreiJugendliche fest, die Mord-pläne gegen ihre Schulleiterinund eine Lehrerin geschmiedethatten.

. . . und sein 44-jähriges Opfer

2000

Sichergestellte Gegenstände desgeplanten Attentats in Metten

Weil er am Vortag von seinemRealschul-Internat im bayeri-schen Brannenburg verwiesenwurde, schießt ein 16-Jähriger

In einer Berufsschule in Freising(Oberbayern) tötet am 19. Februarein 22-Jähriger den Direktor undverletzt einen Lehrer schwer.

am 16. März 2000 dem Schullei-ter in den Hals und fügt sich an-schließend selbst Verletzungen zu.Der Pädagoge erliegt wenige Tagespäter seinen Verletzungen;der Täter liegt seitdem im Koma.

Anschließend tötet der junge Mannsich selbst. Zuvor hatte der schwerBewaffnete in einer Firma zwei Ex-Kollegen erschossen.

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2002In Erfurt tötet ein 19-jährigerAmokläufer am 26. April in einemGymnasium 17 Menschen undsich selbst.

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ihn nicht ernst. Vor dem Landgericht hießes später, Mitschüler hätten um insgesamt1000 Mark gewettet, dass Andreas S. sich jadoch nicht traue. „Das waren nurSprüche“, wiegelte ein Freund später ab.

Erste Stunde, Geschichte: Bismarcks In-nenpolitik. Die Lehrerin war Sigrun L., 44Jahre alt. Sie galt als sehr streng.

Eine Viertelstunde nach Unterrichtsbe-ginn betrat Andreas S. den Klassenraum.Er trug – wie vergangenen Freitag RobertSteinhäuser – eine Maske über dem Ge-sicht, dazu links und rechts je ein Küchen-messer.

22-mal stach er zu. Sigrun L. hatte nochdie Kraft, auf den Flur zu fliehen. Dortstarb sie. Ihr Schüler und Mörder, And-reas S. , floh, verlor aber seinen Rucksackmit seinen Ausweisen. Noch mittags nahmdie Polizei ihn fest.

Das Motiv? „Ich habe sie einfach ge-hasst“, sagte er im Verhör. Er galt als un-auffällig, umgänglich, seine schulischenLeistungen waren ordentlich. Nie zuvorwar er durch Gewalttaten aufgefallen.

Hass sei nicht sein einziges Motiv gewe-sen, befand später das Gericht. Unter an-

auf die Maschinengewehre und ein Sturm-gewehr waren die Waffen alle legal im Be-sitz des Vaters.

Der Sohn hatte die Wut, die Gelegen-heit, die Waffen. Er galt als aggressiv. Erwar gewalttätig gegen jüngere Schüler.Aber „dass er zu einer solchen verhäng-nisvollen Tat bereit war“, schrieben seineMitschüler damals in einem offenen Briefvoller Selbstvorwürfe, „das konnte keinervon uns ahnen“.

Vor Gericht stand ein Jahr später derVater des Schützen, und vorgeworfen wur-den ihm nicht nur unerlaubter Waffenbe-sitz, sondern auch fahrlässige Tötung. Er seimitschuldig, argumentierten die Witwe desermordeten Lehrers und der Staatsanwalt.Er habe sein Kind früh an Waffen heran-geführt und außerdem alle Hinweise dar-auf ignoriert, dass der Junge gewaltbereitsei und gefährlich für andere.

Doch die Richter entschieden, dass denVätern kein Vorwurf zu machen sei. ImFall Martin P. stellte schon die Staatsan-waltschaft in Bad Reichenhall die Ermitt-lungen ein. Im Fall Michael F. entschieddas Traunsteiner Landgericht, der Vaterhabe „individuell nicht erkennen können“,dass sein Sohn eine Bluttat plane. Er be-kam zwei Jahre auf Bewährung, wegen un-erlaubten Waffenbesitzes.

Sind Eltern verantwortlich für das, wasihre Kinder treiben? Können Erziehungs-fehler justiziabel sein?

Tatort PausenhofDer große Abgang, das ist wohl die Vor-stellung, die in den Köpfen der Massen-

derem habe Andreas eine Entwicklungs-störung seiner Persönlichkeit gehabt. Alsob das irgend etwas erklären würde.

Andreas S. wurde wegen heimtücki-schen Mordes zu sieben Jahren und sechsMonaten Haft verurteilt.

Es braucht Waffen für diesen Krieg, undoft sind es Söhne von Waffennarren, diesich die Mittel für ihre Morde zu Hausebeim Vater besorgen. So war es in Bad Rei-chenhall, im November 1999, als der 16-jährige Martin P. vier Menschen, darunterseine Schwester, und sich selbst erschoss.So war es etwa auch im Schloss-Internat imbayerischen Brannenburg, im März 2000,als der 16-jährige Schüler Michael F. seinen57-jährigen Internatsleiter erschoss, bevorer sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte– vermutlich aus Rache, weil er von derSchule verwiesen worden war.

Zwei Handfeuerwaffen, einen Colt Ka-liber .45 und eine Tanfoglio-Pistole Kaliberneun Millimeter, hatte der Täter dabei. ZuHause in Bad Aibling, im Keller der Fami-lie, fand die Polizei insgesamt 70 Waffen,darunter zwei Maschinengewehre, einePumpgun und 6500 Schuss Munition. Bis

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Betreuung von Littleton-Opfern: „Wir erotisieren die Gewalt“

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Pieper, 49, betreut seit1988 traumatisierte Op-fer von Gewalttaten.Nach dem Mord an ei-ner Lehrerin in Meißen(1999) arbeitete er zweiJahre lang mit denbetroffenen Pädagogenund Jugendlichen.

SPIEGEL: Können Sie ausIhrer Arbeit nach demRacheakt in Meißen ab-schätzen, welche Folgender Amoklauf in Erfurtlangfristig haben wird?Pieper: In Deutschland, ja in Europahat es ein solches Massaker noch nichtgegeben, so was geschah immer nurweit weg – in Amerika. Die Amoktatwird nicht nur die Lehrer in Erfurt be-schäftigen. Sie wird in sämtlichen Kol-legien des Landes Kreise ziehen, sich inalle Köpfe schleichen. Viele Pädagogenwerden mehr und mehr massive Ängs-te bekommen und damit immer ver-krampfter vor die Klassen treten.SPIEGEL: Wie äußert sich diese Angst?Pieper: Die Lehrer in Meißen haben mirberichtet, wie schwer es ihnen gefallenist, sich wieder vor die Schüler zu stel-len und nicht gleich in jedem einenpotenziellen Mörder zu sehen. DieseAngst wird sich angesichts der 17 Opfervon Erfurt vielfach potenzieren.SPIEGEL: Wie waren die Reaktionen derSchüler?Pieper: Ähnlich. Sie klagten lange übereine sehr starke Angespanntheit, überKonzentrationsschwierigkeiten in derSchule. Doch die Ängste gingen auchweit über die Schule hinaus, etwa beiFahrten in Bussen oder Bahnen. So-bald ein Unbekannter den Wagen be-trat, begann unwillkürlich die Phanta-sie zu arbeiten: Der richtet hier gleichein Massaker an.SPIEGEL: Lassen diese Ängste irgend-wann nach?Pieper: Ich habe in Meißen zwei Jahrelang vor allem die Schwersttrauma-tisierten betreut. Die waren anfangspraktisch nicht mehr in der Lage zuarbeiten. Inzwischen sind sie wieder so weit, dass Schule wieder Realität istund nicht nur gespielt wird – es wirdwieder Unterricht erteilt und erlebt.

SPIEGEL: Wie stabil istdiese psychische Verfas-sung?Pieper: Die Ereignissevon Erfurt werden be-stimmt wieder die altenWunden aufreißen. Ichhabe in Meißen vor allembei den Lehrern erlebt,dass schon kleinste Er-eignisse genügten, sie auf180 zu bringen.SPIEGEL: Kommt zu derAngst auch das Gefühl,womöglich als Pädagogeversagt zu haben?

Pieper: Da muss man mehrere Dingeunterscheiden. Der Schüler, der in Er-furt mordete, wurde von der Schuleverwiesen – aber dennoch kann nie-mand damit rechnen, dass dadurch einsolches Maß an Gewalt ausgelöst wird.Diese Hemmschwelle kann nur über-winden, wer einen psychischen Defekthat oder unter Drogen steht …SPIEGEL: … aber der Schüler hat die Tatgeplant, die Waffen besorgt. Warum fälltso jemand an einer Schule nicht auf?Pieper: Die Kritik daran, dass Schüler,die so erkennbar unter Stress stehen, inunserem Schulsystem nicht auffallen,ist sicher berechtigt. Da wird man um-denken müssen. Die Lehrer werdensich mehr Zeit nehmen müssen, dieSchüler auf ihre emotionalen Problemeanzusprechen und ihnen so Entlas-tungsmöglichkeiten zu bieten. Das wirdzunehmend wichtiger – und es funk-tioniert, wie wir am Beispiel Meißen imNachhinein gesehen haben.SPIEGEL: Wie sah das praktisch aus?Pieper: Nach dem Mord wurden so ge-nannte Klassenlehrerstunden angebo-ten, in denen nicht gepaukt werdenmusste. Da wurde einfach mit denSchülern über ihre Situation gespro-chen. Leider hielt das gerade mal vierWochen. SPIEGEL: Warum?Pieper: Es ist eingeschlafen, weil Lehr-pläne zu erfüllen sind, der Stoff durch-gearbeitet werden muss. Die Freiräumefür solche Gespräche müssen geschaf-fen werden, denn nur so können auchBeobachtungen von Schülern einbezo-gen werden, kann reagiert werden,wenn Schüler sagen: Der hier fällt mir

auf, mit dem stimmt was nicht. Dafürmuss Zeit sein – und es muss auch er-wünscht sein.SPIEGEL: Ist das nicht der Fall?Pieper: In den meisten Schulen, beson-ders den Gymnasien, ist es nicht er-wünscht. Viele Lehrer sagen, das seinicht ihre Aufgabe, sie könnten nichtdie verkorkste Erziehung in den Eltern-häusern korrigieren. Andere wollen esgern machen, ihnen fehlen aber dieMöglichkeiten dazu.SPIEGEL: Helfen Kriseninterventions-teams weiter, wie sie jetzt in Bayernaufgebaut werden? Pieper: Ja, sicher. Aber auch die Län-der, die das nicht wollen, brauchen einbreites Netz von Psychologen, die mittraumatisierten Lehrern und Schülernumgehen können. Nur: In jüngster Zeithalten sich immer mehr traumathera-peutisch Ungeschulte für geeignet.

Interview: Irina Repke

„Die Angst schleicht sich in alle Köpfe“Der Traumatherapeut Georg Pieper über die Folgen von Erfurt für Lehrer und Schüler

Therapeut Pieper„Man muss umdenken“

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mörder spukt. Es ist eine fürchterlicheBerühmtheit, nach der diese Jungs sichsehnen, das berauschende Gefühl vonMacht: Ich bestimme, von mir allein hängtes ab, wer lebt und wer nicht.

Die Psychologen, die sich nun zu Wortmelden, sagen, der Mörder von Erfurt seiein Nachahmer gewesen, einer, der seineIdee aus dem Fernsehen oder aus derZeitung hatte. Und sein Vorbild könneMeißen gewesen sein.

Der Mord von Meißen hat bundesweiteine Welle von Gewalttaten an Schulenproduziert – Kopien, misslungene oder

pädagogische Psychologie der Uni Mün-chen. „Die Kinder haben maßlos Angst, indie Schule zu gehen, sie sind weniger lei-stungsbereit, leiden an Magenschmerzen,Kopfschmerzen oder Übelkeit“, sagt derhessische Pädagoge und Schul-Mobbing-Experte Karl Dambach.

In der Werner-Stephan-Schule, einer ty-pischen Brennpunkt-Hauptschule in Ber-lin-Tempelhof erarbeiten die Klassenspre-cher jedes Jahr ein Versprechen an dieSchulgemeinschaft, das jeder Neuankömm-ling ablegen muss: „Ich wende keine Ge-walt an“, heißt es da unter Punkt 5, undPunkt 6 lautet: „Ich bringe weder Waffennoch Drogen mit und erpresse meine Mit-schüler nicht.“

Und im Ruhrgebiet knüpft die Psycho-therapeutin und Pädagogin Dagmar Ka-plan seit 1996 ein Netzwerk gegen Gewaltan Schulen: Jugendamt und Schulverwal-tung, Eltern, Jugendeinrichtungen, Politi-ker, Pädagogen und die Regionalstelle zurFörderung von Kindern und Jugendlichenaus Zuwandererfamilien arbeiten mit.Langsam beginnen auch die offiziellen Be-rufsvertreter, sich auf die veränderte Si-cherheitslage an deutschen Schulen einzu-stellen. Vor zwei Jahren war eine Delega-tion der Gewerkschaft Erziehung und Wis-senschaft (GEW) in den USA, um sich denvon Gewalt beherrschten Alltag an ameri-kanischen Innenstadt-Schulen anzusehen.

„Wie im Hochsicherheitstrakt“ fühltesich etwa Gewerkschafterin MarianneDemmer beim Besuch einer Grundschulein New York. Das Gebäude sicherte einmeterhoher Metallzaun, Privatpolizistenpatrouillierten auf dem Pausenhof, eine Si-cherheitsschleuse am Eingang leuchtete je-den Besucher nach Waffen ab. WederSchüler noch Pädagogen, so beobachtetedie ehemalige Grundschullehrerin, konn-ten sich noch frei bewegen.

Solch eine „gefängnismäßige Situation“müsse in Deutschland möglichst vermie-den werden, sagt Demmer. Sonst sei kein„ungezwungenes Lernumfeld“ mehr mög-lich. Die Gewerkschafterin ist überzeugt:„Gegen einen solchen Amoklauf wie den

perfide geplante, und nun diese Steigerung,die in Deutschland kaum vorstellbar war.

Die Zahl von Angriffen auf Pädagogenist in die Höhe geschossen, aber auch Be-leidigungen und Bedrohungen nahmen seitMeißen stark zu. Alleine 41 Lehrer wurdenin Berlin im vergangenen Schuljahr Opfereiner Attacke.

Ein Lehrer einer Berliner Grundschulewurde beispielsweise nach der Schule vondrei jungen Männern in einem Einkaufs-zentrum abgefangen und zusammenge-schlagen. Der Unterricht des Mannes, dereinen Kollegen vertreten sollte, hatte ei-ner elfjährigen Schülerin schlicht und ein-fach nicht gefallen. Das Mädchen hatte dar-aufhin ihre Freunde mobilisiert und dieSchlägerei in Auftrag gegeben.

Die Analyse solcher Fälle habe gezeigt,sagt die Gewaltbeauftragte der BerlinerSchulverwaltung, Bettina Schubert, dass esan fast jeder Schule eine kleine Gruppehöchst schwieriger Kinder gebe, die Mit-schüler und Lehrer regelrecht „in Angstund Schrecken versetzen“. Darunter seiengenauso hoch intelligente wie besondersleistungsschwache Schüler. Bis heute sinddie Pädagogen ziemlich ratlos darüber, wiemit diesen Kindern umzugehen ist.

Immer wieder registrieren die Psycho-logen, dass unter den Tätern viele ehema-lige Schüler sind, die alte Rechnungen mitGewalt begleichen wollen – so wie damalsin Meißen und jetzt in Erfurt.

Bei einer Schülerbefragung 1999 an derOststadtschule I in Ludwigsburg gaben 60Prozent der Mädchen und 80 Prozent derJungen an, selbst schon gewalttätig gewor-den zu sein. Drei von vier Schülern habenbereits Erfahrungen als Opfer von Gewaltgesammelt. Und etwa jeder dritte Ham-burger Schüler besitzt nach eigenen Anga-ben eine Waffe zum Selbstschutz.

Jedes siebte Kind werde ein- oder mehr-mals pro Woche von anderen schikaniert,sagt Mechthild Schäfer, Psychologin amInstitut für empirische Pädagogik und

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Trauernde Jugendliche in ErfurtWeiße und rote Rosen

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Attentäter Steinhäuser im Sportverein, mit Freunden: „Er wollte ins Buch der Rekorde“

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Lauf Kaliber 18 mm

RepetiergriffRöhrenmagazin

Schrotpatrone

Furchtbare Waffe

Auf kurze Distanz ist die so genanntePumpgun, wie der Erfurter Amokläufer siewahrscheinlich benutzte, eine der verhee-rendsten Feuerwaffen. US-Polizeiexpertenrühmen ihre „ungeheuer hohe Mannstopp-Wirkung“, gefürchtet sei schon der Blickin ihre 18 Millimeter große Mündung,Schrecken verbreite bereits ihr Sound: Al-lein das harte Metallgeräusch des Repe-tiermechanismus, wissen Polizeibeamte zuberichten, habe schon manchen Täter da-von abgehalten, die eigene Waffe zu be-nutzen. Die Pumpgun verschießt ähnlich

wie eine Schrotflinte mitjeder Patrone eine Garbe von Bleikugeln.Je nach Fabrikat haben Pumpguns zwi-schen vier und acht Patronen im Magazin,ein kurzer Zug am Repetiergriff befördertdie jeweils nächste Patrone in den Lauf.Die Wirkung einer Pumpgun ist mörde-risch, der Kugelhagel durchschlägt Türenund sogar leicht gebaute Wände. Außer-dem ist die Waffe treffsicher. Denn auf 25Meter Schussdistanz, das zeigen Tests,konnen sie eine tödliche Schneise vonrund einem Meter Durchmesser schlagen.

täter, von dem Schüler gesprochen hatten.Gibt es ihn? Oder hatten sie doch alle nurRobert Steinhäuser gesehen, scheinbarüberall zur selben Zeit?

Um 20 Uhr fand in der überfüllten Andreaskirche ein Trauergottesdienststatt; viele Menschen standen mit wei-ßen und roten Rosen vor der Kirche undweinten.

Es war diese Mischung aus Trauer und Aggressivität, die es immer nach sol-chen Ereignissen gibt, die keiner fassenund verstehen kann. Das bekamen be-sonders die Kamerateams zu spüren.„Haut ab mit eurer kapitalistischen Mei-

nungsmache“, schrie je-mand. Eine Erfurterin batum Verständnis: „MachenSie die Kamera aus, heutesind wir alle genug gestor-ben.“

Um 21 Uhr läuteten alleKirchenglocken Erfurts.Um 23.11 Uhr transportier-ten vier Wagen die Leichenaus der Schule ab.

Zuvor hatte der PastorPsalm 22 vortragen lassen:„Mein Gott, mein Gott,warum hast du mich ver-lassen?“

Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Uwe Buse,Jürgen Dahlkamp, Carsten

Holm, Ulrich Jaeger, Ansbert Kneip, Felix Kurz,

Beate Lakotta, JürgenLeinemann, Udo Ludwig,

Cordula Meyer, Sven Röbel, Andrea Stuppe,

Barbara Supp, Andreas Wassermann,

Steffen Winter

nister Manfred Püchel, habe bisher alleBemühungen um ein schärferes Waffen-recht verhindert. Und auch die gerade erstverabschiedete Reform ist nach Ansichtvon Fachleuten nur halbherzig. Die Länderhätten sich gegen eine zentrale Erfassungaller Waffen in Deutschland gesperrt, kri-tisiert die GdP.

Der AbschiedAm Abend legten Jugendliche und Er-Gymnasium nieder. Die Polizei ließ siedafür durch die Absperrung schlüpfen;aber noch immer hielt sie Ausschau nachdem mysteriösen zweiten Mann, dem Mit-

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in Erfurt hilft auch eine rundum gesicher-te Schule nichts mehr.“

Die WaffenEine Waffe in Deutschland auf demSchwarzmarkt zu besorgen ist soschwer nicht. Eine Makarow-Pistolekostet in der Szene rund 500 Euro, eineMagnum von Smith&Wesson 1800 Euro,und manche Pistolen sind auf Flohmärktenschon für 75 Euro zu haben.

Ausgerechnet am vergangenen Freitagbeschloss der Bundestag gegen die Stim-men der FDP und PDS eine Verschärfungdes Waffengesetzes. Es war kein großerSchritt, aber es war immerhin ein Schritt.„Das Problem“, sagte Otto Schily, „sindnicht die legalen, das Problem sind die il-legalen Waffen.“

Das ist nicht ganz so sicher. Denn RobertSteinhäuser hat sich, wenn bewiesen wird,was sich Ende voriger Woche andeutete,seine Pistole und seine Pumpgun ganz le-gal besorgt.

Die Pumpgun, 1893 erstmals gebaut und300 bis 1000 Euro teuer, ist ein traditionel-les Jagdgewehr, das etwa zum Töten vonFasanen und Rebhühnern verwendet wur-de. Ihre verheerende Wirkung fasziniertauch die Filmindustrie, die sie zur Mode-waffe machte.

Kenner wie der hessische Waffenexper-te Fridolin Jacobs schätzen, dass inDeutschland allein etwa 20 Millionen sogenannter Altwaffen illegal im Umlauf sind.Seit Jahren, sagt Konrad Freiberg, der Vor-sitzende der Gewerkschaft der Polizei(GdP), würden seine Kollegen vor diesem„zunehmenden Bürgerkrieg in Deutsch-land“ warnen.

Immerhin 7,2 Millionen Waffen besitzendie Deutschen ganz legal. Die starke Waf-fenlobby, sagt Sachsen-Anhalts Innenmi-

Trauergottesdienst in Erfurt: „Heute sind wir alle genug gestorben“

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Auf dem Stundenplan derKlasse 10c stand der Tod.Es war Montagvormittag,

es war die vierte Unterrichtsstun-de in der Wirtschaftsschule Frei-sing, und die 10c hatte Religion beiDirk Berberich. „Was würdet ihrtun, wenn ihr nur noch 48 Stundenzu leben hättet?“, fragte der, „wiewürdet ihr die Zeit nutzen, dieeuch bleibt?“

Die Klasse diskutierte, ziemlichstill und ziemlich ernst. EinMädchen, das gerade einen Ver-wandten verloren hatte, begann zuweinen. Und Religionslehrer Ber-berich tröstete und zitierte aus derBibel.

Da waren es keine 48 Stundenmehr, da waren es nur noch 20.

20 Stunden bis zu jenem Mor-gen, an dem zwei Leichen in demgrauen Betonbau der Wirtschafts-schule Freising lagen und zwei wei-tere in der Werkshalle der FirmaDeco-Pack in Eching bei München.

20 Stunden, bis der TheologeBerberich, der über den Tod ge-sprochen hatte, von den Notärztengerettet wurde – mit einer jugo-slawischen Armeepistole, Modell„Tokarev 57“, hatte der Attentäterdem Pädagogen ins Gesicht ge-schossen. Einen „Wangendurch-schuss“ notierte die Polizei im Pro-tokoll.

20 Stunden, bis der 22-jährigeAdam Labus seinen Rachefeldzugmit der letzten Kugel und einemSchuss in den eigenen Mund been-dete. Und bis wieder einmal klar war, dasses Amokläufe nicht nur in Littleton (Colo-rado) geben kann, sondern auch inDeutschland und sogar im Freistaat Bay-ern, wo Innenminister Günther Becksteingern so tut, als existierten menschliche We-sen wie Labus hier nicht, und wenn doch,dann nur im Gefängnis.

Adam Labus lebte 14 Jahre lang in Bay-ern, und er konnte, jedenfalls sagt das seineinziger Freund Josip S., 22, durchaus „lie-bevoll“ sein und „Hunde streicheln undsich daran erfreuen“. Er konnte aber wohlauch ziemlich aggressiv sein und laut undlaunisch. Und zweifellos brutal. Denn amvergangenen Dienstag machte ihn eine Mi-

Bücher. Und einmal, er ging gerade zumzweiten Mal in die achte Klasse, verknall-te sich Adam in ein Mädchen. Lange, daserzählt ein früherer Klassenkamerad, grü-belte Adam, was er dem Mädchen schen-ken könne. Dann überreichte er seinenschönsten Modellpanzer.

Und bekam einen Korb.Ungefähr 1993, so der Mitschüler von

einst, habe Labus sich in einen „Außen-seiter und Eigenbrötler“ verwandelt. Esgab damals Schlüsselerlebnisse wie dasSchulfest am 29. Oktober jenes Jahres.

Alle Schüler, alle Lehrer versammeltensich an diesem Morgen in der Aula, dennsie wollten den alten Schulleiter HeinrichGraf verabschieden. Es gab Luftballons,Rosen und ein Quizspielchen, das sich dieSchüler ausgedacht hatten: Sie imitiertenihre Lehrer, und der alte Direktor mussteerraten, wer gemeint war.

Adam Labus durfte den Studienrat Weitlspielen, einen Sozial- und Erdkundelehrer.Am Anfang war Adam ziemlich witzig,doch dann steigerte er sich in einen Rauschund wurde laut und immer lauter. AlsAdam, wie außer sich, anfing zu brüllenund auf imaginäre Schüler einzuprügeln,wurde es eisig und still im Zuschauerraum.

Dann kamen die Buhrufe, erst einzeln,schließlich im Chor. Am Ende pfiffen 460Schüler Adam Labus aus. Es dauerte, bis esendlich jemand schaffte, den 14-jährigenJungen von der Bühne zu holen. Und dannsoll es eine Standpauke durch Herbert Lan-zinger gegeben haben, jenen Lehrer, denAdam Labus neun Jahre später töten will.

Von 1993 an trug Labus schwarz gefärb-te Bundeswehrhosen und Kampfstiefel undeinen schweren, schwarzen Ledermantel,der so aussah wie vor 60 Jahren die Män-tel der Gestapo. Adam, der Aussiedler, be-

schung aus Demütigung, Einsamkeit, Mili-tarismus und Deutschtum zum Killer.

Adam Labus, im August 1979 in Zabrze(früher: Hindenburg) geboren, kam imMärz 1988 mit den Eltern nach Freising,weil der Vater eine Anstellung bei einerVertragswerkstatt von Mercedes gefundenhatte, einen guten Job inklusive Betriebs-wohnung im Stadtteil Lerchenfeld. Damalshatte der Bub noch schwarze Locken.

Die große Leidenschaft des kleinenAdam waren Panzer. Panzer in allen Far-ben, Formen, Größen. Er bastelte Modell-panzer, erzählte von echten Panzern,zeichnete viele kleine Panzer mit deut-schen Hoheitsabzeichen in seine Hefte und

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Die Rache des kleinen RamboEr war einsam, wütend und gekränkt durch viele Nieder-

lagen. Er liebte Waffen, starke Deutsche und den Krieg. Bei seinemAmoklauf in Eching und Freising tötete der aus Polen

stammende Adam Labus drei andere Menschen und sich selbst.

Polizeieinsatz vor dem Schulzentrum Freising:

Attentäter Labus (1999) „Hunde streicheln und sich daran erfreuen“

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gann, über „Kanaken“ zu schimpfen undüber „Scheißausländer“, und er wurde „super-aggressiv, sobald jemand was gegenNazis sagte“, erzählt sein Schulkamerad.

Ein anderer Mitschüler berichtet vonWaffenjournalen, die Labus immer wiedermit Inbrunst unter der Bank verschlungenhabe. Angegeben habe er damit, dass ereine „echte Handgranate“ besitze – undals ihm keiner geglaubt habe, habe er dasDing mitgebracht und herumgezeigt. We-nig später präsentierte er seine Gaspistole.

Waffen, immer wieder Waffen. UndKrieg, immer wieder Krieg. Labus, ein be-gabter Zeichner mit der Note 1,3, malte ta-gelang an gewaltigen Bildern gewaltigerSchlachten. Und Labus war „Gotcha“-Spie-ler; „Gotcha“ ist simulierter Krieg mit Waf-fen, die mit Farbkugeln schießen. Aber dasreichte ihm nicht, denn Labus reizte derwahre Krieg, der Krieg mit echten Toten;

Ecke seines Zimmers wie einen Herrgotts-winkel, aber die Eltern wollen das allesnicht bemerkt haben. „Der Adam schafftdas schon“, soll die Mutter gesagt haben,wenn ihr Junge mal wieder straffällig ge-worden war.

Und das häufte sich. Mit Fahrraddieb-stählen fing es an. Dann kamen Einbrüche,etwa beim örtlichen Modelleisenbahnclub,wo Adam teure Waggons klaute. DannHehlerei, weil er Geld brauchte. Dann Dro-gen. Und einmal versuchte Labus, die Dea-Tankstelle an der Bundesstraße 11 amStadtrand von Freising zu überfallen; erwurde gefasst und zu einer Jugendstrafeauf Bewährung verurteilt.

Es liegt auch an dieser Biografie, dass die bayerischen Behörden in den erstenTagen nach dem Amoklauf nicht beson-ders gut aussahen. Sie schilderten Labus als einen Teufel, der gleichsam aus dem

Nichts kam, jedenfalls nichtaus dem schönen Bayern –und der natürlich nichts mitirgendwelchen Neonazis zutun gehabt habe. Da war bereits ein Brief bekannt,den Adam aus Dänemark an einen Freund geschickthatte, unterschrieben mit„Heil H.“

Möglicherweise reifte seinPlan ja schon damals, im Oktober 1996, in Dänemark,wo er noch mal eine Chancebekommen sollte. Das Ju-gendamt Freising hatte denJungen, der gerade von sei-nem Direktor aus der Schu-le geworfen worden war, in

ein Resozialisierungsprojekt an die Ostseegeschickt.

Dass es ihm gut gefalle, schrieb Adam anseinen Kumpel Philipp F., und dass die Be-treuer sehr nett seien. „Projektler“, schriebAdam, „ist das richtige Wort.“ Ein Brief infast fehlerfreiem Deutsch ist das, mitgleichmäßiger Handschrift und gewählten

Ausdrücken. Ein Brief voneinem Jungen, der nichtdumm ist, von einem, dernachdenkt.

Dann schrieb Adam, dasser viel tun könne in Däne-mark, arbeiten, joggen amStrand, Gewichte heben.Und „Wissen sammeln“.Denn die Betreuer hattennicht nur Bücher und Vi-deos; einer („Ex-Soldat, 6Jahre“) hatte auch Waffen.Es gebe sogar einen „Spiel-platz“, ähnlich wie in Stan-ley Kubricks Film „Full Me-tal Jacket“. Ein Film ist dasüber eine Hand voll ange-hender Marines und einenewigen Verlierer, der imKampftraining schikaniert

als Söldner wollte er sich melden im Ko-sovo, doch an der kroatischen Grenze wur-de er zurückgeschickt, abgefangen von Sol-daten. Das sei, sagen seine Freunde, auchso eine Niederlage gewesen, die er nichtverdauen konnte.

Nur zu Hause, da stoppte ihn keiner. Erdrapierte seine Waffensammlung in einer

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„Die Scharfschützen brauchen freie Bahn!“

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Abtransport einer Leiche in Freising: „Der hat gehasst“

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Opfer Werner, Martini (bei einem Grillfest), Opfer Cislak: Bestrafung für all die Niederlagen

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wird und der zuerst seinen Offizier er-schießt und anschließend sich selbst. EinVorbild?

Trotz seiner kriminellen Geschichteschaffte es Labus bis zur Bundeswehr. InKempten absolvierte er seine Grundaus-bildung, doch dann kam er, der Kämpfer,nur zu den Sanitätern. Das war wieder soeine Niederlage. Wenig später flog er raus,angeblich, weil er Medikamentehatte mitgehen lassen.

Hat er auch die Waffen geklaut,mit denen er am Dienstag ver-gangener Woche die Lehrer, dieihn gedemütigt hatten, und dieVorgesetzten, die ihn entlassenhatten, bestrafen wollte? Oder hater sie auf dem Schwarzmarkt ge-kauft?

Bei 12482 Straftaten in der Bun-desrepublik wurde im Jahr 2000eine Schusswaffe benutzt, über-wiegend bei Raubüberfällen undFreiheitsberaubung – und nur 3,4Prozent dieser Waffen stammtenaus lizenziertem, legalem Besitz.

Allein die Zahl der Handfeuer-waffen, die in Albanien auf denMarkt geschwemmt wurden,nachdem 1997 die damalige Re-gierung des Landes gestürzt wur-de und das Volk die Kasernenstürmte, wird auf mindestens einehalbe Million geschätzt. Dazukommen etwa eine MilliardeSchuss Munition.

Schon in Bayern gibt es nachSchätzungen des Landeskriminal-amts drei Millionen illegale Waf-fen. Eine gute Adresse ist der sogenannte Tschechenmarkt in Egergleich hinter der Grenze; dort bie-ten Vietnamesen ihre Ware feil,Produktpiraterie von Sportkla-motten, Designeranzügen, Uhrenoder CDs – und wenn man einbisschen näher rangeht und Son-derwünsche äußert, zeigen sieihre Knarren.

Adam Labus bewaffnet sich amfrühen Dienstagmorgen mit einemRucksack voller Rohrbomben, ei-ner Gas- und einer Selbstlade-pistole, und er hat sich den Kopf rasiert undKampfstiefel und Armeehosen angezogen.Es beginnt. Er ruft sich ein Taxi.

Gegen 7.45 Uhr, so die vorläufige Re-konstruktion, passiert Adam Labus diegraue Stahltür, die in die Werkhalle seinerfrüheren Firma Deco-Pack führt. Hier hatder Attentäter eineinhalb Jahre gearbeitet;als „Lohnabfüller“ hat er Pattex, Zahnpas-ta und Waschmittel in Tuben und Plas-tikflaschen gepresst. Bis man ihn wegenFaulheit entließ.

Darum ist er heute hier.Zwischen den Verpackungsmaschinen,

die aussehen wie riesige Fotokopierappa-rate, kommt ihm Johann Martini, sein ehe-

über Kosten-Leistungsrechnung bei HerrnRipper in der ersten Stunde. Als dann dieerste Rohrbombe detonierte, dachte sie, imNebenraum sei eine Schulbank umgefallen.Nach dem zweiten Knall stapfte Herr Ripperwütend auf den Flur und bat sich Ruhe aus.

Dann kam der Feueralarm, und langsambegriffen Lehrer und Schüler, dass einAmokläufer in der Schule war.

Denn der Rauch der Explosio-nen hing schweflig und beißendin den Fluren. Irina sah im erstenStock den Bombenleger, der ge-rade mit dem Religionslehrer Ber-berich sprach. Als kurz darauf einweiterer Schuss fiel, begannen dieSchüler zu rennen. Sie wurden indie benachbarte Berufsschule ge-schickt, die Kleinen in die oberenStockwerke, die Großen nach un-ten, und mussten sich ruhig aufden Boden setzen. „Die Scharf-schützen brauchen freie Schuss-bahn!“, rief jemand. Dann torkel-te der Religionslehrer über denPausenhof, stark blutend, mit ei-nem Ballen Papierhandtücher,den er sich an den Hals presste.

Todesangst, überall. Mancheweinten, auch Lehrerinnen, undviele packten ihre Mobiltelefoneaus und begannen mit Verwand-ten zu sprechen. Währenddessenstarb Schulleiter Klaus Cislak imSekretariat durch die Kugeln, dieAdam Labus für den Textverar-beitungslehrer Lanzinger vorge-sehen hatte. Dann tötete Labussich selbst.

Dem Lehrer Lanzinger hat eineBronchitis das Leben gerettet; erist krankgeschrieben, und auf sei-nem Wohnzimmertisch liegeneine angebrochene Schachtel An-tibiotika und ein aufgeschlagenesPsychologiebuch: „Sorge dichnicht, lebe!“

Was Adam Labus gegen ihnhatte? „Ich bin ein konsequenterLehrer“, sagt Lanzinger ziemlichhilflos, „aber ein lustiger Mensch.Der hat mich gehasst, und ichweiß nicht, warum.“

Am Tag der Tat, kurz nach acht Uhr, hatihn ein befreundeter Polizist angerufen.„Verlass auf keinen Fall deine Wohnung“,sagte der, „jemand will dich umbringen.“Wenig später wurde der Lehrer, der beiseinen Schülern als äußerst streng gilt, aufdie Freisinger Polizeistation gebracht. EinBeamter zeigte das schwarzweiße Passfotoeines kahl geschorenen jungen Mannes.

„Ich bin seit 30 Jahren Lehrer und hat-te Tausende Schüler“, sagt Lanzinger,„aber dieses Gesicht tauchte sofort aus derMasse auf. Ich wusste früher schon: Derkann jemanden töten – wenn er will.“

Klaus Brinkbäumer, Conny Neumann,Sven Röbel, Andreas Ulrich

maliger Vorarbeiter, entgegen. Es fallen einpaar Worte und mehrere Schüsse. Martini,38, Vater von zwei Kindern, wird am Ober-schenkel und im Kopf getroffen. Er ver-blutet auf dem Betonfußboden.

André Werner, der Betriebsleiter, ver-sucht noch, sich vor dem Killer in Sicher-heit zu bringen. Er stirbt nach drei Treffernin Kopf und Oberkörper.

Die anderen einstigen Kollegen fliehen;Labus ruft ihnen noch „Keine Sorge, euchpassiert nichts“ zu. Dann ist er weg. Deco-Pack-Vertriebsleiter Wolfgang Oswaldstürmt in die Werkhalle und versucht, Mar-tini ins Leben zurückzuholen; er schütteltihn, und er schreit auf ihn ein.

Es ist etwa acht Uhr, als Labus wieder imTaxi sitzt, diesmal auf dem Weg nach Frei-sing. Er muss sich fühlen wie Rambo, dennwie Rambo will er nur eines: Rache. AnLehrer Lanzinger vor allem. Nach demfragt er, aber der ist nicht da.

Die Schülerin Irina Kling, 17, hatte amTag der Abrechnung nichts Besonderes vor.Es drohte eher trockener Unterrichtsstoff

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Deutschland

Labus-Brief aus Dänemark: „Heil H.“

Attentäter Labus in Dänemark (1996): Eine letzte Chance

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Die Vorstellung im Theater des Kur-gastzentrums Bad Reichenhall ver-lief ganz nach Plan. Kurz vor Be-

ginn der Aufführung musste sich derHauptdarsteller zwar noch von einem Arztaus dem Publikum eine Spritze geben las-sen, weil ihn ein Knie stark schmerzte.Doch dann war Günter Lamprecht, 69,nichts mehr anzumerken. Auf der Bühnespielte er vorvergangenen Sonntagabendden „Tatort“-Kommissar Franz Markowitz,stets auf der Jagd nach skrupellosen Tä-tern, routiniert wie immer.

Im wirklichen Leben wurde Markowitzalias Lamprecht keine 20 Stunden später

ne zwei Jahre ältere Schwester, und an-schließend sich selbst.

Fassungslos und schockiert blickt die Re-publik seitdem nach Bad Reichenhall, ei-nen bis dahin beschaulichen Kurort mitrund 17000 Einwohnern nahe Watzmannund Königssee. Dass in Deutschland einJugendlicher Amok laufen könnte, war fürdie meisten Bundesbürger bislang außer-halb jeder Vorstellung. So etwas gab es nurin den USA, wo sich fast jedes Kind eineSchusswaffe besorgen kann.

Nun wird im Lande eifrig gestritten unddiskutiert.Wie konnte es so weit kommen,dass ein Jugendlicher derart ausrastet? Wiekonnte er an die Waffen gelangen? Wie las-sen sich solche Taten künftig verhindern?

Die ersten Antworten der Experten undPolitiker zeigen vor allem eines: Fast allesind rat- und hilflos.

Kein Wunder – ist doch auch die Tat bei-spiellos. „Noch nie“ sei ihm „ein Jugend-licher begegnet, der zu so einem Gewalt-exzess fähig gewesen wäre“, so Franz Jo-seph Freisleder, Ärztlicher Direktor derHeckscher-Klinik für Kinder- und Jugend-psychiatrie in München.

Nicht nur Fachleute erinnert das grau-same Verbrechen an den Amoklauf zwei-er Teenager am 20. April dieses Jahres in Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Da-bei hatten der 17-jährige Dylan Kleboldund sein ein Jahr älterer Freund Eric Har-ris einen Lehrer und zwölf Mitschüler getö-tet.Anschließend erschossen sie sich selbst.

Die Beschreibungen, die überlebendeMitschüler damals von den beiden Amok-läufern gaben, passen zu dem, was ehema-lige Schulkameraden Peyerls heute berich-ten. Auch Martin sei ein eher schüchternerEigenbrötler gewesen, habe daheim Video-

selbst Opfer eines brutalen Verbrechens.Getroffen von zwei Kugeln aus einem Re-volver Colt Phython, Kaliber .357 Mag-num, lag der Schauspieler vorigen Montagüber eine halbe Stunde lang im eigenenBlut direkt vor dem Städtischen Kranken-haus Bad Reichenhall. Neben ihm seineLebensgefährtin Claudia Amm, 57, undFahrer Dieter Duhme, 55, beide ebenfallsschwer verletzt. Lamprecht wollte sich inder Klinik sein Knie untersuchen lassen.Auf die drei geschossen hatte ein 16-Jähri-ger, der Lehrling Martin Peyerl.

Mit weiteren mindestens 16 Schüssen tötete Peyerl vier Menschen, darunter sei-

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„Der Martin war immer nett“Der Amoklauf eines 16-Jährigen in Bad Reichenhall

schockt die Republik. Experten rätseln über die Ursachen: Warder Täter ein Neonazi – oder einfach nur lebensmüde?

Zerschossenes Klinikfenster, Peyerl-Wohnhaus: „Ausbruch eines Vulkans“

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Amokläufer PeyerlDie eigene Schwester hingerichtet

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spiele gespielt, die für Jugendliche verbotenseien, erzählt der 15-jährige MichaelSchandl. „Der Martin war immer nett, istnie aufgefallen, hat aber den Kontakt zuuns abgewiesen“, so seine ehemalige Klas-senkameradin Stefanie Hocheder. „Ein bis-schen rechtsradikal“ sei er zudem gewe-sen, will die 16-Jährige bemerkt haben. Sohabe er beispielsweise Hakenkreuze in sei-ne Mappen und Ordner gemalt.

Auch die Traunsteiner Kripo beschreibtPeyerl, der im September eine Ausbildungals Betriebsmechaniker begonnen hatte,als „Einzelgänger“, der „sehr zurückgezo-gen lebte“.

Ihren Ermittlungen zufolge brach der 16-Jährige, als er Montagvormittag allein zuHause war, offenbar ohne größere Proble-me den Waffenschrank seines Vaters, einesleidenschaftlichen Sportschützen, imWohnzimmer der Erdgeschosswohnung inder Riedelstraße 12 auf. Martins Eltern,Theresia und Rudolf Peyerl, waren zumFriedhof ins benachbarte Piding gefahren,um – Tradition an Allerheiligen – das Grabder Großmutter zu besuchen. Martin woll-te nicht mitkommen. Schwester Daniela,gelernte Kinderpflegerin, arbeitete imKrankenhaus, dessen Eingang keine 50 Me-ter von der Wohnungstür der Peyerls ent-fernt liegt, direkt gegenüber auf der ande-ren Seite der Riedelstraße.

Gegen 12 Uhr mittags kam die Schwesternach Hause. Was sich dann in der Woh-nung abspielte, konnte die Kripo bis Endevergangener Woche nicht klären – sie wirdes vermutlich nie mehr können.

Fest steht, dass Martin anfing, aus zweiFenstern wild zu schießen. Sechs Kugelnaus einem Selbstlade-Gewehr Ruger M-14,Kaliber .223, trafen die Nachbarin RuthZillenbiller, 59, vier ihren Ehemann Horst,60. Beide waren vermutlich sofort tot. Miteinem zweiten Gewehr, Kaliber .44-40, trafder Junge einen Patienten des Kranken-hauses direkt in den Kopf. Der 54-Jährigewar nur kurz vor die Kliniktür gegangen,um eine Zigarette zu rauchen. Er erlagDienstagabend seinen Verletzungen.

Als Beamte eines Spezialeinsatzkom-mandos die Wohnung am Montag gegen18 Uhr stürmten, fanden sie den 16-Jähri-gen in der Badewanne. Er hatte sich, so dieErmittler, mit einer Schrotflinte erschos-sen. Zuvor hatte er seine Schwester mitfünf Schüssen – je zwei in Kopf und Brustsowie einen in den Arm – regelrecht hin-gerichtet. Auch seine Katze hatte Martinumgebracht.

Was den jungen Mann zu dem grausigenVerbrechen bewegte, liegt für die Behördenebenfalls noch im Dunkeln. „Irgendetwashat den Vulkan zum Ausbruch gebracht,und das suchen wir“, so PolizeisprecherFritz Braun. Für den Traunsteiner Ober-staatsanwalt Wolfgang Giese, der die Er-mittlungen leitet, ist lediglich „klar, dassdas Motiv in der Persönlichkeit des Tätersliegt“. Alkohol, Drogen oder auch eine

malt. Daneben wurden in der ganzen Woh-nung Musik-CDs mit rechtsradikalen Lie-dern sowie Gewaltvideos gefunden.

Sofort nach dem Amoklauf verlangtenPolitiker aller Couleur erst mal „Konse-quenzen“. Nordrhein-Westfalens Innen-minister Fritz Behrens (SPD) plädierte fürein strengeres Waffengesetz. Der Chef derGewerkschaft der Polizei, Norbert Spin-rath, widersprach ihm. Nicht das Gesetzmüsse verschärft werden, sondern die Po-lizei müsse sich mehr darum kümmern,illegale Waffen aufzuspüren.

Bayerns Innenminister Günther Beck-stein (CSU) will sein Augenmerk daraufrichten, dass legal erworbene Waffen siche-rer verschlossen werden. Er möchte das Waf-fengesetz so ändern, dass diejenigen Behör-den, die die Erlaubnis zum Besitz der Waf-fen erteilen, in Zukunft gleichzeitig „Min-destanforderungen für die sichere Verwah-rung festlegen“ müssen. Bislang gibt es da-für nur Empfehlungen. Das Bundesinnen-

ministerium Otto Schilys(SPD) hält dies allerdingsfür „einen der üblichen Hau-ruck-Vorstöße Bayerns“.

Auch Kriminologen, Psy-chologen und Psychiater ta-ten sich zunächst schwer,die Ereignisse von Bad Rei-chenhall zu erklären undeinzuordnen. Zum Teil wi-dersprachen sich ihre Deu-tungen. In einem Punkt zu-mindest scheinen sich dieExperten aber einig: DerAmoklauf des 16-Jährigenwar, wie der Psychiater Lo-thar Adler formuliert, „keinespontane oder Affekttat“.

Sie sei, urteilt der Ärztli-che Direktor des thüringi-

schen Landesfachkrankenhauses für Psy-chiatrie und Neurologie in Mühlhausen,„sicher lange vorbereitet“ gewesen und le-diglich von einem „finalen, vermutlichkränkenden Ereignis ausgelöst“ worden.„Für uns Außenstehende sieht das alles sowahnsinnig überraschend und plötzlichaus“, so Adler, der 1993 an der UniversitätGöttingen eine der wenigen wissenschaft-lichen Untersuchungen über Amokläuferveröffentlichte. „In Wirklichkeit halten wireine solche Tat vor allem deshalb für plötz-lich, weil sie uns zunächst so sinnlos er-scheint.“

Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz,vergangene Woche selbst in Bad Reichen-hall, glaubt, die Kripo könnte sich die Suche nach Martins Motiv sparen: „Daswerden wir nie erfahren.“ Alles, was sichsagen lasse, sei, „dass Martin nicht mehr le-ben wollte, aber nicht zu einem ,normalen‘Selbstmord fähig war“. Deshalb, so Gall-witz, „musste er am Ende zum ersten Malin seinem Leben etwas Grandioses veran-stalten und mit einem riesigen Feuerwerkuntergehen“. Wolfgang Krach

mögliche Sympathie für rechtsradikalesGedankengut spielten „keine Rolle“.

Helfen bei der Suche nach dem Auslöserfür den Amoklauf könnten vor allem Mar-tins Eltern, die vorigen Freitag erstmals alsZeugen befragt wurden. Ihre Vernehmungkönnte diese Woche fortgesetzt werden.

Vor allem dem Vater, einem ehemaligenBundeswehrsoldaten, dürfte die Polizeikritische Fragen stellen. In der Wohnungfanden die Beamten nach eigenen Angabeninsgesamt 19 Waffen. Drei Waffenbesitz-karten berechtigten ihn jedoch, so dasLandratsamt Berchtesgadener Land, ledig-lich dazu, 17 Waffen – 5 Revolver und Pis-tolen sowie 12 Gewehre – zu führen.Außerdem, heißt es bei der Polizei, seien„nicht alle Waffen im Schrank gewesen“.

Rudolf Peyerl, gelernter Kfz-Mechani-ker, hatte sich Mitte der siebziger Jahre fürzwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflich-tet. In der Artilleriekaserne Bad Reichen-hall arbeitete er als Unteroffizier in einem

Wartungstrupp. 1981 meldete Peyerl derPolizei, eine Waffe gefunden zu haben. Umdiese behalten zu können, beantragte erbeim zuständigen Landratsamt eine Be-sitzkarte. Sie wurde genehmigt. In den fol-genden Jahren schloss sich Peyerl, dem diePolizei „Alkoholprobleme“ bescheinigt,insgesamt fünf Schützenvereinen an.

Nach seiner Bundeswehrzeit wechseltePeyerl mehrfach den Job. Mal arbeitete erals Zugbegleiter bei der Bundesbahn, malauf der Mülldeponie Bad Reichenhall, malals Hausmeister bei der Kurverwaltung. Biszum Freitag vor der grausigen Tat seinesSohnes hatte Peyerl eine befristete Be-schäftigung im FeuerwehrerholungsheimSt. Florian in Bayerisch Gmain. Zum 31.Oktober hatte man ihm gekündigt. AmDienstag voriger Woche sollte er einenneuen Job als Hausmeister antreten.

Die Kripo interessiert, wie die Elterndazu stehen, dass die Zimmer ihrer Kindervoll von NS-Devotionalien waren. Unteranderem hing in Danielas Zimmer ein Hit-lerbild, Martin hatte am Kopfende seinesBettes ein Hakenkreuz an die Wand ge-

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Opfer Daniela Peyerl, Lamprecht, Amm: „So ein Gewaltexzess“

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Villen, ein Golfplatz und auf der Co-lumbine High-School jedes Jahr diebesten Prüfungsarbeiten im ganzen

Bundesstaat – Littleton, Colorado, galt bisvergangenen Dienstag als sicherer Flucht-punkt vor dem Dreck und vor der Angstder großen Städte. So sicher, daß die Be-wohner abends nicht einmal ihre Haustürabsperrten.

Die Vorzeigeinstitution – unter den achtbesten Schulen Nordamerikas – ist derStolz des Ortes mit seinen rund 40 000Einwohnern. Allein für den Abschlußballhatten die Eltern locker 50 000 Dollargespendet. Um einen gesitteten Ablaufsicherzustellen, hatten sich die Schüler

Was sie vorher angerichtet hatten, wirdin amerikanischen Medien als das „töd-lichste Schulmassaker in der US-Ge-schichte“ bezeichnet. Klebold und Harrishatten in einem einstündigen Amokspa-ziergang einen Lehrer und zwölf Mit-schüler getötet, dazu 28 zum Teil schwerverletzt.

Gegen 11.30 Uhr, am 20. April, dem 110. Geburtstag Adolf Hitlers, waren diebeiden auf dem Schulparkplatz aus Kle-bolds schwarzem BMW gestiegen, imGepäck zwei abgesägte Schrotflinten, einehalbautomatische Neun-Millimeter-Pisto-le, einen Karabiner und etwa 30 selbst-gebaute Sprengsätze.Außerdem fand man

schriftlich verpflichtet, an diesem Abendkeinen Alkohol zu trinken.

Auch Dylan Klebold trug auf dem Balleinen Smoking, flirtete mit seiner Beglei-terin Devon Adams. Und als der Disk-jockey den Song „Take my Breath away“aus dem Militärfilm „Top Gun“ auflegt,„schwebten wir beide“, so erinnert sichAdams, „in den Abend hinein. Alles warweit weg. Die Schule, der Ärger mit denMitschülern, und vor uns lag nur eins: einestrahlende Zukunft“.

67 Stunden später lag Dylan Klebold,17, mit seinem Freund Eric Harris, 18, tot inder Bibliothek der Schule. Beide hattensich mit Kopfschüssen selbst getötet.

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Ausland

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„Ich werde alles vernichten“Mörderischer Amoklauf amerikanischer Teens: Wie der Haß zweier verlachter

Außenseiter auf die Clique der Sportskanonen unter den Schülern der High-School von Littleton zu einem Blutbad führte.

Trauerfeier in Littleton am Tag nach der Bluttat: „Es ist nie South Central oder Harlem, es ist immer die Vorstadt“

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eine Zehn-Kilo-Bombe, mit der sie undvermutlich ihre Helfer die gesamte Schulein die Luft sprengen wollten. Dazu trugensie Skimasken und ihr Erkennungszeichen:lange schwarze Trenchcoats. So stilisiertund ruhig sie ihre Wahn-Mission began-nen, so kalt und höhnisch zelebrierten sieihre Morde, gerade so, als seien sie auf demSet von „Natural Born Killers“. Ihre Zie-le: Schwarze, Hispanics, Behinderte undvor allem Sportler.

Bombenwerfend und salvenfeuerndmarschierten sie durch die Cafeteria, woSchüler zu Mittag aßen, zu ihrem eigentli-chen Ziel: der Bibliothek. Dort riefen sie:„Alle Sportler bitte aufstehen, denn alleSportler sind gleich tot“, erinnert sich Jo-shua Lapp, 18. Danach hätten sie aussor-tiert. „Jeder mit einer Baseballmütze isttot. Jeder mit einem weißen T-Shirt ist tot.“

Klebold und Harris machten keinegroßen Umstände. Vielen ihrer Opferschossen sie direkt ins Gesicht. Einen Jun-gen, der sich unter dem Tisch versteckte,überraschten sie scherzhaft mit „kuckuck“,bevor sie abdrückten. Einen schwarzenSchüler bedrohten sie mit den Worten:„Wo ist denn der kleine Nigger?“ Dazuschossen sie dreimal. „Ist der kleine Niggertot?“ fragt einer. „Ja“, bestätigt der ande-re. „Schau mal, so sieht also das Gehirnvon einem Nigger aus. Seltsam.“ Dann sol-len sie gelacht haben.

Ab 1.59 Uhr waren CNN und NBC liveauf Sendung gegangen. Sie lieferten dieBilder des Grauens in jedes amerikanischeHeim. Mitglieder einer schwerbewaffne-ten, schwarzgekleideten Spezialeinheit ge-gen Terroristen zerrten einen Jungen durcheine Glasscheibe; Mütter versuchten, mitHandys Kontakt zu ihren eingesperrtenKindern aufzunehmen. Dazwischen konn-te man ganze Schulklassen mit erhobenenHänden über den Rasen vor der High-School rennen sehen. Verdächtig war je-der. Denn – so vermuteten die Einsatzlei-ter – die Amokläufer könnten auf die Ideekommen, sich unter die Flüchtenden zumischen, um so zu entkommen.

Arkansas, wo zwei Jungs im vergangenenJahr vier Klassenkameraden und eine Leh-rerin töteten. Oder Springfield, Oregon,wo ein 15jähriger mit einem Gewehr in dieCafeteria marschierte, zwei Mitschüler tö-tete und 22 verwundete. „Es ist nie SouthCentral oder Harlem“, bemerkte der CNN-Moderator Larry King ratlos, „es ist immerdie Vorstadt.“

Doch die Idylle von „Suburbia“ trügt.Zwar heißen die Straßen noch „Green-wood Pines“ und „Deer Creek Valley“, so

als würden rot-backige Familienvä-ter mit ihren Söh-nen sonntags mitder Bibel untermArm zum Fischengehen. Aber hinterden nostalgischenFassaden regierenlängst in vielen Hei-men die Fernbedie-nung und die Ehe-krise. Nur zugebenwill es keiner. Dennin Orten wie Little-ton sind die Men-schen zum Glück-lichsein verdammt.

„Er war so einnetter Junge“, sagteder Nachbar vonMörder Eric Harris.Dabei hatte er stun-denlang mitan-gehört, wie Harrismit seinem KumpelKlebold hinter demhellblauen Garagen-tor Glas zerschlug,um daraus Splitter-bomben zu bauen.

In einem nahegelegenen Bachbettließ Harris seineSprengkörper zurProbe in die Luft ge-hen, in einem Eisen-warenladen kaufteer neues Zubehör.

So nette Jungseben, die mit

schwarzen Mänteln und Hakenkreuzenherumliefen, Adolf Hitler verehrten undArmbinden trugen, auf denen stand: „Ihate people“ – „Ich hasse die Menschen“.

So nette Jungs auch, die im Kurs fürkreatives Schreiben Texte entwarfen wie„Das Fleisch verrottet auf deinen Knochen,und der Himmel ist blutrot“ und die inVideo-Workshops Filme herstellten, indenen sie mit ihren abgesägten Schrotflin-ten posierten.

Und, weil es so nett ist unter nettenJungs, warum nicht noch andere netteJungs treffen und sich die „TrenchcoatMafia“ nennen, was nach Gangstern klingtund Bogart und einem Ehrenkodex, den

Doch die lagen tot in der Bibliothek undkönnen deshalb keine Antwort mehr gebenauf ihr Motiv und die Frage, die für großeUnruhe sorgt: „Wie konnte so etwas pas-sieren in der heilen Welt von Littleton?“

Die Leute mußten sich erst mal zufrie-dengeben mit einem dürftigen Abschieds-brief: „Verurteilt uns nicht. Auf diese Wei-se wollen wir uns verabschieden.“

Dafür waren die üblichen Welterklärermit ihren Theorien schnell zur Stelle. DieChristliche Rechte gab Hollywood, der

Rockmusik und dem Internet die Schuld.Die Liberalen mäkelten am freien Verkaufvon Schußwaffen herum. Präsident Clintonmeinte, in der vierten Woche seines Koso-vo-Bombardements, man müsse den Kin-dern beibringen, daß Gewalt keine Lösungsei. Zum Trost, so empfahl er ihnen, solltensie beten. Zum seelischen Notstand kamder intellektuelle. Und der wurde über-troffen von einem schlechten Gewissen.

Daß nämlich Schüler auf Schüler undmanchmal auf Lehrer schießen, ist schonlange nichts Neues mehr in den USA. Seit1997 gab es neun Attentate, ausgeführt vonHalbwüchsigen in kleinen, vermeintlichfriedlichen Provinznestern wie Jonesboro,

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Versorgung von Verwundeten: „Alle Sportler sind gleich tot“

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Täter Klebold, Harris„Er war so ein netter Junge“

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der Rest der Welt nicht verstehen soll. Unddann, wie Harris, auf eine Website schrei-ben: „Ich wohne in Denver und möchtefast jeden Einwohner dort umbringen. Ihrversteckt euch am besten alle in eurenHäusern, aber ich werde jeden erwischen.Ich werde zielen, um zu töten, und ich wer-de alles vernichten.“

Diesen Haß verbreiten nicht nur ob-skure Internet-Seiten oder Gewalt-videos, selbst derzeit laufende Kinopro-duktionen wie „The Matrix“ gehören viel-

leicht zu den mörderischen Vorlagen fürdas Schulgemetzel von Littleton: In demFilm ballert Hollywood-Star Keanu Ree-ves im schwarzen Trench aus einemSchnellfeuergewehr um sich, und in einerTraumsequenz von „The BasketballDiaries“ schießt Leonardo DiCaprio aufLehrer und Mitschüler.

So furchterregend Harris, Klebold undihre Clique, die Trenchcoat Mafia, auftre-ten wollten – in der High-School von Litt-leton wurden sie für krank gehalten undeinfach ausgelacht. Niemand hatte Angstvor ihnen. „In der Hierarchie von Colum-bine standen sie ganz unten“, sagt der Mit-schüler John Vandemark. „Sie warenAußenseiter. Oben standen die Sportler.“

Wie an jeder anderen amerikanischenHigh-School gelten auch in Columbine die„Jocks“, die Athleten, als die Chefs deskleinen Universums. Die Cheerleader ju-beln ihnen zu, sie bekommen die hüb-schesten Mädchen, die gutbezahlten Jobsund später auch mit mittelmäßigen Noteneinen Platz an Elite-Universitäten. UndJocks wissen, was sie wert sind. „Am erstenSchultag habe ich mich an ihren Tisch inder Cafeteria gesetzt“, erzählt ein eher un-scheinbarer Schüler. Sie sagten: „Steh auf– das ist nicht dein Platz.“

Harris, Klebold und ihre Clique haßtendas selbstbewußte Getue der Sportskano-nen, und je mehr sie versuchten, mit ihren

* Bei einer Debatte über das Massaker von Littleton ander Williams High-School in Alexandria (Virginia).

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Ausland

Schobert, 35, arbeitet am DuisburgerInstitut für Sprach- und Sozialfor-schung. Im Verlag des Instituts er-scheint im Herbst sein Buch „Heiden-tum, Musik und Terror“.

SPIEGEL: Die beiden jugendlichen Täterin Littleton sollen Adolf Hitler verehrthaben und Anhänger der sogenanntenGothic-Bewegung gewesen sein, inDeutschland auch als „Grufties“ be-kannt. Sind das alles Rechtsradikale?Schobert: Nein. Die überwiegendeMehrheit der Grufties in Deutschlandund auch in anderen Ländern ist fried-lich und sanft.Allerdings existiert aucheine Minderheit von Faschisten. Dar-über dürfen sich die friedfertigen Leu-te keine Illusionen machen. Deshalbhaben sich letztes Jahr auch die „Gruf-ties gegen Rechts“ gegründet.SPIEGEL: Woran kann ein Laie mili-tante Gothic-Fans erkennen? An denschwarzen Mänteln, wie sie die Mit-glieder der „Trenchcoat Mafia“ von Littleton getragen haben?Schobert: Viele Medien verbreiten dajetzt einen unglaublichen Quatsch –als sei ein schwarzer Trenchcoat dasZeichen der ganzen Szene. Selbst alsSchmuck getragene Nazi-Symbole wiedas zwölfzackige Sonnenrad aus der

Wewelsburg erlauben keine eindeu-tige Zuordnung. Denn oft werden die-se Zeichen auch in Unkenntnis be-nutzt.SPIEGEL: Gehören Waffen zur Gruftie-Grundausstattung?Schobert: Nein, höchstens Tränengaszum Selbstschutz. Viele haben Ärgermit Skinheads, vor allem die meistrecht androgynen männlichen Gothics.

SPIEGEL: Sind Gothic-Fans besondersanfällig für rechte Ideologien?Schobert: Die Gothic-Szene zieht vielewacklige, suchende Charaktere an. Ge-rade die Szene in Deutschland ist vonder gymnasialen Mittelschicht geprägtund zeichnet sich durch eine besonde-re Sinnbedürftigkeit aus. Das macht sieanfällig für die sogenannte Neue Rech-te. Ein Teil der europäischen Szene ori-entiert sich beispielsweise an Esoteri-kern aus dem SS-Ahnenerbe wie Karl-Maria Wiligut, ein Berater Himmlers.SPIEGEL: Und in den USA?Schobert: Dort gibt es zum BeispielBoyd Rice, der in Denver die Abraxas-Stiftung gegründet hat, eine sozialdar-winistische Denkfabrik. Auf Rices CDshört man Parolen wie „Tretet dieSchwachen weg!“, kombiniert mit Sa-tanismus-Sprüchen und dem Goebbels-schen „Wollt ihr den totalen Krieg?“Der geht ideologisch in die vollen.SPIEGEL: Ist das die Gedankenwelt,aus der die High-School-Mörder vonLittleton schöpften?Schobert: Das weiß ich nicht. Sicher istaber, daß da Prozesse schleichenderästhetischer Gleichschaltung ablaufen,geprägt vom Glauben an eine apoka-lyptische Schlacht. Zwar wird nicht je-der, der von Odin schwafelt, zum Ge-walttäter. Was man aber nicht aus-schließen kann, ist, daß einige Leuteaus diesem Teil der Szene durchdrehen.SPIEGEL: Zu Pfingsten werden bei ei-nem großen Gruftie-Treffen in Leipzigbis zu 20000 Fans erwartet. Eine Gefahrfür die öffentliche Sicherheit?Schobert: Quatsch! Aber es gibt beimLeipzig-Festival ein paar Projekte mitfaschistischem Einschlag. So soll zumBeispiel die Band Kirlian Camera ausItalien auftreten. Die Gruppe verwen-det Original-Tondokumente des Füh-rers der faschistischen Eisernen Gardein Rumänien, Corneliu Zelea Codrea-nu. Die Band sagt, sie wolle ihm damitein Denkmal setzen.SPIEGEL: Viele Fans wissen vermutlichgar nicht, was die Eiserne Garde war.Schobert: Politische Unwissenheit ist in der Szene sehr verbreitet. Aber am Ende eines Konzerts haben sich die Musiker von Kirlian Camera mitdem Hitlergruß verabschiedet. Das hat viele Grufties dann doch sehrschockiert. Interview: Martin Wolf

„Wacklige Charaktere“Der Sozialwissenschaftler Alfred Schobert über

Rechtsradikalismus und Gewaltbereitschaft in der Gruftie-Szene

Gothic-Star Rice„Tretet die Schwachen weg“

Präsident Clinton, US-Schüler*Zum Trost sollen sie beten

AP

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Popzitate eine Welt. Für Harris und Kle-bold gab es die Grenze zwischen virtuellerund echter Welt nicht mehr: Hitler in derHigh-School.

Am Tag nach dem Massaker hieltenMenschen Kerzen in den Händen und san-gen. Viele weinten, und noch mehr warte-ten darauf, im Fernsehen interviewt zuwerden. Einige Schüler hatten schon vombelagerten Gebäude aus mit ihren Handysnicht die Polizei, sondern CNN angerufen.

Und weil in diesem Durcheinander die Dinge trotzdem ihre Kleinstadtordnunghaben sollen, legten die Trauerndenzwischen den Ü-Wagen der Fernseh-stationen Blumen auf dafür bestimmtenFlächen ab.

Erst nachdem die letzten von Harris undKlebold installierten Sprengfallen ent-schärft worden waren, konnten gegenAbend die Toten aus der bombenvermin-ten Schule geborgen werden. In der Nachtbegann es zu schneien.

Am darauffolgenden Tag waren wiederalle auf Sendung. Zwischen den Satelliten-schüsseln debattierten ein paar Leute dasFür und Wider des Verkaufs von Schußwaf-fen – vier Millionen pro Jahr.

Aber daraus wird wohl nichts werden.Amerikaner seien süchtig nach Gewalt, be-kannte die „New York Times“: „Wir ma-chen sie aufregend. Wir feiern sie. Wir ro-mantisieren sie. Wir erotisieren sie. Undvermarkten diese Geräte, die jedem vonuns das Morden ermöglichen. Macht janichts. Steck einfach eine Pistole ein undfahr runter zum Videostore, um dir ein paar aufregende Videos zu besorgen, in de-nen Frauen umgebracht werden. Und,wenn dir jemand in den Weg kommt – knallihn ab.“ Mathias Müller von Blumencron,

Thomas Hüetlin

untrainierten Körpern und den angst-einflößenden Zeichen ihrer selbstgebastel-ten Subkultur aus Hitler, deutschem Tech-no, den Schockrockern Marilyn Mansonund Rammstein, den Computerspielen„Doom“ und „Quake“ dagegen anzuge-hen, desto lächerlicher machten sie sich.„Sie riefen ,Jock, ich hasse dich‘, wenn ichdurch die Aula ging“, sagte ein Sportler.„Warum sollte ich mich darüber aufregen.Sie waren ja keine Jocks.“

Vor einigen Monaten, berichtet ein Foot-ballspieler namens Matt Good, hatten dieSportler einem Kampf mit der Mafia zu-gestimmt.Aber die Trenchcoats seien zweiStunden zu spät erschienen. Sie hättenaußerdem noch Schwerter dabeigehabt.Ziemlich peinlich. Die Jocks sagten: „Ver-geßt es“, und seien gegangen.

Mit Verachtung und Hohn gestraft, fühl-ten sich Klebold und Harris immer mehrals Opfer. „Ich lasse es mir nicht länger ge-fallen, daß die Jocks auf uns herumtram-peln“, sagte Harris. Und wie viele schlech-te Verlierer haßte er Leute, von denen erglaubte, sie seien schwächer als er. ZumBeispiel schwarze Mitschüler. Von denengab es an der von Weißen dominiertenHigh-School gerade 14.

Wie die meisten Jugendlichen in der Pu-bertät waren Harris und Klebold den Er-wachsenen längst entglitten. Weit fataleraber war: Sie verloren den Sinn für Rea-lität. Stundenlang jagten sie Feinde in denLabyrinthen ihrer Computerspiele; putsch-ten sich auf mit Kriegsgesängen der deut-schen Band KMFDM („Kein Mitleid fürdie Mehrheit“) und Zeilen wie „If I had ashotgun, I’d blow myself to hell“ – „Wennich ein Gewehr hätte, würde ich mich in dieHölle blasen“. Und so wurde aus ihrerselbstangelegten kleinen Sammlung mieser

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Ausland

Tatort Columbine High-School: „In der Hierarchie standen sie ganz unten“

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Mirror-Titel: 16 Kinder und eine Lehrerin starben

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S c h ül e r m ör d e r

„Er blickte verschlagen“Gerhard Mauz zu dem Blutbad in der Primary School in Dunblane, Schottland

s war ein Alptraum. Zuerst die Mel-dung. Und dann die Bilder.E Sie zeigten keine Leichen. Sie

zeigten nicht die Walstatt, die Halle derSchule, in der die Schüsse fielen. KeinBlut auf dem Bildschirm.Aber man sah die Menschen, die zur

Schule rennen, die Menschen, die einKind in der Schule haben; die Men-schen, die nicht wissen, ob dieses Kindnoch lebt.Man sah Menschen, die

gehört haben, daß etwasEntsetzliches in der Schulegeschehen ist; die gehörthaben, daß Kinder getötetoder schwer verletzt wor-den sind. Sie rennen umdas Leben ihrer Kinder.Die Mutter, ein Klein-

kind in dem Buggy vorsich, die um ihr älteresKind zur Schule jagt. IhrGesicht, einen Augenblicknur, ihr Gesicht.Dunblane, das „Tor zum

schottischen Hochland“,mit seiner gotischen Kathe-drale und einer Brücke ausdem 16. Jahrhundert, dieden fischreichen Fluß Al-lan Water überquert, istheute eine Pendlerstadt.Seine Einwohnerzahl hatsich in den vergangenen 20Jahren auf knapp über7000 fast verdoppelt.Immer mehr Menschen

sind aus Glasgow undEdinburgh zugezogen, umdie 50 Kilometer entferntund über Autobahnen vonDunblane aus erreichbar.Und wer pendelt, ist nichtaufs Auto angewiesen.Vom Morgengrauen bis indie Nacht verkehren stünd-lich Züge. Die Bahnverbin-dung gibt es seit 1845.Viele entschieden sich für die idylli-

sche Kleinstadt, weil sie für ihre Kinderabseits der Großstädte eine gute und si-chere Schule suchten.Die Menschen in Dunblane sind mit-

telständisch wohlhabend. Sie haben diealten Häuser aus grauem Granit reno-viert oder neue Häuser gebaut, die insBild des Städtchens passen. Fast 80 Pro-zent der Häuser gehören ihren Bewoh-

nern. Zu 902 Familien gehören Mutter,Vater und zwei Kinder. In 41 Familiensteht nur ein Elternteil dem Haushaltvor. Es gibt kaum Arbeitslose in Dun-blane.Dunblane ist die vielleicht sauberste

Stadt in Schottland. An den Spazierwe-gen am Allan Water drohen SchilderHundehaltern: „100 Pfund Strafe fürnicht weggeräumten Kot.“ Großelternund Eltern wollen nicht in Haufen tre-

ten, wenn sie mit ihren Kleinen amFluß die Enten füttern.Eine Bedrohung dieser Idylle war

kaum vorstellbar. An einigen Straßenam Stadtrand warnen Schilder: „This isa neighbourhood watch area.“ Aberdas demonstriert eher die nachbar-schaftliche Verbundenheit als Angst.Seit einem Gefecht zwischen TruppenKönig Georgs I. und aufständischen

Schotten 1715 war in Dunblane keinSchuß auf Menschen abgefeuert wor-den.Die Schüsse, die am Mittwoch ver-

gangener Woche gegen 10.30 Uhr ausvier Waffen fielen, haben 15 fünf Jahrealte Kinder, ein sechsjähriges Kind unddie Lehrerin der Kinder getötet. ZwölfKinder und eine Lehrerin wurdenschwer verletzt, einige sollen noch inLebensgefahr sein.

Thomas Hamilton, 43,ist über Dunblane wie eineNaturkatastrophe gekom-men. Unvorhersehbar, ausfriedlichem Himmel brachdas Unglück herein. EinDeich, hinter dem man seitundenklichen Zeiten inFrieden lebte, zerriß in Se-kunden. Und ohne Vor-warnung strömte allesüberflutend die Welt her-ein.Man wußte schon, wie es

in ihr zuging, aber das wardraußen. Davon las man,davon hörte man, das sahman auf dem Bildschirm.Doch das war eine Welt,vor der man in Dunblanegeschützt war. Man lebte ineinem Hort, in einer Zu-flucht.Unvorhersehbar, ohne

Vorwarnung? Das darfnicht sein. Denn dann wäreman ja jederzeit tödlichenAngriffen ausgeliefert.Nein, es muß etwas ver-säumt worden sein. Es istunerträglich, daß es Kata-strophen gibt, denen manohnmächtig gegenüber-steht, die nicht durch Vor-sorge verhindert werdenkönnen.Die Verzweiflung sucht

nach Wegen, um das Un-glück zu verarbeiten. In Dunblane undin Stirling, acht Kilometer entfernt, dortwuchs Hamilton auf, heißt es, er sei im-mer ein Ungeheuer gewesen:

„Er blickte verschlagen“ – „Er lauertehinter der Hecke seines Hauses“ – „Ertrug ständig einen Anorak, und selbstwenn die Sonne schien, hatte er eineKapuze auf“ – „Er hat seinen Vater ausdem Haus geekelt“ – „An den Wänden

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98 DER SPIEGEL 12/1996

seines Wohnzimmers hingen pornogra-phische Bilder“ – „Er hatte stechendeAugen und einen fischfeuchten Hände-druck“.Doch Hamilton ging regelmäßig in die

Kirche. Über Jahre führte er ein Ge-schäft mit Waren für Heimwerker. Undauch nachdem er aus dem Verband derPfadfinder ausgeschlossen worden war,vertrauten ihm Eltern ihre Kinder an,von 1974 bis in die Gegenwart. AufHandzetteln warb er für Sport- undWandergruppen. In Schottland brauchtman keine Lizenz, um Jugendvereine zuleiten.Natürlich gab es über Hamiltons Nei-

gung zu Knaben Gerüchte. Weshalb fo-

tografierte er so gern Jungen? Die An-deutungen über seinen Ausschluß vonden Pfadfindern und spätere Anzeigenlassen vermuten, daß er Knaben miß-brauchte. Doch die Akten über ihn, so-weit man sie kennt, enthalten nichts,weshalb man ihn für gemeingefährlichhalten mußte .Ein Junge verletzte sich bei einer

Campingtour mit einer Axt und wurdeangeblich nicht sachkundig versorgt.Hamilton untersagte Kindern, dieHeimweh hatten, ihren Eltern zu schrei-ben. Statt, wie versprochen, in eine Ju-gendherberge zu gehen, übernachtete erbei einem Ausflug mit acht Jungen inseinem gelben Kleinbus.Er fühlte sich zu Kindern hingezogen,

weil er mit Erwachsenen Kontakt-schwierigkeiten hatte. Seine Zuwen-dung zu Jungen war fraglos zunehmendpädophil getönt. Doch als ein Kinder-verführer und -verderber war er nichtaufgefallen.So unterschrieben denn auch 70 El-

tern eine Protestresolution, nachdemdie Kreisverwaltung Hamiltons „Ro-vers“-Klub die Benutzung von öffentli-chen Räumen in der Stadt untersagt hat-te. Der Fall kam vor den Ombudsmann,der Hamilton recht gab. Er durfte mitseinen Rovers weiter in Dunblane zu-sammenkommen – auch in der Schulhal-le, in der er am vergangenen Mittwochschoß.Es ist irreführend, Hamilton einen

Amokläufer zu nennen. Für deren Ta-ten läßt sich wenigstens der Anlaß, derAuslöser erkennen. Im April 1986 er-schoß der damalige Chef der ZürcherBaupolizei vier höhere Mitarbeiter derStadtverwaltung und verletzte einenfünften lebensgefährlich. Er war denAnforderungen seines Amtes nicht ge-wachsen. Die Beamten, auf die erschoß, hatten Kritik an ihm geübt. Eine

Eine Protestresolutionvon 70 Eltern

zugunsten Tom Hamiltons

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Querschnittsgelähmter MüllerFälschlich für gemeingefährlich gehalten

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Volkhoven-Täter Seifert„Hitler der Zweite kommt“

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Scheidung und finanzielle Probleme ka-men hinzu.Auch der Amokmörder, der von ei-

nem Turm herab oder vor einem Re-staurant oder in einem Supermarktblindlings auf ihm unbekannte Men-schen schießt, läßt noch Einblicke zu,die seinen Weg in die Vereinsamung, indas Bedürfnis, einmal einer zu sein, denalle kennen, nachvollziehbar macht.Die Menschen, die in Schulen ein-

dringen und auf Kinder und ihrer Leh-rer schießen, bleiben ein Rätsel. Warumsie ihre Attentate begingen, hat sichnoch nie aufklären lassen. Weder derAnlaß, der den Angriff auslöste, nochdas Motiv für gerade diese Tat ließen

sich erkennen. Auch war es nicht mög-lich, über die seelische Störung, dieFehlentwicklung, an deren Ende die Tatstand, Erkenntnisse zu gewinnen.Vermutungen, etwa die, der Täter ha-

be in den Kindern die Gemeinschaft anihrer verletzlichsten Stelle treffen odersich an ihnen für seine eigene, unglückli-che Kindheit und Jugend rächen wollen– sind Mutmaßungen. Warum einMensch sein Unglück mörderisch aufKinder ablädt, wissen wir nicht. Es gibtkein Bild von diesem Menschen. DieseMenschen töten sich am Ende ihrer Tatselbst. Man kann nicht mehr mit ihnensprechen. Auch Thomas Hamilton hatsich zuletzt erschossen.Am 17. Januar 1989 drang in Stockton

(Kalifornien) Patrick West, 24, in eineGrundschule ein, erschoß 5 Kinder undverwundete 30, bevor er sich selbst er-schoß. Warum er das tat, hat sich nichtaufklären lassen. Zwischen der Schuleund ihm bestand keine Beziehung.Am 20. Mai 1988 erschoß nördlich

von Chicago eine Frau, Laurie Wasser-mann, 31, in einer Grundschule einenachtjährigen Jungen und verletzte fünfweitere Kinder schwer. Sie tötete sichselbst. Auch zwischen ihr und der Schu-

le ließ sich kein Zusammenhang fin-den.Von dem Täter wie der Täterin war

nicht mehr zu ermitteln als der Um-stand, daß sie seelische Probleme hat-ten, aus denen sich jedoch weder fürden Täter noch die Täterin ergab, war-um sie gerade auf Kinder geschossenhatten.Der schmale Grat, auf dem die Ver-

suche scheitern, Schulkinder vor mör-derischen Überfällen zu schützen, ist inder Bundesrepublik am sichtbarsten ge-worden.Am 11. Juni 1964 drang Walter Sei-

fert, 42, in eine Schule in Köln-Volk-hoven ein. Er war mit einem selbstge-fertigten Flammenwerfer und einerLanze bewaffnet. Ihm fielen siebenSchülerinnen, ein Schüler und zweiLehrerinnen zum Opfer. 21 Kinder er-litten Brandverletzungen, die sie für ihrLeben zeichneten. Seifert soll geschrienhaben: „Hitler der Zweite kommt.“Seifert hatte seit Jahren mit den Be-

hörden gestritten. Er litt an Tuberkulo-se und meinte, diese werde nicht sach-gerecht beurteilt. Er hatte mit Rachegedroht. Doch das ist nicht völlig unge-wöhnlich im Schriftverkehr des Bürgersmit den Ämtern. Auch Nachbarn hat-ten Schwierigkeiten mit Seifert. Er hat-te im Keller eine Art Folterkammer ge-baut, so munkelte man. Das Ergebniseines Gutachtens war, er sei ein „psy-chisch abwegiger Mensch“ und sogarein „schizophrener Paranoiker“.Doch zu dem Schluß, er sei „gemein-

gefährlich“, kam man nicht. Gewiß,Seifert störe, er sei lästig. Aber damitmüsse die Gesellschaft fertig werden,

sie habe das hinzuneh-men, sie müsse das er-tragen.Seifert floh vom Tat-

ort, die Tür zur Schulehatte er mit einem Holz-keil von außen blok-kiert, alle sollten ver-brennen. Er wurde ver-folgt, nach zwei Warn-schüssen am Oberschen-kel getroffen, er brachzusammen. Doch er hat-te schon auf dem Schul-hof ein Pflanzenschutz-mittel geschluckt, er lagbereits im Sterben.Es ist für die überle-

benden Opfer Seifertsgeschehen, was nurmöglich war. Die Stadtund ein Kuratorium ha-ben sich ihrer angenom-men. Aus zwei Fondsvon 313 000 und 1,1 Mil-lionen Mark wurde ge-holfen, vor allem, umden Kindern später dieGründung einer Exi-

stenz zu ermöglichen. Nur rund 350Mark an Bank- und Verwaltungskostenfielen beim Kuratorium an. Alle ande-ren Kosten bezahlten die Mitglieder auseigener Tasche.Rache? Aber warum an Kindern, an

den Kindern einer Schule, mit der Sei-fert nichts zu tun hatte. Wie immer: daein Detail, dort ein anderes. SeifertsFrau war drei Jahre zuvor gestorben. Erhatte sich völlig in sich zurückgezogen.Gelegentlich machte er Ausfälle aus sei-ner Isolation mit wütenden Briefen anBehörden. Er ist bei seiner Großmutteraufgewachsen, erfuhr man. Seine Mut-ter hat er, wenn er ihr begegnete, langefür seine ältere Schwester gehalten.Aber das erklärt nichts.

Hätte man erkennen können, erken-nen müssen, daß er gefährlich war?Wie heute in Schottland, versuchte

man nach Volkhoven in Nordrhein-Westfalen etwas aufzudecken, was ver-säumt worden war. Ein „Gesetz überHilfen und Schutzmaßnahmen bei psy-chischen Krankheiten“ wurde unter Be-rufung auf die Tat Seiferts, das „Parade-beispiel“, diskutiert. Es scheiterte. Aufeiner Ärztetagung wurde vorgerechnet,daß man, würde das Gesetz auf die gan-ze Bundesrepublik ausgedehnt, „im Ma-ximalfall“ etwa sieben Millionen Men-schen als geistig oder seelisch Defekteunter Staatsaufsicht stellen müsse.Doch eine ganz andere Antwort auf

die Tat von Volkhoven, eine schreckli-che Antwort, denn sie handelt von demschmalen Grat der Ohnmacht gegen-über Menschen, die ihr Elend auf Kin-der laden, war längst gegeben worden.Man hatte sie nur nicht gehört, weil es

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Abtransport der Opfer in Eppstein (1983)Drei Kinder, ein Lehrer, ein Polizeibeamter starben

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Eppstein-Attentäter Charva

nichts geben soll, was unvorhersehbarist.Am Morgen des 16. Juni 1964, am

fünften Tag nach Köln-Volkhoven, fielin der Praxis eines angesehenen Anwaltsin Krefeld der Assessor Dr. Imre Müllerauf. Der Anwalt, dessen Wort etwasgalt, rief die Polizei an. Sein MitarbeiterMüller sei offensichtlich „geisteskrank“,er habe „die Angestellten geschlagen“und sei endlich unter Mitnahme von Ak-ten „auf die Straße geflüchtet“. Es istbelanglos, was tatsächlich geschehenwar. Müller wird eilends festgenommen.Er wird vom Amtsarzt in das psychia-

trische Krankenhaus Süchteln eingewie-sen. Die Schnelldiagnose enthält all das– was im Fall des Walter Seifert nicht zueiner Zwangseinweisung geführt hat:„Schizophrenie mit schwerstem Erre-gungszustand“, „irre Blicke“, „Verfol-gungswahn“ und „Gemeingefährlich-keit“.

Müller empfindetmit Recht seineZwangseinweisung alsunzulässig, er verhältsich nicht „ruhig undgeordnet“. Zwei Pfle-ger des Nachtdienstes,der eine 17 Jahre alt,verabreichen ihm zweiSpritzen, zu denen siebevollmächtigt wordensind. Nach der zweitenwar Müller quer-schnittsgelähmt fürden Rest seines Le-bens.Er hat vom Bett aus

gekämpft. Im Jahr1967 erreichte er, daßdas Verwaltungsge-richt Düsseldorf die

Stadt Krefeld verurteilte, die amtsärzt-lichen Behauptungen zu widerrufen,die der Hauptanlaß zur Zwangseinwei-sung gewesen waren. Müller ist übri-gens als Querschnittsgelähmter keines-wegs sofort entlassen worden. Daß ihmdas Rückgrat bei der Verabreichungder Spritzen gebrochen worden war,bestritt die Klinik. Sie sah nichts der-gleichen auf der Röntgenaufnahme.Man tippte sogar auf Tollwut, nachdemman am rechten Bein des Gelähmteneinen Hundebiß ausgemacht hatte. Nurwar der Hund gesund.Erst im Oktober 1968 machte der

SPIEGEL darauf aufmerksam, daß dieunverantwortliche ZwangseinweisungMüllers vor dem Hintergrund der Tatvon Walter Seifert fünf Tage zuvor ge-sehen werden muß; daß ein Amtsarztunmittelbar nach Köln-Volkhoven be-reit gewesen ist, schon auf einenfernen, vagen Verdacht hin so zu han-

deln, wie im Fall Sei-fert nicht gehandeltworden war.Und es war darauf

aufmerksam zu ma-chen, daß auch dieEmpfindlichkeit, etwadie des angesehenenAnwalts, für die Ver-haltensweisen von Mit-menschen, für Abson-derlichkeiten, diesonst nicht alarmierthätten, in den Tagennach Volkhoven aufsäußerste angespanntwar.1970 ist Imre Müller

dann endlich entschä-digt worden, hat eine –für jene Jahre ho-he – Abfindung von150 000 Mark erhaltenund die Krankenko-sten, die nicht von derKasse gezahlt wurden.Es wurde auch eineRente von 1700 Markim Monat ausgesetzt.Von der hat der Ge-lähmte nicht mehr vielgehabt. Er starb bald.Die Rücksicht auf

einen scheinbar nurschwierigen Men-schen, einen Sonder-ling halt, hatte das At-tentat von Volkhovenzur Folge. Im frischenSchatten der getötetenKinder und Lehrerin-nen, der für ihr Lebengezeichneten Überle-benden, wurde derVersuch, Gemeinge-fährlichkeit schon nacheinem oberflächlichen,

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Verzweifelte in Dunblane: Kein Trost für Eltern, Geschwister und Mitschüler

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103DER SPIEGEL 12/1996

groben Blick anzunehmen, zum Schick-sal Imre Müllers.Es gibt für die Angehörigen der Opfer

und der Überlebenden nicht den Trost,der vielen von ihnen wichtiger ist als dieRache – den Trost, daß ihr Leid zu Er-kenntnissen führt, die anderen ein sol-ches Schicksal ersparen.Nach Volkhoven hat man diskutiert,

ob der freie Verkauf der Chemikalien,mit denen Seifert seine Pflanzenspritzegefüllt und in einen Flammenwerfer ver-wandelt hatte, unterbunden werdensoll. Doch es gab und gibt nichts, was ei-nem derartigen Greuel vorbeugt.Am 3. Juni 1983 erlebte die Bundes-

republik das Elend von Volkhoven einzweites Mal. Mit zwei Pistolen bewaff-net drang der 34 Jahre alte, seit 1971 alsAsylberechtigter anerkannte Tschecho-slowake Karl Charva in eine Schule inEppstein-Vockenhausen im Taunus ein.Er erschoß drei Kinder, einen Lehrer,einen Polizeibeamten und sich selbst. Es

hat sich nicht klären lassen, warum es zudieser Tat kam. Der Täter stand in kei-ner Beziehung zu der Schule.Auch hier ist diskutiert worden, was

zum Schutz der Kinder, was vorbeugendgeschehen kann. Ein schwer überwindli-cher Wall von einem Zaun um dasSchulgelände? Monitore vor jedem Ein-gang? Die Eltern waren bereit, sie zuzahlen.Es gibt nichts, was vorbeugt, was si-

chert. Es gibt nichts, was abschreckt,was größere Sicherheit garantiert.Die Eltern, Geschwister und Mitschü-

ler in Dunblane sind dem Schmerz aus-geliefert, den andere vor ihnen draußenin der Welt auf sich nehmen mußten undnoch immer tragen.Hamilton hatte an die Königin ge-

schrieben und sich beschwert darüber,wie man ihm in Dunblane mitspiele.

Doch erst kurz vor der Tat hat er ge-schrieben. Daß er noch keine Antworthatte, kann seine Tat nicht ausgelösthaben.Auch in Schottland wird die Frage

„Warum?“ nie beantwortet werden. Eswird keine, wenigstens ein wenig trö-stende Lehre gewonnen werden kön-nen. Es gibt Katastrophen, die nichtvorhersehbar sind. Denen man ohn-mächtig gegenübersteht.Großbritannien ist nicht nur in Dun-

blane getroffen worden. Im Dezembervergangenen Jahres wurde in Londonein Lehrer getötet. Der SchulleiterLawrence hatte sich zwischen Jugendli-che geworfen, weil er Schülern zu Hilfekommen wollte, die so angegriffen wur-den von Mitschülern, daß Gefahr fürLeib und Leben bestand. Lawrencewurde erstochen. Eine neue Dimen-sion.Achtung, Bewunderung dem getöte-

ten Schulleiter. Und denen, die mit ih-

ren Schülern starben: In Köln-Volkho-ven starben von Lanzenstichen zerfetztdie Lehrerinnen Ursula Kuhr und Ger-trud Bollenrath. Sie hatten sich vor ihreKinder gestellt. In Eppstein starb derLehrer Hans-Peter Schmidt, der aus derNebenklasse zu Hilfe eilte. In Schott-land starb die Lehrerin Gwen Mayor,ihre von Kugeln durchsiebte Leiche lagüber toten Kindern.In Eppstein überlebte, schwer ver-

letzt, von acht Schüssen getroffen, derLehrer Franz-Adolf Gehlhaar, 1937 inKönigsberg geboren. Er hat nicht in denSchuldienst zurückkehren können. Ihmist das Große Bundesverdienstkreuzverliehen worden. Er hatte sich Charvaentgegengestellt: „Schießen Sie nichtauf Kinder!“Schießt, wenn ihr schießen müßt.

Aber nicht auf Kinder. �