die lübbenauer tabulaturen lynar a1 und a2. eine quellenkundliche studie (teil ii)

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Die Lübbenauer Tabulaturen Lynar A1 und A2. Eine quellenkundliche Studie (Teil II) Author(s): Werner Breig Source: Archiv für Musikwissenschaft, 25. Jahrg., H. 3. (1968), pp. 223-236 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/930227 . Accessed: 15/06/2014 05:11 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Archiv für Musikwissenschaft. http://www.jstor.org This content downloaded from 185.44.77.146 on Sun, 15 Jun 2014 05:11:26 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

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Die Lübbenauer Tabulaturen Lynar A1 und A2. Eine quellenkundliche Studie (Teil II)Author(s): Werner BreigSource: Archiv für Musikwissenschaft, 25. Jahrg., H. 3. (1968), pp. 223-236Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/930227 .

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 Eine quellenkundliche Studie

(Teil II)*

von

WERNER BREIG

III. Einzelne Werke und Werkgruppen a) Phantasia Ut sol fa mi (A 1, Nr. 21)

Die Phantasia Ut sol fa mi ist in A 1 mit der Komponistenangabe Joann Peters (SchluBvermerk: J.P.S.) versehen. Indessen existierte eine (jetzt ver- schollene) Handschrift von Gulielmus Messaus1, die das Stuck J. Bull zu- schreibt; ihre von T. 110 an von der Lubbenauer abweichende Fassung ist dank der Uberschrift God save the King durch den Druck inW. Kitchiners The Loyal and National Songs of England (London 1823)2 erhalten. Somit stellt sich die Frage der Zuschreibung des Stuckes an Bull oder Sweelinck. In die Diskussion einzubeziehen ist ein anonymes Stuck der Luneburger Tabulatur KN 208/13, dem das gleiche Thema zugrunde liegt und das mit A 1, 21 die acht SchluBtakte (die in der ,,Bull"-Fassung anders lauten) gemeinsam hat.

M.Seiffert brauchte keine Bedenken zu haben, die Lubbenauer Fassung als Werk Sweelincks zu betrachten (Sweelinck GA I, 12). Das anonyme Luneburger Stuck schrieb er ebenfalls Sweelinck zu; der gemeinsame SchluB beider Stucke schien ihm ,,gewissermaBen die bestatigende Unterschrift Sweelincks"4 zu sein. Das Seiffert nicht bekannte God save the King wurde durch den Neudruck alsWerk Bulls in MB XIV (Nu. 32) wieder allgemein zuganglich. In der Diskus- sion, die an diese Ausgabe anknupfte, pladierten Th.Dart5 und E.F.Dickin-

* Teil I dieses Beitrages erschien in Heft 2 dieses Jahrgangs. Vgl. MB XIV, S. 159 unter Ale.

2 Vgl. ebenda S. 160 unter K. 3 Ausgaben: Sweelinck GA I, 13; Dte Luneburger Orgeltabulatur KX 2081, hg.v.

M. REIMANN, = EdM XXXVI, Frankfurt a. M. 1957, Nr. 23. 4 Sweelinck GA I, S. LIV. 5 Sweeltnck's ,Fantasta on a Theme used by John Bull', Tijdschrift voor Musiek-

wetenschap XVIII, 1956-59, S. 167ff.

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224 Werner Breig

son8 fur Bull, wahrend M.Reimann7 auf die zahlreichen Moglichkeiten der

Deutung der 1:berlieferungslage hinwies, die eine Entscheidung so gut wie

unmoglich machen. Der letztere Standpunkt durfte bei der heutigen Quel]en-

lage wohl der einzige bleiben, der sicher zu behaupten ist; doch seien den

Fakten und Argumenten, die in der bisherigen Diskussion angefuhrt wurden,

nochfolgende hinzugefugt: 1. Die lIandschrift Lynar A 1 darf weiterhin als die zuverlassigste Sweelinck-

Quelle gelten. Ihre Zuschreibungen an Sweelinck sind bisher in keinem Falle zu

widerlegen; die widersprechenden Komponistenangaben fur Nr. 7, 16 und 24

in anderen Quellen konnen sich nicht behaupten. Bei Nr. 21 ist zu berucksichti-

gen, daB der Name Sweelincks nicht nur im Titel (von anderer Hand), sondern

auch am SchluB des Stuckes gesichert als Meinung des Schreibers steht. Da-

gegen ist bekannt8, daB aus der Messaus-Uberlieferung nicht mehr zu erschlie-

Ben ist, als daB das Stuck sich in Bulls NachlaB befand.

2. Die Fuga KN 208/1, 23 steht kompositionstechnisch nicht auf dem Niveau

Sweelincks (oder Bulls). Aufweisen laBt sich dies besonders an der mehrfachen

regelwidrigen Verwendung der Quarte (T. 20, 45, 48, 87) und der verminderten

Qviinte h zum Ton / des Soggetto (T. 15, 29, 63, 96, 121) oder der knapp ver-

miedenen Oktavparallele in T. 29/30; daruber hinaus durchziehen weniger

leicht auf eine Formel zu bringende satztechnische Unerqviicklichkeiten (die

sich - im Gegensatz zu den Lapsus in T. 83/84 und T. 106 von A 1, 21 - nicht als

Ungenauigkeiten des Schreibers erklaren lassen) das ganze Stuck.

3. Die Luneburger Fuga ist von der Phantc6sia Ut sol fa ms abhangig, und

zwar von der Lubbenauer (oder einer im wesentlichen mit ihr ubereinstimmen-

den) Fassung, wie aus der Gleichheit der SchluBtakte hervorgeht. Dieses ATer-

haltnis ist nicht umkehrbar, dennWerke von kompositorischer Relevanz zitie-

ren nicht aus zweitrangigen Stucken wie der Fuga. KN 208/1 ist in Nord-

deutschland, wahrscheinlich in Luneburg entstanden und steht im Repertoire

unter dem EinfluB Scheidemanns. In dem Kreis, in dem der Autor der Fu,ga zu

suchen ist, ist ein Werk Bulls als Vorlage nicht ausgeschlossen, aber nicht so

wahrscheinlich wie ein Werk Sweelincks - ein weiteres Argument, das fur die

Richtigkeit der Zuschreibung von A 1, 21 an Sweelinck spricht.

4. Eine Entscheidung fur Bull oder Sweelinck auf Grund von stilistischen

Erwagungen scheint nicht moglich. Der Ostinato-Typus des Stuckes (es konnte

Ground uberschrieben sein) ist zweifellos englischer Herkunft, doch gibt es

Stucke ahnlicher Form nicht nur bei Bull (MB XIV, 149, 18), sondern auch bei

6 The Lubbenau Keyboard Books, a.a.O. S. 276f. 7 Dte Autoren der Fuga Wr. 23 tn Luneburg ZA 2081 und der Fantasta Ut sol fa

mt tn Lubbenau, Ms. Lynar A1, Mf XVI, 1963, S. 166f. 8 Vgl. MB XIV, S. XV und 159; M.REIMANN, a.a.O. S. 166.

9 Nur durch MESSAUS uberliefert, deshalb in der Zuschreibung unsicher; die

Faktur lieBe ebensogut an SWEELINCE denken.

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 225

Sweelinck (GA I, 9, 111°). Der rhythmische Aufbau der Gegenstimmen im zweistimmigen Teil entspricht Sweelincks Art des Entwickelns von Bewegtheit aus ruhigem Anfang; gewisse Stimmfuhrungsfreiheiten dagegen lassen eher an Bull denken. Ein besonderes Problem bilden die verschiedenen Schlusse: die ,,Bull"-Fassung schlieBt auf A, die ,,Sweelinck"-Fassung auf C. Jeder der Schlusse ist in bezug auf das Thema in einer Hinsicht folgerichtig: der C-SchluB entspricht der vom Themenanfang ausgepragten und im groBten Teil des Stuckes vorherrschenden Tonart; der A-SchluB paBt besser zum SchluBton e des Themas und ermoglicht dessen konsequente Ostinato-Behandlung bis zum SchluB. In beiden Fassungen ist die Art des SchlieBens gut vorbereitet: bei Messaus durch einen das Thema mehr und mehr nach A hinlenkenden SchluB- abschnitt, in Lynar A 1 durch die figurativen Takte 120ff., welche die im Thema latent enthaltenen Dreiklangsbrechungen herausstellen. DaB von den beiden Schlussen tatsachlich einer auf Bull, einer auf Sweelinck zuruckgeht - womit die Komponistenangaben beider Quellen richtig waren - ist demnach nicht auszuschlieBen1l.

b) Die anonymen St¢cke der Sweelinck-Nachfolge (A 1, Nr. 32-35)

Vier anonyme Cantus-firmus-Kompositionen in A 1 zeigen in der Art des Figurenwerkes der freien Stimmen enge Anlehnung an den Stil Sweelincks. Es handelt sich um eine zweistimmige Hexachord-Fantasie (Nr. 32) sowie drei Bearbeitungen deutscher Kirchenlieder (Nr. 33-35).

M. Seiffert schrieb die drei Choralbearbeitungen Sweelinck zu und begrundete dies Init der Bemerkung zu Nr. 34 der Ausgabe von 1943: ,,Die ganze Faktur des Stuckes sowie der UInstand, daB es mit noch zwei anderen anonymen Chora]satzen... unmittelbar vor einer Reihe Sweelinckscher Stucke steht, weisen auf den WIeister als Autor hinl2.''

Keins der beiden Argumente halt naherer Prufung stand. Fur die Faktur

10 Nur anonym in Lynar B 2 aufgezeichnet; SEIFFERTS Zuschreibung an SWEE_ LINCE ist auf Grund der Quelle und des Stils wahrscheinlich.

11 DICKINSONS Ausfuhrungen zur Frage der versehiedenen SehluSklange konnen nieht uberzeugen, da sie auf einer anachronistisehen Tonalitatsauffassung beruhen: Erstens kann, wie oben gezeigt, nieht behauptet werden, das Stuek stehe in C und sehlieBe bei BULL mit ,,an unexpeeted turn of key-eentre"; bezeiehnenderweise ist in keiner Uberlieferung die Tonart des Stuekes im Titel festgelegt. Zweitens ist nieht einzusehen, was ,,a similar modulation to the supertonie minor just before the elose" in MB XIV, 18, T. 283 mit der Frage des SehlieBens zu tun hat, denn es han- delt sieh eben nieht um den SehluB, und der Hexaehord-Spitzenton e erfordert hier wie im ganzen Stuek einen vom Finalklang G-Dur versehiedenen Klang; uberdies ist die Vorstellung einer ,,Modulation" der Tonalitat um 1600 inadaquat. Drittens steht SWEELINCKS ,,fantasia D minor... [GA I, 5] whieh eloses on but hardly in A major" in Wirkliehkeit in naeh A transponiertem Phrygiseh.

12 Sweelinek GA I, S. LVII.

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226 Werner Breig

zeigte dies der Verfasser bereits in anderem Zusammenhangl3. Dazu kann nun nachgewiesen werden, daB auch die Stellung in der Handschrift die Stucke nicht so eng in Verbindung mit Sweelinck bringt, wie Seiffert annahm. Nach den Schriftkennzeichen zu urteilen, wurden Nr. 32-34 kurz nach dem AbschluB der Sweelinck-Aufzeichnung (Nr. 48) eingetragen; sie zeigen als erste Stucke nicht mehr die fremde Titelschrift der Sweelinck-Philips-Phase. Nr. 35 ist noch spater geschrieben; die Schriftmerkmale verweisen dieses Stuck in die zeitliche Nachbarschaft zur zweiten Virginalisten-Gruppe.

Mit ihrer Position in der Quelle kann Sweelincks Autorschaft fur diese Stucke demnach nicht erhartet werdenl4. DaB es sich um Nachtrage handelt, ist frei- lich auch kein Gegenargument; nur muB die Entscheidung der stilistischen Beurteilung uberlassen b]eiben, und diese spricht mehr gegen a]s fur Sweelinck.

Die vor den ersten beiden Choralbearbeitungen eingetragene Hexachord- Fantasie Nr. 32 steht auch stilistisch den ihr folgenden Stucken nahe: der Ein- fluB Sweelincks ist unverkennbar, doch er beschrankt sich auf AuBerlichkeiten der Technik. Die jeweiligen Gegenstimmen zeigen keine Spur von Sweelincks organisch-entwickelndem Verbinden der Figurengruppen, sondern erschopfen sich in unerinudlichem Sequenzieren mit unverbunden nebeneinandergestellten figurativen Kontrapunkten: eine Kompositionsweise, die dem Stuck unver- kennbar das Geprage k]einmeisterlicher Nachahmung gibt.

c) Die anonymen Liedvariationen A 1, Nr. J9

Von den dreiVariationen uber das hollandische Lied Windecken daer het bosch af drilt stimmen die ersten beiden mit Var. 2 und 3 des Wo]fenbutteler Nieder- lendisch lidyen uberein. Falls die Zuschreibung des letzteren Zyklus an S. Scheidt durch Chr. Mahrenholz 15 richtig ware, ergabe sich fur das Repertoire und damit auch fur die Provenienz der beiden Lynar-Bande, in denen Scheidt sonst nicht vertreten ist, ein neuer Gesichtspunkt. Die Untersuchung des ganzen tZber- lieferungskomplexes einschlieBlich der drei Fassungen der Wiener Minoriten- tabulatur fuhrt jedoch zu folgenden Ergebnissenl6:

1. Die tYberlieferung inWolfenbuttel ist eine Kontamination von mindestens zwei Kompositionen verschiedener Herkunft.

2. DerWo]fenbutteler Zyklus mit Ausnahme vonVar. 2 und 3 stammt wahr- scheinlich aus der Schule Scheidts.

13 W.BREIG, Der UmMang des choralgebundenen Oryelwerkes von J.P.Sweelinck, AfMw XVII, 1960, S. 266ff.

14 Als einziges Quellenkriterium fur SWEELINCES Autorschaft konnte man fur Nr. 33 die Doppeluberlieferung der 1. Variation anfuhren.

15 S.Scheidt, = Sammlung musikwiss. Einzeldarstellungen II, Leipzig 1924, S. 2 f. 16 Vgl. die ausfuhrliche Darstellung des Verf. in anderem Zusammenhang (Zu den

handschrtfttich ubertieferten liedvariationen von S.Scheidt, Mf XXI, 1968; inVorb.).

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 227

3. Lynar A 1, Nr. 49 stammt mit Sicherheit nicht von Scheidt, moglicher- weise von Sweelinck.

d) Lucidor ein/3 hiitt der schaf (A 1, Nr. 70)

In dem Signum M. W. am Ende dieses Stuckes sah M. Seiffert die Antwort auf die Frage nach der Herkunft von Lynar A 1: MatthiasWeckmann sei nicht nur der Komponist der beiden Liedvariationen, sondern auch der Schreiber des ganzen Bandes.

Wahrend die Diskussion umWeckmann als Schreiber von Lynar A l als - mit negativem Ergebnis - abgeschlossen gelten darf, scheint die Frage, ob die Initia]en M. W. nichtWeckmann als Komponisten von Nr. 70 meinen konnen, noch nicht entschieden. Nicht ausreichend als Gegenbeweis ist, daB das ubliche Signum fur Weckmann M. W. M. lautet; auch fur Scheidemann stehen neben der haufigeren Initialenform H.S.M. gelegentlich nur die Buchstaben H.S. Andererseits wird der SchluB auf Weckmann keineswegs durch das Fehlen einer einleuchtenden Alternativlosung erzwungen; wir kennen eine Reihe von Mono- grammen in Klaviertabulaturen des 17. Jahrhunderts, deren Auflosung bisher nicht moglich war.

Die Beurtei]ung der Initialen wird von der Datierung des Stuckes und vom stilistischen Befund abhangen.

Das Lied Lucidor hut't einst der Schaf begegnet seit der Jahrhundertmitte in Liedersammlungen und Flugblatternl7. Wenngleich damit fur die Entstehungs- zeit der Melodie nur ein Terminus ante quem gegeben ist (sie kann betrachtlich fruher liegen), so scheint das Lied doch vor allem um die Jahrhundertmitte beliebt und verbreitet gewesen zu sein. Da es auBerdem um dieselbe Zeit in einem weiteren Klaviersatz bearbeitet wurdel8, besteht dieWahrscheinlichkeit, daB auch die Lubbenauer Variationen nicht viel fruher entstanden sind.

Stilistisch sind die Variationen nicht an den Ambitionen der Liedvariationen- zyklen von Sweelinck, Scheidt oder Froberger zu messen. Doch zeigen sie einen gut gearbeiteten und einfallsreichen Satz, in dem sich Freistimmigkeit mit kontrapunktisch-figurativer Schreibweise verbinden. Sie bilden ein bei aller Anspruchslosigkeit in sich gerundetes Opusculum, das von der Hand eines bedeutenden Komponisten nicht stammen muB, aber doch stammen konnte.

17 Unter den Quellen seien genannt: Das Newe ved grosse Ltedefr-Buch . . ., o. O. 1650 (Neuausgabe: A.oPP, Ein L?ederbuch aus dem Jahre 1650, Zeitschr. f. Deutsche Philologie NNXTX, 1907, S. 208ff.); Venus-Gartlein, o.O. 1656 (Neuausgabe von M. FREIHERR V.WALDBERG, Halle 1890); Music-Buchlein Vor D?e Hochgeborene Graffin und Fraule?n Cather?na Amalia, Fraule?n zu Solms etc. Angefangen, Den dr?tten Tag May, im Jahr, nach dar gnadenre?chen geburt unsers Herrn J. C. MDCLXV (Handschrift im Besitz der Familie v. SOLMS; Fotokopie im Deutschen Volkslied- archiv Freiburg i.Br.). - Fur freundliche Quellenhinweise anhand der Rataloge des Deutschen Volksliedarchivs danke ich Herrn Eonservator Dr. W.SUPPAN und Herrn cand. phil. P.ANDRAsceKE.

18 Luneburg, Ratsbucherei, Ms. KN 146, f. 65.

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228 Werner Breig

So muB die Frage nach dem Autor dieses Stuckes weiterhin offenbleiben. Auf Grund der Entstehungszeit und der Falitur istWeckmann nicht auszuschlie- Ben, wenngleich ein in Mittel- und Norddeut.schland lebender Komponist im Gesamtrepertoire von Lynar A nicht sehr wahrscheinlich ist.

e) Die anonyme ,,Sutte" A ], Nr. 78-81

Die letzten vier Stucke in A 1, als spateste Einzeichnungen beider Teile von fremder Hand nachgetragen, bilden eine innere Einheit durch ihre gemeinsame Tonart (a-moll) und die suitenartige Reihung Fantasia - Almo6nde - Corante - Sarabande.

Die Qualitat dieser Stucke (die bisher als Unica von Lynar A 1 gelten mussen) zwingt nicht dazu, sie einem bedeutenden Komponisten zuzuschreiben, doch zeigen sie Stilsicherheit und satztechnisches Konnen. Beim Versuch ihrer musikgeschichtlichen Einordnung sind zwei Gesichtspunkte zu berucksichtigen: die Typenfolge und die Art des Satzes.

Die Reihung von Allemande, Courante und Sarabande begegnet in dieser Aufeinanderfolge erstmals in der Pariser Lautenschule seit den 1630er Jahren, wo auch gelegentlich freie Einleitungssatze vorangehen19; zur Norm erhoben wurde sie im ersten Froberger-Autograph von 1649.

Der Satzart der vier Stucke ist die frei gehandhabte Stimmigkeit gemeinsam; dabei lehnt sich die Fantasia mehr an die Schreibweise der italienischen Toc- cata an, wahrend die Tanzsatze den Style brise der franzosischen Lautenmusik auspragen. Die Vereinigung dieser beiden Stilbereiche weist in die Nahe des sowohl italienisch als auch franzosisch geschulten Froberger. In seinenWerken treten freilich italienische und franzosische Satzart niemals gemeinsam auf (freie Einleitungssatze fehlen in seinen Suiten vollig), so daB kaum Berechtigung besteht, ihm selbst diesen Zyklus zuzuschreiben20. Doch ist die Entstehung der ,,Suite" in Lynar A 1 zu einer Zeit und in einem Bereich anzunehmen, wo Fro- bergers Werk bereits zu wirken begonnen hatte, das heiSt mit groBter Wahr- scheinlichkeit: Suddeutschland seit der Jahrhundertmitte.

IV. Lokalisierung und Datierung

DieVielfalt des Inhalts der beiden Tabulaturbande gab AnlaB zu den ver- schiedensten Vermutungen uber Zeit und Ort der Niederschrift. Fiir A 1 nahm

19 Vgl. T.NORLIND, Zur Geschichte der Suite, SIMG VII, 1905/06, S. 172ff. (bes. S. 186ff.); M.REIMANN, Untersuchunyen zur Formyeschichte der franzosischen Kla- viersuite, = Kolner Beitrage zur Musikforschung III, Regenxburg 1940.

20 W.APEL (a.a.O. S. 541) halt es fur moglich, daZ es sich um ein Jugendwerk 19ROBERGEERS handelt, ubersieht aber die Zusammengehorigkeit mit der einleitenden Fantasia.

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 229

Seiffert norddeutsche Herkunft an(Weckmann seit 1637), Schierning behandelte die Handschrift unter den niederlandischen Quellen, wahrend Curtis einen mit dem Deutschen und dem Hollandischen vertrauten Schreiber vermutete und den Namen J. A. Reincken ins Spiel brachte. Fur A 2 wurden ein suddeutscher Schreiber um 1610 (Seiffert) und drei niederlandische (Schierning) zur Dis- kussion gestellt. Der Erweis der Zusammengehorigkeit beider Bande erlaubt es, die Frage der Entstehung von Lynar A 1/2 unter neuen Voraussetzungen erneut zu ste]len.

Begonnen sei mit der Frage der Lokalisierung2l. Ein wichtiges Indiz fur den sprachlichen Herkunftsbereich bi]den die Titelfassungen einer Reihe von Stucken aus A 1. So hatte ein Italiener kaum Tocata (Nr. 7, 20 usw.) geschrieben, ebensowenig ein englischer Schreiber Bonnj swet Robin (Nr. 50) oder Flet stret (Nr. 52) oder ein franzosischer Corant(e) (Nr. 62, 63, 67, 68) - abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit dieser Lokalisierungen aus Grunden der Repertoire- zusammenstellung. Dagegen weisen die Tite] von Variationenwerken uber deut- sche und we]tliche Lieder durch ihre gotische Schrift und die Vertrautheit mit der deutschen Sprache nach Deutschland als Entstehungsgebiet. Der groGte Teil der deutschsprachigen Titel (Nr. 24, 25, 27, 30, 39, 46 und 48) ist freilich von einer anderen Hand als der des Notenschreibers eingetragen, doch hochst- wahrscheinlich in Verbindung mit der Notenaufzeichnung22. Doch selbst wenn man auf Schlusse aus dieser Titelschrift (die uberdies den Namen Sweelincks in der germanisierten Fassung Joan Peters o. a. wiedergibt) wegen des immerhin vorhandenen Unsicherheitsfaktors verzichtet, bleiben noch die Titel von Nr. 33-35 und 70, die den Notenschreiber mit groBter Wahrscheinlichkeit als Deutschen bezeichnen.

Dieser Annahme widersprechen nicht die hollandischen Einschlage, auf die Curtis23 hinwies. Es handelt sich um die tberschriften von Nr. 51 (...Backeler in de Musick) und 61 (Malle Siemon24) sowie die hollandische Namensschreibung Jan P. S. (Nr. 24) un(l die deutsch-hollandisch gemischte Johan Pietersen Swellinck (NTr. 16). Die beiden Titelfassungen erklaren sich leicht durch die Annahme, daB der Schreiber die englischen Stucke Nr. 51-61 durch Vermittlung einer hollandischen Quelle erhielt (was in Anbetracht seiner Sweelinck-Beziehungen ohnehin wahr- schein]ich ist). Die Form Jan ist als Argument fur einen hollandisch sprechenden Schreiber nicht brauchbar, denn sie ist ja die originale Namensfassung, nicht eine Umbiegung inx Hollandische. Und Johan Pietersen Swellinck endlich beweist gerade nicht, daB ,,the scribe was acquainted with both Dutch and German" 25, denn wel- cher Schreiber, dem das Hollandische gelaufig war, hatte einen hollandischen Namen eingedeutscht ?

21 DaB aus demWasserzeichen von A 1 das Entstehungsgebiet nicht zu erschlieBen ist, wurde bereits erwahnt (vgl. Anm. 6 in Teil I dieser Arbeit).

22 Vgl. Abschnitt IIb dieser Arbeit. 23 TVer XX, $ 47 24 ZU dieser Melodie und der Titelfassung vgl. die eingehende Darlegung von

A. CURTIS in Monumenta Musica Neerlandica III, S. XXXVII. 25 TVer XXs $ 47

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230 Werner Breig

Die Vermutung der deutschen Herkunft der Quelle wird gestutzt durch ihr Repertoire; denn kein anderes Land war im 17. Jahrhundert auf dem Gebiete der Tastenmusik so sehr offen fur Einflusse aus allen europaischen Traditionen.

Das Repertoire kann auch als Anhaltspunkt dienen bei dem Versuch, die deutsche Provenienz landschaftlich zu prazisieren. Die dazu erforderlichen Kriterien ergeben sich aus einem vergleichenden tXberblick uber den Inhalt der groBeren Tastenmusik-Handschriften der ersten Halfte des 17. Jahrhunderts aus Nord- und Suddeutschland.

Die Init Sicherheit in Norddeutschland entstandenen Handschriften26 sind in ihrem Repertoire fast ausschlieBlich auf norddeutsche Komponisten spezia- lisiert. Den VoITang haben die Schuler Sweelincks; hinzu treten kurz nach der Jahrhundertmitte norddeutsche Organisten der nachsten Generation, ohne die Sweelinck-Schuler allerdings zu verdrangen. Weit seltener finden sich Kompo- sitionen Sweelincks; das Vorkommen anderer Komponisten auBerhalb Nord- deutschlands beschrankt sich auf Einzelfalle.

Die suddeutschen Tastenmusik-Handschriften dieses Zeitraumes27 raumen zwar auch den Meistern ihres Bereiches (in erster Tjinie HaBler und Erbach) eine dominierende Stellung ein; doch werden daneben in verhaltnismaBig reichem MaBe Kompositionen anderer Herkunft aufgezeichnet. Eine bedeu- tende Rolle spielen Werke italienischer Komponisten, vor allem Frescobaldis und der Venezianer (Munchen, WM, Tu), auBerdem ist Sweelinck mit einer stattlichen Anzahl von Kompositionen vertreten (Pa, WM, Tu). Scheidts Tabulatura Nova ist in WM nahezu vollstandig abgeschrieben; auBerdem ent- halt diese Quelle Stucke der norddeutschen Sweelinck-Schuler Scheidemann und Siefert.

26 Es sind in erster Linie dieWisbyer, Lubbenauer, Luneburger und Zellerfelder Tabulaturen (samtlich in deutscher Orgeltabulatur notiert). Einige der Luneburger Eandschriften sowie Ze 2 sind zwar erst nach der Jahrhundertmitte geschrieben, gehoren aber im Repertoire mit den. Quellen vor 1650 eng zusammen.

27 Die wichtigsten von. ihnen. sind: die in Buchstabennotation geschriebenen Codices Pa, W, Tu I-XVI, Munchen (Bayer. StB, Mus. ms. 1581) undWolfenbuttel (handschriftlicher Andes zu M. NEWSIDLERS Lautenbuch), dazu die auf zwei (inein- ander ubergehende) :Funfliniensysteme geschriebene Handschrift WM.

Wahrscheinlich gehort zu dieser Gruppe auch die Berliner Eandschrift Mus. ms. 40316. SEIFFERT (Sweelinck GA I, 1943, S. XLIII) hielt sie fur mitteldeutsch, SCHIERNINGS (a.a.O. S. 84ff.) behandelt sie unter den. niederlandischen. Quellen., jedoch mit unzureichender Begrundung (Notationstypus, Repertoireverwandt- schaft mit Lynar A 1 und A 2). Die Notation. verbindet die Handschrift zwar mit dem Lutticher lFCL, aber ebenso mit der Ricercar Tabulatura von. J.U.STEIG T.R.DER (1624) und WM, kann also niederlandische Herkunft nicht belegen.. Das Repertoire spricht fur Suddeutschland als Entstehungsort. Besonders die Aufnahme eines Stuckes von. TH.BODENSTEIN (Hoforganist in. Prag undWien.; vgl. M. SEIF>ERT, Geschichte der Klaviermusik, Leipzig 1899, S. 94), eines Meisters von. regional begrenz- ter Bedeutung, ist auBerhalb Suddeutschlands unwahrscheinlich. Ein. Suddeutscher scheint auch ABRAHAM STRAUSS ZU sein., der auBer in dieser Quelle nur noch in WM vertreten ist.

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 231

Geht man von diesen Beobachtungen aus, so ergibt sich als Herkunfts- bereich von Lynar A mit groBterWahrscheinlichkeit Suddeutschland:

1. Eine ahnliche Vielfalt in der Zusammensetzung des Inhalts findet sich in keiner norddeutschen Quelle, dagegen annahernd in Tu und WM.

2. Die groBe Anzahl von Stucken Erbachs ist in einer auBerhalb von Sud- deutschland entstandenen Quelle unwahrscheinlich.

3. Unter den 123 Stucken von Lynar A ist nicht ein einzigesWerk eines nord- deutschen Komponisten mit Sicherheit nachzuweisen28.

4. Die Anlage eines hauptsachlich denWerken Sweelineks gewidmeten Codex ist im Bereich der norddeutschen Sweelinck-Schule nicht undenkbar, doch die statistische Wahrscheinlichkeit spricht auch in diesem Punkt mehr fur Sud- deutschland.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der in dem Repertoirevergleich zwischen Nord- und Suddeutschland noch nicht erwahnt wurde, kommt hinzu: Im Inhalt der norddeutschen Handschriften pragt sich deutlich die Vorrangstellung der fiir die Orgel (speziell fur die norddeutsche, mit mehreren Manualen und Pedal ausgestattete Orgel) bestimmten Kompositionen aus, wahrend in den sud- deutschen Quellen, in denen die Manualiter-Typen Fantasia, Ricercar, Toccata, Canzona dominieren, das Weiterbestehen der traditionellen Literaturgemein- schaft aller Tasteninstrumente zum Ausdruck kommt. Auch dieses Kriterium verweist Lynar A nach Suddeutschland. Das einzige Werk, zu dessen Ausfuh- rung zwei Manuale und Pedal benotigt werden, ist Sweelincks Choralbearbei- tung Erbarm dich mein, o Herre Gott (A 1, 24); speziell fur das Tasten-Saiten- instrument bestimmt sind die franzosischen Couranten und die englischen Virginalstucke. Im Zentrum des Repertoires aber stehen die ,,per ogni sorte di stromento da tasti" geschriebenen Werke.

Es sei nun versucht, die in Abschnitt II ermittelte relative Chronologie der Niederschrift in eine absolute Chronologie uberzufuhren oder ihr wenigstens anzunahern.

Fur den Beginn der Niederschrift ergibt das Wasserzeichen von A 129 als fruhestmogliche Zeit die Jahre um 1610. Daruber hinausgehende AufschluFe konnen wiederum nur durch Prufung des Repertoires gewonnen werden.

Der uberwiegende Teil des Inhalts besteht aus Werken von Komponisten, deren Geburtsjahre um 1560 liegen: G.Gabrieli (1557), P.Philips (1560161), P. Comet (um 1560), J. P. Sweelinck (1562), J. Bull (1562/63), G. Farnaby (um

28 :Fur A 1, 13 ist Entstehung in Norddeutschland in Betracht gezogen worden. M.REImANN charakterisierte das Werk als ,,typisch norddeutsch in den Echo- Oktavversetzungen ... des Begions, den Skalensequenzen des Endes und der Durchfuhrung des Spielmotivs der Mitte" (Besprechung der GAsRIELI-Ausgabe von BEDBROOK, Mf XII, 1959, S. 373). Fur Norddeutschland spricht auch die Parallel- uberlieferung in ly B 3. Andererseits ware das Stuck forrnal unter den c.f.-freien Tastenmusikwerken Norddeutschlands ein AuBenseiter.

29 Vgl. A. 6 in TeH I dieser Arbeit.

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232 Werner Breig

1566) und Chr. Erbach (um 1570). Nur wenige Komponisten gehoren der nach- sten Generation an: E.Gaultier (um 1580), O.Gibbons (1583), T.Merula (um 1590) und R.Farnaby (um 1594). Gaultiers Courante ist jedoch bereits 1612 bei M. Praetorius nachzuweisen, GSibbons ist hauptsachlich mit Stucken aus Parthe- nia vertreten, und Farnabys Fleet Street-Variationen stehen auch in dem spate- stens 1619 abgeschlossenen Fitzwilliam Viryinal Book. So ist offenbar die Ent- stehung des groBten Teils des Repertoires nicht nach etwa 1615-20 anzusetzen. Erst unter den am spatesten eingetragenen Teilen des Inhalts befinden sich Werke, deren Entstehung spater anzunehmen ist: moglicherweise die Merula- Gruppe30, hochstwahrscheinlich die Lucidor-Variationen von M. W. und sicher die suitenartige Schlut3gruppe, die indessen von einem anderen Schreiber stammt.

Anhaltspunkte fur die Datierung von suddeutschen lIandschriften ahnlichen Inhalts sind leider nur sparlich vorhanden. Das Eroffnungsstuck von W ist 1621 eingetragen; der zweite Schreiber von B 1 (Sweelinck, Philips, Bull, Cornet, Erbach, G. Gabrieli u. a.) notierte die Jahreszahlen 1624 und 1625 ; in WM wurden kurz nach Beginn der Niederschrift Stucke aus Scheidts Tabulatura Nova (1624) und gegen Ende solche aus J.Klemms Partitura seu Tabulatura (1631) kopiert; die Turiner Tabulatur (Sweelinck, Erbach, G.Gabrieli u.a.) entstand 1637-1640. Dies ergibt einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Der Um- stand, daB Lynar A sich im Unterschied zu WM und Tu bis gegen SchluB weit- gehend aufWerke der um 1560 geborenen Komponisten beschrankt, konnte zu einer fruheren Datierung innerhalb dieses Zeitraums veran]assen. Dem steht gegenuber, daB die kurz vor SchluB eingetragenen M. W.-Variationen wahr- scheinlich um die Jahrhundertmitte entstanden sind. Beide Gesichtspunkte lassen sich vereinigen bei der Annahme, daB die Niederschrift sich uber langere Zeit erstreckte; daB es sich dabei um Jahrzehnte handelte, ist bei den starken Veranderungen der Schriftzuge nicht auszuschlieBen.

Eine Losung des Problems der Entstehung von Lynar A auf demWege uber die Person des Schreibers scheint nicht moglich zu sein. Jedenfalls ist keine der bisher aufgestellten Hypothesen (sie beschranken sich auf A 1 ) haltbar. Seifferts These, Lynar A 1 sei ein Jugendautograph Weckmanns, wurde bereits von L. Schierning3l als unwahrscheinlich erkannt und von A. Curtis32 auf Grund des Vergleichs mit AVeckmanns Schriftzugen endgultig widerlegt. Doch auch J.A.Reincken, den Curtis in diesem Zusammenhang zur Diskussion stellte, kommt nach dem hier Gesagten als Norddeutscher und auf Grund seines Geburtsjahres 1623 kaum in Frage.

Reinckens Handschrift ist uns, entgegen Curtis' Vermutung, nicht ganzlich unbekannt. Zwar sind die Originale seiner samtlichen musikalischen Handschriften vernichtet. Doch ist aus seinem im Rahmen der Tradierung von Sweelincks Som-

30 Die Druckwerke von T.MERuLA erschienen zwischen 1615 und 1652. 31 A.a,.Ov S. 78fF. 32 TVer XX, S. 45f.

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 233

positionsregeln gesehriebenen Kompositionstraktat eine Seite in :Fotokopie erhal- ten33. DaB es sieh bei dieser Seite, die in Bd. X der Sweelinek-GA'infolge von Gehr- manns verfehlter Editionsteehnik nieht wiedergegeben ist, tatsaehlieh um die Sehrift ReinekexLs handelt, wird dureh einen Vergleieh mit den von Reineken 1663-1666 gefuhrten Jahresrechnungsbuehern der Hamburger Watharinenkirehe bestatigt34. Auch wenn man berucksichtigt, daB die Lubbenauer Handschriften Jahrzehnte vor der Kompositionslehre geschrieben sein muBten, ist es sehr unwahr- scheinlich, daB sieh der Charakter von Reinekens Handsehrift (die immerhin von 1663 bis 1670 - dem Entstehungsjahr des Traktats - reeht konstant geblieben ist) so stark gewandelt hat.

Sollte es einmal gelingen, den Schreiber von Lynar A 1/2 ausfindig zu machen, dann vermutlich durch einen glucklichen Zufallsfund, nicht durch methodische Einkreisung. Ein Versuch, die suddeutsche Herkunft zu prazisieren, konnte allenfalls von der Beobachtung ausgehen, daB die Werke Erbachs hier nicht, wie in den meisten vergleichbaren Quellen, zusammen mit denen H. L. HaBlers aufgezeichnet sind, daB a]so eine personliche Beziehung speziell zur Erbach- Schule vorliegen konnte; doch ist diese Spur zu vage angesichts des ausgebreite- ten padagogischenWirkens von Erbach. In Frage kame auch ein suddeutscher Musiker, der auf seinen Lehr- und Wanderjahren mit der Sweelinck-Schule Nord- oder Mitteldeutschlands in Beruhrung kam und anschlieBend wieder nach Suddeutschland zuruckkehrte - ein Lebensweg, wie wir ihn von dem Schwabisch-Haller Scheidemann-Schuler G.W. Druckenmuller kennen, der allerdings auf Grund seiner Lebensdaten (1628-1675) mit Lynar A nicht inVer- bindung gebracht werden kann.

V. Die Sammlung Lynar A in der tZberlieferungsgeschichte der Tastenmusik des fruhen 17. Jahrhunderts

Wir fassen die Ergebnisse zusammen, die die vorstehenden Untersuchungen uber die Entstehung von Lynar A erbrachten:

1. Die beiden Bande Lynar A 1 und A 2 sind im wesentlichen von einem Schreiber aufgezeichnet worden.

2. Der Schreiber war hochstwahrscheinlich ein Deutscher. 3. Dar-uber hinaus ist sehr wahrscheinlich Suddeutschland als Entstehungs-

bereich anzunehmen. 4. Die Wiederschrift wurde kaum vor 1650 abgeschlossen, jedoch moglicher-

weise Jahrzehnte vorher begonnen. Folgerungen fur die A:Jberlieferungsgeschichte der Tastenmusik ergeben sich

aus den ersten drei Punkten: 33 Abbildung in MGG XI, 1963, Sp. 185f. Laut freundlicher Mitteilung von Frau-

lein Dr. R.BLvME befindet sich im Besitz des Barenreiter-Archivs lediglich eine Fotokopie dieser Seite mit dem im Bildtitel wiedergegebenen Provenienzverinerk.

34 Staatsarchiv Hamburg. Herrn Oberarchivrat Dr. SCHMIDT danke ich fur freundliche Auskunft und Zrermittlung von Filmkopien.

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234 Werner Breig

1. llie Sammlung Lynar A bildet nach der 16bandigen Turiner Tabulatur und der lIandschrift XIV/714 des Wiener Minoritenkonvents die drittgroBte deutsche Tastenmusikquelle aus der ersten Halfte des 17. Jahrhunderts. Ihr Quellenwert liegt in erster LiIiie in der tJberlieferung derWerke dreier Kompo- nisten. ,,Mit seiner Ergiebigkeit und tberlieferungstreue steht... Ly A 1 an der Spitze aller Quellen fur Sweelinck": diese Feststellung M.Seifferts35 hat auch nach der Entdeckung und ErschlieBung der Turiner Tabulatur ihre Gul- tigkeit behalten. Daneben ist Lynar A - die Richtigkeit von Curtis' Zuschrei- bungen vorausgesetzt - die Hauptquelle fur das Tasteninstrument-Werk von T. Merula. Ferner nimmt die Sammlung einen bedeutenden Platz ein unter den Quellen fur das Tastenmusik-Opus von Chr. Erbach, fur den maximal 22 Stucke diskutiert werden konnen. Die Klarung seines Anteils an den Anonyma der Gruppen A 1, 8-19 und A 2, 1-12 darf von einer Erbach-Edition erhofft wer- den36.

In der Internationalitat des Repertoires nimmt Lynar A unter allen Hand- schriften ihres Umkreises eine Sonderstellung ein. Die Vereinigung von nieder- landischen, italienischen und deutschen Komponisten kennen wir auch aus anderen suddeutschen Handschriften. tberraschend ist dagegen die groBe Zahl von englischen Virginalstucken (31 auSer denWerken Philips'), fur die Lynar A die ergiebigste deutsche Quelle ist. Auch mit der Wiedergabe einer Gruppe franzosischer Lautencouranten ragt Lynar A uber die verwandten Quellen hinaus.

2. Erkennt man die deutsche Provenienz der Quel]e an, so muB die von L. Schierning37 aufgestellte These von der Tradierung deutscher Kompositionen in einer zwar nicht zahlreichen, doch gewichtigen Gruppe von niederlandischen Handschriften samt den daraus resultierenden Folgerungen fur den Verbrei- tungs- und EinfluBbereich der suddeutschen Tastenmusik aufgegeben werden. Denn von Schiernings vier lIandschriften dieser Gruppe (Lynar A 1 und A 2; B 1; LFCL) ist nur der Lutticher Liber fratrum Cruciferorum erwiesenermaBen niederlandisch; indessen enhalt er kein Stuck deutscher Herkunft.

3. Akzeptiert man daruber hinaus die These der suddeutschen Entstehung von Lynar A, dann maS die von Seiffert begrundete Vorste]lung von der geo- graphischen Verbreitung der Sweelinck-tZberlieferung revidiert werden.

Seiffert sah, gestutzt auf die tatsachlich norddeutschen Lubbenauer B-Hand- schriften und die vermeintlich norddeutsche Quelle Lynar A 1, den Schwer- punkt der Sweelinck-lLlberlieferung in Norddeutschland - eine einleuchtende Sicht insofern, als gerade in Norddeutschland der ,,Hamburgische Organisten-

35 Sweelinck GA I, S. XLV. 36 Eine Gesamtausgabe von ERBACHS Werken fur Tasteninstrumente innerhalb

des Corpus of Early Xeyboard Mustc wurde vom American Institute of Musicology angekundigt.

37 A.a.O. S. 64ff.

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Die Lubbenauer Tabulaturen Lynar A 1 und A 2 235

macher" die ausgebreitetsteWirkung auf die Orgelkomposition entfaltete. Mit dem Bekanntwerden der Turiner Tabulatur gewann zwar die suddeutsche tZberlieferungskomponente an Gewicht, doch glaubte man in bezug auf die wichtigste Handschrift, Lynar A 1, auch nach dem Fallen der Weckmann-Hypo- these an die Entstehung im Bereich der unmittelbaren Ausstrah]ung der Swee- linck-Schule, namlich an niederlandische (Schierning) oder norddeutsch-nieder- landische Herkunft (Curtis). Ist Lynar A aber, wie zu zeigen versucht wurde, suddeutsch, dann lag der Schwerpunkt der Sweelinck-tZberlieferung, d.h. zu- gleich des Interesses an seiner Instrumenta]musik, in Suddeutsch]and38. Das bedeutet: Tradierung innerhalb des Spie]repertoires und kompositionsgeschicht- liche Wirksamkeit von Swee]incks Werk sind getrennte Vorgange.

Dies erscheint zunachst befremdend, laBt sich aber erklaren, wenn man die verschiedene Situation der Tasteninstrument-Komposition in Nord- und Sud- deutschland ins Auge faBt. Die tJberlieferung von Sweelincks Instrumentalwerk konzentriert sich auf die beiden Jahrzehnte nach seinem Tod, d. h. zugleich auf die Zeit des Schaffenshohepunktes der um eine Generation jungeren Kompo- nisten. In Nord- (und Mittel-)deutschland entfaltete sich in dieser Generation die eigentlich schulebildende Wirkung Sweelincks. Sein Tasteninstrument-Stil und seine Choralbearbeitungstechnik wurden so sehr zur selbstverstandlichen Basis des Komponierens seiner Schuler, daB man deren Werke als ,,sachen fu-r Organisten auf die Niederlandische manier" 39 bezeichnen konnte. Aber gerade durch die Rezeption seines Sti]es wurde SweelincksWerk selbst in den lfinter- grund gedrangt; es war entbehrlich geworden40. Hinzu kommt, daB in Nord- deutschland die aus Sweelincks Werk ubernommene stilistische Grundschicht durch einen neuen stilistischen Impuls uberformt wurde. Dieser Impuls wirkte sich hauptsach]ich in den neuen Choralbearbeitungstypen aus, die durch die kompositorische Ausnutzung der K]angmoglichkeiten der norddeutschen Orgel geschaffen wurden4l, durchdrang aber gleichzeitig die traditionellen Satz- und

38 llieses Bild basiert zwar auf einem ausschlieBlich aus Handschriften gebildeten Quellenbestand, bei dessen Erhaltung mit Zufalligkeiten gerechnet werden muB. Doch ist das Xbergewicht der suddeutschen Quellen bei der SwEELINcx-tber]iefe- rung so ausgepragt, daB es sicherlich wenigstens die ursprungliche Tendenz erken- nen laBt.

39 H.SCHUTZ uber SCHEIDTS Tabulatura Nova; vgl. H.SCHUTZ, Ges. Briefe W. Schriften, hg. v. E. H. MULLER, Regensburg 1931, S. 74.

40 Eine gewisse Rolle spielt dabei wohl auch die Frage der liturgischen Verwend- barkeit. Im Mittelpunkt des liturgischen Orgelspiels der lutherischen Organisten stand das Kirchenlied, dessen Bearbeitung in SWEELINCKS Opus zwar einen wich- tigen, aber nicht wie bei seinen Schulern den zentralen Platz einnimmt. Doch sollte dieser Gesichtspunkt nicht uberschatzt werden, denn auch die Kirchenliedbearbei- tungen SWEELINCES sind vorwiegend in suddeutschen Quellen erhalten.

ol Vgl. W.BREIGE, ober das Verhaltnis von Komposition und Afuhrung in der norddeutschen Orgel-Choralbearbeitung des 17. Jhs., in: Norddeutsche und nordeuro- paische Musik, = Kieler Schriften zur Musikwissenschaft XVI, Eassel und Basel 1965, S. 71ff.

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236 Werner Breig

Klangformen42. So war Sweelincks Werk durch die modernen Kompositionen nicht nur ersetzt, sondern muBte neben ihnen als veraltet erscheinen.

Anders in Suddeutschland. Hier gab es in der Schutz-Generation keinen Komponisten, der in seinem Tasteninstrument-Opus einen mit der norddeut schen Sweelinck-Schule vergleichbaren neuen sti]istischen Impuls ausgepragt hatte; und es entstanden kaum Kompositionen (vielleicht abgesehen von J.U.Steig]eders Tabulaturdrucken), die in ihrer Qualitat an dieWerke Fresco- baldis, Scheidts oder Scheidemanns heranreichen. Das Repertoire der sud- deutschen Organisten dieser Zeit berucksichtigt von den Mrerken der Schutz- Generation deshalb in erster Linie italienische, auBerdem mitteldeutsche und vereinzelt norddeutsche Kompositionen. Daneben aber spielte man die ,,C]as- sici Autores" der vorigen Generation: HaBler, Erbach, die Venezianer und Sweelinck. IhreWerke konnten in Suddeutschland weiterhin Geltung behalten, denn hier entstand erst mit dem Auftreten J.J.Frobergers eine neue Tasten- musikkunst, die stilistische Neuheit mit hoher Qualitat vereinigte und die Werke der Alteren unaktuell werden lieB.

42 Vgl.W.BREI6[, Die Orgelwerke von H.Scheidemann, = BzAfMw III,Wiesbaden 1967, S. 104f.

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