Über das wesen des extensionsschadens

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446 JosEr K6STLER : aueh eine befriedigende Funktion der mitbe~eiligten Gelenke erzielen. Die Erfahrung hat gelehrt, dab bei komplizierten schweren Trfimmer- frakturen ein zweizeitiges Vorgehen am Platze ist, und zwar derart, dab zun~chst die Heilung der primer versorgten schweren Weichteilwunden abgewartet und erst nach 2--3 Wochen die Operation am Knochen selbst vorgenommen wird. LXXI. ~ber das Wesen des Extensionsschadens. Von JOSEF K(ISTLER-Furth i. Wald. W~hrend der vorj~hrigen Tagung dieser Gesellschaft wies mein Lehrer Prof. Bt?RXL~ DE LA CAMP mit besonderem Nachdruck darauf hin, dal~ ffir die kn6cherne Ausheilung eines Knochenbruches nicht nur das Knochenweichgewebe, also das Periost, das Markendost und das Bindegewebe der HAvnasschen KanKlchen, sondern auch die Weichteile der Frakturumgebung, das unspezifische Bindegewebe der begleitenden Weichteile, vor allem der BlutgefgBe, der Nerven und der Muskeln mal~geblich sind und dab die Ausreifung zur knSehernen Narbe aul~er von formativen Reizen weitgehend yon mechanischen Einflfissen abh~ngig ist. Rn~N betont, dab w~thrend der h Woche nach einem Knochenbruch die dem Bruch anliegenden Muskeln untererregt sind und in der Folgezeit in eine Ubererregung fibergehen. Diese UbererrGgung wird nach Bi2nxnn D~ ~A CAMP durch den Dauerzug der Extension gestSrt und herabgesetzt. Er sight in dieser Tatsache einen Grund fiir die verz6gerte Bruchausheilung bei der Behandlung mit Dauerzug. Dieser Auffassung pflichten B6gLs~ und EHALT im wesentlichen bei, wenn sie immer wieder vor allzu grol~en Extensionsgewichten warnen. Es scheint mir in diesem Zusammenhang lohnend dem durch die Extensionsbehandlung erzeugten KrKftespiel nachzugehen, well da- durch die Ursache des Extensionssehadens im Sinne der verzOgerten oder ausbleibenden knSchernen Ausreifung der Knochennarbe aufge- zeigt werden kann. Der fibliche Zugverband stellt einen Dauerreiz ohne Zwischen- schaltung yon l~eizerholungspausen dar. Er schafft lediglich ein latentes Gleichgewicht, das nur durch fortw~hrenden Gegenzug des Weichteil- mantels gesichert ist. Er verlangt somit eine dauernde Halte-, also Arbeitsleistnng der Weichteilhfille des extendierten Gliedes. Dieser Gegenhalt wird aktiv durch Muskelanspannung und durch den vor- herrschenden Schrumpfungsdrang der iibrigen Hfillgewebe, passiv durch die auf eine vorbestimmte Ruhel~nge eingestellte Gewebestruktur herge-

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Page 1: Über das Wesen des Extensionsschadens

446 JosEr K6STLER :

aueh eine befriedigende Funktion der mitbe~eiligten Gelenke erzielen. Die Erfahrung hat gelehrt, dab bei komplizierten schweren Trfimmer- frakturen ein zweizeitiges Vorgehen am Platze ist, und zwar derart, dab zun~chst die Heilung der primer versorgten schweren Weichteilwunden abgewartet und erst nach 2--3 Wochen die Operation am Knochen selbst vorgenommen wird.

LXXI. ~ber das Wesen des Extensionsschadens. Von

JOSEF K(ISTLER-Furth i. Wald.

W~hrend der vorj~hrigen Tagung dieser Gesellschaft wies mein Lehrer Prof. Bt?RXL~ DE LA CAMP mit besonderem Nachdruck darauf hin, dal~ ffir die kn6cherne Ausheilung eines Knochenbruches nicht nur das Knochenweichgewebe, also das Periost, das Markendost und das Bindegewebe der HAvnasschen KanKlchen, sondern auch die Weichteile der Frakturumgebung, das unspezifische Bindegewebe der begleitenden Weichteile, vor allem der BlutgefgBe, der Nerven und der Muskeln mal~geblich sind und dab die Ausreifung zur knSehernen Narbe aul~er von formativen Reizen weitgehend yon mechanischen Einflfissen abh~ngig ist. Rn~N betont, dab w~thrend der h Woche nach einem Knochenbruch die dem Bruch anliegenden Muskeln untererregt sind und in der Folgezeit in eine Ubererregung fibergehen. Diese UbererrGgung wird nach Bi2nxnn D~ ~A CAMP durch den Dauerzug der Extension gestSrt und herabgesetzt. Er sight in dieser Tatsache einen Grund fiir die verz6gerte Bruchausheilung bei der Behandlung mit Dauerzug. Dieser Auffassung pflichten B6gLs~ und EHALT im wesentlichen bei, wenn sie immer wieder vor allzu grol~en Extensionsgewichten warnen.

Es scheint mir in diesem Zusammenhang lohnend dem durch die Extensionsbehandlung erzeugten KrKftespiel nachzugehen, well da- durch die Ursache des Extensionssehadens im Sinne der verzOgerten oder ausbleibenden knSchernen Ausreifung der Knochennarbe aufge- zeigt werden kann.

Der fibliche Zugverband stellt einen Dauerreiz ohne Zwischen- schaltung yon l~eizerholungspausen dar. Er schafft lediglich ein latentes Gleichgewicht, das nur durch fortw~hrenden Gegenzug des Weichteil- mantels gesichert ist. Er verlangt somit eine dauernde Halte-, also Arbeitsleistnng der Weichteilhfille des extendierten Gliedes. Dieser Gegenhalt wird aktiv durch Muskelanspannung und durch den vor- herrschenden Schrumpfungsdrang der iibrigen Hfillgewebe, passiv durch die auf eine vorbestimmte Ruhel~nge eingestellte Gewebestruktur herge-

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ste]lt. Ohne ihn miiBten die Bruchstficke durch den Dauerzug fort- schreitend auseinanderweichen. Wird die gegebene, begrenzte aktive Kraftreserve des geschi~digten Gliedes im aktiven Gegenhal~ aufge- braucht, so wird die neue L~ngeneinstellung des der kn6chernen Halte- strebe noch entbehrenden Gliedes im GegenhMt fiberwiegend durch das passiv haltende Frill- und Hiillgewebe bewirkt.

~ie jedoch wird dabei ein ruhendes Gleichgewicht ohne Arbeits- beanspruchung dieser haltenden Weichteile, also ein Gleiehgewicht in Entspannung, erreicht. Das gebrochene Glied mu6 dauernd eine der Zugkraft des Extensionsverbandes gquiwlente Arbeit vollbringen. Es muB den I~Ialt erarbeiten. Dieses Halten ist bei Zugrundelegung einer HSchstarbeitsfghigkeit des betroffenen Gliedes nur auf Kosten der Aufbauleistung an der Knochenwunde zu steigern. ErschSpft sieh diese maximMe Arbeitskraf~ im Gegenhalt, muB sich zwangslgufig die kn6cherne Festigung des Bruches im Sinne der verz6gerten Bruehheilung verlangsamen.

Die begrenzte Leistungsfi~higkeit bedingt sehlieglich durch Er- sch6pfung der Energiereserven einen verlangsamten Abtransport der Stoffwechselschlacken und damit eine Anhgufung yon Ermfidungs- stoffen, die zu einer chemisch-physikalisehen und nerv6sen Umstellung des ganzen Gliedes ffihren k6nnen. Eine dabei ausgelSste 5rtliche Acidose verhindert, und erschwert zumindes~ eine Ansammlung yon minerali- sehen Stoffen im osteoiden Gewebe. Auf diese Ver~nderungen im anorganisehen Gefiige der in der Sguerungszone liegenden Knochenteile weist HENSCgEN him

Gleichzeitig lSst die unphysiologische Anh/~ufung yon Ermfidungs- schlacken eine pathologische Reizung des vegetativen Nervensystems aus, die bis auf die zentralen Sehaltstellen im Zwischenhirn fiber- greifen kann und sich schtieBlich auf den gesamten K6rper auswirkt.

0rtlich bedingt diese dureh die l~bermfidung hervorgerufene, chemiseh-physikMisehe und nerv6se Fehlsteuerung zun~chst eine Um- stellung des Kreislaufes, vor allem im Bereieh der feinsten Blutgef/~Be. Die in der Umbauzone liegenden, jungen Gef~ge befinden sieh im Waehs- turn, in dem sie gegen nerv6se Impulse besonders empfindlich sind. Im Zustande der Ubermfidung kSnnen sie unter dem Einflul3 der nerv6sen Fehlsteuerung eine paradoxe l~eakLionsbereitschaft erreiehen, in der sie z. B. auf l~eize, die im Mlgemeinen durehblutungsf6rdernd wirken, mit Verkrampfung antworten. Diese Eigenart erseheint wich~ig, wenn man bedenkt, dab vielerorts durch ~lbungsbeha.ndlung an einem gesunden Partnerglied eine fSrdernde Beeinflussung auf den Kreislauf im Gesamt- k6rper, insonderheit auch in dem gesch~digten Glied erwartet wird. Liegt bereits eine solche paradoxe Gefggreaktion durch 0bermfidung vor,

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so mug sich solehes -0ben nicht f6rdernd, sondern seh~digend auf das im Dauerzug fiberlastete Glied auswirken. Die Verkrampfung der Ge- fil3e bringt eine Verlangsamung bzw. Stagnation des Blutstromes mit sioh und ffihrt dadureh zu chemisch-physikalischen Ver~inderungen des Blutes, die wiederum eine Umstimmung der t~esorptions- und Regenera- tionsvorgSnge zur Folge habem

Diese 5rtlich und allgemein auftretenden und sich gegenseitig steigernden RegulationsstSrungen bedingen sch]ieB]ieh eine Erlahmung der AufbauvorgKnge und fiihren diese im Verfolg ihrer weiteren Steige- rung letzten Endes in regressive Prozesse fiber, deren Endergebnis an der Knoehenwunde das ~'alsehge]enk ist. Der Extensionseffekt wird so dureh Uberlastnng des Gliedes zum soh~digenden Reiz, dem der KSrper nicht mehr geniigend begegnen k~nn. D~ sieh dieser Uberlastungs- schaden aber nicht nur auf die Bruchnarbe beschr/mkt, sondern aueh auI den gesamten Gliedquerschnitt iibergreift, kann er zu einer GliedmaBen- dystrophie mit den dieser Veriinderung eigentfimlichen rep~rablen und irreparab]en Umbanvorg~tngen ffihren.

Der fortsehreitenden ErschSpfung des Gegenhaltes des Weichteil- mantels entspricht eine gleichlaufende Versehiebung des Verhiiltnisses zwischen den im Bruchspalt liegenden Druck- und Zugkr~ften zugunsten der letzteren. Das so entstehende l~berwiegen dieser Zugkrifte begiinstigt jedoeh eine VerzSgerung in der kn6chernen Ausreifung der Bruehnarbe, wie die Untersuehungen von PAUWELS fiberzeugend zeigten.

Die Verschleppung der knSehernen Ausheilung eines Knoehen- bruehes durch die Wirkung des Dauerzuges ist somit in einer nervSsen und chemisch-physikalisehen, dem Kr~nkheitsbflde der akuten bzw. chronischen Gliedmagendystrophie eigenen Stoffwechselumstellung und in dem fortschreitenden l~berwiegen der Zugkr~fte in der Bruchnarbe begrfindet, wobei das Fortbestehe~ des einen Sehadens die Zunahme des anderen und umgekehrt n~ch sich zieht. Die ausl6sende Ursaehe dieser St6rung liegt in der dureh den Zug bedingten Dauerbeanspruchung des gebrochenen Gliedes, in dem Fehlen des ruhenden, ohne Arbeitsleistung der Weichbeilhtille m6gliehen Kr~ftegleichgewiehtes, in dem Fehlen der Reizerholungspausen, in dem Gegebensein einer Gleiehgewiehtslage, die nut dureh fortlaufende Arbeitsleistung gehMten werden kann.

Je grSBer die Extentionsgewiehte sind, desto wahrseheinlieher und frfiher kommt es zur ErschSpfung des Gegenhaltes, zur ~lbermtidung des Weiehteilmantels und zum Erliegen der Aufbauarbeit in der Knochen- narbe. So erh/ilt die oben angeffihrte Warnung vor zu grogen Extensions- gewiehten ihre physiologisehe ErMgrung.